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---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
2d2d52d3-fc4d-41bd-8647-ec5d75ef57d9 | Urteilskopf
112 V 257
45. Auszug aus dem Urteil vom 1. September 1986 i.S. Matthey gegen Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn | Regeste
Art. 25 Abs. 1 AHVG
und
Art. 48 Abs. 4 AHVV
: Berechnung der Mutterwaisenrente.
- Die Delegation der Befugnis zur Regelung der Mutterwaisenrente gemäss
Art. 25 Abs. 1 Satz 2 AHVG
ist umfassend und räumt dem Bundesrat einen weiten Ermessensspielraum ein. Gestützt darauf ist der Bundesrat befugt, sowohl die Anspruchsvoraussetzungen als auch die Berechnung und den Umfang der Mutterwaisenrente festzulegen (Erw. 2b).
- Dass sich in einzelnen Fällen beim Zusammentreffen der Berechnungsweise gemäss
Art. 48 Abs. 4 AHVV
mit dem ordentlichen Rentenberechnungssystem Koordinationsprobleme ergeben können, ändert nichts an der Gesetzmässigkeit des
Art. 48 Abs. 4 AHVV
(Erw. 2c). | Sachverhalt
ab Seite 258
BGE 112 V 257 S. 258
A.-
Im April 1984 meldete sich der am 9. März 1956 geborene Luc Matthey zum Bezug einer Mutterwaisenrente an. Im Zeitpunkt des Todes seiner Mutter (7. September 1980) war er noch in Ausbildung gewesen. Die Ausgleichskasse des Kantons Solothurn berechnete die Rente gemäss
Art. 48 Abs. 4 AHVV
aufgrund des durchschnittlichen Jahreseinkommens und der Beitragsjahre der Mutter auf Fr. 210.-- pro Monat (Skala 21). Anstelle dieser ordentlichen Rente sprach sie Luc Matthey für die Zeit vom 1. Oktober 1980 bis 31. März 1981 die höhere ausserordentliche Mutterwaisenrente von Fr. 220.-- pro Monat zu (Verfügung vom 15. Juni 1984).
B.-
Hiegegen erhob Luc Matthey Beschwerde mit dem Antrag, es sei ihm für die Monate Oktober 1980 bis März 1981 eine Mutterwaisenrente von monatlich Fr. 440.-- (Höchstrente der Skala 44) zuzuerkennen. Mit Entscheid vom 29. Januar 1985 wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Beschwerde ab.
C.-
Luc Matthey führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei ihm für die Zeit vom 1. Oktober 1980 bis 31. März 1981 eine ordentliche Mutterwaisenrente von monatlich Fr. 440.--, eventualiter eine Mutterwaisenrente in richterlich zu bestimmender Höhe zuzusprechen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Nach
Art. 25 Abs. 1 Satz 1 AHVG
haben Kinder, deren Vater gestorben ist, Anspruch auf eine einfache Waisenrente. Satz 2 dieser Bestimmung ermächtigt den Bundesrat, Vorschriften zu erlassen über die Rentenberechtigung von Kindern, deren Mutter gestorben ist. Gemäss
Art. 48 Abs. 4 AHVV
wird die ordentliche Mutterwaisenrente aufgrund der Erwerbseinkommen und Beitragsjahre der Mutter berechnet.
b) Der Beschwerdeführer macht geltend,
Art. 48 Abs. 4 AHVV
sei gesetzwidrig, soweit darin vorgeschrieben wird, dass die ordentliche Mutterwaisenrente aufgrund der Erwerbseinkommen und der Beitragsjahre der Mutter zu berechnen ist.
Art. 25 Abs. 1 Satz 2 AHVG
gebe dem Bundesrat nur die Kompetenz, über die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Mutterwaisenrente an sich nähere Bestimmungen zu erlassen, nicht aber auch über deren Berechnung. Die in
Art. 48 Abs. 4 AHVV
aufgestellte Vorschrift, dass für die Rentenberechnung die Erwerbseinkommen und die
BGE 112 V 257 S. 259
Beitragsjahre der Mutter massgebend seien, entbehre deshalb einer gesetzlichen Grundlage. Das durchschnittliche Jahreseinkommen zur Berechnung der Mutterwaisenrente bestimme sich mithin nach den ordentlichen gesetzlichen Regeln, nämlich den Art. 33 Abs. 1 und 32 Abs. 1 AHVG.
2.
a) (Prüfung von Verordnungen des Bundesrates; vgl.
BGE 110 V 256
Erw. 4a.)
b) Aus
Art. 25 Abs. 1 AHVG
geht klar hervor, dass der Gesetzgeber Vater- und Mutterwaisenrenten nicht gleich geregelt haben will. Während sich die Anspruchsberechtigung auf Vaterwaisenrenten und deren Umfang nach den gesetzlichen Bestimmungen richtet, obliegt die Ausgestaltung der Ordnung der Mutterwaisenrenten dem Bundesrat. Bei der Schaffung des Gesetzes lag der Grund für die Delegation an den Bundesrat primär darin, dass Mutterwaisenrenten nur dann ausgerichtet werden sollten, wenn dem Kind durch den Tod der Mutter erhebliche wirtschaftliche Nachteile erwachsen, wobei die diesbezüglich zu berücksichtigenden Verhältnisse als zu mannigfach erschienen, um generell im Gesetz geregelt zu werden (
Art. 25 Abs. 1 AHVG
in der bis 31. Dezember 1972 geltenden Fassung; Botschaft des Bundesrates zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die AHV vom 24. Mai 1946, BBl 1946 II 411 f.; Sten.Bull. 1946 S. 392, N 566). Demgemäss stellte der Bundesrat in
Art. 48 Abs. 1 AHVV
(in der Fassung vom 31. Oktober 1947) die näheren Vorschriften hierzu auf. Gleichzeitig legte er aber in Abs. 2 auch die Berechnungsart der Mutterwaisenrente fest, wobei er auf den durchschnittlichen Jahresbeitrag der Mutter abstellte. Dies blieb in der Folge dem Grundsatze nach unverändert, insbesondere auch dann, als mit der 8. AHV-Revision (in Kraft ab 1. Januar 1973) die bis dahin in
Art. 25 Abs. 1 AHVG
enthaltene Klausel des wirtschaftlichen Nachteils wegfiel. Mit der Neufassung von
Art. 25 Abs. 1 AHVG
beliess der Gesetzgeber dem Bundesrat die umfassende Kompetenz zur Regelung der Mutterwaisenrente. Er tat dies in Kenntnis dessen, dass und wie der Bundesrat die Rentenberechnung geregelt hatte, und lehnte diesbezüglich eine Änderung ab (Amtl.Bull. 1972 I N 375 ff., insbesondere Antrag Thalmann S. 376). Somit ist die Art, wie der Bundesrat von der ihm erteilten Befugnis Gebrauch gemacht hat, vom Gesetzgeber gedeckt. Sie kann mithin nicht gesetzwidrig sein. Angesichts dessen ist es unerheblich, dass
Art. 25 Abs. 1 AHVG
nach der gesetzlichen Systematik zu den Bestimmungen über den Rentenanspruch gehört.
BGE 112 V 257 S. 260
c) Der Beschwerdeführer wendet ein, dass die Berechnungsweise gemäss
Art. 48 Abs. 4 AHVV
aufgrund von Kollisionen mit dem ordentlichen Rentenberechnungssystem in einzelnen Fällen zu unbefriedigenden Ergebnissen führen müsste, und nennt hiezu zwei Beispiele. Der Anspruch einer Frau auf eine Kinderrente gemäss
Art. 22ter Abs. 1 AHVG
sei nach den gleichen Berechnungsregeln wie die jeweilige Altersrente zu ermitteln (
Art. 35bis Abs. 2 AHVG
); würden nun die beitragslosen Ehejahre bei der Berechnung der Mutterwaisenrente nicht berücksichtigt, so sei es durchaus möglich, dass eine allfällige Mutterwaisenrente geringer ausfalle als die zuvor gewährte Kinderrente; das Kind einer altersrentenberechtigten Mutter würde mithin gegenüber der Mutterwaise bessergestellt. Im Rahmen von
Art. 33bis AHVG
sodann wären bei der Ablösung einer Invalidenrente durch eine Mutterwaisenrente die beitragslosen Ehejahre zu berücksichtigen, da sie Grundlage der vorangehenden Invalidenrente gebildet hätten (
Art. 36 Abs. 2 IVG
); die Bevorzugung des Kindes einer Invalidenrentenbezügerin gegenüber einem Kind einer nicht rentenberechtigten Mutter lasse sich schwerlich begründen. - Des weitern beanstandet der Beschwerdeführer, dass durch die Berechnungsweise des
Art. 48 Abs. 4 AHVV
diejenigen Waisen benachteiligt werden, deren Mutter sich voll der Familie gewidmet hatte und deshalb keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen war.
Nach dem in Erw. 2b Gesagten vermögen diese Einwendungen an der Gesetzmässigkeit des
Art. 48 Abs. 4 AHVV
nichts zu ändern. Zwar ist es richtig, dass beim Zusammentreffen des ordentlichen Rentenanspruchssystems mit der Berechnungsweise des
Art. 48 Abs. 4 AHVV
Koordinationsprobleme entstehen können. Indes stellen sich im Falle des Beschwerdeführers keine derartigen Fragen, so dass hier darüber nicht zu befinden ist. Es ist hier auch nicht zu prüfen, ob für Fälle, wo die Mutterwaisenrente eine andere, höhere Rente ablöst, eine generelle Koordinationsregelung (z.B. in Form einer Besitzstandsklausel) gerechtfertigt wäre. Allenfalls könnte eine solche bloss eine für Sonderfälle bestimmte Ergänzungsregel zu
Art. 48 Abs. 4 AHVV
darstellen und würde an der Gesetzmässigkeit dieser Verordnungsbestimmung nichts ändern. - Beim Einwand des Beschwerdeführers, das Kind der nicht erwerbstätig gewesenen Mutter werde benachteiligt gegenüber dem Kind der erwerbstätig gewesenen Mutter, handelt es sich um einen sozialpolitischen Gesichtspunkt. Wird er vom Verordnungsgeber
BGE 112 V 257 S. 261
nicht berücksichtigt, so verstösst dies gegen keine Norm des Gesetzes.
d) Aus dem Gesagten folgt, dass Verwaltung und Vorinstanz die Mutterwaisenrente zu Recht auf der Grundlage der Erwerbseinkommen und Beitragsjahre der Mutter berechnet haben. Dem Begehren des Beschwerdeführers um Miteinbezug der beitragslosen Ehejahre seiner Mutter und des Erwerbseinkommens seines Vaters für die Berechnung der streitigen Rente kann deshalb nicht entsprochen werden. | null | nan | de | 1,986 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2d356ccf-7330-40f6-9dbd-e8e36654e16f | Urteilskopf
119 IV 164
28. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. April 1993 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen U. (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 23 Abs. 1 ANAG
; Erleichtern der rechtswidrigen Einreise.
Als "rechtswidrige Einreise" in die Schweiz ist grundsätzlich die Überschreitung der politischen Landesgrenze zu verstehen. Bei der Einreise über eine Grenzstelle ist der Tatbestand jedoch erst erfüllt, wenn der Täter den Grenzposten passiert hat oder wenn er die Grenzkontrolle umgeht. | Sachverhalt
ab Seite 164
BGE 119 IV 164 S. 164
Der in S./D wohnhafte U. führte am 15. November 1990, gegen 20.30 Uhr, mit seinem Personenwagen drei albanische Staatsangehörige, die weder Pass noch Visum besassen, zum Zollamt Ramsen/SH, das sich ca. 60 Meter im Landesinnern auf schweizerischem Hoheitsgebiet befindet. Bei der Ausweiskontrolle wurden U. und seine drei Mitfahrer angehalten und, da sich die Albaner nicht ausweisen konnten, der Kantonspolizei Schaffhausen übergeben.
Mit Strafbefehl vom 19. November 1990 erklärte das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen U. des Erleichterns der rechtswidrigen Einreise schuldig und verurteilte ihn zu 14 Tagen
BGE 119 IV 164 S. 165
Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug und einer Busse von Fr. 80.--. Auf Einsprache hin sprach der 2. Präsident des Kantonsgerichts Schaffhausen als Einzelrichter in Strafsachen U. mit Urteil vom 20. November 1991 von Schuld und Strafe frei.
In teilweiser Gutheissung einer gegen dieses Urteil von der Staatsanwaltschaft erklärten Berufung sprach das Obergericht des Kantons Schaffhausen U. am 6. November 1992 des versuchten Erleichterns der rechtswidrigen Einreise schuldig und verurteilte ihn zu 14 Tagen Gefängnis, unter Einrechnung von vier Tagen Untersuchungshaft, mit bedingtem Strafvollzug unter Gewährung einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 80.--.
Die Staatsanwaltschaft führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene Urteil sei insoweit aufzuheben, als es den Angeklagten lediglich der versuchten Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer für schuldig erklärt, und die Sache sei zur Verurteilung wegen (vollendeten) Erleichterns der rechtswidrigen Einreise an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen hat auf Gegenbemerkungen, U. auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Gemäss
Art. 23 Abs. 1 ANAG
macht sich unter anderem strafbar, wer rechtswidrig das Land betritt oder darin verweilt (al. 4) und wer im In- oder Ausland die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder das rechtswidrige Verweilen im Lande erleichtern oder vorbereiten hilft (al. 5). Der französische und italienische Gesetzestext unterscheiden nicht zwischen "betreten" und "einreisen", sondern sprechen bei beiden Bestimmungen von "entrer" ("celui qui entre..."; "celui qui ... facilite ou aide à préparer une entrée...") bzw. "entrare" ("chiunque entra..."; "chiunque ... facilita od aiuta a preparare l'entrata..."; vgl. auch alt Art. 23 Abs. 1 al. 3 des BG über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931: "wer ... das Land betritt...", bzw. "celui qui entre...", AS/RO 1933, S. 286). Entgegen der Auffassung der Vorinstanz lässt sich aus einer grammatikalischen Auslegung somit nicht ein Bedeutungsunterschied der beiden Begriffe ableiten. Die Differenz ist rein redaktionell bedingt und dürfte davon herrühren, dass der Tatbestand gemäss Art. 23
BGE 119 IV 164 S. 166
Abs. 1 al. 5 ANAG in der Fassung des Gesetzes vom 26. März 1931 noch nicht enthalten war (vgl. ROSCHACHER, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG), Diss. Zürich 1991, S. 84 zu den Ungereimtheiten hinsichtlich der rechtswidrigen Ausreise).
Die Einreise in die Schweiz und das Betreten des Schweizer Territoriums bedeuten somit das gleiche. Gemeint ist in beiden Fällen grundsätzlich die Überschreitung der politischen Landesgrenze. Unklar bleibt jedoch auch bei dieser Sachlage, ob in den Fällen, in denen der offizielle Grenzübergang nicht mit dem Überqueren der politischen Landesgrenze zusammenfällt, sondern sich innerhalb des schweizerischen Staatsgebietes befindet, die Einreise in die Schweiz im Sinne des Gesetzes schon beim Betreten schweizerischen Territoriums oder erst beim Passieren der Grenzkontrolle erfolgt.
b) Gemäss
Art. 7 Abs. 1 der Verordnung über Einreise und Anmeldung der Ausländer vom 10. April 1946 (SR 142.211)
hat die Ein- und Ausreise über bestimmte, vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement für den grossen Grenzverkehr als offen bezeichnete Grenzübergangsstellen und Landungsplätze zu erfolgen. Jedes Überschreiten der Grenze ausserhalb einer für den grossen Grenzverkehr geöffneten Grenzübergangsstelle ist rechtswidrig. Das Betreten der Schweiz über die grüne Grenze, ausserhalb eines offiziellen Grenzübergangs ist somit immer rechtswidrig. Erfolgt die Einreise über eine Grenzstelle, liegt der wesentliche Gesichtspunkt im Passieren des offiziellen Grenzübergangs. Liegt der Grenzposten wie im zu beurteilenden Fall bereits innerhalb des schweizerischen Gebiets, so bedeutet das Überschreiten der politischen Landesgrenze allein noch keine rechtswidrige Einreise bzw. kein rechtswidriges Betreten der Schweiz. Die Einreise erfolgt erst beim Passieren des Grenzpostens oder aber bei der Umgehung der Grenzkontrolle. Dasselbe gilt im übrigen für die Einreise auf dem Luftweg. Auch in diesem Fall betritt der Ausländer die Schweiz erst nach der Passkontrolle (so ROSCHACHER, a.a.O., S. 28).
Im umgekehrten Fall, bei dem die Grenzkontrolle etwa in einer Gemeinschaftsanlage im Ausland stattfindet, muss die Einreise denn auch bereits mit dem Passieren des Grenzpostens als erfolgt betrachtet werden (vgl. nicht publizierter Entscheid des Kassationshofs vom 10. Juni 1988 i. S. EZV gegen H. für die Feststellung des Verstosses gegen die Vignettenpflicht gemäss Art. 1 der Verordnung über die Abgabe für die Benützung von Nationalstrassen vom 12. September 1984 (NSAV; SR 741.72) ausserhalb der schweizerischen Landesgrenze).
BGE 119 IV 164 S. 167
Würde aber der Auffassung der Beschwerdeführerin gefolgt, wäre in einem solchen Fall trotz Passierens des Grenzpostens eine rechtswidrige Einreise ausgeschlossen.
Zum selben Ergebnis führt
Art. 13a AsylG
(SR 142.31), nach welcher Bestimmung der Flüchtling sein Asylgesuch bei der Einreise an einem geöffneten Grenzübergang stellen muss, was voraussetzt, dass die Einreise erst beim Passieren des Grenzübergangs erfolgt (vgl. auch
Art. 13d AsylG
und Art. 5 Asylverordnung 1, SR 142.311). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Zollgesetz (ZG; SR 631.0). Zwar fällt nach
Art. 2 Abs. 1 ZG
die Zollgrenze grundsätzlich mit der politischen Landesgrenze zusammen. Eine Zollwiderhandlung begeht aber, wer die Zollkontrolle zu umgehen sucht (vgl.
Art. 74 und 76 ZG
). | null | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2d37984e-5312-4d26-ae79-86f7eff4159e | Urteilskopf
92 IV 138
35. Urteil des Kassationshofes vom 5. Juli 1966 i.S. Candolfi gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | Regeste
Art. 26 und 36 Abs. 2 SVG
.
1. Ausübung des Vortrittsrechtes, Verkehrssicherheit und Vertrauensgrundsatz (Erw. 1).
2. Die Pflicht des Berechtigten, auf den von links kommenden Verkehr Rücksicht zu nehmen, besteht nicht nur im Falle, den
Art. 14 Abs. 2 VRV
besonders hervorhebt, sondern immer dann, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass das Vortrittsrecht missachtet wird (Erw. 2). | Sachverhalt
ab Seite 138
BGE 92 IV 138 S. 138
A.-
Die Strassen Gampelen-Cudrefin und Ins-Witzwil sind asphaltiert und fast gleich breit. In einer weiten und übersichtlichen Ebene bei Witzwil, wo sie beide nahezu gerade verlaufen, kreuzen sie sich in einem Winkel von etwa 60 o.
Am 3. August 1963, kurz nach 14 Uhr, fuhr Candolfi am Steuer eines "Volkswagens" mit ungefähr 70 km/Std von Gampelen her gegen die erwähnte Kreuzung. Zu gleicher Zeit näherte sich ihr von Ins her ein Personenwagen "Ford-Zephir", der von Pittet gesteuert war. Candolfi wollte nach Cudrefin, Pittet nach Witzwil fahren. Sie konnten einander schon von weitem sehen, da die Sicht zwischen ihren Anfahrtsstrecken durch nichts beeinträchtigt war. Als Candolfi etwa 130 m vor der Verzweigung nach links blickte, war der Wagen Pittets noch 160 m
BGE 92 IV 138 S. 139
davon entfernt. Bei einem weitern Blick nach links hatte er selber sich bis auf 83 und Pittet sich bis auf 72 m der Kreuzung genähert. Wegen eines frischen Splittbelages, der 75 m vor der Kreuzung begann, setzte Candolfi seine Geschwindigkeit auf 55-60 km/Std herab. Nach links schaute er nicht mehr, sondern nur noch nach rechts und auf seine Fahrbahn; er nahm an, Pittet werde ihm ordnungsgemäss den Vortritt lassen. Mitten in der Kreuzung stiessen die beiden Fahrzeuge, ohne dass sie abgebremst worden wären, seitlich zusammen. Der "Ford-Zephir" wurde deswegen nach links abgedreht und prallte an eine Pappel, während der "Volkswagen" nach rechts in eine Wiese abgetrieben wurde. Pittet und sein Mitfahrer wurden getötet, Candolfi und seine drei Begleiter verletzt; zudem entstand beträchtlicher Sachschaden.
B.-
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte Candolfi am 13. April 1965 wegen Übertretung von Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 80.-.
In der Begründung führt das Obergericht insbesondere aus, der Angeklagte sei von rechts gekommen und daher gemäss
Art. 36 Abs. 2 SVG
vortrittsberechtigt gewesen. Er habe gesehen, dass Pittet sich der Kreuzung rascher näherte als er selber; trotzdem habe er sich während fünf Sekunden, die er für die letzten 83 m vor der Unfallstelle brauchte, nicht mehr um den "Ford" gekümmert. Freilich habe Candolfi sich auch nach rechts vergewissern müssen, dass ihm von dieser Seite her keine Gefahr drohte; dazu hätte jedoch bei den sehr guten Sichtverhältnissen ein kurzer Blick genügt. Das einzige Fahrzeug, mit dem er überhaupt habe rechnen müssen, sei der fast gleichzeitig von links kommende Wagen gewesen. Indem er diesen in den letzten fünf Sekunden vor dem Zusammenstoss nicht mehr beobachtete, habe er es an der gebotenen Sorgfalt fehlen lassen, sich folglich auch nicht darauf einstellen können, den Zusammenstoss durch Bremsen oder eine andere Vorkehr, wenn nicht zu vermeiden, so doch in den Auswirkungen zu mildern.
C.-
Candolfi führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung. Er bestreitet, sich als Vortrittsberechtigter strafbar gemacht zu haben.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Nach ständiger Rechtsprechung (
BGE 90 IV 90
Erw. 2 b und dort angeführte Urteile) braucht der Berechtigte an Strassenkreuzungen
BGE 92 IV 138 S. 140
nicht zum vorneherein mit der Missachtung seines Vortrittsrechtes zu rechnen und sich darnach zu verhalten. Wo er nach den gegebenen Umständen keinen Anlass zu besonderen Vorsichtsmassnahmen hat, soll er sein Vortrittsrecht im Vertrauen darauf ausüben können, dass es beachtet werde, die anderen Verkehrsteilnehmer sich also pflichtgemäss verhalten. Er hat an Verzweigungen die Geschwindigkeit nur so zu mässigen, dass er die gleichzeitig von rechts Kommenden vor ihm durchfahren lassen kann und den von links Kommenden nicht verunmöglicht, ihm den Vortritt zu gewähren.
Anders verhält es sich nach der angeführten Rechtsprechung, wenn der Berechtigte sieht oder bei gehöriger Aufmerksamkeit sehen könnte, dass er an der Ausübung des Vortritts gehindert wird. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ein von links kommendes Fahrzeug mit solcher Geschwindigkeit fährt, dass es dem Berechtigten den Vortritt nicht mehr lassen kann. In solcher Lage darf der Berechtigte weder in blindem Vertrauen auf sein Vortrittsrecht beliebig schnell weiterfahren noch auf dessen Ausübung beharren, sondern muss seinerseits alles Zumutbare vorkehren, um einen Unfall zu verhüten. Das neue Recht hat daran nichts geändert; im Gegenteil, es verpflichtet in
Art. 26 Abs. 2 SVG
jeden Strassenbenützer, also auch den Vortrittsberechtigten, ausdrücklich zu besonderer Vorsicht, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass ein anderer sich nicht richtig verhalten wird. Lässt er diesfalls die nach den Umständen gebotene Vorsicht ausser acht, so handelt auch der Berechtigte pflichtwidrig und kann sich infolgedessen nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, um sein Verhalten zu rechtfertigen (vgl.
BGE 91 IV 94
).
2.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts, das auf die Angaben Candolfis abstellte, schaute dieser 130 und 83 m vor der Verzweigung je einmal nach links. Das erste Mal war der Wagen Pittets 160, das zweite Mal nur noch 72 m von der Kreuzung entfernt. Daraus erhellt, dass der "Ford-Zephir" beim zweiten Blick nach links einen Vorsprung von 11 m hatte und schneller gegen die Verzweigung fuhr als der "Volkswagen". Das ist dem Beschwerdeführer denn auch nicht entgangen. Unter diesen Umständen durfte Candolfi nicht leichthin annehmen, Pittet werde die Fahrt verlangsamen und ihn durchlassen, ganz abgesehen davon, dass er 83 m vor der Verzweigung noch nicht wissen konnte, ob sie gleichzeitig auf der Kreuzung eintreffen würden, die Voraussetzungen für den
BGE 92 IV 138 S. 141
Rechtsvortritt also gegeben seien. Bei pflichtgemässer Überlegung hätte er sich sagen sollen, dass die Lage unsicher sei und er nicht unbekümmert um den von links kommenden Wagen weiterfahren dürfe. Wenn er die Lage nicht durch ein Warnsignal klären wollte, so musste der Beschwerdeführer sich jedenfalls vorsehen, um der Gefahr nötigenfalls selber begegnen zu können, sei es, dass er den anderen Wagen im Auge behielt und Bremsbereitschaft erstellte, sei es, dass er ihn vor sich durchfahren liess. Zu grösserer Vorsicht und Aufmerksamkeit hätte der Beschwerdeführer auch deshalb Anlass gehabt, weil er die Geschwindigkeit auf den letzten 75 m vor der Unfallstelle wegen des Splittbelages auf 55-60 km/Std herabsetzte und Pittet das leicht falsch auslegen konnte. Umso unvorsichtiger war es, sich im entscheidenden Augenblick um den andern Wagen überhaupt nicht mehr zu kümmern.
Der Kassationshof hat freilich im Falle Oberli (
BGE 90 IV 93
) ausgeführt, dass der Berechtigte sich um Fahrer, die gleichzeitig von links kommen, ihn aber beizeiten sehen können, nicht weiter zu kümmern brauche; das ergebe sich mittels Umkehrschlusses aus
Art. 14 Abs. 2 VRV
, der bestimmt, dass der Vortrittsberechtigte auf Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen hat, welche die Strassenverzweigung erreichen, bevor sie ihn erblicken können.
Diese Schlussfolgerung. auf die der Beschwerdeführer sich schon im kantonalen Verfahren berufen hat, kann indes nicht aufrechterhalten werden. Die Pflicht des Berechtigten, auf den von links kommenden Verkehr Rücksicht zu nehmen, besteht nicht nur im Falle, den
Art. 14 Abs. 2 VRV
besonders hervorhebt, sondern immer dann, wenn aus der Fahrweise eines andern zu erkennen ist, dass das Vortrittsrecht missachtet wird. Das setzt voraus, dass der Berechtigte sich zumindest durch einen raschen Blick auch nach links vergewissert, ob er freie Fahrt habe, und zwar muss er das in einem Zeitpunkt tun, in dem er sich darüber wirklich Rechenschaft geben kann, also weder zu früh noch zu spät. Dadurch unterscheidet sich der vorliegende Fall - wenn man von den Sichtverhältnissen absieht - denn auch von dem in
BGE 90 IV 87
veröffentlichten, wo die Angeschuldigte im richtigen Augenblick nach links geschaut und nichts festgestellt hat, was auf eine bevorstehende Verletzung ihres Vortrittsrechtes hingedeutet hätte. Candolfi dagegen durfte es nicht bei der schon 83 m vor der Kreuzung angestellten Beobachtung
BGE 92 IV 138 S. 142
nach links bewenden lassen. Auf eine solche Entfernung kann ein von links Kommender immer noch versucht sein, als erster und ohne dass er das Vortrittsrecht eines andern verletzen würde, eine Kreuzung zu durchfahren. Dies gilt insbesondere dann, wenn er schneller fährt und gegenüber dem von rechts Kommenden im Vorsprung liegt. Gerade das war, wie der Beschwerdeführer selber feststellte, hier denn auch der Fall. Diese Feststellung hätte Candolfi veranlassen sollen, dem andern Fahrer gegenüber aufmerksam zu bleiben; er hatte allen Grund zu bezweifeln, dass er das Vortrittsrecht gefahrlos ausüben könne. Den Wagen Pittets im Auge zu behalten, wäre dem Beschwerdeführer übrigens umsomehr zuzumuten gewesen, als sein Fahrzeug mit einer Linkssteuerung versehen war und ihre Anfahrtsstrecken in einem Winkel von 60° zusammentrafen.
Die Vorinstanz wirft daher dem Beschwerdeführer mit Recht vor, dass er nicht so aufmerksam und so vorsichtig gefahren sei, als die Umstände es erforderten, demzufolge auch nichts mehr habe vorkehren können, um den Unfall zu vermeiden. Dass die Beobachtung nach rechts ihn nicht daran gehindert hätte, nochmals nach links zu blicken, stellt das Obergericht für den Kassationshof verbindlich fest; was in der Beschwerde dagegen vorgebracht wird, ist Kritik an der Beweiswürdigung und daher nicht zu hören (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
). Dem Beschwerdeführer hilft auch nicht, dass Pittet einen ungleich grössern Fehler begangen und den Zusammenstoss weitgehend selber verschuldet hat. Strafe wegen Übertretung von Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG setzt nicht voraus, dass der Verkehr tatsächlich gestört oder ein Unfall verursacht worden sei; es genügt, dass der Fahrer die Vorsicht missachtet hat, zu der er nach den Verhältnissen verpflichtet war (vgl.
BGE 77 IV 221
).
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. | null | nan | de | 1,966 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2d43c268-d5ea-44dc-8ce5-009f66a067df | Urteilskopf
103 IV 157
46. Urteil des Kassationshofes vom 10. Mai 1977 i.S. A. gegen B. | Regeste
Art. 173 ff. StGB
, Ehrverletzung.
Der Vorwurf, dem Gemeinwesen Waren oder Leistungen zu stark übersetztem Preis angeboten zu haben, ist an sich nicht ehrverletzend (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 157
BGE 103 IV 157 S. 157
Die Bürger der Stadt Luzern hatten am 19./20. Mai 1973 einen neuen Baudirektor zu wählen. Kandidaten waren C., liberal, und B., parteilos.
Am 18. Mai 1973 erschien in den Zeitungen "Luzerner Neueste Nachrichten", "Luzerner Tagblatt" und "Vaterland" ein Inserat, in dem B. hinsichtlich dreier verschiedener Vorkommnisse in Frageform kritisiert wurde. Der heute noch zu beurteilende Teil des Inserates lautet:
"B. - Ritter ohne Fehl und Tadel? Herr B. gefällt sich in der Rolle des mutigen Streiters gegen Unsauberkeit und Spekulation. Wer, wie er, ständig angreift, muss sich gefallen lassen, dass auch seine Handlungsweisen kritisch betrachtet werden. Urteilen Sie selbst!
BGE 103 IV 157 S. 158
Fall 1: ...
Fall 2: Herr B. bot der Baudirektion der Stadt Luzern Aushubmaterial zum Kubikmeterpreis von Fr. 14.35 an. Der übliche Marktwert betrug in jener Zeit 2-5 Franken! Die Baudirektion verzichtete auf dieses Geschäft.
Frage: Wer wollte hier auf dem Buckel der Öffentlichkeit ein Geschäft machen?
Fall 3: ...
Diese drei Fälle sind jederzeit hieb- und stichfest beweisbar. Geben Sie Ihre Antwort am Wahltag vom 19./20. Mai 1973!
Keine Stimme für B.!
Komitee für Offenheit auf beiden Seiten."
A., der damals Präsident des Wahlausschusses der Liberalen Partei der Stadt Luzern war, übernahm die Verantwortung für das Inserat.
Auf Privatstrafklage des B. fand das Amtsgericht Luzern Stadt A. am 15. April 1976 im Fall 2 der üblen Nachrede gemäss
Art. 173 StGB
schuldig und auferlegte ihm eine Busse von Fr. 100.--. Das Obergericht bestätigte das Urteil der ersten Instanz am 18. Oktober 1976.
Mit Nichtigkeitsbeschwerde verlangt A. Aufhebung des obergerichtlichen Urteils, eventuell Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. B. beantragt Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Wegen übler Nachrede gemäss
Art. 173 Ziff. 1 StGB
macht sich strafbar, wer jemanden bei einem andern eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen bezichtigt oder verdächtigt, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen, oder wer eine solche Äusserung weiterverbreitet.
Nach ständiger Rechtsprechung schützt
Art. 173 StGB
nur den Ruf, ein ehrbarer Mensch zu sein, d.h. sich so zu benehmen, wie nach allgemeinen Anschauungen ein charakterlich anständiger Mensch sich zu verhalten pflegt. Äusserungen, die sich lediglich eignen, jemanden in anderer Hinsicht, z.B. als Geschäfts- oder Berufsmann, als Politiker oder Künstler in der gesellschaftlichen Geltung herabzusetzen, gelten nicht als ehrverletzend. Voraussetzung ist aber immer, dass die Kritik an den strafrechtlich nicht geschützten Seiten des Ansehens nicht zugleich seine Geltung als ehrbarer Mensch treffe (
BGE 80 IV 164
E 2;
BGE 92 IV 96
, 101;
BGE 98 IV 92
).
BGE 103 IV 157 S. 159
2.
Die Vorinstanz bejaht den ehrverletzenden Charakter der Äusserung lediglich mit den Worten, der Vorwurf sei geeignet gewesen, "den Privatkläger in der Achtung der Mitmenschen herabzusetzen". Die erste Instanz aber, auf welche das Obergericht hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen weitgehend verweist, führt in dieser Beziehung aus: "Damit wurde dem Kläger wiederum mangelndes Verantwortungsgefühl gegenüber der Allgemeinheit unterstellt, was ihn als Politiker unseriös erscheinen liess und die Unbestechlichkeit seiner Person in Frage stellte. Durch solche Vorwürfe pflegt der Betroffene seine Achtung als Mensch einzubüssen. Auch dieser Vorwurf ist daher ehrverletzend."
3.
Was dem Beschwerdegegner hier vorgeworfen wird, ist lediglich, er habe der Baudirektion der Stadt Luzern Aushubmaterial zu stark übersetztem Preis angeboten. Die daraus gezogene Folgerung, er habe "auf dem Buckel der Öffentlichkeit ein Geschäft machen wollen", fügt diesem Vorwurf sinngemäss bloss noch hinzu, er sei sich bewusst gewesen, dass der Preis nicht der Marktlage entsprach. Im übrigen war der daraus gezogene Schluss eine durchaus angemessene Wertung aus dem erhobenen Vorwurf und könnte, wie die kantonalen Gerichte richtig entschieden haben, nicht Anlass zu einer selbständigen Verurteilung wegen Beschimpfung gemäss
Art. 177 StGB
geben.
Der Vorwurf, man habe dem Gemeinwesen Waren oder Leistungen zu einem stark übersetzten Preise angeboten, ist an sich nicht ehrverletzend, sowenig wie dies zutrifft, wenn ein solches Angebot einem Privaten oder einer Gesellschaft gegenüber gemacht wird. Soweit der Markt frei ist, kann jeder den Preis seines Angebotes frei bestimmen. Ist sein Angebot zu hoch, ist es nicht konkurrenzfähig und wird daher in der Regel abgelehnt werden. Nur besondere Umstände wie Ausbeutung einer Notlage oder der Unerfahrenheit, Täuschung des andern, Bestechung, Missbrauch amtlicher Stellung usw. könnten ein solches Angebot als unehrenhaft erscheinen lassen. Der Umstand, dass das Angebot an das Gemeinwesen gerichtet wurde, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Baudirektion, welcher die Offerte gestellt wurde, war sachverständig und selbständig genug, das Angebot zu beurteilen und es, wenn es nach den Umständen unangemessen war, abzulehnen.
BGE 103 IV 157 S. 160
In Wirklichkeit war der hier zu beurteilende Vorwurf ein Angriff auf den Beschwerdegegner als Politiker. Das zeigt gerade die etwas genauere Begründung der ersten Instanz. Von einem Politiker, der sich um ein Amt als Stadtrat bewirbt und der allenfalls berufen sein könnte, die frei werdende Baudirektion zu übernehmen, kann der Bürger vermehrten Gemeinsinn fordern und finden, für dieses Amt sei nicht geeignet, wer als Privater dem Gemeinwesen, dem er in leitender Stellung vorstehen soll, zuvor ein finanziell ungünstiges Angebot gemacht hat. Nur für eine solche Stellung ist dem Beschwerdegegner damit mangelndes Verantwortungsgefühl gegenüber dem Gemeinwesen vorgeworfen. Nur "als Politiker" konnte ihn die Äusserung als "unseriös erscheinen" lassen. Inwiefern aber aus der Äusserung geschlossen werden könnte, dem Beschwerdegegner werde auch Bestechlichkeit unterstellt, wie die erste Instanz meint, ist schlechtweg nicht ersichtlich.
Ob die eingeklagte Äusserung der Wahrheit entsprach, braucht daher nicht geprüft zu werden.
Unwahre Äusserungen, die dem politischen Ansehen eines andern abträglich sind, sind zu verwerfen. Dies besonders dann, wenn sie kurz vor Abschluss eines Wahlkampfes öffentlich erfolgen und so das Wahlergebnis beeinflussen können. Entsprechendes gilt auch für unwahre Angaben über Gesetzes- und andere Abstimmungsvorlagen. Solche Äusserungen können der fehlerfreien demokratischen Willensbildung schaden und verstossen gegen die politische Fairness. Aber weder
Art. 173 ff. StGB
noch die Tatbestände des 14. Titels des Strafgesetzbuches betreffend Vergehen gegen den Volkswillen erfassen solche Handlungen.
Fehlt es nach dem Gesagten schon an einer strafbaren Ehrverletzung, stellt sich die Frage, ob die Entlastungsbeweise zuzulassen seien und ob sie erbracht wurden, überhaupt nicht.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern vom 18. Oktober 1976 aufgehoben und die Sache zum Freispruch des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen. | null | nan | de | 1,977 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2d47e130-7c43-4c31-a212-97e4ec37cdd0 | Urteilskopf
92 I 461
76. Urteil vom 23. November 1966 i.S. Aurinco AG gegen Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Bern. | Regeste
Besteuerung der Grundstückgewinne der Liegenschaftshändler und Bauunternehmer.
Überblick über die mit
BGE 79 I 145
ff. eingeleitete Rechtsprechung, wonach auch die Grundstückgewinne der Liegenschaftshändler und Bauunternehmer grundsätzlich der Steuerhoheit des Kantons der gelegenen Sache unterstehen.
Behandlung
- der Schuldzinsen der zur Finanzierung der Geschäfte aufgenommenen Darlehen (Erw. 2 a).
- derjenigen allgemeinen Unkosten, die auf die Bemühungen beim An- und Verkauf der Liegenschaften, auf deren Verwaltung und auf Architekturarbeiten entfallen (Erw. 2b, 3b, 4 a und b).
- der Grundstückgewinnsteuern (Erw. 2 c, 3 c, 4 c).
Der bei der Veräusserung eines (im Grundbuch vorgemerkten oder nicht vorgemerkten) Kaufsrechts erzielte Gewinn steht dem beim Verkauf des Grundstücks selber erzielten Gewinne gleich (Erw. 3 a).
Staatsrechtliche Beschwerde wegen Doppelbesteuerung.
Zulässigkeit neuer Vorbringen (Erw. 1). Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens (Erw. 6). | Sachverhalt
ab Seite 462
BGE 92 I 461 S. 462
Aus dem Tatbestand:
A.-
Die Beschwerdeführerin Aurinco AG hat ihren Sitz in Basel und bezweckt nach ihren Statuten den An- und Verkauf sowie die Verwaltung von Liegenschaften. Ihre Geschäfte werden von zwei Mitgliedern des Verwaltungsrates, einem Liegenschaftshändler und einem Juristen, besorgt.
Am 18. Oktober 1960 kaufte die Beschwerdeführerin zum Preis von Fr. 19'776.-- ein unüberbautes Grundstück in Oberdorf (BL). Sie verkaufte es am 27. Oktober 1964 für Fr. 32'760.-- an den Baumeister Monetti.
Am 24. Oktober 1962 kaufte sie zum Preis von Fr. 35'000.-- Land in Gelterkinden (BL), auf dem sie in den Jahren 1963/64 ein Zehnfamilienhaus erstellte. Nachdem sie in den Monaten Juni-Oktober 1964 Fr. 12'000.-- Mietzinsen eingenommen hatte, verkaufte sie die Liegenschaft am 27. Oktober 1964 für Fr. 565'000.--.
Am 13. Februar 1963 wurde der Beschwerdeführerin ein Kaufsrecht an einer Liegenschaft in Moutier (BE) eingeräumt. Auf dieses Kaufsrecht verzichtete sie im Jahre 1964 gegen eine Entschädigung von Fr. 11 I,700.-- zugunsten eines Anlagefonds, welchem die Liegenschaft damit auf Fr. 453'500.-- zu stehen kam. Die Beschwerdeführerin hat ferner im Jahre 1963 zwei ertragslose Grundstücke in Courgenay und Brügg (BE) erworben, die Ende 1964 noch ihr Eigentum waren.
BGE 92 I 461 S. 463
B.-
Der vorliegende Doppelbesteuerungsstreit betrifft die von der Beschwerdeführerin im Jahre 1964 erzielten Gewinne.
a) Durch Verfügungen vom 30. November und 29. Dezember 1964 wurde die Beschwerdeführerin im Kanton Basel-Landschaft zur Grundstückgewinnsteuer veranlagt. In bezug auf den Verkauf in Oberdorf wurde der steuerbare Gewinn auf Fr. 10'204.80 und die Steuer auf Fr. 758.60 festgesetzt. Beim Verkauf in Gelterkinden ergab sich ein steuerbarer Gewinn von Fr. 57'319.-- und eine Steuer von Fr. 12'610.20. Von der Besteuerung der von der Beschwerdeführerin im Jahre 1964 erzielten Mietzinseinnahmen von Fr. 12'000.-- wurde im Hinblick auf die diesen Betrag übersteigenden Grundstückgewinnsteuern abgesehen (vgl.
§ 42 Abs. 2 StG
).
b) Der Kanton Basel-Stadt, der den von der Beschwerdeführerin im Jahre 1964 erzielten Gewinn im Jahre 1965 postnumerando besteuerte, berechnete den gesamten steuerbaren Reinertrag auf Fr. 76'184.25. Hievon wurden Fr. 57'702.20 (Grundstückgewinne und Mietzinseinnahmen abzüglich Grundstückgewinnsteuern) als im Kanton Basel-Landschaft steuerbar ausgeschieden, womit sich ein am Sitz Basel-Stadt steuerbarer Reinertrag von Fr. 18'482.05 ergab (Veranlagung vom 18. Februar 1966).
c) Der Kanton Bern erfasste die von der Beschwerdeführerin im Jahre 1964 für den Verzicht auf das Kaufsrecht an der Liegenschaft in Moutier erhaltene Entschädigung gemäss
Art. 77 Abs. 2 lit. a StG
(in der Fassung vor der Revision vom 28. Juni 1964) nicht mit der Vermögensgewinnsteuer (
Art. 77 ff. StG
), sondern mit der auf Grund des Ergebnisses der beiden Vorjahre veranlagten allgemeinen Gewinnsteuer für 1965/66. Dabei gelangte er in der Veranlagung vom 20. Juni 1966 zu einem steuerbaren Durchschnittsgewinn der Jahre 1963/64 von Fr. 35'143.-- auf Grund folgender Berechnung:
Einkommen 1963
-.-
Einkommen 1964 (Erlös des Kaufrechts)
Fr. 111'700.--
Abzüge:
- Vergütung für Näherbaurecht
10'000-
- Courtage, Notariat, Bankspesen
8'738.--
- Pauschalanteil an den Unkosten des Hauptsitzes (5 % des Verkaufspreises von Fr. 453'500.--)
22'675.--
Fr. 41'413.--
Reinertrag beider Jahre
Fr. 70'287.--
Durchschnitt
Fr. 35'143.--
BGE 92 I 461 S. 464
C.-
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 4. Juli 1966 ersucht die Aurinco AG um Aufhebung der sich aus den Veranlagungen der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Bern ergebenden Doppelbesteuerung. Zur Begründung macht sie im wesentlichen geltend: Der gesamte im Jahre 1964 erzielte Reingewinn der Beschwerdeführerin betrage gemäss der basel-städtischen Veranlagung Fr. 76'184.25 und erhöhe sich bei Hinzurechnung der im Kanton Basel-Stadt, nicht aber im Kanton Bern als Unkosten abziehbaren Steuern auf Franken 98'593.90. Demgegenüber werde sie von den drei Kantonen für folgende Erträgnisse des Jahres 1964 besteuert:
Basel-Stadt
Fr. 18'482.--
Basel-Landschaft
Fr. 67'523.80
Bern
Fr. 70'287.--
zusammen
Fr. 156'292.80
Die darin liegende Doppelbesteuerung sei zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Unkosten nicht oder ungenügend aufgeteilt worden seien...
D.-
Die Regierungsräte der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Bern beantragen die Abweisung der Beschwerde, wobei derjenige des Kantons Basel-Stadt erklärt, dass seine Steuerbehörde den in diesem Kanton steuerbaren Reinertrag von Fr. 18'482.05 auf Fr. 14'298.15 herabsetze.
E.-
Die Beschwerdeantwort jedes Kantons ist den beiden andern Kantonen sowie der Beschwerdeführerin zur Stellungnahme zugestellt worden.
F.-
Der bundesgerichtliche Instruktionsrichter hat die Beschwerdeführerin um Auskünfte über verschiedene tatsächliche Verhältnisse und um die Einreichung von Belegen ersucht. Die Beschwerdeführerin ist dieser Aufforderung mit Eingabe vom 28. Oktober 1966 nachgekommen. Weitere Auskünfte wurden beim Käufer der Liegenschaft in Oberdorf sowie bei der Baudirektion des Kantons Basel-Landschaft eingeholt.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Bei Beschwerden wegen Verletzung von
Art. 46 Abs. 2 BV
beginnt die 30-tägige Beschwerdefrist erst mit der Erhebung des zeitlich letzten der nach Auffassung des Beschwerdeführers einander ausschliessenden Steueransprüche (
Art. 89 Abs. 3 OG
;
BGE 92 I 461 S. 465
BGE 85 I 14
Erw. 2 mit Verweisungen). Die Beschwerdeführerin konnte daher im Anschluss an die bernische Veranlagung vom 20. Juni 1966, mit welcher sie für einen im Jahre 1964 erzielten Gewinn besteuert wurde, auch die basellandschaftlichen Veranlagungen zur Grundstückgewinnsteuer vom 30. November und 29. Dezember 1964 sowie die baselstädtische, den Reinertrag des Jahres 1964 betreffende Veranlagung vom 18. Februar 1966 wegen unzulässiger Doppelbesteuerung anfechten.
Der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft wendet ein, dass bei der Berechnung der in diesem Kanton steuerbaren Grundstückgewinne alle von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Unkosten vom Bruttogewinn abgezogen worden seien und es nicht angehe, weitere Auslagen nachträglich im Doppelbesteuerungsverfahren zu berücksichtigen. Der Einwand ist unbegründet. Die Beschwerdeführerin hat noch am 26. Oktober 1965, als sie die bernische Steuererklärung einreichte, angenommen, dass sie für ihre im Jahre 1964 erzielten Gewinne nur in den Kantonen Basel-Stadt und -Landschaft steuerpflichtig sei. Die in diesen beiden Kantonen ergangenen Veranlagungen hatten aber, wie die basel-städtische Steuerausscheidung vom 9. Februar 1966 zeigt, für die Beschwerdeführerin keine Doppelbesteuerung zur Folge. Eine solche ergab sich erst durch die am 20. Juni 1966 erfolgte Veranlagung im Kanton Bern. Wenn mit der hierauf erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde die Aufteilung der Unkosten beanstandet und vom Kanton Basel-Landschaft der Abzug weiterer, bisher nicht geltend gemachter Unkosten verlangt wird, so kann der Beschwerdeführerin hieraus kein Vorwurf gemacht werden; denn die Grundsätze, welche - wie noch darzulegen sein wird - die vom Kanton Basel-Landschaft vorgenommenen Unkostenabzüge als ungenügend erscheinen lassen, sind in Urteilen des Bundesgerichts enthalten, die dieses erst in letzter Zeit gefällt und in der Amtlichen Sammlung nicht veröffentlicht hat, nämlich im Urteil vom 18. Dezember 1963 i.S. Werthmüller AG und in Erw. 3 c des Urteils vom 27. April 1966 i.S. Theurillat Bau AG.
2.
Die Beschwerdeführerin handelt gewerbsmässig mit Liegenschaften. Sie hat ihren Sitz im Kanton Basel-Stadt und unterhält in keinem andern Kanton eine Betriebsstätte. Im Jahre 1964 hat sie zwei Liegenschaften im Kanton Basel-Landschaft
BGE 92 I 461 S. 466
mit Gewinn veräussert. Ferner hat sie in diesem Jahre durch den Verzicht auf ein Kaufsrecht an einer im Kanton Bern befindlichen Liegenschaft einen Gewinn erzielt. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreites ist die Frage, wie die Steuerhoheit in bezug auf diese Gewinne abzugrenzen sei zwischen dem Sitzkanton Basel-Stadt einerseits und den Liegenschaftskantonen Basel-Landschaft und Bern anderseits.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts steht das Grundeigentum und sein Ertrag unter der Steuerhoheit des Kantons, in dem es sich befindet. Das gleiche gilt für den bei der Veräusserung einer Liegenschaft erzielten Gewinn, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob er durch die allgemeine Einkommens- bzw. Gewinnsteuer oder durch eine besondere Wertzuwachs- oder Grundstückgewinnsteuer erfasst wird. In älteren Entscheiden wurde dies nur für Gewinne aus sog. Wertzuwachs, der ohne Zutun des Veräusserers entstanden ist, angenommen und eine Ausnahme gemacht für Gewinne, die wie diejenigen der Liegenschaftshändler und Bauunternehmer im wesentlichen auf die persönlichen Bemühungen des Veräusserers zurückzuführen waren (
BGE 49 I 46
,
BGE 54 I 241
). In
BGE 79 I 145
ff. wurde dann aber mit eingehender Begründung entschieden, dass auch diese Gewinne dem Kanton der gelegenen Sache zur ausschliesslichen Besteuerung zuzuweisen seien. Der Mehrerlös, der den persönlichen Bemühungen des Veräusserers zu verdanken ist, tritt heutzutage so sehr hinter den Wertzuwachs zurück, den das Grundstück infolge äusserer Ursachen und dank der Leistungen des Gemeinwesens erfährt, dass sich eine Sonderbehandlung des (zudem meist schwer abzugrenzenden) geschäftlich bedingten Mehrerlöses nicht rechtfertigen lasse. Vorbehalten wurde nur der blosse Buchgewinn sowie der Fall, wo das verkaufte Grundstück zu einer im betreffenden Kanton unterhaltenen Betriebsstätte gehört. Daran, dass auch die Besteuerung der Gewinne der Liegenschaftshändler grundsätzlich dem Kanton der gelegenen Sache zusteht, hat das Bundesgericht seit dem Urteil
BGE 79 I 147
festgehalten (
BGE 92 I 198
Erw. 2 mit Verweisungen). Ferner hat es diesen Grundsatz in
BGE 83 I 333
Erw. 3 auch als anwendbar erklärt, wenn der Gewinn nicht vom bisherigen Eigentümer beim Verkauf des Grundstücks, sondern vom Inhaber eines Kaufsrechts bei der Übertragung desselben erzielt worden ist. Dagegen sah sich das Bundesgericht in der Folge veranlasst, die in
BGE 79 I 147
BGE 92 I 461 S. 467
aufgestellte Kollisionsnorm nach gewissen Richtungen zu präzisieren und zu ergänzen.
a) Den vom Liegenschaftshändler erzielten Gewinn ganz dem Kanton der gelegenen Sache zuzuweisen, lässt sich sachlich nur rechtfertigen, wenn alle Aufwendungen, die dem Händler im Hinblick auf die Gewinnerzielung erwachsen, von diesem Kanton zum Abzug zugelassen werden müssen und deshalb vom Kanton, in dem der Händler zufolge Wohn- oder Geschäftssitz sein übriges Einkommen zu versteuern hat, nicht berücksichtigt zu werden brauchen (
BGE 88 I 339
ff.). Zu diesen Aufwendungen gehören auch die durch den Liegenschaftsertrag nicht gedeckten Zinsen der Darlehen, die der Liegenschaftshändler zur Finanzierung seiner Geschäfte aufgenommen hat. Da die Pflicht des Liegenschaftskantons zum Abzug aller für die Gewinnerzielung notwendigen Aufwendungen des Händlers unmittelbar aus dem bundesrechtlichen Verbot der Doppelbesteuerung folgt, besteht sie, wie das Bundesgericht in bezug auf die durch den Liegenschaftsertrag nicht gedeckten Schuldzinsen wiederholt entschieden hat, auch dann, wenn das betreffende kantonale Recht den Abzug dieser Zinsen vom steuerbaren Grundstückgewinn nicht vorsieht (
BGE 88 I 342
Erw. 2,
BGE 92 I 198
Erw. 2 sowie die nicht veröffentlichten Urteile vom 27. April 1966 i.S. Chevillat c. Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Bern, Erw. 4 a, und vom 9. November 1966 i.S. Kellenberger c. Kantone Basel-Stadt und Tessin).
b) Im nicht veröffentlichten Urteil vom 18. Dezember 1963 i.S. Werthmüller AG c. Kantone Solothurn und Bern (LOCHER, Doppelbesteuerung § 7 I B Nr. 20) hatte sich das Bundesgericht mit einer Aktiengesellschaft zu befassen, die neben dem Handel mit Liegenschaften ein Architekturbüro betrieb, das Pläne für Bauten auf ihren Grundstücken ausarbeitete und die (Dritten übertragene) Ausführung der von ihr projektierten Bauten leitete. Der Sitzkanton Solothurn und der Kanton Bern, wo sich ein Teil der verkauften Liegenschaften befand, waren darüber einig, dass bei den überbaut verkauften Liegenschaften ausser den Bauhandwerkerrechnungen und den Bauzinsen auch ein Architekturhonorar vom 8% der Bausumme vom Grundstückgewinn abzuziehen und dem im Sitzkanton steuerbaren Gewinn zuzurechnen sei, was das Bundesgericht (unter Hinweis auf
BGE 83 I 186
/87) als richtig bezeichnete.
BGE 92 I 461 S. 468
Ebenfalls einig waren die beiden Kantone darüber, dass ein entsprechender Abzug vom Grundstückgewinn auch zu machen sei für die Unkosten, die der Beschwerdeführerin infolge ihrer mit dem An- und Verkauf der Liegenschaften verbundenen Umtriebe in Form von Personal- und Sachauslagen, Reisespesen, Telephongebühren, Porti usw. erwachsen waren. Während jedoch der Liegenschaftskanton Bern einen Pauschalabzug von 3% der Verkaufspreise als angemessen erachtete, rechnete der Sitzkanton Solothurn bei den unüberbaut verkauften Grundstücken mit einem Satz von 10% und bei den überbauten Liegenschaften mit rund 12,5%. Das Bundesgericht kam aus im Urteil näher dargegelegten Gründen zum Schluss, dass beide Sätze offensichtlich unrichtig seien. Es war jedoch nicht in der Lage, selber den richtigen Satz zu bestimmen, und wies die Sache daher an die beiden Steuerverwaltungen zurück zur nochmaligen Überprüfung und neuen Verlegung des als "Liegenschaftskosten" zu betrachtenden Anteils an den allgemeinen Unkosten der Beschwerdeführerin.
Mit dem Urteil i.S. Werthmüller AG hat das Bundesgericht, ohne es ausdrücklich zu sagen, den in
BGE 79 I 145
ff. aufgestellten Grundsatz, dass der Gewinn aus der Veräusserung von Liegenschaften auch soweit er auf persönliche Geschäftstätigkeit zurückgeht, ausschliesslich dem Kanton der gelegenen Sache zur Besteuerung zuzuweisen sei (a.a.O. S. 148), eingeschränkt. Nach jenem Urteil ist jedenfalls bei einer Aktiengesellschaft, die mit Liegenschaften handelt und sie überbaut, derjenige Teil ihrer allgemeinen Unkosten vom Grundstückgewinn abzuziehen, der ihren Bemühungen beim An- und Verkauf und ihren Architekturarbeiten entspricht. Hieran ist auch für den vorliegenden Fall festzuhalten. Ob entsprechende Abzüge vom Bruttogrundstückgewinn auch zu machen sind, wenn es sich beim Veräusserer nicht um eine juristische, sondern um eine natürliche Person handelt, ist hier nicht zu entscheiden, doch dürfte sich eine unterschiedliche Behandlung kaum rechtfertigen lassen.
c) In der nicht veröffentlichten Erwägung 3 c des Urteils vom 27. April 1966 i.S. Theurillat Bau AG (
BGE 92 I 198
) hat das Bundesgericht schliesslich entschieden, dass auch die auf dem Grundstückgewinn erhobene Steuer vom Kanton der gelegenen Sache zum Abzug zuzulassen sei und vom Kanton des Wohn- oder Geschäftssitzes des Händlers nicht berücksichtigt
BGE 92 I 461 S. 469
zu werden brauche, da diese Steuer unmittelbar mit dem Verkauf zusammenhänge, den erzielten Gewinn schmälere und daher ebenfalls als eine dem Händler im Hinblick auf die Erzielung des Grundstückgewinns erwachsende Aufwendung (
BGE 88 I 341
) erscheine. Voraussetzung für diesen Abzug ist, was dort nicht gesagt wurde, freilich, dass die Grundstückgewinnsteuer nach dem Steuerrecht des Liegenschaftskantons bei einem Steuerpflichtigen der in Frage stehenden Art überhaupt zu den bei der Berechnung des steuerbaren Einkommens oder Gewinns abziehbaren Unkosten gehört. Das traf im Falle Theurillat Bau AG zu, da nach § 42 Abs. 2 des StG des Liegenschaftskantons Basel-Landschaft die Kapitalgesellschaften die im Geschäftsjahr verbuchten Steuern, also auch die Grundstückgewinnsteuer, vom Reingewinn abziehen dürfen. Hat aber eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Kanton Basel-Landschaft die Möglichkeit, die Grundstückgewinnsteuer vom steuerbaren Geschäftsgewinn abzuziehen, so muss es auf Grund von
Art. 46 Abs. 2 BV
einer Kapitalgesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Kanton hat und im Kanton Basel-Landschaft nur als Grundeigentümerin steuerpflichtig ist, gestattet werden, die Grundstückgewinnsteuer vom Liegenschaftsertrag und, soweit ein solcher nicht besteht oder nicht ausreicht, vom Grundstückgewinn selber abziehen. Die Berechnung dieses Abzuges wird, namentlich wenn die Grundstückgewinnsteuer wie üblich progressiv ausgestaltet ist oder wenn sie teilweise vom Liegenschaftsertrag abgezogen werden kann, nicht immer einfach sein. Wie dabei vorzugehen sei, ist hier nicht näher zu prüfen. Es genügt die Feststellung, dass der Liegenschaftshändler Anspruch auf vollen Abzug der Grundstückgewinnsteuer vom Liegenschaftsertrag und vom Grundstückgewinn selber hat, wenn ein solcher Händler, der sein allgemeines Steuerdomizil im Liegenschaftskanton hat, berechtig ist, die Grundstückgewinnsteuer von seinem dort steuerbaren Einkommen oder Geschäftsgewinn abzuziehen.
3.
Geht man von den in Erw. 2 dargelegten Grundsätzen aus, so erweist sich die bernische Veranlagung vom 20. Juni 1966 als unanfechtbar.
a) Die Beschwerdeführerin hat auf die Ausübung eines Kaufsrechts an einem Grundstück im Kanton Bern zugunsten eines Dritten verzichtet und von diesem eine Entschädigung von Fr. 111'700.-- erhalten. Gemäss
BGE 83 I 333
Erw. 3 untersteht
BGE 92 I 461 S. 470
der bei der Veräusserung eines Kaufsrechts erzielte Gewinn gleich wie der beim Verkauf des Grundstücks selber erzielte Gewinn grundsätzlich der Steuerhoheit des Kantons der gelegenen Sache. Das gleiche muss gelten für den Gewinn, der dadurch erzielt- wird, dass zugunsten eines Dritten gegen eine Entschädigung auf die Ausübung des Kaufsrechts verzichtet wird; in diesem Sinne hat das Bundesgericht bereits im Urteil vom 7. Oktober 1964 i.S. Jenny c. Kanton Solothurn (ASA 34 S. 182 ff.) entschieden. Bedeutungslos ist schliesslich, dass das (öffentlich beurkundete) Kaufsrecht der Beschwerdeführerin nicht im Grundbuch vorgemerkt war; die Gründe, die in
BGE 83 I 333
Erw. 3 für die Zuweisung des Besteuerungsrechts an den Kanton der gelegenen Sache massgebend waren, treffen beim vorgemerkten und beim nicht vorgemerkten Kaufsrecht gleichermassen zu.
b) Die bernische Steuerverwaltung hat vom Bruttogewinn von Fr. 111'700.-- ausser den Ausgaben der Beschwerdeführerin (Entschädigung für ein Näherbaurecht, Courtage und Notariatskosten) im Sinne des oben erwähnten Urteils i.S. Werthmüller AG auch einen Anteil an den Unkosten des Hauptsitzes abgezogen und diesen Anteil pauschal auf 5% des vom Erwerber der Liegenschaft ausgelegten Preises, d.h. auf Franken 22'675.-- festgesetzt. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt bezeichnet diesen Satz als ungenügend und hält 10%=Fr. 45'350.-- für angemessen, während die Beschwerdeführerin in der Beschwerde wie in der Replik behauptet, es handle sich bei der gesamten, von ihr bezogenen "Entschädigung für das Kaufsrecht" um ein Honorar für ihre Arbeitsleistung, da sie für Baureifmachung des Landes besorgt gewesen sei und dem Käufer der Liegenschaft ein definitives und baureifes Projekt mit Baubewilligung vorgelegt habe. Vom Instruktionsrichter um nähere Angaben über dieses Projekt ersucht, musste die Beschwerdeführerin indes zugeben, dass ein solches Projekt nicht bestand, die Kosten für die Leistungen des Architekten vielmehr direkt von der Käuferin der Liegenschaft bezahlt worden und in der ihr (der Beschwerdeführerin) ausbezahlten Vergütung nicht enthalten gewesen seien. Die Bemühungen der Beschwerdeführerin beschränkten sich somit im wesentlichen darauf, die Versetzung des Landes in eine günstigere Bauzone sowie die Einräumung eines Näherbaurechts seitens eines Nachbarn zu erwirken, einen Käufer für
BGE 92 I 461 S. 471
das Land zu finden und an dessen Verhandlungen mit dem Architekten sowie an der Bauleitung teilzunehmen. Wenn der Kanton Bern für diese Bemühungen ein Pauschale von 5% nicht nur von der Entschädigung für den Verzicht auf das Kaufrecht (Fr. 117'700.--), sondern auch von dem nebst dieser Entschädigung vom Käufer bezahlten Kaufpreis abgezogen hat (5% von zusammen Fr. 453'500.--), so hat er damit jenen Bemühungen ganz offensichtlich reichlich Rechnung getragen, handelt es sich dabei doch, wie der Regierungsrat in der Beschwerdeantwort ausführt und in keiner Replik bestritten wird, um rund einen Drittel der gesamten allgemeinen Unkosten der Beschwerdeführerin im Jahre 1964.
c) Zum Abzug der von der Beschwerdeführerin für den Grundstückgewinn zu entrichtenden Steuern von diesem Gewinn wäre der Kanton Bern nach dem in Erw. 2 c Gesagten nur verpflichtet, wenn eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Kanton Bern diese Steuer vom steuerbaren Geschäftsgewinn abziehen könnte. Das ist nicht der Fall. Vielmehr erwähnt Art. 64 lit. c des bern. StG unter den Unkosten, die bei der Ermittlung des steuerbaren Gewinns zum buchmässigen Reingewinn hinzuzurechnen sind, ausdrücklich auch die Steuern. Anderseits ist der Kanton Basel-Stadt, obwohl nach § 73 Abs. 3 lit. a seines StG die Steuern zur Ermittlung des Reingewins abgezogen werden können, nicht gehalten, die bernische Grundstückgewinnsteuer (und die für die beiden ertragslosen bernischen Liegenschaften der Beschwerdeführerin geschuldete Kapitalsteuer) abzuziehen, da es sich um "Liegenschaftskosten" handelt.
4.
Im Kanton Basel-Landschaft hat die Beschwerdeführerin im Jahre 1964 zwei Liegenschaften mit Gewinn veräussert. Dass diese Gewinne der Steuerhoheit dieses Kantons unterstehen, ist unbestritten. Streitig ist einzig, in welcher Höhe sie vom Kanton Basel-Landschaft erfasst werden dürfen. Diese Frage ist für die beiden Liegenschaften getrennt zu prüfen.
a) Bei der in Oberdorf verkauften Liegenschaft handelt es sich um unverändert weiterveräussertes Bauland. Die basellandschaftliche Steuerverwaltung gelangte, von einem Ankaufspreis von Fr. 19'656.-- ausgehend, unter Berücksichtigung von Fr. 933.60 Erwerbs- und Verkaufsunkosten zu einem steuerbaren Grundstückgewinn von Fr. 10'204.80. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt ist der Auffassung, hievon seien
BGE 92 I 461 S. 472
(ausser der hienach unter lit. c zu behandelnden Grundstückgewinnsteuer) abzuziehen die Kosten eines mitveräusserten Bauprojekts (Fr. 8'525.--), ein dem Käufer zurückerstatteter Betrag (Fr. 724.--) sowie als Anteil an den allgemeinen Unkosten der Beschwerdeführerin ein Pauschalbetrag von 7% des Verkaufspreises, wovon 5% für die Verkaufsverhandlungen als "Mäklerlohn" und 2% für zusätzliche Bemühungen, während die im Jahre 1960 über Unkosten verbuchten Erwerbskosten (Fr. 485.10) zum Gewinn hinzuzurechnen seien; ferner habe der Ankaufspreis Fr. 19'776.-- und nicht Fr. 19'656.-- betragen, was einen weiteren Abzug von Fr. 120.-- ergebe. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft hat sich in der Replik allen diesen Abzügen widersetzt.
Nach dem in Erw. 2 b hievor und im dort genannten Urteil i.S. Werthmüller AG Gesagten hat der Liegenschaftskanton vom Bruttogewinn denjenigen Teil der allgemeinen Unkosten des Liegenschaftshändlers abzuziehen, der als Vergütung für die mit dem An- und Verkauf verbundenen Umtriebe zu betrachten ist und der Natur der Sache nach nur pauschal geschätzt werden kann. Nach dem vom Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt eingereichten Tarif des Schweiz. Verbandes der Immobilien-Treuhänder beträgt die Mäklerprovision beim Verkauf von Bauland 5%. Da dies gegenüber der Provision beim Verkauf überbauten Landes von 2% verhältnismässig viel ist, besteht kein Grund zu der vom Regierungsrat von Basel-Stadt verlangten Erhöhung auf 7%, zumal nicht ersichtlich ist, worin die weiteren Bemühungen der Beschwerdeführerin bestanden haben. Von dem im Kanton Basel-Landschaft steuerbaren Grundstückgewinn sind somit 5% des Verkaufspreises = Fr. 1'638.-- abzuziehen.
In bezug auf die übrigen vom Kanton Basel-Stadt verlangten Abzüge hat der Instruktionsrichter die Beschwerdeführerin um Auskunft ersucht. Nach dieser hat sie zwar ein Bauprojekt ausarbeiten lassen und hiefür Fr. 8'525.-- bezahlt, das Projekt aber entgegen der Behauptung des Regierungsrates von Basel-Stadt nicht mitveräussert, was der Käufer dem Bundesgericht mit Schreiben vom 3. Oktober 1966 bestätigt hat. Nach dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Kaufvertrag hat der Erwerbspreis in der Tat Fr. 19'776.-- und nicht Fr. 19'656.-- betragen. Während der Käufer bestreitet, dass ihm Fr. 724.-- zurückerstattet worden seien, erachtet die Beschwerdeführerin
BGE 92 I 461 S. 473
auf Grund einer Quittung eines Architekten einen Abzug von Fr. 500.-- als gerechtfertigt. Schliesslich anerkennt sie, dass die Erwerbskosten im Jahre 1960 über Unkosten verbucht und nicht aktiviert worden sind.
Auf Grund dieser Auskünfte der Beschwerdeführerin lässt sich nicht entscheiden, inwieweit die weiteren Abzugsbegehren des Kantons Basel-Stadt begründet sind. Es kann nicht Sache des Bundesgerichts sein, durch Fortsetzung des Schriftenwechsels oder durch Verhandlung mit den Parteien die mit diesen Abzugsposten zusammenhängenden Fragen weiter abzuklären. Vielmehr haben die Steuerverwaltungen der Kantone Basel-Stadt und -Landschaft, nötigenfalls im gegenseitigen Einvernehmen und unter Beizug der Beschwerdeführerin, diese Fragen zu prüfen und die Beschwerdeführerin neu zu veranlagen.
b) Auf dem 1962 erworbenen Land in Gelterkinden hat die Beschwerdeführerin in den Jahren 1963/64 ein Zehnfamilienhaus erstellt und dann die Liegenschaft am 27. Oktober 1964 verkauft. Die basellandschaftliche Steuerverwaltung zog vom Erlös den Erwerbspreis, die Baukosten sowie die Erwerbs- und Verkaufsunkosten ab und gelangte dabei zu einem steuerbaren Grundstückgewinn von Fr. 57'319.--. Die Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt ist der Auffassung, hievon seien (ausser der hienach unter lit. c zu behandelnden Grundstückgewinnsteuer) noch abzuziehen die Zinsen einer vom Käufer geleisteten Anzahlung (Fr. 541.--), ein unberücksichtigt gelassener Teilbetrag der Kosten des Kanalisationsanschlusses (Fr. 1'301.45) und als Anteil an den allgemeinen Unkosten der Beschwerdeführerin 5% der Mietzinseinnahmen sowie 7% des Verkaufspreises, wovon 2% als "Mäklerlohn" und 5% für zusätzliche Bemühungen (Erschliessung des Landes, Mitwirkung bei der Erstellung der Baupläne und bei der Bauleitung). Der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft hat in der Replik alle diese Abzüge abgelehnt.
Aus dem für die Liegenschaft in Oberdorf Gesagten folgt, dass der Kanton Basel-Landschaft auch hier einen Anteil der allgemeinen Unkosten der Beschwerdeführerin vom Bruttogewinn abzuziehen hat. Ein Abzug nur in der Höhe der im erwähnten Tarif vorgesehenen Verkaufsprovision von 2% ist offensichtlich zu niedrig, da die Beschwerdeführerin nicht nur die Verkaufsverhandlungen führte, sondern als Bauherrin bei der Erstellung der Pläne mit dem Architekten zusammenarbeitete
BGE 92 I 461 S. 474
und sich an der Bauleitung beteiligte. Dagegen kann sie für die Erschliessung nichts beanspruchen, hat doch, wie die Beschwerdeführerin und die Baudirektion des Kantons Basel-Landschaft bestätigen, schon die frühere Eigentümerin des Landes ein Bauprojekt ausgearbeitet, dessen Ausführung ihr bewilligt worden wäre. Unter diesem Umständen erscheint ein Abzug von 5% des Verkaufspreises=Fr. 28'250.-- als angemessen. Ferner ist für die Verwaltung der Liegenschaft nach der Fertigstellung und Vermietung gemäss dem erwähnten Tarif ein Abzug von 5% der vom Juni bis Oktober 1964 eingenommenen Mietzinsen von Fr. 12'000.--=Fr. 600.-- gerechtfertigt.
Inbezug auf die weiteren, vom Regierungsrat von Basel-Stadt verlangten Abzüge von Fr. 541.-- und Fr. 1'301.45 gestatten die Auskünfte der Beschwerdeführerin kein abschliessendes Urteil. Es ist auch hier Sache der beiden Steuerverwaltungen, die damit zusammenhängenden Fragen näher zu prüfen und über die Begründetheit der Abzüge zu befinden.
c) Nach dem in Erw. 2 c hiervor Gesagten hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf Abzug der Grundstückgewinnsteuern von ihrem im Kanton Basel-Landschaft steuerbaren Reingewinn und, sofern dieser hiefür nicht ausreicht, vom Grundstückgewinn selber. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft erklärt, die (nach den angefochtenen Veranlagungen zusammen Franken 13'368.80 betragenden) Grundstückgewinnsteuern seien mit den ungefähr gleich hohen Mietzinseinnahmen (von Franken 12'000.--) verrechnet worden. Eine solche ungefähre Verrechnung ist indes nicht angängig; die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf genaue Berechnung der steuerbaren Grundstückgewinne einerseits und des übrigen im Kanton steuerbaren Reingewinns anderseits. Der Kanton Basel-Landschaft hat daher zunächst neue Veranlagungen zur Grundstückgewinnsteuer vorzunehmen. Dabei werden schon die von ihm auf jeden Fall zuzulassenden Abzüge von 5% der Verkaufspreise und der Mietzinseinnahmen zu einer so erheblichen Herabsetzung der Grundstückgewinnsteuern führen, dass diese voll von den Mietzinseinnahmen von Fr. 12'000.-- abgezogen werden können. Für den Rest der Mietzinseinnahmen kann die Beschwerdeführerin hierauf zur allgemeinen Gewinnsteuer für Kapitalgesellschaften (
§
§ 42 und 43 StG
) verlangt werden.
5.
Aus den vorstehenden Ausführungen über die Veranlagungen der Kantone Bern und Basel-Landschaft (Erw. 3
BGE 92 I 461 S. 475
und 4) ergibt sich, dass der Kanton Basel-Stadt mit seiner ursprünglichen wie auch mit seiner gemäss Replik berichtigten Steuerausscheidung die Besteuerungsrechte der beiden Liegenschaftskantone in ungenügendem Masse berücksichtigt hat. Die Beschwerde ist somit auch gegenüber dem Kanton Basel-Stadt gutzuheissen.
6.
Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens sind seinem Ausgang entsprechend den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft und der Beschwerdeführerin zu gleichen Teilen aufzuerlegen. Auch die Beschwerdeführerin mit einem Teil der Kosten zu belasten, rechtfertigt sich trotz der grundsätzlichen Gutheissung der Beschwerde deshalb, weil sie die Steuerverwaltung des Kantons Basel-Stadt über das Kaufsrecht nicht unterrichtet hat, den beteiligten Steuerverwaltungen teilweise sich widersprechende Angaben gemacht hat und die staatsrechtliche Beschwerde so summarisch begründet hat, dass ein zweiter Schriftenwechsel sowie die Einholung von Auskünften durch das Bundesgericht notwendig waren.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gegenüber den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft im Sinne der Erwägungen gutgeheissen, gegenüber dem Kanton Bern abgewiesen. | public_law | nan | de | 1,966 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2d48d495-f277-48d3-a1b4-1476569e9d06 | Urteilskopf
138 IV 193
28. Extrait de l'arrêt de la Cour de droit pénal dans la cause X. contre Ministère public de la République et canton de Genève, Y. et Z. (recours en matière pénale)
6B_701/2011 du 21 mai 2012 | Regeste
Stellung als Privatkläger; Beschwerde;
Art. 65 und 393 Abs. 1 lit. b StPO
.
Der anlässlich der Hauptverhandlung vorfrageweise ergangene Entscheid, die Stellung als Privatkläger zu verneinen, kann sofort mit Beschwerde angefochten werden (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 194
BGE 138 IV 193 S. 194
A.
Il est reproché à Y. d'avoir violé le 22 novembre 2009 la mineure Z., née le 25 janvier 1995. A l'ouverture des débats devant le Tribunal correctionnel du canton de Genève, la mère de l'enfant, X., a déposé des conclusions civiles en son propre nom à concurrence de 26'835 fr. 25 tendant au paiement par Y. du dommage et du tort moral qu'elle prétendait avoir elle-même subis.
Par décision du 31 mai 2011, le Tribunal correctionnel du canton de Genève a constaté que X. n'avait pas qualité de partie plaignante.
Les débats se sont poursuivis sans X. Par jugement du 3 juin 2011, le Tribunal correctionnel a reconnu Y. coupable de viol et d'actes d'ordre sexuel avec des enfants et l'a condamné à une peine privative de liberté de 3 ans, sous déduction de 380 jours de détention avant jugement, cette peine étant prononcée sans sursis à raison de 12 mois, le sursis partiel lui étant accordé pour le surplus avec délai d'épreuve de 4 ans. Le tribunal a accordé à l'enfant Z. une indemnité de 15'000 fr. pour tort moral.
B.
X. a formé un recours contre la décision du 31 mai 2011. Par arrêt du 16 septembre 2011, la Cour de justice de la République et canton de Genève, Chambre pénale de recours, a déclaré ce recours irrecevable, considérant qu'aucune voie de droit n'était ouverte à ce stade de la procédure.
C.
X. forme un recours en matière pénale au Tribunal fédéral contre l'arrêt cantonal. Elle conclut, sous suite de dépens, principalement à son annulation, à ce que sa qualité de partie plaignante soit constatée, à ce que la cause soit renvoyée au Tribunal correctionnel, et à ce qu'il soit ordonné à la direction de la procédure de statuer sur ses conclusions civiles; subsidiairement, elle conclut à l'annulation et au renvoi de la cause en instance cantonale pour qu'il soit statué sur le recours cantonal. Elle sollicite par ailleurs l'assistance judiciaire.
Invités à se déterminer sur le recours, le Ministère public s'en remet à justice quant à la recevabilité d'un recours au plan cantonal et persiste pour le surplus dans ses observations déposées en instance cantonale, tandis que
Z. s'en rapporte à justice et Y.
conclut à l'admission du recours et au bénéfice de l'assistance judiciaire.
BGE 138 IV 193 S. 195
Erwägungen
Extrait des considérants:
4.
4.1
La Chambre pénale de recours a relevé, en référence à la version allemande du CPP (RS 312.0), que l'exception prévue à l'art. 393 al. 1 let. b in fine CPP ne vise pas les décisions de "la" direction de la procédure au sens de l'
art. 61 let
. c CPP, mais les décisions "de" direction de la procédure rendues par le tribunal lui-même (verfahrensleitende Entscheide). Elle a considéré qu'en application de l'
art. 65 al. 1 CPP
, de telles ordonnances ne pouvaient être attaquées qu'avec la décision finale et a ainsi exclu qu'un recours soit ouvert selon l'
art. 393 al. 1 let. b CPP
.
4.2
La recourante est d'avis que la Chambre pénale de recours a violé l'
art. 393 al. 1 let. b CPP
en refusant d'entrer en matière sur son recours. Elle considère que la décision prise en première instance lui refusant la qualité de partie plaignante n'est pas une décision qui organise la procédure (verfahrensleitende Entscheide), pour laquelle un recours immédiat est exclu en vertu de l'art. 393 al. 1 let. b in fine CPP, mais qu'il s'agit bien plutôt d'une décision d'une autre nature, qui touche directement ses droits de partie et contre laquelle le recours doit être ouvert.
4.3
La décision rendue en première instance le 31 mai 2011 n'a pas tranché une question de droit matériel et ne revêt ainsi pas la forme d'un jugement selon l'
art. 80 CPP
. La voie de l'appel au sens des
art. 398 ss CPP
n'entre pas en ligne de compte contre une telle décision (cf. LUZIUS EUGSTER, in Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, n° 2 ad
art. 398 CPP
). Seul un recours au sens de l'
art. 393 al. 1 let. b CPP
peut être envisagé.
4.3.1
Aux termes de l'
art. 393 al. 1 let. b CPP
, le recours est recevable contre les ordonnances, les décisions et les actes de procédure des tribunaux de première instance, "sauf contre ceux de la direction de la procédure" (en allemand: "ausgenommen sind verfahrensleitende Entscheide"; en italien: "sono eccettuate le disposizioni ordinatorie"). Cette disposition doit être lue en corrélation avec l'
art. 65 al. 1 CPP
, aux termes duquel "les ordonnances rendues par les tribunaux" (en allemand : "verfahrensleitende Anordnungen der Gerichte"; en italien: "le disposizioni ordinatorie del giudice") ne peuvent être attaquées qu'avec la décision finale.
La doctrine mentionne notamment comme décision susceptible de recours selon l'
art. 393 al. 1 let. b CPP
la suspension provisoire de
BGE 138 IV 193 S. 196
la procédure (
art. 329 al. 2 CPP
), le renvoi de l'acte d'accusation au ministère public (
art. 329 al. 2 CPP
), le classement de la procédure (
art. 329 al. 4 CPP
) (cf. MARC RÉMY, in Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, n° 11 ad
art. 393 CPP
). En revanche, les ordonnances contre lesquelles un recours immédiat est exclu selon les art. 65 al. 1 et 393 al. 1 let. b in fine CPP concernent en particulier toutes les décisions qu'exigent l'avancement et le déroulement de la procédure avant ou pendant les débats. Tant le message du Conseil fédéral que la doctrine excluent un recours séparé contre les décisions prises lors des débats (cf. Message du 21 décembre 2005 relatif à l'unification du droit de la procédure pénale, FF 2006 1057 ss, spéc. 1296 ad art. 401 al. 1 let. b du projet; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, n° 12 ad
art. 393 CPP
; STEPHENSON/THIRIET, in Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, n° 13 ad
art. 393 CPP
). Néanmoins, pour les décisions prises avant les débats, Niklaus Schmid propose de distinguer celles qui ont un caractère formel et celles qui ont un caractère matériel, un recours immédiat devant selon lui être ouvert contre ces dernières (cf. NIKLAUS SCHMID, op. cit., n° 13 ad
art. 393 CPP
; contra STEPHENSON/THIRIET, op. cit., n° 13 ad
art. 393 CPP
).
4.3.2
Un courant de doctrine se penche sur le cas spécifique d'une décision d'exclusion de la qualité de partie plaignante prise lors des débats préalablement au jugement au fond. Pour la personne qui se voit dénier la qualité de partie plaignante lors des débats, le procès se termine. Elle ne peut plus participer à la suite des débats. A rigueur de loi, elle ne pourra pas former un appel contre le jugement au fond dès lors qu'elle n'est plus partie à la procédure et qu'elle n'a donc pas qualité pour agir. Dans cette configuration particulière, la voie d'un recours immédiat doit être ouverte (cf. THOMAS MAURER, in Kommentierte Textausgabe zur schweizerischen Strafprozessordnung, Goldschmid/Maurer/Sollberger [éd.], 2008, p. 393; ANDREAS J. KELLER, Kommentar zur StPO, Donatsch/Hansjakob/Lieber [éd.], n° 19 ad
art. 393 CPP
).
4.4
Cette dernière approche doit être suivie. La décision préalable lors des débats d'exclure la qualité de partie plaignante a une portée particulière. Les effets d'une telle décision ne sont pas susceptibles d'être réparés par la suite. Contrairement à ce que suppose une partie de la doctrine (cf. STEPHENSON/THIRIET, op. cit., n° 13 in fine ad
art. 393 CPP
), un recours immédiat au Tribunal fédéral contre une
BGE 138 IV 193 S. 197
telle décision n'est pas ouvert dès lors qu'elle émane d'une juridiction inférieure et qu'on ne saurait déduire du système légal que le législateur a délibérément opté pour une instance cantonale unique s'agissant d'une décision quant à la qualité de partie plaignante (cf.
art. 80 LTF
). Par ailleurs, admettre que la personne dont la qualité de partie plaignante a été déniée aux débats puisse ensuite former appel contre le jugement au fond et mettre en cause la décision préalable d'exclusion supposerait aussi une interprétation et un aménagement de la loi puisque précisément l'appel contre le jugement au fond est réservé à la partie qui a participé aux débats de première instance (cf. LUZIUS EUGSTER, op. cit., n° 7 ad
art. 398 CPP
). Le CPP n'offre donc pas de solution satisfaisante et il apparaît que le législateur a omis de tenir compte de la problématique spécifique de l'exclusion de la qualité de partie plaignante lors des débats. Cette lacune proprement dite doit être comblée. Il est préférable qu'une voie de droit immédiate soit ouverte et il se justifie ainsi de prévoir le recours de l'
art. 393 al. 1 let. b CPP
.
4.5
Il résulte de ce qui précède que le recours doit être admis et la cause renvoyée à l'autorité cantonale pour qu'elle entre en matière sur le recours interjeté devant elle contre la décision rendue le 31 mai 2011 afin de se prononcer sur la qualité de partie plaignante ou non de la recourante. | null | nan | fr | 2,012 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2d4b0197-cadc-4d17-a2f9-4d520cddbd15 | Urteilskopf
91 II 339
49. Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Oktober 1965 i.S. Ernst Göhner AG gegen Sparkasse des Wahlkreises Thalwil. | Regeste
1. Passivlegitimation bei der Dienstbarkeitsklage des Dienstbarkeitsberechtigten (Erw. 2).
2. Tragweite des Verbotes, ein Haus mit lärmendem "Getriebe" zu erstellen (Erw. 3).
3. Änderung in der Zweckbestimmung des belasteten Grundstücks (Erw. 4 b). | Sachverhalt
ab Seite 339
BGE 91 II 339 S. 339
A.-
Die Sparkasse des Wahlkreises Thalwil ist seit 1931 Eigentümerin des Grundstückes Kat. Nr. 6336, Gotthardstrasse 10 in Thalwil. Zugunsten und zulasten des Nachbar grundstückes Kat. Nr. 6335, Gotthardstrasse 12, Thalwil, das sich seit 1936 im Eigentum von Dr. Jucker befindet, ist im Grundbuch folgende, auf das Jahr 1910 zurückgehende Servitut eingetragen:
"Der jeweilige Eigentümer des Grundsstückes Kat. Nr. 6336 hat für sich und seine Rechtsnachfolger gegenüber dem jeweiligen Eigentümer der Liegenschaft Kat. Nr. 6335 verpflichtet, auf seinem Grundstück niemals eine Fabrik, ein Haus mit lärmendem Getriebe oder eine Mietskaserne zu erstellen oder in einer der auf seinem Lande erstellten Gebäulichkeiten nie eine Wirtschaft zu betreiben oder betreiben zu lassen. Die gleiche Verpflichtung geht der jeweilige Eigentümer von Kat. Nr. 6335 gegenüber dem Eigentümer von Kat. Nr. 6336 ein."
Das Grundstück von Dr. Jucker ist mit einer herrschaftlichen Villa überbaut. Die Ernst Göhner AG beabsichtigt, die Villa
BGE 91 II 339 S. 340
abzureissen und ein Wohnhaus mit Laden zu erstellen. Geplant ist ein Gebäude mit einer gegen die Gotthardstrasse gerichteten Breite von 34 m und einer Tiefe von 20 m in den beiden Obergeschossen und von 23-31 m im Erdgeschoss, Untergeschoss und Keller. Vorgesehen sind im ersten Keller ein Einstellraum für 30 Personenwagen, Lager und Ateliers im Untergeschoss, Ladenlokalitäten im Erdgeschoss und ersten Obergeschoss, sechs 1- bis 3-Zimmer-Wohnungen im zweiten Obergeschoss sowie in einem Attika genannten, allseitig zurückgesetzten dritten Obergeschoss eine 6-Zimmer-Wohnung mit Dachterrasse. Der Einstellraum im ersten Keller wird über eine Rampe mit 15% Gefälle erreicht, während die Warenlieferungen für den Laden auf der entgegengesetzten Seite des Hauses erfolgen sollen.
Am 2. April 1964 erteilte der Gemeinderat von Thalwil der Ernst Göhner AG die Baubewilligung. Die Sparkasse des Wahlkreises Thalwil erhob beim Einzelrichter im summarischen Verfahren am Bezirksgericht Horgen Baueinsprache. Diese wurde mit Verfügung vom 23. April 1964 geschützt und der Sparkasse Frist zur Einreichung der Klage beim ordentlichen Richter angesetzt.
B.-
Am 10. Juni 1964 reichte die Sparkasse des Wahlkreises Thalwil gegen die Ernst Göhner AG beim Obergericht des Kantons Zürich eine Klage ein mit dem Rechtsbegehren, es sei der Beklagten die Ausführung des auf dem Grundstück Kat. Nr. 6335 an der Gotthardstrasse 12 in Thalwil projektierten Bauvorhabens gemäss Ausschreibung im Amtsblatt Nr. 18 vom 3. März 1964, nämlich eines Wohnhauses mit Laden, definitiv zu verbieten.
Zur Begründung berief sich die Klägerin auf den Wortlaut der zugunsten ihres und zulasten des Grundstückes Dr. Juckers eingetragenen Dienstbarkeit und machte geltend, der geplante Bau verletze diese Dienstbarkeit, weil er eine "Mietskaserne" und ein "Haus mit lärmendem Getriebe" sein werde. Ausserdem widerspreche das Bauvorhaben den baupolizeilichen Vorschriften, da die gesetzlichen Grenzabstände nicht eingehalten seien.
C.-
Am 19. November 1964 hiess das Obergericht des Kantons Zürich die Klage gut und verbot der Beklagten die Ausführung des geplanten Baues. Zwar erfülle er nicht den Begriff der "Mietskaserne", wohl aber den eines "Hauses mit
BGE 91 II 339 S. 341
lärmendem Getriebe" (Einstellraum für 23 Kundenautos und Zufahrtsrampe von 15% Gefälle). Bei dieser Sachlage könne dahingestellt bleiben, ob die Grenzabstände eingehalten seien und ob darüber der Zivilrichter zu entscheiden hätte.
D.-
Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung der Beklagten mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und - sinngemäss - die Klage abzuweisen; allenfalls sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
E.-
Die Berufungsbeklagte beantragt, auf die Berufung sei nicht einzutreten, eventuell, sie sei abzuweisen und subeventuell, die Sache sei zur Entscheidung über die Verletzung der Grenzabstände an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
.....
2.
Die Ernst Göhner AG hat ihre Passivlegitimation im kantonalen Verfahren nicht bestritten, obschon sie weder das Eigentum noch sonstige dingliche Rechte am dienenden Grundstück besitzt. Auch die Vorinstanz hat sie stillschweigend angenommen. Das ist richtig; denn die Dienstbarkeitsklage des Dienstbarkeitsberechtigten (acto confessoria) richtet sich gegen den Störer, der weder ein dingliches Verhältnis zum belasteten Grundstück noch ein obligatorisches zum Eigentümer dieses Grundstückes zu haben braucht, also auch irgend ein Dritter sein kann (LIVER, N. 193 zu
Art. 737 ZGB
).
3.
Das Verbot, eine "Mietskaserne" auf dem belasteten Grundstück zu erstellen, stellt eine Baubeschränkung dar. Fraglich könnte sein, ob dem weiteren Verbot, ein "Haus mit lärmendem Getriebe" zu erstellen, ebenfalls diese Bedeutung zukomme oder ob es sich um eine Gewerbebeschränkung handle. Im letztern Falle könnte sich der Unterlassungsanspruch der Klägerin nicht gegen die geplante Baute als solche, sondern nur gegen den Gewerbebetrieb richten; denn so wenig als das blosse Vorhandensein einer Baute Einwirkungen im Sinne von
Art. 684 ZGB
zu erzeugen vermag (
BGE 88 II 264
), kann es eine Gewerbebeschränkung verletzen (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 24. März 1965 i.S. Weber c. AG für Immobilien und Handelswerte). Der Ausdruck "Haus mit lärmendem Getriebe" wird indessen im Zusammenhang mit dem Verbot, eine Fabrik oder eine "Mietskaserne" zu erstellen,
BGE 91 II 339 S. 342
verwendet. Es muss daraus geschlossen werden, dass sich das Verbot unmittelbar gegen den Bau von Gebäuden richtet, die nach ihrer Bestimmung geeignet sind, lärmerzeugenden Verrichtungen zu dienen oder die schon infolge ihrer äussern Gestaltung nicht zum Gepräge eines Villenquartiers gehören. Ist dem so, dann ist der Vorinstanz beizupflichten, dass ein grosses Ladengeschäft von der Art des geplanten mit 23 Abstellplätzen für Kundenautos ein "lärmendes Getriebe" mit sich bringen würde, namentlich wenn noch berücksichtigt wird, dass die Rampe zum Einstellraum ein Gefälle von 15% aufweist. Ob - wie die Vorinstanz schätzt - davon auszugehen ist, dass an einem Vormittag zwischen acht und zwölf Uhr bis zu 368 Kunden ihre Wagen einstellen werden, was zu 736 Zu- und Wegfahrten führte, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls wäre mit einem regen Wagenverkehr zu rechnen, der den mit einem gewöhnlichen Miethaus zusammenhängenden Verkehr an Dichte weit übertreffen müsste. Die Vorinstanz hat deshalb zu Recht angenommen, dass die Dienstbarkeit, soweit sie verbietet, ein Haus mit "lärmendem Getriebe" zu erstellen, durch den geplanten Bau verletzt werden könnte.
4.
Was die Berufungsklägerin dagegen vorbringt, ist nicht stichhaltig:
a) Die Ernst Göhner AG führt aus, die Anzahl der Abstellplätze für Motorfahrzeuge sei von der Baupolizeibehörde gestützt auf § 60 lit. a des kantonalen Baugesetzes vorgeschrieben worden, sie sei also nur einer gesetzlichen Pflicht nachgekommen, als sie die verlangten 30 Abstellplätze vorgesehen habe. Der Hinweis ist unbehelflich, da öffentlich-rechtliche Bauvorschriften privatrechtliche Baubeschränkungen nicht ausser Kraft setzen können.
b) Im vorliegenden Fall kann auch die Überlegung nicht angestellt werden, ähnlich wie der aus einer affirmativen, ungemessenen Dienstbarkeit Belastete, habe auch der aus einer negativen Dienstbarkeit Berechtigte sich mit der Entwicklung der Technik abzufinden und z.B. die Verwendung von Motorfahrzeugen statt Pferdefuhrwerken hinzunehmen. Bei einer affirmativen, ungemessenen Dienstbarkeit wird dem Dienstbarkeitsbelasteten die Mehrbelastung nur zugemutet, wenn sie nicht auf einer willkürlichen Änderung der Zweckbestimmung des berechtigten Grundstücks beruht und wenn sie die zweckentsprechende Benützung des belasteten Grundstücks nicht
BGE 91 II 339 S. 343
verhindert oder - mehr als bisher - in wesentlichem Masse einschränkt (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 18. Mai 1961 i.S. SBB c. Zürrer;
BGE 88 II 273
Erw. 6 d und e). Vorliegend handelt es sich um eine Änderung in der Zweckbestimmung des belasteten Grundstücks: es soll in Zukunft dem Betrieb eines Geschäfts- und Miethauses dienen. Daraus folgt, dass die analoge Anwendung obiger Grundsätze auf die Ansprüche des aus einer negativen Dienstbarkeit Berechtigten schon dann ausgeschlossen ist, wenn die Benützungsart des belasteten Grundstücks grundlegend geändert wird. Darüber hinaus dürfte einer solchen Analogie bei negativen Dienstbarkeiten, insbesondere solchen, die sich gegen Immissionen richten, enge Schranken gesetzt sein; denn es kommt nicht darauf an, ob z.B. eine Lärmquelle in altmodischen oder neuzeitlichen Anlagen besteht.
c) Die Beklagte hält die Berufung auf die Dienstbarkeit für rechtsmissbräuchlich, weil die Klägerin selber auf der berechtigten Liegenschaft ein Bankgeschäft betreibe und auch Abstellplätze für die Motorfahrzeuge ihrer Kunden erstellt habe. Allein, es handelt sich bei der von der Klägerin betriebenen Sparkasse um einen ruhigen Betrieb sowie um drei bis vier Abstellplätze auf dem Vorplatz zum Bankgebäude, die nicht mit einem nur durch eine Rampe von 15% Gefälle zu erreichenden Abstellraum für 30 Motorfahrzeuge verglichen werden können.
5.
Eine andere Frage ist es, ob die Nachbarschaft der Klägerin durch die Neubauten der letzten Jahre (Apotheke Dr. Zeller und Konditorei Ochsner) den Charakter eines Villenquartiers ohnehin verwirkt habe, sodass die Dienstbarkeit für die Sparkasse Thalwil entweder alles Interesse verloren habe oder nur noch von so geringer Bedeutung sei, dass ihr die Ablösung zugemutet werden könne. Diese nach
Art. 736 ZGB
zu lösende Frage ist hier nicht zu entscheiden.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes - III. Zivilkammer - des Kantons Zürich vom 19. November 1964 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,965 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2d573bb2-d8ee-4840-b77e-e769c34e81ea | Urteilskopf
139 V 531
71. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. M. gegen Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit des Kantons Wallis (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_21/2013 vom 30. Oktober 2013 | Regeste
Art. 68 und 70 AVIG
; Wochenaufenthalterbeiträge.
Zwischen der Arbeitslosigkeit und der auswärtigen Arbeitsaufnahme muss ein Kausalzusammenhang gegeben sein (E. 3.2.2.1).
Für die Beibehaltung der auswärtigen Stelle bzw. des damit verbundenen Wochenaufenthalterdaseins über sechs Monate hinaus können in einer neuen Rahmenfrist für den Leistungsbezug keine weiteren Wochenaufenthalterbeiträge zugesprochen werden, falls in der vorherigen Rahmenfrist bereits während sechs Monaten Wochenaufenthalterbeiträge ausgerichtet wurden (E. 3.2.2.2). | Sachverhalt
ab Seite 532
BGE 139 V 531 S. 532
A.
Der 1984 geborene, im Wallis wohnhafte M. ist ausgebildeter Koch. Während der vom 3. April 2008 bis 2. April 2010 laufenden Rahmenfrist für den Bezug von Arbeitslosentaggeldern fand er eine vom 14. September 2009 bis 13. September 2010 befristete Anstellung als Commis pâtissier im Hotel X. im Kanton Zürich und bezog ein Zimmer bei seinem Arbeitgeber. Mit Verfügung vom 11. November 2009 bewilligte das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum Oberwallis (RAV) Wochenaufenthalterbeiträge für die Zeit vom 14. September 2009 bis 13. März 2010 in der Höhe von Fr. 4'393.80. Innerhalb der weiteren Rahmenfrist für den Leistungsbezug vom 3. April 2010 bis 2. April 2012 beantragte M. unter Hinweis auf den neuen, für die Zeit vom 1. September 2010 bis 31. August 2011 abgeschlossenen Arbeitsvertrag mit dem Hotel X. die Ausrichtung weiterer Wochenaufenthalterbeiträge (Gesuch vom 3. April 2010). Das RAV lehnte dieses Gesuch ab (Verfügung vom 7. Oktober 2010). In Ablehnung der dagegen geführten Einsprache vom 8. November 2010 bestätigte die Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit des Kantons Wallis (DIHA) die Verfügung vom 7. Oktober 2010 mit der Begründung, M. habe zur Zeit der Gesuchseinreichung am 27. September 2010 noch für das Hotel X. gearbeitet, weshalb es für die Bewilligung einer arbeitsmarktlichen Massnahme an der Voraussetzung der Arbeitslosigkeit gefehlt habe (Einspracheentscheid vom 19. August 2011).
B.
Das Kantonsgericht Wallis wies die gegen den Einspracheentscheid vom 19. August 2011 erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 12. November 2012).
C.
M. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem sinngemässen Rechtsbegehren, es seien ihm in der Rahmenfrist vom 3. April 2010 bis 2. April 2012 Wochenaufenthalterbeiträge zuzusprechen und die Sache sei zur masslichen Festlegung der Beiträge an das RAV zurückzuweisen.
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
BGE 139 V 531 S. 533
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(
Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Gemäss
Art. 68 AVIG
(SR 837.0) werden Pendlerkosten- oder Wochenaufenthalterbeiträge gewährt, wenn den Versicherten in ihrer Wohnortsregion keine zumutbare Arbeit vermittelt werden kann und sie die Beitragszeit nach Artikel 13 AVIG erfüllt haben (Abs. 1). Die betroffenen Versicherten erhalten die Beiträge innerhalb der Rahmenfrist während längstens sechs Monaten (Abs. 2). Sie erhalten nur so weit Beiträge, als ihnen im Vergleich zu ihrer letzten Tätigkeit durch die auswärtige Arbeit finanzielle Einbussen entstehen (Abs. 3). Der Beitrag an Wochenaufenthalter deckt Kosten, die dem Versicherten dadurch entstehen, dass er nicht täglich an seinen Wohnort zurückkehren kann. Er setzt sich zusammen aus einer Pauschalentschädigung für die auswärtige Unterkunft und den Mehrkosten der Verpflegung sowie aus dem Ersatz der nachgewiesenen notwendigen Kosten für eine Fahrt pro Woche vom Wohnort an den Arbeitsort und zurück (
Art. 70 AVIG
).
3.
(...)
3.2
(...)
3.2.2
Gemäss Rz. L11 des Kreisschreibens des Staatssekretariates für Wirtschaft (SECO) über die arbeitsmarktlichen Massnahmen, gültig ab Januar 2008 (KS AMM
http://www.treffpunkt-arbeit.ch/publikationen/kreisschreiben
), kann die Massnahme (Wochenaufenthalterbeitrag) nur einmal pro Rahmenfrist gewährt werden, wobei die Möglichkeit besteht, einen die Gesamtleistungsdauer von sechs Monaten nicht übersteigenden Beitrag zu gewähren, der sich über beide Rahmenfristen erstreckt, falls eine neue Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet wird. Es ist dem Beschwerdeführer beizupflichten, dass vorliegend einzig zu prüfen ist, ob er in der Leistungsrahmenfrist vom 3. April 2010 bis 2. April 2012 wiederum Anspruch auf Wochenaufenthalterbeiträge hat, und sich die Frage gar nicht stellt, ob sich die Massnahme im Sinne des KS AMM auf zwei Rahmenfristen erstrecken könnte. Denn die sechsmonatige Bezugsdauer für Wochenaufenthalterbeiträge fiel vollständig in die letzte Leistungsrahmenfrist vom 3. April 2008 bis 2. April 2010, und der Versicherte möchte für die neue Leistungsrahmenfrist Beiträge für weitere sechs Monate beziehen. Der Verweis der Vorinstanz auf das KS AMM bezieht sich allerdings nicht darauf,
BGE 139 V 531 S. 534
sondern auf die in Rz. L11 erwähnte Gesamtleistungsdauer von sechs Monaten. Das kantonale Gericht geht davon aus, dass der Anspruch auf die arbeitsmarktliche Massnahme mit Blick auf den Bezug von Wochenaufenthalterbeiträgen vom 14. September 2009 bis 13. März 2010 in der früheren Leistungsrahmenfrist (3. April 2008 bis 2. April 2010) auch für die neue Leistungsrahmenfrist zu verneinen sei. Der Versicherte verkennt in der Tat, dass sich dieser sechsmonatige Bezug von Wochenaufenthalterbeiträgen in der vorliegenden Konstellation auch in der neuen Leistungsrahmenfrist vom 3. April 2010 bis 2. April 2012 auszuwirken vermag. Er weist in seiner Beschwerde selber darauf hin, dass Sinn und Zweck der Wochenaufenthalterbeiträge der finanzielle Anreiz bildet, trotz Mehrkosten auch eine auswärtige Tätigkeit zur Schadenminderung anzunehmen. Dieser Anreiz ist für den Stellenantritt im Hotel X. auf den 14. September 2009 unbestrittenermassen (zumindest) mitverantwortlich gewesen. Da die Verwaltung auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen bejahte, wurden dem Versicherten die Wochenaufenthalterbeiträge daraufhin während sechs Monaten ausgerichtet (Verfügung vom 11. November 2009).
3.2.2.1
Der Argumentation des Beschwerdeführers kann insofern gefolgt werden, als ein erneuter Anspruch auf Wochenaufenthalterbeiträge in einer unmittelbar folgenden Leistungsrahmenfrist nicht generell ausgeschlossen ist. Dabei muss allerdings die ratio legis beachtet werden. Mit dem Institut des Pendlerkostenbeitrages sollen Versicherte, denen in der Wohnortsregion keine zumutbare Arbeit zugewiesen werden konnte, ermuntert werden, eine auswärtige Arbeit anzunehmen (ARV 1987 S. 44, C 127/86 E. 3b). Für den Wochenaufenthalterbeitrag gilt dies aufgrund der gemeinsamen gesetzlichen Regelung (
Art. 68 Abs. 2 AVIG
; E. 2 hiervor) ebenso. Bezüger von Pendlerkosten- und Wochenaufenthalterbeiträgen sollen durch die Arbeitsannahme ausserhalb ihres Wohnortes nicht benachteiligt werden; sie sollen aber gegenüber den anderen Arbeitnehmern, die auch auswärts arbeiten, nicht auf längere Dauer bessergestellt werden (Botschaft vom 2. Juli 1980 zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung, BBl 1980 III 489, 617 Ziff. 325.2 zu Art. 70 E-AVIG). Die Befristung der Wochenaufenthalterbeiträge auf sechs Monate bildet somit ein Korrektiv, damit auf längere Sicht keine Bevorzugung gegenüber den andern auswärts tätigen Arbeitnehmenden entsteht (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in:
BGE 139 V 531 S. 535
Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 2417 Rz. 804). Anspruchsberechtigt im Sinne von
Art. 68 Abs. 1 AVIG
können nur Arbeitslose oder allenfalls noch Versicherte sein, die unmittelbar nach dem Verlust ihrer Stelle ausserhalb ihrer Wohnortsregion eine neue Arbeit annehmen (DIETER FREIBURGHAUS, Präventivmassnahmen gegen die Arbeitslosigkeit in der Schweiz, 1987, S. 158). Zwischen der Arbeitslosigkeit und der auswärtigen Arbeitsaufnahme muss demzufolge ein Kausalzusammenhang gegeben sein.
3.2.2.2
Die auswärtige Arbeitsaufnahme fand bereits am 14. September 2009 statt. Weder kann mit der Eröffnung der Rahmenfrist auf den 3. April 2010 noch mit dem Abschluss eines weiteren befristeten Arbeitsvertrages für die Zeit ab 1. September 2010 eine neue auswärtige Arbeitsaufnahme angenommen werden. Fest steht, dass der Beschwerdeführer am 3. April 2010 schon in einem gemäss Arbeitsvertrag vom 1. September 2009 bis 13. September 2010 befristeten Arbeitsverhältnis mit dem Hotel X. stand und am 26. Juli 2010 in ein weiteres befristetes Arbeitsverhältnis (vom 1. September 2010 bis 31. August 2011) einwilligte. Das kantonale Gericht verneint deshalb in Bezug auf die Rahmenfrist für den Leistungsbezug ab 3. April 2010 bereits das Erfordernis der Arbeitslosigkeit. Wie es sich damit verhält, ist nicht ausschlaggebend. Es erübrigt sich auch, auf die Diskussion des kantonalen Gerichts und des Beschwerdeführers bezüglich Einordnung des erzielten Lohnes beim auswärtigen Arbeitgeber unter die Regeln des Zwischenverdienstes einzugehen. Denn der Beschwerdeführer hatte zur Zeit seines zweiten Gesuchs um arbeitsmarktliche Massnahmen seine auswärtige Tätigkeit bereits aufgenommen und für diese während der Maximaldauer von sechs Monaten Wochenaufenthalterbeiträge bezogen. Die Perpetuierung der selben Anstellung kann nicht mit Massnahmen unterstützt werden, welche als Überbrückungshilfe gedacht sind. Es ist mit dem kantonalen Gericht einig zu gehen, dass die vom Gesetzgeber auf sechs Monate begrenzte Unterstützungszeit von der versicherten Person dazu zu nutzen ist, sich zu entscheiden, entweder am neuen Arbeitsplatz ihren neuen Wohnsitz zu begründen oder am bisherigen Wohnort eine neue Beschäftigung zu suchen, um so effizient und nachhaltig die eigene Arbeitslosigkeit mit guten Erfolgschancen für die Zukunft überwinden zu können. Die Niederlassungsfreiheit wird durch diese Begrenzung nicht verletzt, da sich daraus kein Recht der einzelnen Person ableiten lässt, an jedem frei ausgewählten Wohnort eine geeignete Arbeitsstelle zur Verfügung
BGE 139 V 531 S. 536
zu haben bzw. bei auswärtiger Arbeit (dauerhaft) finanziell unterstützt zu werden. In der Botschaft wird zudem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die durch die speziellen Massnahmen der Arbeitslosenversicherung verbesserte geografische Mobilität und die bessere Ausschöpfung vorhandener Arbeitsmöglichkeiten nicht zu einer Entleerung von Regionen und einer Verstärkung der vorhandenen Ballungstendenzen führen dürfe (BBl 1980 III 616 zu Art. 68 E-AVIG). Deshalb wurde die Auszahlung der Entschädigungen an strenge Voraussetzungen gebunden und in zeitlicher Hinsicht auf sechs Monate begrenzt. Die Bejahung eines Anspruchs auf Wochenaufenthalterbeiträge innert der Leistungsrahmenfrist vom 3. April 2010 bis 2. April 2012 hätte eine ungerechtfertigte und vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Besserstellung des Beschwerdeführers im Vergleich zu andern dauerhaft auswärts tätigen Arbeitnehmenden zur Folge. Für die Beibehaltung der auswärtigen Stelle bzw. des damit verbundenen Wochenaufenthalterdaseins über sechs Monate hinaus (vgl. Art. 95 Abs. 1 i.V.m.
Art. 81e Abs. 1 AVIV
[SR 837.02]) können in der neuen Rahmenfrist für den Leistungsbezug keine Wochenaufenthalterbeiträge mehr zugesprochen werden, da in der vorherigen Rahmenfrist bereits während sechs Monaten Wochenaufenthalterbeiträge ausgerichtet wurden. | null | nan | de | 2,013 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2d5bb5d9-eb0b-4fe4-bfe2-46c148681609 | Urteilskopf
120 V 413
57. Urteil vom 23. November 1994 i.S. N. gegen Ausgleichskasse des Kantons Zug und Verwaltungsgericht des Kantons Zug | Regeste
Art. 4 BV
,
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
: Überspitzter Formalismus.
Es bedeutet keinen Verstoss gegen
Art. 4 BV
, wenn der kantonale Richter bei Einlegung eines Rechtsmittels auf der Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters besteht.
Hingegen hat er bei fehlender gültiger Unterschrift eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels anzusetzen.
Die Nachfristansetzung ist Ausdruck eines aus dem Verbot des überspitzten Formalismus fliessenden allgemeinen prozessualen Rechtsgrundsatzes, der auch im kantonalen Verfahren Geltung hat.
Sodann ergibt sie sich aus der in
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
verankerten Minimalanforderung eines einfachen Verfahrens. | Sachverhalt
ab Seite 414
BGE 120 V 413 S. 414
A.-
N. bezog von der Ausgleichskasse des Kantons Zürich eine Mutterwaisenrente. Ab April 1991 wurde ihm gleichzeitig von der Ausgleichskasse des Kantons Zug eine Kinderrente als Zusatz zur Altersrente seines Vaters ausgerichtet. Am 14. April 1992 erliess die Ausgleichskasse des Kantons Zug eine Rückerstattungsverfügung. Ein von N. eingereichtes Erlassgesuch wies die Kasse mit Verfügung vom 19. Mai 1992 ab.
B.-
Hiegegen liess N. am 17. Juni 1992 bei der Ausgleichskasse des Kantons Zug Beschwerde erheben. Die Ausgleichskasse überwies die Eingabe, welche am 18. Juni 1992 bei ihr eingegangen war, an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug, wo sie am 22. Juni 1992 eintraf. Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass sich weder auf der Beschwerde oder auf dem Doppel noch auf dem Couvert eine Unterschrift des Versicherten oder seines Vertreters finde. Demzufolge trat es mit Entscheid vom 13. August 1992 auf die Beschwerde nicht ein.
C.-
N. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen; eventuell sei die Rückerstattungsforderung zu erlassen.
Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
(Kognition)
2.
Die Vorinstanz hat sich unter Hinweis auf die fehlende eigenhändige Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters auf den Standpunkt gestellt, dass die am 17. Juni 1992 der Post zuhanden der Ausgleichskasse des Kantons Zug übergebene Beschwerde nicht gültig eingereicht worden sei, weshalb darauf nicht eingetreten werden könne. Daran anschliessend hat das Gericht folgendes erwogen:
BGE 120 V 413 S. 415
"Zu prüfen bleibt, ob dem Vertreter des Beschwerdeführers nicht eine angemessene Frist zur Nachbesserung im Sinne von Art. 85 Abs. 2 lit. b Satz 2 AHVG hätte angesetzt werden müssen. Eine Frist zur Verbesserung wird dann angesetzt, wenn innert der Rekursfrist eine mangelhafte Beschwerde eingereicht wird. Im vorliegenden Fall traf das Schreiben des Vertreters erst drei Tage nach Ablauf der Beschwerdefrist am 22. Juni 1992 beim Verwaltungsgericht ein. Die Ausgleichskasse, bei der die Beschwerde noch innerhalb der Beschwerdefrist eintraf, hatte als unzuständige Behörde keine Möglichkeit, dem Beschwerdeführer eine Frist zur Verbesserung im Sinne von
Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG
anzusetzen. Sie hat aber ihrerseits die Eingabe ohne Verzug an das Verwaltungsgericht weitergeleitet. Vom zeitlichen Ablauf her wäre es der Kasse auch nicht möglich gewesen, den Vertreter des Beschwerdeführers rechtzeitig zur Vornahme der Unterschrift aufzufordern (Eingang der Beschwerde am 18. Juni 1992 und Ablauf der Beschwerdefrist am 19. Juni 1992). Gelangt aber eine Eingabe ohne eigenhändige Unterschrift nach Ablauf der Beschwerdefrist an die zuständige Behörde, so ist die Beschwerde nicht gültig eingereicht worden. Eine Nachfrist zur Verbesserung kann in diesem Fall nicht mehr angesetzt werden."
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird demgegenüber vorgebracht, das kantonale Gericht wäre verpflichtet gewesen, eine kurze Nachfrist zur Behebung des Mangels der fehlenden Unterschrift anzusetzen. Dies gelte umso mehr, als es sich dabei um ein Versehen gehandelt habe und die Ausgleichskasse im Besitz einer Vollmacht des Beschwerdeführers gewesen sei.
3.
Vorab ist zu prüfen, ob die vorinstanzliche Beschwerde als rechtzeitig erhoben zu betrachten ist.
a)
Art. 96 AHVG
erklärt bezüglich der Fristen die Art. 20 bis 24 VwVG für anwendbar. Diese bundesrechtliche Regelung über die Fristen ist demnach im kantonalen AHV-rechtlichen Beschwerdeverfahren direkt und abschliessend anwendbar; für abweichende kantonale Normen bleibt diesbezüglich kein Raum (
BGE 105 V 106
,
BGE 102 V 243
Erw. 2a).
Art. 21 Abs. 1 VwVG
bestimmt, dass schriftliche Eingaben spätestens am letzten Tage der Frist der Behörde eingereicht oder zu deren Händen der schweizerischen Post übergeben werden müssen. Laut
Art. 21 Abs. 2 VwVG
gilt eine Frist auch dann als gewahrt, wenn die Partei rechtzeitig an eine unzuständige Behörde gelangt. Die unzuständige Behörde hat eine an sie adressierte Eingabe unverzüglich an die zuständige Amtsstelle weiterzuleiten (
BGE 102 V 75
Erw. 1; RSKV 1978 Nr. 316 S. 53 Erw. 2).
b) Vorliegend hat die Ausgleichskasse des Kantons Zug die Verfügung vom 19. Mai 1992 offenbar mit uneingeschriebener Post versandt. Wann sie in den Gewahrsam des Beschwerdeführers gelangt ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Jedoch steht fest, dass die zu beurteilende Eingabe am 17. Juni
BGE 120 V 413 S. 416
1992 und damit in jedem Fall innerhalb der 30tägigen Beschwerdefrist zuhanden der Ausgleichskasse der Post übergeben wurde. Durch den rechtzeitigen Eingang der Beschwerde bei der Kasse als unzuständiger und weiterleitungspflichtiger Behörde gilt die Frist als gewahrt. Folglich erweist sich die vorinstanzliche Auffassung, wonach die Eingabe verspätet bei ihr als der zuständigen Behörde eingegangen sei, als unzutreffend.
4.
Zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanz berechtigt war, die Beschwerde wegen fehlender Unterschrift ohne Ansetzung einer Nachfrist zur Verbesserung mit Nichteintreten zu erledigen.
a) Nach
Art. 85 Abs. 2 AHVG
regeln die Kantone das Rekursverfahren, welches bestimmten Anforderungen zu genügen hat. Lit. a schreibt den Kantonen - im Sinne eines Minimalprinzips - ein einfaches und rasches Verfahren vor. Die Beschwerde muss eine gedrängte Darstellung des Sachverhalts, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung enthalten. Genügt die Beschwerde diesen Anforderungen nicht, so setzt die Rekursbehörde dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Verbesserung und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten werde (lit. b). Die nähere Ausgestaltung des Verfahrens obliegt den Kantonen.
§ 65 Abs. 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen des Kantons Zug vom 1. April 1976 (VRG) sieht vor, dass die Beschwerdeschrift einen Antrag und eine Begründung enthalten muss. Der angefochtene Entscheid ist beizulegen oder genau zu bezeichnen. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung sind die Beweismittel, auf die sich der Beschwerdeführer beruft, zu bezeichnen und soweit möglich beizufügen. Genügt die Beschwerdeschrift diesen Erfordernissen nicht, so wird dem Beschwerdeführer eine kurze Frist zur Behebung des Mangels angesetzt unter der Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten werde (Abs. 3).
Mit dem entsprechenden kantonalen Recht hat sich das Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich nicht zu befassen (
Art. 128 OG
in Verbindung mit
Art. 97 Abs. 1 OG
und
Art. 5 Abs. 1 VwVG
). Es hat nur zu prüfen, ob die Anwendung der einschlägigen kantonalen Bestimmungen oder - bei Fehlen solcher Vorschriften - die Ermessensausübung durch das kantonale Gericht zu einer Verletzung von Bundesrecht (
Art. 104 lit. a OG
), insbesondere des Willkürverbots gemäss
Art. 4 BV
oder des Verbots des überspitzten Formalismus geführt hat.
BGE 120 V 413 S. 417
b) Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt (
BGE 118 V 315
Erw. 4 mit Hinweis; vgl. auch
BGE 119 Ia 6
Erw. 2a,
BGE 118 Ia 15
Erw. 2a). Im Bereich der Sozialversicherung ist das Verbot des überspitzten Formalismus in
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
enthalten (
BGE 114 V 206
Erw. 1b mit Hinweisen; SPIRA, Le contentieux des assurances sociales fédérales et la procédure cantonale, Recueil de jurisprudence neuchâteloise, 1984, S. 20; MEYER-BLASER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, BJM 1989, S. 13 f.).
5.
a) Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung bedeutet es keinen überspitzten Formalismus, vom Bürger zu verlangen, dass er seine Rechtsschriften eigenhändig unterzeichnet oder von einem bevollmächtigten und nach kantonalem Verfahrensrecht zugelassenen Vertreter unterzeichnen lässt (
BGE 114 Ia 22
Erw. 2a,
BGE 111 Ia 171
Erw. 3 und 4b mit Hinweisen). Jedoch ist zu beachten, dass die Verfahrensvorschriften des Zivilprozess-, Strafprozess- und Verwaltungsrechts der Verwirklichung des materiellen Rechts zu dienen haben, weshalb die zur Rechtspflege berufenen Behörden verpflichtet sind, sich innerhalb des ihnen vom Gesetz gezogenen Rahmens gegenüber dem Rechtsuchenden so zu verhalten, dass sein Rechtsschutzinteresse materiell gewahrt werden kann. Behördliches Verhalten, das einer Partei den Rechtsweg verunmöglicht oder verkürzt, obschon auch eine andere gesetzeskonforme Möglichkeit bestanden hätte, ist mit
Art. 4 BV
nicht vereinbar. Dementsprechend entschied das Bundesgericht, dass ein Richter oder Kanzleibeamter eines Gerichts verpflichtet ist, die betreffende Partei auf den Mangel aufmerksam zu machen und dessen Verbesserung zu verlangen, wenn er bei einer Rechtsmittelerklärung einen sofort erkennbaren Formfehler wie das Fehlen einer gültigen Unterschrift feststellt und die Rechtsmittelfrist noch nicht verstrichen ist. Wenn der Mangel der Unterschrift so früh erkannt worden ist, dass die betreffende Partei den Fehler bei entsprechendem Hinweis innert Frist hätte verbessern können, verletzt das Stillschweigen der Behörden
Art. 4 BV
(
BGE 111 Ia 174
Erw. 4c mit Hinweisen). In
BGE 114 Ia 24
Erw. 2b präzisierte das Bundesgericht diese Praxis und hielt fest, es sei unerheblich, ob die Behörde den Mangel tatsächlich feststelle. Vielmehr sei sie grundsätzlich
BGE 120 V 413 S. 418
verpflichtet, den Verfasser einer Rechtsmittelschrift auf das Fehlen der Unterschrift aufmerksam zu machen, solange die noch verfügbare Zeit bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist ausreiche, um den Mangel zu beheben.
Das Eidg. Versicherungsgericht vertrat seinerseits die Auffassung, es sei nicht willkürlich, wenn der vorinstanzliche Richter davon ausgehe, die nach der kantonalen Verfahrensordnung verlangte Schriftlichkeit der Beschwerde setze die eigenhändige Unterschrift voraus. In bezug auf kantonale Verfahrensvorschriften, welche der Bestimmung von
Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG
entsprechen, hielt das Gericht fest, dass bei Fehlen der Unterschrift keine Pflicht zur Nachfristansetzung bestehe. Der kantonale Richter handle daher nicht bundesrechtswidrig, wenn er von einer derartigen Vorkehr absehe (unveröffentlichte Urteile H. und G. vom 24. Februar 1975).
b) Grundlage dieser Rechtsprechung bildete der Umstand, dass alle für das Bundesgericht bestimmten Rechtsschriften die Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters zu enthalten haben (
Art. 30 Abs. 1 OG
;
Art. 108 Abs. 2 OG
in Verbindung mit
Art. 132 OG
) und dass
Art. 108 Abs. 3 OG
es nicht zuliess, andere Mängel als Unklarheiten im Begehren oder in der Begründung nach Ablauf der Rechtsmittelfrist zu beheben; eine Nachfristansetzung zur Verbesserung war im Falle der fehlenden Unterschrift nicht möglich (vgl.
BGE 112 Ia 173
, 102 IV 142; ZAK 1992 S. 85, 1985 S. 529; BIRCHMEIER, Handbuch des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, N. 1 zu Art. 30; GRISEL, Traité de droit administratif, S. 916 f.; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, Bern 1983, S. 195 f.; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, Zürich 1993, S. 237 Rz. 411; MEYER-BLASER, a.a.O., S. 14; a.A.: MARTI, Die staatsrechtliche Beschwerde, 4. Aufl. 1979, S. 137 Rz. 239).
c) Mit der auf den 15. Februar 1992 in Kraft gesetzten revidierten Bestimmung von
Art. 30 Abs. 2 OG
wurde die bisherige prozessuale Formstrenge für das Verfahren vor Bundesgericht gelockert (vgl. Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 18. März 1991, BBl 1991 II 514). Fehlt auf einer Rechtsschrift die Unterschrift einer Partei oder eines zugelassenen Vertreters, fehlen dessen Vollmacht oder die vorgeschriebenen Beilagen, oder ist der Unterzeichner als Vertreter nicht zugelassen, so ist nach dieser revidierten Bestimmung eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels anzusetzen mit der Androhung, dass die Rechtsschrift sonst unbeachtet bleibe. Demnach hat das Bundesgericht den Verfasser einer nicht
BGE 120 V 413 S. 419
oder von einer nicht als Vertreter zugelassenen Person unterzeichneten Rechtsschrift in jedem Fall auf den Mangel aufmerksam zu machen; selbst wenn die gesetzliche Rechtsmittelfrist abgelaufen ist, muss dem Verfasser der nicht gültig unterzeichneten Rechtsschrift eine Frist zur nachträglichen Unterzeichnung angesetzt werden.
Die neue Bestimmung von
Art. 30 Abs. 2 OG
steht in Einklang mit
Art. 52 VwVG
, der dem Beschwerdeführer ebenfalls eine kurze Nachfrist zur Verbesserung der Mängel einräumt (POUDRET, Les règles générales révisées ou nouvelles de l'OJ, in: L'organisation judiciaire et les procédures fédérales, Le point sur les révisions récentes, documentation du CEDIDAC, Lausanne 1992, S. 35; POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire (COJ), Bern 1990, N. 2 zu
Art. 30 OG
). Sie gründet auf dem Gedanken, dass jeder rigorose Formalismus zu vermeiden ist, die erwähnten Mängel folglich nicht direkt zu einem Nichteintreten führen, sondern innert einer Nachfrist beseitigt werden können (Bericht der Expertenkommission vom Januar 1982 S. 38; MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, S. 28 Fn. 3). Prozessuale Formstrenge soll dort gemildert werden, wo sie sich nicht durch schutzwürdige Interessen rechtfertigt (BBl 1991 II 514).
6.
a) Mit Blick auf die der erwähnten Gesetzesänderung zugrundeliegenden Überlegungen hat das Bundesgericht in seiner neuesten Rechtsprechung entschieden, der kantonale Richter handle gegen Treu und Glauben, wenn er ein nicht oder von einer nicht zur Vertretung berechtigten Person unterzeichnetes Rechtsmittel als unzulässig beurteile, ohne eine kurze, gegebenenfalls auch über die gesetzliche Rechtsmittelfrist hinausgehende Nachfrist für die gültige Unterzeichnung anzusetzen (unveröffentlichte Urteile F. vom 23. März 1994 und Z. vom 15. Juni 1993).
Dieser Auffassung schliesst sich das Eidg. Versicherungsgericht im Grundsatz an. Nach dem Gesagten bedeutet es keinen Verstoss gegen
Art. 4 BV
, wenn der kantonale Richter bei Einlegung eines Rechtsmittels auf der Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters besteht. Hingegen hat er bei fehlender gültiger Unterschrift eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels anzusetzen. Denn die Möglichkeit der Nachfristansetzung, wie sie in
Art. 30 Abs. 2 OG
für das Verfahren vor Bundesgericht enthalten ist, ist Ausdruck eines aus dem Verbot des überspitzten Formalismus fliessenden allgemeinen prozessualen Rechtsgrundsatzes, der auch im kantonalen Verfahren Geltung hat (vgl.
BGE 120 V 413 S. 420
POUDRET, COJ, N. 2 zu
Art. 30 OG
). Sodann ergibt sie sich aus der in
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
verankerten Minimalanforderung eines einfachen Verfahrens.
b) In bezug auf den vorliegenden Fall führt dies dazu, dass der kantonale Nichteintretensentscheid aufzuheben und dem Beschwerdeführer von der Vorinstanz eine kurze Nachfrist zur Nachreichung der fehlenden Unterschrift anzusetzen ist.
7.
(Kostenpunkt) | null | nan | de | 1,994 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2d5cf833-dbe0-4be8-a72f-2defa5517e92 | Urteilskopf
88 II 131
19. Urteil der I. Zivilabtellung vom 9. April 1962 i.S. Hoppen und Thos. Harry & Co. gegen Kanton Uri. | Regeste
1. Art. 44 Abs. 1, 55OR. Gründe und Mass der Herabsetzung der Ersatzpflicht des Halters einer Strassenwalze, die von seinem Arbeiter geführt und von einem Motorwagen gerammt wurde.
2. Art. 19 Abs. 1,25Abs. 1 MFG,Art. 38Abs. 1 lit. e, 39 Abs. 1 MFV. Welche Pflichten auferlegt die in einem Tunnel herrschende Dunkelheit den Führern eines Motorwagens bzw. einer Strassenwalze? | Sachverhalt
ab Seite 131
BGE 88 II 131 S. 131
A.-
Die Strasse von Flüelen nach Sisikon führt durch einen 280 m langen und in einer starken Linksbiegung verlaufenden Tunnel, den sogenannten grossen Axentunnel, der durch Signale den Motorfahrzeugen vorbehalten ist, während Fussgänger und Radfahrer auf die ihn umgehende alte Strasse verwiesen werden. Die Fahrbahn ist 6,9 m breit und durch eine 30 cm breite Sicherheitslinie in Hälften geteilt. Die Mitte des Tunnels liegt auch bei Tag auf eine Strecke von etwa 35 m vollständig im Dunkeln, und die Dunkelheit nimmt gegen die beiden Ausgänge nur wenig ab. Eine künstliche Beleuchtung fehlt.
Am 30. Juni 1958 etwa um 17.30 Uhr führte Thomas Hoppen in Begleitung von fünf Personen einen Motorwagen von Flüelen her in den Tunnel. Er schaltete die Markierlichter des Wagens ein und richtete seinen Blick
BGE 88 II 131 S. 132
auf die Sicherheitslinie. Er will mit 30 km/Std. gefahren sein. Ungefähr in der Mitte des Tunnels stiess der Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit unversehens auf eine Strassenwalze, die mit etwa 4 km/Std. dem rechten Rand der Fahrbahn entlang Richtung Sisikon fuhr und weder vorn noch hinten Licht führte. Die Walze gehörte dem Kanton Uri. Der Italiener Giovanni Soppe befand sich mit ihr im Auftrage des kantonalen Bauamtes, in dessen Dienst er stand, auf dem Wege zu einer Arbeitsstelle.
Durch den Zusammenstoss wurde der Motorwagen stark beschädigt und Alice Russel, die sich in ihm befand, erheblich verletzt. Die Firma Gebr. Sigrist schleppte den Wagen ab und sandte ihn an seine Eigentümerin, die Firma Thos. Harry & Co. in London. Die bezüglichen Kosten von Fr. 742.40 wurde von der Schweiz. Versicherungs-Gesellschaft Helvetia-Unfall bezahlt, die den Kanton Uri gegen Haftpflicht versichert hatte. Die Helvetia-Unfall fand ferner Alice Russel vergleichsweise mit Fr. 800.-- ab.
B.-
Hoppen und die Firma Thos. Harry & Co. klagten gegen den Kanton Uri auf Zahlung von Fr. 12'907.57. Der Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Nach der teilweisen Gutheissung der Klage durch das Landgericht Uri zogen beide Parteien die Sache an das Obergericht weiter und hielten vor diesem an ihren Anträgen fest.
Das Obergericht Uri verpflichtete den Beklagten am 19. Oktober 1961, den Klägern solidarisch Fr. 2225.70 zu zahlen. Es kam zum Schluss, der Beklagte sei den Klägern auf Grund des
Art. 55 OR
ersatzpflichtig, doch hätten diese gemäss
Art. 44 Abs. 1 OR
wegen Selbstverschuldens Hoppens und wegen der dem Motorwagen innewohnenden Betriebsgefahr die Hälfte des Schadens selber zu tragen. Es bezifferte diesen auf Fr. 5993.77 und zog davon die Zahlungen der Helvetia-Unfall von Fr. 742.40 und Fr. 800.-- ab.
C.-
Die Kläger haben die Berufung erklärt. Sie beantragen dem Bundesgericht, den Beklagten zu verhalten, ihnen Fr. 5222.57 zu ersetzen, nämlich den vollen
BGE 88 II 131 S. 133
Schaden von Fr. 5993.77, abzüglich die Hälfte der von der Helvetia-Unfall geleisteten Zahlungen. Sie machen geltend, das Obergericht habe zu Unrecht die Ersatzpflicht des Beklagten nach
Art. 44 Abs. 1 OR
herabgesetzt.
Der Beklagte hat sich der Berufung angeschlossen. Er beantragt, den Klägern höchstens 30% des Schadens von Fr. 5993.77 zuzusprechen, unter Verrechnung der geleisteten Zahlungen. Er ist der Auffassung, das Selbstverschulden Hoppens, die Betriebsgefahr des Motorwagens und weitere Umstände rechtfertigten die Belastung der Kläger mit mindestens 70% ihres Schadens.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beklagte schuldet den Klägern unbestrittenermassen aus
Art. 55 OR
Schadenersatz, weil sein Arbeiter die Strassenwalze in Ausübung einer dienstlichen Verrichtung führte. Der Richter kann gemäss
Art. 44 Abs. 1 OR
die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden, wenn Umstände, für welche die Kläger einstehen müssen, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt haben.
Ein solcher Umstand liegt darin, dass Hoppen nur die Markierlichter einschaltete, obschon er nach seinen Angaben mit 30 km/Std. fuhr und eine Strecke von etwa 35 m in der Mitte des Tunnels vollständig im Dunkeln lag. Es war ausgeschlossen, bei dieser Geschwindigkeit ein Hindernis im Schimmer der. Markierlichter so rechtzeitig zu erblicken, dass der Wagen hätte angehalten werden können, ehe er es erreichte. Hoppen bemerkte denn auch die Strassenwalze erst, als sein Fahrzeug auf sie aufprallte. Er verletzte den elementaren Grundsatz, wonach der Führer eines Motorfahrzeuges nicht schneller fahren darf, als dass er Gefahren, mit denen er rechnen muss, durch Anhalten innerhalb der zuverlässig überblickbaren Strecke bannen kann (
BGE 57 II 314
,
BGE 60 II 284
,
BGE 65 I 199
,
BGE 76 IV 56
,
BGE 77 IV 102
,
BGE 79 IV 66
,
BGE 82 IV 108
,
BGE 84 II 129
). Dieses Verbot gilt nicht nur bei Nacht, sondern auch, wenn andere Verhältnisse
BGE 88 II 131 S. 134
die Sicht beeinträchtigen. Die Umstände des vorliegenden Falles rechtfertigen keine Ausnahme. Obschon der grosse Axentunnel nur von Motorfahrzeugen befahren werden darf und Soppe ihn mit der Walze unrechtmässig benutzte, musste Hoppen doch damit rechnen, dass er sich einem unbeleuchteten Hindernis nähern könnte, z.B. einem wegen einer Panne stehengebliebenen Motorwagen, vom Gewölbe herabgefallenen Steinen, einem verirrten Wild. Um solchen Gefahren zu entgehen, genügte es nicht, dass er rechts der Sicherheitslinie fuhr. Hätte er das bedacht und die Strassenlichter eingeschaltet oder die Geschwindigkeit genügend herabgesetzt, so wäre sein Fahrzeug mit der Walze nicht zusammengestossen. Sein pflichtwidriges Verhalten ist eine rechtserhebliche Mitursache des Unfalles.
Auch in der Betriebsgefahr, die einem Motorfahrzeug innewohnt, kann ein Umstand im Sinne des
Art. 44 Abs. 1 OR
liegen, der eine Ermässigung der Schadenersatzansprüche seines Führers oder Eigentümers rechtfertigt. Dieser Auffassung war das Bundesgericht schon in
BGE 85 II 520
, doch sah es damals von einer Kürzung des Ersatzanspruches ab, weil die Betriebsgefahr des Motorwagens sich ohne das grob unvorsichtige Verhalten des Ersatzpflichtigen überhaupt nicht ausgewirkt hätte. Den Klägern ist nicht beizupflichten, wenn sie unter Berufung auf dieses Urteil über die Betriebsgefahr des Motorwagens auch im vorliegenden Falle hinwegsehen wollen. Der Zusammenstoss ist nicht nur auf das widerrechtliche Verhalten Soppes zurückzuführen, sondern auch auf das pflichtwidrige Verhalten Hoppens. Da dieser für den Zusammenstoss mitverantwortlich ist, muss auch der Betriebsgefahr des von ihm geführten Motorwagens zu Lasten der Kläger Rechnung getragen werden. Ohne die Wucht, mit welcher der Wagen wegen des Mitverschuldens Hoppens auf die Strassenwalze prallte, wäre der Schaden geringer.
2.
Wie stark sich die von den Klägern zu vertretenden
BGE 88 II 131 S. 135
Herabsetzungsgründe auf die Ersatzpflicht auswirken, hängt auch von Umständen ab, die dem Beklagten zum Vorwurf gereichen. Gemäss
Art. 55 OR
haftet der Beklagte als Geschäftsherr zwar unabhängig davon, ob ihn ein Verschulden trifft; nur der in dieser Bestimmung umschriebene Entlastungsbeweis befreit ihn (
BGE 45 II 85
, 647,
BGE 49 II 94
,
BGE 56 II 287
,
BGE 72 II 261
). Seine Haftung setzt nicht einmal ein Verschulden des Angestellten oder Arbeiters voraus; es genügt, wenn dieser sich objektiv widerrechtlich verhalten hat (
BGE 50 II 494
;
BGE 56 II 287
,
BGE 57 II 45
). Wenn jedoch die Ersatzpflicht wegen Umständen, für die der Geschädigte einstehen muss, zu ermässigen ist, verlangt die Billigkeit, dass auch das Verhalten des Geschäftsherrn und seines Angestellten oder Arbeiters unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens gewürdigt werde. Die Umstände nach
Art. 44 Abs. 1 OR
haben mehr Gewicht, wenn den Belangten und seinen Untergebenen keinerlei Verschulden trifft, als wenn dem einen oder andern ein Vorwurf zu machen ist (
BGE 41 II 500
).
Dem Bauamt Uri als Organ des Beklagten ist vorzuwerfen, dass es Soppe nicht anwies, den grossen Axentunnel zu umfahren. Es durfte nicht voraussetzen, dass er das aus eigenem Antrieb tun werde. Es konnte sich auch in vollem Umfange Rechenschaft geben, welcher Gefahr die Strassenwalze die Benützer von Motorfahrzeugen im Tunnel aussetzen würde. Es wusste oder musste wissen, dass sie nicht mit Lichtern versehen war, wie Arbeitsmaschinen sie gemäss
Art. 38 Abs. 1 lit. e MFV
nach Eintritt der Dämmerung und folglich auch in einem ungenügend erhellten Tunnel führen müssen. Auch sprach nichts dafür, dass Soppe unaufgefordert für Beleuchtung sorgen werde, falls er den Tunnel benütze. Dass das Bauamt dem Arbeiter nicht pflichtgemäss Weisungen erteilte, ist um so weniger zu entschuldigen, als der Motorfahrzeugverkehr auf der Axenstrasse im Sommer sehr rege ist.
Das Verschulden des Beklagten ist nicht so gering und jenes des Hoppen sowie die Betriebsgefahr des Motorwagens
BGE 88 II 131 S. 136
wiegen nicht so schwer, dass es sich rechtfertigen würde, die Ersatzpflicht des Beklagten um mehr als die Hälfte herabzusetzen. Anderseits besteht auch kein Anlass, den Beklagten zu verhalten, den Klägern mehr als die Hälfte ihres Schadens zu ersetzen. Das Verschulden Hoppens war nicht leicht. Er hätte ohne weiteres erkennen können, wie gefährlich es sei, mit einem bloss Markierlichter führenden Motorwagen mit 30 km/Std. in vollständiger Dunkelheit zu fahren. Die Strassenlichter hätten ohne besondere Mühe eingeschaltet werden können.
3.
Die vorinstanzliche Berechnung des Schadens wird von keiner Partei angefochten. Das Bundesgericht hat sie daher als richtig hinzunehmen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung und die Anschlussberufung werden abgewiesen, und das Urteil des Obergerichts Uri vom 19. Oktober 1961 wird bestätigt. | public_law | nan | de | 1,962 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2d60da06-8847-44f5-83f9-18b1579edb37 | Urteilskopf
98 Ib 351
51. Urteil vom 19. Mai 1972 i.S. Abteilung für Landwirtschaft des Eidg. Volkswirtschaftsdepartements gegen Moser und Regierungsrat des Kantons Schwyz. | Regeste
Rückerstattung von Beiträgen des Bundes an Bodenverbesserungen; Verjährung.
1. Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; Legitimation der Beschwerdeführerin; anwendbares Recht (Erw. 1).
2. Berücksichtigung der Verjährung von Amtes wegen? (Erw. 2 a).
3. Analoge Anwendung von Verjährungsvorschriften anderer Erlasse mangels einer ausdrücklichen Verjährungsvorschrift für die hier in Frage stehenden Rückerstattungsforderungen des Bundes? (Erw. 2 b).
4. Rückerstattungsansprüche des Bundes verjähren bei Fehlen einer ausdrücklichen Regelung fünf Jahre nach ihrer Entstehung (Erw. 2 c). | Sachverhalt
ab Seite 352
BGE 98 Ib 351 S. 352
A.-
Der Regierungsrat des Kantons Schwyz bewilligte der Strassengenossenschaft Zeigers-Jansern am 27. Januar 1964 einen Beitrag an den Bau einer Güterstrasse. Auch Bund und Bezirk richteten der Genossenschaft Beiträge aus. Am 8. April 1964 liess der Regierungsrat im Grundbuch das Verbot anmerken, die im Perimeter der Strassengenossenschaft gelegenen Liegenschaften ihrem Zwecke zu entfremden.
B.-
Albert Moser ist Eigentümer des im Grundbuch von Sattel unter Nr. 564 aufgeführten Grundstücks, das im Perimeter der Strassengenossenschaft liegt. Am 13. Februar 1966 verkaufte er von diesem Grundstück 258 m2 zu einem Preise von
BGE 98 Ib 351 S. 353
3'870.-- an Edwin Mahler. Das kantonale Meliorationsamt hat am 24. November 1967 Kenntnis von dieser Handänderung erhalten.
C.-
Am 14. Juli 1971 forderte das Departement für Land- und Forstwirtschaft des Kantons Schwyz gestützt auf die Bodenverbesserungs-Verordnung des Bundes vom 29. Dezember 1954 (BOV 1954) und einen Erlass des Regierungsrates vom 8. April 1968 von Moser wegen Zweckentfremdung von 258 m2 Land den Teil der Beiträge von Bund, Kanton und Bezirk zurück, der dem Umfang der verkauften Parzelle entspreche. Zur Bestimmung dieses Betrages multiplizierte es die verkaufte Fläche (258 m2) mit Fr. 4.-, d.h. mit dem Betrag, der nach dem Subventionsbeschluss des Regierungsrates vom 27. Januar 1964 pro m2 zweckentfremdeter Fläche zurückzuerstatten ist. Nach Addition von Fr. 10.- Kanzleikosten stellte sich die zu zahlende Summe somit auf Fr. 1'042.--.
D.-
Der Regierungsrat hob diese Verfügung auf Beschwerde Mosers am 30. August 1971 auf, mit der Begründung, die Rückerstattungsforderung sei am 14. Juli 1971, dem Tage an dem sie zum ersten Male geltend gemacht wurde, verjährt gewesen; er nahm eine Verjährungsfrist von 5 Jahren an, die am 13. Februar 1966 zu laufen begann, d.h. am Tage der Handänderung, die zur Zweckentfremdung führte.
E.-
Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Abteilung für Landwirtschaft des Eidg. Volkswirtschaftsdepartements, den Beschwerdeentscheid des Schwyzer Regierungsrates aufzuheben "und die Sache zum neuen Entscheid im Sinne der Erwägungen an den Regierungsrat des Kantons Schwyz, ggf. an sein Land- und Forstwirtschaftsdepartement, zurückzuweisen". Sie anerkennt, dass die Verjährung von Amtes wegen zu berücksichtigen ist, wie der Regierungsrat es getan hat. Jedoch ist sie der Ansicht, mangels ausdrücklicher Vorschrift über die Verjährung des in Frage stehenden Rückerstattungsanspruchs sei in Anlehnung an Art. 11 des BG über geschützte Warenpreise und die Preisausgleichskasse für Eier und Eiprodukte vom 21. Dezember 1960 und Art. 45 Abs. 2 des BG über die Bekämpfung von Tierseuchen vom 1. Juli 1966 anzunehmen, dieser verjähre mit Ablauf von fünf Jahren, nachdem die zuständigen Organe von seinem Rechtsgrund Kenntnis erlangt hätten, spätestens jedoch innert zehn Jahren seit seinem Entstehen. Weder die zehn- noch
BGE 98 Ib 351 S. 354
die fünfjährige Verjährungsfrist seien am 14. Juli 1971 abgelaufen gewesen.
F.-
Der Regierungsrat des Kantons Schwyz beantragt Abweisung der Beschwerde. Moser hat keine Vernehmlassung eingereicht.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der angefochtene Entscheid betrifft die teilweise Rückerstattung von Beiträgen, die der Bund sowie Kanton und Bezirk Schwyz ausgerichtet haben. Soweit er sich auf den Bundesbeitrag bezieht, hat er eine Streitigkeit aus dem Verwaltungsrecht des Bundes über die Rückerstattung ausbezahlter Zuwendungen zum Gegenstand, die an sich gemäss
Art. 116 lit. e OG
mit verwaltungsrechtlicher Klage unmittelbar vor Bundesgericht gebracht werden kann.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nach
Art. 102 lit. a OG
grundsätzlich unzulässig, wenn die verwaltungsrechtliche Klage nach
Art. 116 OG
offen steht. Ausnahmsweise ist aber nach
Art. 117 lit. c OG
die verwaltungsrechtliche Klage unzulässig, wenn die Erledigung des Streites einer Behörde im Sinne von
Art. 98 lit. b-h OG
zusteht (
BGE 97 I 742
; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 513). Ein solcher Fall liegt hier vor. Nach Art. 57 Abs. 1 BOV 1954 haben die Kantone bei Zweckentfremdungen ohne Bewilligung von den Werk- oder Grundeigentümern einen entsprechenden Anteil am Bundesbeitrag zurückzufordern. Die Erledigung eines solchen Streites steht also den Kantonen zu. Deren letztinstanzlicher Entscheid unterliegt nach
Art. 117 lit. c OG
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, obschon die Voraussetzungen von
Art. 116 lit. e OG
für eine verwaltungsrechtliche Klage erfüllt sind.
Die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen den Entscheid einer letzten kantonalen Instanz, der einen konkreten Einzelfall betrifft und an keine der in
Art. 98 lit. b-f OG
aufgezählten eidgenössischen Vorinstanzen weitergezogen werden kann. Sie ist somit nach
Art. 98 lit. g OG
zulässig. Da sie sich jedoch nur gegen Entscheide richten kann, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen, ist hier lediglich über die teilweise Rückerstattung des Bundesbeitrages zu urteilen.
Die Beschwerdeführerin leitet ihre Beschwerdelegitimation in der vorliegenden Angelegenheit zu Recht aus Art. 69 Abs. 1 der Bodenverbesserungs-Verordnung vom 14. Juni 1971 (BOV 1971)
BGE 98 Ib 351 S. 355
her, wonach die Abteilung für Landwirtschaft Verfügungen der letzten kantonalen Instanzen gemäss
Art. 103 lit. b OG
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht weiterziehen kann. Art. 70 Abs. 2 BOV 1971 erklärt zwar die Bodenverbesserungs-Verordnung 1954 auf alle während ihrer Geltungsdauer eingetretenen Tatsachen anwendbar. Dies schliesst aber die Legitimation der Beschwerdeführerin nach Art. 69 Abs. 1 BOV 1971 nicht aus, gegen Entscheide Beschwerde zu führen, die nach dem Inkrafttreten der neuen Verordnung gefällt wurden. Es genügt deshalb, festzuhalten, dass die geltende Verordnung am 15. Juli 1971 in Kraft getreten ist, also vor dem angefochtenen Entscheid vom 30. August 1971.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit einzutreten. Für ihre materielle Beurteilung ist nach Art. 70 Abs. 2 BOV 1971 auf die Bodenverbesserungs-Verordnung 1954 abzustellen.
2.
Obschon weder das Landwirtschaftsgesetz noch die Bodenverbesserungs-Verordnung 1954 die Verjährung der Ansprüche auf Rückerstattung von Bundesbeiträgen vorsehen und auch Moser die Verjährung des Rückerstattungsanspruches nicht geltend gemacht hat, begründet der Regierungsrat die Aufhebung des Departementsentscheides allein damit. Die Gründe, die dazu geführt haben, zivilrechtliche Forderungen der Verjährung zu unterwerfen (vgl.
BGE 90 II 437
Erw. 8), rechtfertigen es, wie heute allgemein anerkannt wird, anzunehmen, dass auch vermögensrechtliche Ansprüche des öffentlichen Rechts durch Zeitablauf erlöschen. Die Verjährung beruht mit anderen Worten auf einem allgemeinen Grundsatz, der im Privatrecht wie auch im öffentlichen Rechte gilt (vgl.
BGE 97 I 628
mit Hinweisen). Auch wenn eine ausdrückliche Vorschrift darüber fehlt, ist im vorliegenden Falle demnach die Verjährung des in Frage stehenden Rückerstattungsanspruchs nicht ausgeschlossen. Es bleiben aber verschiedene Fragen zu prüfen.
a) Zunächst kann sich fragen, ob der Regierungsrat die Verjährung zu Recht von Amtes wegen beachtet hat. Im Zivilrecht darf der Richter sie nach
Art. 142 OR
nur berücksichtigen, wenn sich der Schuldner darauf beruft. In öffentlichrechtlichen Streitigkeiten jedoch trägt das Bundesgericht ihr regelmässig Rechnung, ob sie angerufen wird oder nicht (
BGE 73 I 129
;
BGE 86 I 62
, 64). Zur Begründung dieser Praxis wird in erster Linie auf die zwingende Natur des öffentlichen Rechts hingewiesen.
BGE 98 Ib 351 S. 356
Einige Autoren weichen allerdings von dieser Auffassung ab (GRISEL, a.a.O., S. 347; E. BLUMENSTEIN, System des Steuerrechts, 2. A., S. 219, 3. A. S. 273; ZWEIFEL, Zeitablauf als Untergangsgrund öffentlichrechtlicher Ansprüche, S. 53 ff.). In der Tat leuchtet nicht ohne weiteres ein, dass die Verjährung selbst wo sie sich nicht aus einer ausdrücklichen Vorschrift, sondern lediglich aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz ergibt, dem Gläubiger, im Unterschied zum Zivilrecht, auch dann entgegenzuhalten ist, wenn der Schuldner es unterlässt, sich darauf zu berufen. Die Frage kann hier aber offen bleiben. Die Beschwerdeführerin hat sich in ihrer Beschwerde ausdrücklich mit der Berücksichtigung der Verjährung von Amtes wegen einverstanden erklärt. Damit hat sie ihre Forderung zeitlich begrenzt und ihr Rechtsbegehren eingeschränkt. Das Bundesgericht ist zwar nicht an die Begründung einer Beschwerde gebunden, jedoch darf es nach
Art. 114 Abs. 1 OG
, ausser in Abgabestreitigkeiten, weder zugunsten noch zuungunsten der Parteien über deren Begehren hinausgehen. Im vorliegenden Falle ist es ihm deshalb versagt, zu entscheiden, ob die Verjährung von Amtes wegen berücksichtigt werden durfte; es hat einzig zu prüfen, ob die Verjährung eingetreten ist.
b) Da die Verjährung des hier im Streite liegenden Rückerstattungsanspruchs in keinem bundesrechtlichen Erlass geregelt ist, hat das Bundesgericht abzuklären, ob für verwandte Ansprüche eine Regelung besteht, die analog auf den vorliegenden Fall angewendet werden kann (vgl.
BGE 93 I 397
mit Hinweisen). Der Gläubiger verkennt oft, dass sein Anspruch auch verjähren kann, wenn das Gesetz sich darüber ausschweigt. Die analoge Anwendung von Verjährungsbestimmungen über verwandte Ansprüche ist daher nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zulässig: Es muss als wahrscheinlich angenommen werden können, dass der Gesetzgeber, wenn er die Verjährung für den fraglichen Anspruch geregelt hätte, sich für die Lösung entschieden hätte, deren analoge Anwendung in Aussicht genommen wird. Ausserdem müsste auch der Gläubiger diese Lösung erwartet haben können, wenn er sich Gedanken über die Verjährung seines Anspruchs gemacht hätte. Weder die Verjährungsbestimmungen, die im angefochtenen Entscheid erwähnt sind, noch die von der Beschwerdeführerin angeführten entsprechen aber diesen Voraussetzungen.
Bestimmungen über die Verjährung vermögensrechtlicher Ansprüche aus öffentlichem Recht finden sich in zahlreichen
BGE 98 Ib 351 S. 357
Erlassen des Bundes. Zu beachten ist dabei, dass verschiedene dieser Bestimmungen von Verjährung sprechen, obschon sie der Sache nach Verwirkung meinen (z.B. Art. 16 Abs. 3 und 47 Abs. 2 AHVG; vgl.
BGE 97 V 144
und EVEG 1969 S. 184). Dauer und Beginn der Fristen sind fast von Erlass zu Erlass verschieden geregelt. Diese Verschiedenheiten lassen sich oft sachlich nicht begründen. Vielfach scheinen sie lediglich die Folge von Zufälligkeiten bei der Vorbereitung der betreffenden Erlasse. Gesetzgeber und Verwaltung haben offenbar bisher der Festsetzung dieser Fristen und ihrer sachgemässen Vereinheitlichung keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Vereinzelt wird wohl die Dauer, nicht aber der Beginn der Frist festgelegt (z.B. V über Abgaben auf Konsummilch und Konsumrahm vom 30. Dezember 1953, Art. 13 Abs. 1) oder der Beginn der Frist wird so angesetzt, dass die Frist praktisch nicht zu laufen beginnen kann (z.B. VV zum BRB über die eidgenössische Getränkesteuer vom 27. November 1934, Art. 82 Abs. 1: Beginn der Frist mit Ausserkraftsetzung der Verordnung). Wo der Fristbeginn geregelt ist, wird er meist auf den Zeitpunkt der Entstehung oder der Fälligkeit des fraglichen Anspruchs gelegt. Im Steuerrecht wird oft auf das Ende des Kalenderjahres abgestellt, in dem eine dieser Tatsachen eingetreten ist. Auch der Zeitpunkt, in dem der Berechtigte Kenntnis von seinem Anspruch erhält, gilt häufig als Fristbeginn. Zahlreiche Vorschriften kombinieren eine Frist mit gleitendem Beginn (z.B. Kenntnis des Berechtigten vom Anspruch) mit einer solchen mit festem Beginn (z.B. Entstehung des Anspruchs). Die Dauer der Fristen wird meistens auf ein Jahr, fünf Jahre oder zehn Jahre festgelegt. Andere Fristen sind nur vereinzelt vorgesehen (z.B.
Art. 14 Abs. 2 EntG
). Für Rückerstattungsansprüche finden sich die folgenden Lösungen:
- Verjährung des Anspruchs ein Jahr nach Kenntnis davon, jedenfalls aber fünf Jahre nach seiner Entstehung (BG über die wirtschaftliche Kriegsvorsorge vom 30. September 1955, Art. 29 Abs. 1; BG über die friedliche Verwendung der Atomenergie und den Strahlenschutz vom 23. Dezember 1959, Art. 41 Abs. 4; BG über die Erwerbsausfallentschädigungen an Wehr- und Zivilschutzpflichtige vom 25. September 1952, Art. 20 Abs. 2; BG über Investitionskredite und Betriebshilfe in der Landwirtschaft vom 23. März 1962, Art. 33 Abs. 4; Beamtenordnung I vom 10. November 1959, Art. 72 Abs. 2; Beamtenordnung II vom 10. November 1959, Art. 63 Abs. 2;
BGE 98 Ib 351 S. 358
Beamtenordnung III vom 29. Dezember 1964, Art. 98 Abs. 2; Angestelltenordnung vom 10. November 1959, Art. 79 Abs. 2).
- Verjährung des Anspruchs fünf Jahre nach Kenntnis davon, jedenfalls zehn Jahre nach seiner Entstehung (BG über die Brotgetreideversorgung des Landes vom 20. März 1959, Art. 57 Abs. 1; BG über geschützte Warenpreise und die Preisausgleichskasse für Eier und Eiprodukte vom 21. Dezember 1960, Art. 11; BG über Bundesbeiträge an die Bekämpfung der rheumatischen Krankheiten vom 22. Juni 1962, Art. 7 Abs. 1; BG über die Bekämpfung von Tierseuchen vom 1. Juli 1966, Art. 45 Abs. 2; BB über die inländische Zuckerwirtschaft vom 27. Juni 1969, Art. 16 Abs. 1; BG über die Tabakbesteuerung vom 21. März 1969, Art. 30 Abs. 2).
- Verjährung des Anspruchs ein Jahr nach Kenntnis davon, jedenfalls zehn Jahre nach seiner Entstehung (
Art. 99 Abs. 1 KUVG
; Art. 35 Abs. 2 nGSchG; BB über Massnahmen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaues vom 31. Januar 1958, Art. 13 Abs. 1; BG über Massnahmen zur Förderung des Wohnungsbaues vom 19. März 1965, Art. 17 Abs. 1; BG über die Verbesserung der Wohnverhältnisse in Berggebieten vom 20. März 1970, Art. 14 Abs. 1; BB über zusätzliche wirtschaftliche und finanzielle Massnahmen auf dem Gebiete der Milchwirtschaft vom 25. Juni 1971, Art. 22 Abs. 2).
- Verjährung des Anspruchs zehn Jahre nach seiner Entstehung (
Art. 17 Abs. 2 NHG
).
Mehrere der zitierten Bestimmungen erklären ausserdem die längeren strafrechtlichen Verjährungsfristen da für massgebend, wo sich der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung herleitet.
Für welche all dieser Lösungen sich der Gesetzgeber entschieden hätte, wenn er die Verjährung im Landwirtschaftsgesetz hätte regeln wollen, lässt sich unter den gegebenen Umständen nicht sagen. Umso weniger konnte auch die mit der Geltendmachung des Rückerstattungsanspruchs betraute kantonale Behörde die analoge Anwendung einer bestimmten Lösung auf den in Frage stehenden Anspruch erwarten. Die analoge Übernahme einer der aufgeführten Lösungen auf den vorliegenden Fall verbietet sich demnach.
Enthielte allerdings das Landwirtschaftsgesetz Vorschriften über die Verjährung anderer Ansprüche als der Ansprüche auf Rückerstattung von Bundesbeiträgen, so wäre möglicherweise
BGE 98 Ib 351 S. 359
anzunehmen, die darin getroffene Regelung gelte für alle in diesem Gesetze begründeten Forderungen (vgl.
BGE 93 I 397
ff.). Solche anderen Verjährungsvorschriften finden sich aber nicht.
c) Die Verjährung des hier in Frage stehenden Rückerstattungsanspruchs ist in keinem bundesrechtlichen Erlass geregelt. Da auch die analoge Anwendung einer für andere Rückerstattungsansprüche geltenden Regelung aus den eben angeführten Gründen ausgeschlossen ist, hat das Bundesgericht selbst, gewissermassen anstelle des Gesetzgebers, insbesondere Beginn und Dauer der Verjährungsfrist zu bestimmen. Im Interesse der Rechtssicherheit weicht es dabei nicht ohne zwingenden Grund von seinen früheren Entscheiden ab.
Für Rückerstattungsansprüche hat das Bundesgericht mangels ausdrücklicher Vorschrift schon mehrmals eine einzige Verjährungsfrist von fünf Jahren angenommen. Als Fristbeginn galt dabei jeweils der Zeitpunkt, in dem der betreffende Anspruch entstanden war. Für diese Lösung entschied sich das Bundesgericht zunächst mit Bezug auf die Rückerstattung von Militärpflichtersatzabgaben (
BGE 61 I 201
). Es wandte sie später auf die Rückforderung einer irrtümlicherweise bezahlten Entschädigung (
BGE 78 I 90
), zu Unrecht erhobener periodischer Steuern (
BGE 78 I 192
) und zu Unrecht bezogener Rückvergütungen (
BGE 83 I 220
) an. In einem neueren Entscheid über die Rückerstattung von Bundesbeiträgen hat es sie bestätigt (
BGE 93 I 672
) und im unveröffentlichten Urteil i.S. Michellod vom 22. Dezember 1971 ein weiteres Mal erwähnt.
Die Gründe, welche für die anderen möglichen Lösungen sprechen, sind nicht so gewichtig, dass von dieser Rechtsprechung abgewichen werden müsste. Solange der Gesetzgeber die Verjährung nicht selbst ausdrücklich regelt, ist deshalb von einer Verjährungsfrist von fünf Jahren seit Entstehung des Rückerstattungsanspruchs auszugehen. Eine Frist von fünf Jahren seit Kenntnis vom Anspruch scheint zu lange, würde sie doch dem Gläubiger ermöglichen, seinen Anspruch noch in einem Zeitpunkt geltend zu machen, da der Schuldner mit gutem Grund Verzicht darauf annimmt. Eine einzige Frist von zehn Jahren seit Entstehung des Anspruches widerspräche anderseits dem gemeinsamen Interesse von Gläubiger und Schuldner an einigermassen rascher Bereinigung ihrer Rechtsbeziehungen. Ob neben der vom Bundesgericht angenommenen fünfjährigen
BGE 98 Ib 351 S. 360
Verjährungsfrist, welche mit der Entstehung des fraglichen Rückerstattungsanspruchs zu laufen beginnt, entsprechend der ersten in Erw. 2 lit. b angeführten Lösung für Rückerstattungsansprüche zusätzlich eine Frist von einem Jahr seit Kenntnis vom Anspruch anzunehmen ist, kann hier offen bleiben, da diese Frage für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung ist.
d) Der Anspruch des Bundes auf Rückerstattung seines Beitrages ist im vorliegenden Falle mit dem Verkauf der Parzelle Mosers an Mahler am 13. Februar 1966 entstanden. Erst mehr als fünf Jahre nach diesem Tage, nämlich am 14. Juli 1971, hat das Departement für Land- und Forstwirtschaft des Kantons Schwyz erstmals die Rückerstattung gefordert. Der Regierungsrat hat deshalb den Anspruch des Bundes zu Recht als verjährt betrachtet. Die Beschwerde ist somit unbegründet. | public_law | nan | de | 1,972 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2d64450b-95cc-4844-9992-545f8d071788 | Urteilskopf
110 IV 95
30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. Dezember 1984 i.S. K. gegen Polizeikommando Basel-Stadt (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 141 VZV
; Blutalkoholanalyse.
1. Ein Gutachten i.S. von
Art. 141 Abs. 3 VZV
ist einzuholen, wenn der Arzt von der vollständigen Resorption des genossenen Alkohols zur Tatzeit ausging und diesem Umstand entscheidende Bedeutung beimass. Stellt sich hingegen das Problem der Rückrechnung nicht, kann auf die Expertise verzichtet werden.
2. Die von der Mehrheit der in der Schweiz gerichts-chemisch tätigen Institute bei geringer Alkoholisierung berücksichtigte Fehlerbreite von ± 0,05 Gew.-%o ist vertretbar. | Sachverhalt
ab Seite 96
BGE 110 IV 95 S. 96
Am 22. November 1983 wurde K. durch den Polizeigerichtspräsidenten von Basel-Stadt wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand schuldig erklärt und zu einer bedingt löschbaren Busse von Fr. 800.-- verurteilt. Die Blutprobe hatte eine Alkoholkonzentration von 0,85 Gew.-%o ergeben, was bei einer Fehlerbreite von ± 0,05 Gew.-%o einen Wert von minimal 0,80 Gew.-%o bis maximal 0,90 Gew.-%o ausmacht.
Das Appellationsgericht bestätigte am 9. Mai 1984 den erstinstanzlichen Entscheid, wobei es auf die Durchführung einer Oberexpertise über die Blutalkoholkonzentration im kritischen Zeitpunkt und insbesondere über den zu berücksichtigenden Streubereich verzichtete. Die gegen dieses Urteil erhobene eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde weist der Kassationshof ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer rügt, dass der Bericht des gerichtlich-medizinischen Institutes der Universität Basel über die Blutanalyse den formalen Anforderungen des
Art. 141 VZV
nicht entspreche. Es sei ein ungenügender Streubereich von ± 0,05 Gew.-%o eingesetzt worden, allfällige weitere Abzüge seien zu seinen Gunsten nicht vorgenommen und vor allem sei kein "Gutachten bzw. Obergutachten" gemäss Abs. 3 und 4 von
Art. 141 VZV
angeordnet worden.
a) Gemäss
Art. 141 Abs. 2 VZV
hat die Blutanalyse nach zwei grundlegend verschiedenen Methoden zu erfolgen und ist zu
BGE 110 IV 95 S. 97
wiederholen, wenn die Resultate wesentlich voneinander abweichen. Über die einzelnen Stadien der Analyse ist ein Protokoll zu führen und die Alkoholkonzentration ist in Gewichtspromillen anzugeben. Zum Ergebnis der Blutanalyse ist gemäss Abs. 3 auf Verlangen des Verdächtigten oder (
BGE 105 IV 256
E. 3 mit Hinweis) in Zweifelsfällen das Gutachten eines gerichtlich-medizinischen Sachverständigen einzuholen, der gemäss Abs. 4 den ärztlichen Untersuchungsbefund sowie den Polizeibericht mitzuberücksichtigen und seine Schlussfolgerungen zu begründen hat. Nötigenfalls sind die Zuverlässigkeit der Blutanalyse und die Möglichkeit von Fehlerquellen durch einen Fachmann (Chemiker) zu begutachten.
b) Nach dem Untersuchungsbericht des Gerichts-chemischen Laboratoriums vom 15. Februar 1983 wurde die Blutprobe "nach zwei von Grund auf verschiedenen Methoden" (gaschromatographisch und fermentativ mit Alkoholdehydrogenase) analysiert. Der Alkoholgehalt betrug 0,85 Gew.-%o, was bei einem Streubereich von 0,05 Gew.-%o einen Analysenbereich von 0,80 bis 0,90 Gew.-%o ergibt. Gemäss dem von der Vorinstanz beim Gerichtschemiker eingeholten Zusatzbericht vom 12. April 1984 lagen alle vier Einzelresultate der beiden Analysenmethoden innerhalb des erwähnten Streubereiches, so dass sich eine Wiederholung der Analyse erübrigte. Den Vorschriften von
Art. 141 Abs. 2 VZV
wurde entsprochen unter Berücksichtigung der massgebenden Untersuchungsmethoden und des überwiegend anerkannten analytischen Vertrauensbereiches (vgl. dazu H. BRANDENBERGER, Die Zürcher Blutalkohol-Analytik, in Kriminalistik, 37. Jahrgang, 1983, S. 548/569 bis 571).
Aufgrund der Untersuchungsberichte stellte der gerichtlich-medizinische Sachverständige fest, dass die Blutentnahme vor dem angenommenen Abschluss der Resorption (Trinkschluss + 2 Stunden) erfolgte und die analytisch nachgewiesene Blutalkoholkonzentration beweise, dass der Beschwerdeführer eine Alkoholmenge im Körper hatte, die zu einer Blutalkoholkonzentration von minimal 0,80 Gew.-%o bis maximal 0,90 Gew.-%o führte.
c) Weil die Blutentnahme vor Abschluss der Resorption erfolgte, musste der Gerichtsarzt keine Rückrechnung über den Alkoholgehalt zum rechtlich relevanten Zeitpunkt vornehmen. Aus den beiden vom Beschwerdeführer erwähnten Bundesgerichtsentscheiden kann dieser deshalb noch nichts zu seinen Gunsten ableiten. Der Arzt ging in diesen Fällen von der Annahme einer vollständigen Resorption des genossenen Alkohols aus und mass diesem
BGE 110 IV 95 S. 98
Moment entscheidende Bedeutung zu. Das Bundesgericht führte dazu in
BGE 102 IV 123
aus, unter solchen Umständen (wobei die Blutalkoholkonzentration im Bereiche von 0,8 Gew.-%o lag) hätte der Arzt seine Annahme und die Art der Rückrechnung erläutern müssen. Weil er dies nicht getan hatte, erachtete das Gericht das Gutachten als ungenügend, und zwar offenbar deshalb, weil es die Möglichkeit nicht ausschloss, dass bei Anwendung einer anderen, dem Angeklagten günstigeren Berechnungsart sich für die rechtlich relevante Zeit unter Umständen eine Alkoholkonzentration von etwas weniger als 0,8 Gew.-%o ergeben könnte. Diese Problematik steht vorliegend jedoch nicht zur Diskussion. Hier geht es einzig und allein um die Zuverlässigkeit der am Gerichts-chemischen Laboratorium Basel praktizierten Blutalkoholanalyse und um den wegen allfälliger Fehler zu fordernden Streubereich.
d) Zu dieser Frage ist vorab zu bemerken, dass die überwiegende Anzahl der in der Schweiz einschlägig tätigen Institute dem Vorgehen, wie es in Basel praktiziert wird, zugestimmt haben. Gebilligt wird es auch vom EJPD. Nur das GMI Bern und das Labor von Dr. Ferrini vertreten eine abweichende Meinung. Mit Ausnahme dieser beiden Stellen wird in der Schweiz bei der Blutalkoholbestimmung eine Fehlerbreite von ± 5% bzw. ± 0,05 Gew.-%o angenommen. Sowohl beim ADH- als auch beim gaschromatographischen Verfahren wurden denn auch in wissenschaftlichen Versuchen bei je mehr als 1000 Bestimmungen Fehlerbreiten von nur 0,63 bis 2,03% gemessen (vgl. THIRIET, Die Praxis im Kanton Basel-Stadt bei Fahren in angetrunkenem Zustand, Diss. Basel 1978, S. 36 mit Hinweisen). Überdies ist auf eine durch das Bundesamt für Polizeiwesen 1983 durchgeführte Kontrolle hinzuweisen, die dem Gerichts-chemischen Laboratorium Basel Werte bestätigte, die höchstens um 0,01 Gew.-%o von denjenigen des Amtes für Messwesen abwichen. Professor Zink von der Universität Bern, der die Blutalkoholbestimmung in der Schweiz ebenfalls als eine der besten in Europa bezeichnet, hat in der Sendung "CH-Magazin" vom 15. November 1983 festgestellt, der durchschnittliche Alkoholfehler liege im Bereich von 2% und darunter; erst wenn man zum Standardfehler noch den (möglicherweise auftretenden) systematischen Fehler berücksichtige, komme man auf eine Grössenordnung von 10%. Unter diesem letzteren Fehler versteht man beispielsweise falsche Anzeige der Waage, mangelnde Linearität der Messvorrichtungen oder chronisch fehlerhaftes Ausführen einer Operation. Nach Professor BRANDENBERGER wird
BGE 110 IV 95 S. 99
aber gerade solchen Fehlerquellen die grösste Aufmerksamkeit gewidmet (Kriminalistik, 1983, S. 570). Sie sind denn auch aus der Mituntersuchung von fabrikmässig standardisierten Testlösungen erkenn- und vermeidbar (PONSOLD, Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin, Stuttgart 1967, S. 229). Auf diese Weise geht das Laboratorium in Basel vor. Es besteht daher kein Anlass, an der Vertretbarkeit eines Streubereiches von nur 0,05 Gew.-%o zu zweifeln. | null | nan | de | 1,984 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2d65ea25-1b2a-4ab3-b733-74aaaea920c0 | Urteilskopf
141 IV 273
36. Extrait de l'arrêt de la Cour de droit pénal dans la cause X. contre Ministère public central du canton de Vaud (recours en matière pénale)
6B_352/2014 du 22 mai 2015 | Regeste
Art. 2, 2a, 8 Abs. 1 lit. d und
Art. 19 Abs. 1 lit. a BetmG
;
Art. 1 Abs. 2 lit. a BetmVV-EDI
und deren Anhang 1; Kriterien für die Qualifikation von Hanf als Betäubungsmittel.
Die blosse Festlegung in der BetmVV-EDI eines Grenzwertes von mindestens 1,0 % THC verpflichtet nicht zur Analyse des THC-Gehalts der streitigen Substanzen, ansonsten diese nicht als Betäubungsmittel qualifiziert werden können. Der objektive Straftatbestand kann auch ohne wissenschaftliche Berechnung des THC-Gehalts aufgrund der gesamten Umstände oder übereinstimmender Indizien, die geeignet sind, einen genügenden Nachweis dafür zu erbringen, als erfüllt betrachtet werden, wie dies die Rechtsprechung vor Inkrafttreten der BetmVV-EDI vorsah (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 274
BGE 141 IV 273 S. 274
A.
Par jugement du 6 juin 2013, le Tribunal correctionnel de l'arrondissement de la Broye et du Nord vaudois a libéré X. du chef de prévention d'infraction grave à la LStup. Il l'a condamné pour infraction et contravention à la LStup à une peine privative de liberté de dix-huit mois, sous déduction de 113 jours de détention avant jugement, et à une amende de 1'500 francs. Il a suspendu l'exécution d'une partie de la peine privative de liberté portant sur neuf mois et fixé le délai d'épreuve à cinq ans. En cas de non-paiement fautif de l'amende, la peine privative de liberté de substitution était fixée à quinze jours. Cette autorité a renoncé à révoquer le sursis accordé le 30 novembre 2005 par le Tribunal correctionnel de l'arrondissement de la Broye et du Nord vaudois. Elle a dit que X. est le débiteur de l'Etat de Vaud d'une créance compensatrice de 5'000 fr., mis une partie des frais de la cause à sa charge, par 30'810 fr. 85, et ordonné la confiscation et la dévolution à l'Etat, à hauteur de 35'810 fr. 85, d'avoirs bancaires de l'intéressé.
B.
Par jugement du 14 janvier 2014, la Cour d'appel pénale du Tribunal cantonal vaudois a rejeté l'appel formé par X. et admis partiellement l'appel joint du ministère public. Elle a modifié le jugement du 6 juin 2013 en ce sens qu'elle a libéré X. du chef de prévention d'infraction grave à la LStup, elle l'a condamné pour infraction et contravention à la LStup à une peine privative de liberté ferme de dix-huit mois, sous déduction de 113 jours de détention avant jugement, et à une amende de 1'500 francs. En cas de non-paiement fautif de l'amende, la peine privative de liberté de substitution était fixée à quinze jours. Cette autorité a renoncé à révoquer le sursis accordé le 30 novembre 2005 par le Tribunal correctionnel de l'arrondissement de la Broye et du Nord vaudois. Elle a dit que X. est le débiteur de l'Etat de Vaud d'une créance compensatrice de 25'000 fr., mis une partie des frais de la cause à sa charge, par 30'810 fr. 85, et ordonné la confiscation et la dévolution à l'Etat, à hauteur de 50'810 fr. 85, d'avoirs bancaires de l'intéressé. Les frais d'appel ont été mis pour trois quarts à la charge de X., le solde étant laissé à la charge de l'Etat.
C.
X. forme un recours en matière pénale auprès du Tribunal fédéral contre le jugement du 14 janvier 2014. Il conclut principalement à son annulation et au renvoi de la cause à l'autorité précédente pour complément d'instruction dans le sens des considérants et nouveau jugement. Subsidiairement, il requiert que la peine privative de liberté prononcée soit ramenée à huit mois au plus et assortie du sursis, que la créance compensatrice mise à sa charge en faveur de l'Etat de
BGE 141 IV 273 S. 275
Vaud soit arrêtée à 5'000 fr. et que la part des frais de justice mise à sa charge pour les instances précédentes soit réduite dans une proportion fixée à dire de justice. Il produit une pièce nouvelle et sollicite l'assistance judiciaire.
Interpellés, l'autorité précédente a renoncé à se déterminer, le ministère public a conclu au rejet. X. a répliqué.
Erwägungen
Extrait des considérants:
3.
Le recourant soutient que la renonciation à analyser la teneur en THC des produits saisis lors des perquisitions, malgré ses demandes, était arbitraire et inacceptable. Il invoque l'ordonnance du DFI du 30 mai 2011 sur les tableaux des stupéfiants, des substances psychotropes, des précurseurs et des adjuvants chimiques (OTStup-DFI; RS 812.121.11), entrée en vigueur le 1
er
juillet 2011, dont l'annexe fixe à 1,0 % le THC minimum pour que du chanvre ou des plantes de chanvre soient qualifiés de stupéfiants. Il estime que cette nouvelle réglementation impose dans chaque cas particulier et pour autant que cela soit réalisable de procéder à des analyses pour définir la teneur en THC des produits cultivés ou vendus.
3.1
3.1.1
Jusqu'au 30 juin 2011, l'ancien art. 1 al. 2 let. a ch. 4 LStup (RS 812.121) considérait le chanvre comme stupéfiant. L'ancien
art. 8 al. 1 let
. d LStup interdisait quant à lui la culture, l'importation, la fabrication ou la mise dans le commerce du chanvre en vue d'en extraire des stupéfiants et la résine de ses poils glanduleux (hachisch). L'ancien
art. 19 al. 1 LStup
sanctionnait d'une peine privative de liberté de trois ans au plus ou d'une peine pécuniaire celui qui, sans droit, cultivait du chanvre en vue de la production de stupéfiants.
Toute détention ou vente de chanvre n'était pas punissable. Selon la jurisprudence, les différentes formes commerciales du chanvre n'étaient considérées comme des stupéfiants au sens de la loi que si la teneur en THC était supérieure à la limite légale, à savoir 0,3 %, tel que fixé dans l'annexe 4 de l'ordonnance du 7 décembre 1998 de l'OFAG sur le catalogue des variétés de céréales, de pommes de terre, de plantes fourragères, de plantes oléagineuses et à fibres ainsi que de betteraves (RS 916.151.6) abrogée au 1
er
juillet 2013 (cf.
ATF 126 IV 198
consid. 1 p. 200). En outre, pour que la culture ou la vente de chanvre soit punissable, il fallait que le but visé soit effectivement l'extraction de stupéfiants (
ATF 130 IV 83
consid. 1.1 p. 86).
BGE 141 IV 273 S. 276
Selon la jurisprudence développée avant le 1
er
juillet 2011, l'absence d'analyse du chanvre aux fins de déterminer quelle était sa teneur en THC ne suffisait pas à exclure qu'il pouvait être consommé comme stupéfiant. L'analyse du chanvre, en tant qu'elle permettait de déterminer sa teneur en THC et, partant, son effet psychotrope, était sans doute le moyen le plus adéquat et le plus sûr pour établir s'il pouvait être consommé comme stupéfiant. Il ne s'agissait toutefois que d'un moyen de preuve parmi d'autres. La réalisation de l'élément objectif de l'infraction pouvait aussi être admise sur la base d'un ensemble d'éléments ou d'indices convergents propres à l'établir de manière suffisante. A titre d'exemple, la jurisprudence mentionnait les éléments ou indices suivants: l'auteur admet lui-même que le chanvre qu'il cultive ou vend peut être consommé comme stupéfiant, il est établi que des personnes qui ont acquis le chanvre l'ont consommé comme stupéfiant, l'auteur écoule ses produits à des prix nettement plus élevés que ceux des mêmes produits dépourvus d'effet psychotrope, il vend également des objets habituellement utilisés par des fumeurs de drogue, etc. (arrêt 6S.363/2001 du 27 juin 2001 consid. 1b).
3.1.2
Depuis le 1
er
juillet 2011, il n'est plus nécessaire de démontrer qu'une culture est destinée à l'extraction de stupéfiants. L'
art. 19 al. 1 let. a LStup
sanctionne ainsi celui qui, sans droit, cultive, fabrique ou produit de toute autre manière des stupéfiants. Aux termes de l'
art. 2 al. 1 LStup
, sont des stupéfiants les substances et préparations qui engendrent une dépendance et qui ont des effets de type morphinique, cocaïnique ou cannabique et celles qui sont fabriquées à partir de ces substances ou préparations ou qui ont un effet semblable à celles-ci. Le Département fédéral de l'intérieur établit la liste des stupéfiants, des substances psychotropes, des précurseurs et des adjuvants chimiques; à cet effet, il se fonde en principe sur les recommandations des organisations internationales compétentes (
art. 2a LStup
). L'
art. 8 al. 1 let
. d LStup interdit la culture, l'importation, la fabrication ou la mise dans le commerce des stupéfiants ayant des effets de type cannabique.
Se fondant sur l'
art. 2a LStup
, le Département fédéral de l'intérieur a établi, le 30 mai 2011, l'OTStup-DFI. Entrée en vigueur le 1
er
juillet 2011, elle qualifie de stupéfiants le cannabis, soit la plante de chanvre ou parties de plante de chanvre présentant une teneur totale moyenne en THC de 1,0 % au moins et tous les objets et préparations présentant une teneur totale en THC de 1,0 % au moins ou
BGE 141 IV 273 S. 277
fabriqués à partir de chanvre présentant une teneur totale en THC de1,0 % au moins (
art. 1 al. 2 let. a OTStup-DFI
et le tableau a-d de son annexe 1).
Ni la LStup dans sa version en vigueur depuis le 1
er
juillet 2011, ni l'OTStup-DFI n'impose de méthode pour déterminer si le THC atteint une teneur de 1,0 %. Contrairement à ce que le recourant soutient, la seule indication dans l'OTStup-DFI - et plus seulement dans la jurisprudence fondée sur l'annexe 4 de l'ordonnance de l'OFAG précitée -, d'un taux plancher ne saurait imposer de procéder à l'analyse du THC des produits litigieux, sous peine que ceux-ci ne puissent être qualifiés de stupéfiants. Même en l'absence de calcul scientifique du taux, l'élément objectif de l'infraction peut être considéré comme réalisé sur la base d'un ensemble d'éléments ou d'indices convergents propres à l'établir de manière suffisante, comme le prévoyait la jurisprudence exposée ci-dessus.
3.2
En l'espèce, l'autorité précédente a en substance retenu que les produits cultivés et vendus avaient été consommés comme stupéfiants par le recourant et par des tiers. De plus, le recourant avait loué un local et l'avait aménagé, consentant ainsi des investissements considérables pour ses cultures. Elle a constaté, au vu de ces circonstances, qu'il ne faisait aucun doute que l'activité du recourant tombait sous le coup de l'ancien
art. 19 ch. 1 LStup
et de l'
art. 19 al. 1 LStup
dans leurs teneurs en vigueur tant avant qu'après le 1
er
juillet 2011, ce même en l'absence d'analyse du taux en THC des plants saisis. Elle a donc admis que le chanvre cultivé ou vendu avant le 1
er
juillet 2011 avait une teneur en THC supérieure à 0,3 % et visait l'extraction de stupéfiants et que celui cultivé ou vendu après cette date avait une teneur en THC supérieure à 1,0 %.
3.3
Le recourant n'attaque cette appréciation que s'agissant des produits saisis en septembre 2011, soit 63 branches de chanvre séchées issues de la culture de S., 137 plants de cannabis saisis à S., 22 plants cultivés à T. et 240 g brut de cannabis. Il ne formule aucun grief quant aux activités antérieures à cette période, de sorte qu'il n'y a pas lieu d'y revenir.
A l'encontre de l'appréciation cantonale, le recourant rappelle qu'il est lui-même un consommateur de cannabis sous diverses formes. Cela n'enlève rien au fait constaté qu'il vendait sa production, qu'elle vienne de S. ou de T., pour être consommée comme stupéfiants, le jugement entrepris ne retenant aucune autre utilisation. Le recourant
BGE 141 IV 273 S. 278
relève qu'il "ne s'agit pas d'une seule et unique culture uniforme, mais de différentes cultures pratiquées dans différents lieux avec différentes méthodes". Une telle affirmation est insuffisante à démontrer qu'il était arbitraire d'admettre que le taux de THC décisif était atteint. Le recourant allègue que "le prix de vente de certains produits paraît en outre très bas et, dans certains cas, la marchandise peinait visiblement à trouver preneur". Ce dernier fait ne ressort pas du jugement entrepris, sans que le recourant n'invoque l'arbitraire de son omission, ni même quelle preuve l'établirait. Rien n'indique en outre que cette affirmation concerne les produits saisis et que la difficulté de vente invoquée tienne à la teneur insuffisante en THC. Que le recourant ait prévu de vendre la marchandise cultivée à T. entre 3 et 5 fr. le gramme n'est pas non plus suffisant à démontrer l'arbitraire de la constatation que cette marchandise avait une teneur moyenne en THC supérieure ou égale à 1,0 %. A cet égard, on relève que le recourant a reconnu "fumer" tant la marchandise produite à S. que celle produite à T., élément qui renforce encore la constatation que les produits saisis en septembre 2011 constituaient des stupéfiants.
Assisté depuis le début de la procédure, le recourant affirme n'avoir cessé de requérir une analyse des produits saisis. Il n'indique ni quand ni auprès de quelle autorité il aurait entrepris une telle demande et il n'appartient pas au Tribunal fédéral de le rechercher lui-même dans le dossier. A tout le moins doit-on constater qu'une telle requête n'a pas été formulée lors de la procédure d'appel. La critique est ainsi irrecevable faute d'épuisement des instances cantonales (
art. 80 al. 1 LTF
). Quoi qu'il en soit, il résulte de ce qui précède que le grief d'arbitraire quant à la constatation de la teneur en THC des produits saisis est infondé. | null | nan | fr | 2,015 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2d66904e-f9c8-4451-b6f3-aefffa7340dd | Urteilskopf
102 Ia 62
12. Urteil vom 21. Januar 1976 i.S. Blum gegen Kanton Zürich. | Regeste
Gewaltentrennung; Gesetzesdelegation.
1. Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Gesetzesdelegation (E. 2).
2. Bedeutung reiner Kompetenzabgrenzungsregeln und der Übertragung einzelner Verwaltungsakte an das Parlament (E. 3).
3. Zulässiger Umfang der Gesetzesdelegation (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 63
BGE 102 Ia 62 S. 63
Nach dem in der zürcherischen Volksabstimmung vom 7. September 1975 angenommenen neuen Art. 63bis KV wird die besondere Stellung und Organisation von Versuchsschulen durch Gesetz geregelt. Dieses gleichzeitig erlassene Gesetz über Schulversuche (kurz SchVG) enthält im wesentlichen folgende Bestimmungen:
"§ 1. Im Bereich der Vorschulstufe, der Volksschule und der Mittelschule können unter Abweichung von der ordentlichen Schulgesetzgebung Schulversuche durchgeführt werden. Sie dienen der Beschaffung von Entscheidungsgrundlagen für den Weiterausbau des Schulwesens. Zu diesem Zweck können kantonale und kommunale Versuchsschulen eingerichtet werden. Innerhalb der bestehenden Schultypen können Versuchsklassen mit besonderem Lehr- und Unterrichtsplan geführt werden. Dabei kann in einzelnen Fächern von der bestehenden Schulorganisation abgewichen werden.
Bei allen Versuchen bleiben Bestimmungen über Beginn und Dauer der Schulpflicht vorbehalten. Die Versuche sind zeitlich zu befristen. Der Besuch von Versuchsschulen gilt als Erfüllung der Schulpflicht.
§ 2. Der Erziehungsrat beschliesst über Zielsetzung und Inhalt der Schulversuche und regelt die Durchführung.
§ 3. Der Kantonsrat beschliesst über die Einrichtung von kantonalen Versuchsschulen.
Der Regierungsrat beschliesst auf Antrag oder mit Zustimmung des zuständigen Gemeindeorgans über die Einrichtung von kommunalen Versuchsschulen.
Der Erziehungsrat beschliesst auf Antrag oder mit Zustimmung der Gemeindeschulpflege über die Führung von Versuchsklassen.
§ 4. Der Regierungsrat erlässt die zum Vollzug dieses Gesetzes erforderliche Verordnung, welche durch den Kantonsrat zu genehmigen ist."
Mit staatsrechtlicher Beschwerde verlangt Urs Blum, Zürich, die Aufhebung dieses Gesetzes wegen Verletzung von Art. 28 KV und des Gewaltentrennungsgrundsatzes.
BGE 102 Ia 62 S. 64
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
... (Formelles)
2.
Der Grundsatz der Gewaltentrennung ist auch ungeschrieben in allen Kantonen verfassungsmässig gewährleistet, da er sich aus der in der Verfassung vorgesehenen Aufteilung der Staatsfunktionen auf verschiedene Gewalten ergibt (
BGE 93 I 44
und 334, mit Hinweisen). Nach feststehender Rechtsprechung des Bundesgerichts ist dennoch die Delegation rechtsetzender Befugnisse an Verwaltungsbehörden oder untergeordnete Subjekte des öffentlichen Rechts zulässig, wenn sie nicht durch das kantonale Recht ausgeschlossen wird, wenn sie auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt wird und das Gesetz die Grundzüge der Regelung selbst enthält, soweit sie die Rechtsstellung der Bürger schwerwiegend berührt, und wenn sie in einem der Volksabstimmung unterliegenden Gesetz enthalten ist (
BGE 100 Ia 66
E. 2a). Die erste und die letzte Bedingung sind hier zweifellos erfüllt.
Die Verfassung des Kantons Zürich sagt über die Delegation rechtsetzender Befugnisse nichts aus, verbietet sie zumindest nicht. Die Delegation ist daher grundsätzlich zulässig, und es wird von ihr häufig Gebrauch gemacht. Die zürcherische Rechtsprechung anerkennt die Zulässigkeit ebenfalls, soweit der Gesetzgeber nicht den Erlass der grundsätzlichen und primären Rechtssätze an die Exekutive delegiert (ZBl 66/1965 S. 345 ff. und ZBl 70/1969 S. 275; Rechenschaftsbericht des Verwaltungsgerichtes 1965 Nr. 3 und Nr. 31). Auch die Übertragung rechtsetzender Gewalt an andere Behörden als den Regierungsrat - z.B. an den Erziehungsrat oder das Obergericht -, untersagt die Verfassung nicht ausdrücklich. Eine solche Delegation ist von Bundesrechts wegen nicht unzulässig: Art. 7 des Rechtskraftgesetzes vom 12. März 1948 und Art. 4 Abs. 2 des BG vom 6. Oktober 1966 über die Herausgabe einer neuen Bereinigten Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen sehen diese Möglichkeit ausdrücklich vor (
BGE 101 Ib 74
E. 4), und verschiedene Bundesgesetze enthalten Delegationen an Departemente und sogar deren Abteilungen. Diese Delegation ist jedenfalls dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn es sich um die Regelung untergeordneter Einzelheiten mehr technischer Natur durch eine sachnahe Verwaltungsbehörde handelt.
BGE 102 Ia 62 S. 65
3.
§ 3 SchVG grenzt die Zuständigkeit zwischen Kantons-, Regierungs- und Erziehungsrat bei der Errichtung und Führung von Versuchsschulen ab. Mit der in den Abs. 1 und 2 genannten "Einrichtung" ist, wie sich aus dem "Beleuchtenden Bericht" zum Gesetz ergibt, die Errichtung von Schulen gemeint. Bei der Beschlussfassung über die Errichtung und Führung solcher Schulen handelt es sich nicht um den Erlass von Rechtssätzen, sondern um Verwaltungsakte, die nach der Gewaltentrennungslehre in erster Linie den Verwaltungsbehörden zustehen. Der Regierungsrat und der ihm nach Art. 62 Abs. 6 KV beigegebene Erziehungsrat sind solche Verwaltungsbehörden. § 3 SchVG enthält somit eine reine Kompetenzabgrenzungsregel, die keine Delegation rechtssetzender Befugnisse enthält. Auch die Übertragung einzelner Verwaltungsakte an das kantonale Parlament ist dem zürcherischen Verfassungsrecht nicht fremd (z.B. Art. 31 Ziff. 5 und 6 KV). Soweit die Errichtung kantonaler Versuchsschulen dem Kantonsrat übertragen wird, ist der Beschwerdeführer in seiner Rechtsstellung übrigens nicht persönlich betroffen, so dass er sich darüber nicht beschweren kann. Ob die ganze, im Gesetz enthaltene Kompetenzordnung unklar und widersprüchlich ist, kann offen bleiben. Denn selbst wenn es so wäre, könnte das nicht zur Aufhebung des Gesetzes aufgrund einer staatsrechtlichen Beschwerde führen. Unklarheiten und Widersprüche sind bei der Gesetzesanwendung durch Auslegung und allenfalls Lückenfüllung zu beseitigen.
4.
Ist die Delegation von Akten der Rechtsetzung vom Gesetzgeber an andere Staatsorgane nach zürcherischem Recht nicht ausgeschlossen, so ist zu prüfen, in welchem Umfang sie zulässig ist.
a) Der Beschwerdeführer behauptet nicht, alle Einzelheiten der künftigen Schulversuche müssten im Gesetz selbst geregelt werden und jegliche Delegation sei ausgeschlossen, sondern nur, das Gesetz stelle ein nach zürcherischem Recht unzulässiges Blankettgesetz dar. Nach der zürcherischen Verfassung wird die Gesetzgebung vom Volk in Verbindung mit dem Kantonsrat ausgeübt. Über die Art und den Konkretisierungsgrad der Rechtssätze in den Gesetzen besagt die Verfassung nichts. Deren Wortlaut schliesst an sich auch den Erlass von Blankettgesetzen nicht aus. Als Blankettgesetze werden Gesetze bezeichnet, deren Inhalt einzig in der Ermächtigung
BGE 102 Ia 62 S. 66
eines andern Organs besteht, auf einem mehr oder minder eng umschriebenen Sachgebiet Recht zu setzen, oder Gesetze, die Rechtsfolgen an einen Tatbestand knüpfen, der erst noch durch Verordnung oder einen andern Erlass festzusetzen ist. Soweit ein Gesetz bezüglich gewisser rechtlicher Tatbestände oder Rechtsfolgen auf ein anderes Gesetz verweist, ist vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus dagegen nichts einzuwenden. Verweist es auf eine Verordnung oder einen Erlass von niedrigerem Rang, ist darin eine Delegation rechtsetzender Gewalt enthalten. Die Frage nach der Zulässigkeit eines Blankettgesetzes fällt dann mit jener nach der Zulässigkeit der Delegation zusammen.
b) Die angebliche Unzulässigkeit der Delegation an den Regierungsrat, die zum Vollzug des Gesetzes erforderliche Verordnung zu erlassen, begründet der Beschwerdeführer nicht näher. Mangels Begründung ist daher auf diese Rüge nicht einzutreten. Im "Beleuchtenden Bericht" (S. 9) skizziert der Regierungsrat den wesentlichen Inhalt der Verordnung, die er erlassen will. Es ist daraus zu ersehen, dass er eine weitgehende Verordnungskompetenz in Anspruch nimmt. Die Verordnung liegt aber noch nicht vor. Findet der Beschwerdeführer später, der Regierungsrat erlasse Rechtssätze, die über das zulässige Mass hinausgehen, kann er immer noch die Verordnung wegen Missachtung der Gewaltentrennung, d.h. seines Mitwirkungsrechtes an der Gesetzgebung, anfechten.
c) Der Beschwerdeführer wendet ein, die in § 2 SchVG enthaltene Delegation an den Erziehungsrat überschreite - abgesehen von ihrer grundsätzlichen Unzulässigkeit - bei weitem den üblichen Rahmen und enthalte die Befugnis, schlechthin alles zu regeln und durchzuführen. Der Vorwurf ist unbegründet. Freilich trifft zu, dass das Verhältnis von § 1 Abs. 1 und § 2 nicht eindeutig geregelt ist und auf den ersten Blick sogar einen Widerspruch zu enthalten scheint. Dieser lässt sich aber durch Auslegung beheben. § 1 umschreibt die Zielsetzung der Schulversuche, nämlich die Beschaffung von Entscheidungsgrundlagen für den Weiterausbau des Schulwesens. Unter der "Zielsetzung" im Sinne von § 2, über die der Erziehungsrat zu befinden hat, kann daher nur die Zielsetzung des Versuches im Einzelfall oder in einer Reihe von Einzelfällen gehören. Das gleiche gilt hinsichtlich der Ordnung des Inhaltes der Versuche. Der Inhalt hängt eng mit der Zielsetzung im Einzelfall zusammen. Es ist wahrscheinlich,
BGE 102 Ia 62 S. 67
dass im Rahmen von § 1 die Schulversuche reihenweise und nicht nach einheitlichem Muster, sondern auf verschiedene Weise durchgeführt werden müssen. Dann erst ist es möglich, die Durchführung für den Einzelfall zu regeln. Es handelt sich bei diesen Anordnungen zur Hauptsache ebenfalls um Verwaltungsakte und es scheint fraglich, ob mit der in § 2 SchVG enthaltenen Ermächtigung eine Befugnis zum Erlass von allgemeinverbindlichen Rechtssätzen verbunden ist. Eher ist daran zu denken, dass der Erziehungsrat, sofern sich eine generelle Ordnung aufdrängt, Verwaltungsanweisungen erlässt. Hiezu sind die Verwaltungsbehörden auch ohne gesetzliche Delegation zuständig (
BGE 98 Ia 519
E. 6). Freilich vermögen solche Verwaltungsverordnungen unter Umständen auch die Rechte und Pflichten Dritter zu beeinflussen; dann stände diesen, sofern sie in ihren Grundrechten verletzt würden, die zu deren Schutz bestehenden Rechtsbehelfe zur Verfügung (
BGE 98 Ia 511
E. 1).
Selbst wenn man weitergehend annimmt, § 2 SchVG ermächtige den Erziehungsrat zum Erlass von Vollzugsvorschriften mit allgemein verbindlichen Rechtssätzen, ist die Delegation haltbar. Wie der Beschwerdeführer selber annimmt, ist die Zulässigkeit der Delegation mangels bestimmter Vorschriften eine Frage des Masses. Gewiss muss der Umfang der zulässigen Delegation durch Gesetz mit einer gewissen Strenge bestimmt werden, besonders wenn eine Verfassungsvorschrift, wie der neue Art. 63bis KV, für eine bestimmte Materie die Regelung durch Gesetz vorschreibt. Andernfalls könnte die Verfassungsvorschrift ihres Sinnes weitgehend entleert werden (
BGE 100 Ia 161
, E. 5d mit Hinweisen).
Das zulässige Mass der Delegation kann aber nicht ein für allemal generell umschrieben werden, denn es ist in erheblichem Masse von der Art des zu regelnden Sachgebietes abhängig. Ein Verstoss gegen die Verfassungsvorschrift kann im vorliegenden Fall umso weniger angenommen werden, als die Verfassungsergänzung und das auf ihr beruhende Gesetz dem Stimmbürger gleichzeitig vorgelegt wurden, dieser sich also selbst eine Anschauung über das Mass der Delegation, das mit der Verfassung von vornherein als verträglich gehalten wurde, bilden konnte. Zudem leuchtet ein, dass die von Verfassung und Gesetz ermöglichten Schulversuche im Gesetz selber nicht im einzelnen umschrieben werden können, ohne den Gesetzgeber zu überfordern. Das liegt in der Natur des vom Gesetz
BGE 102 Ia 62 S. 68
angestrebten Zweckes. Die Anordnung eines Versuches im vorgesehenen Bereich hängt von zahlreichen Umständen ab, die nicht ohne weiteres vorausgesehen werden können. Die Richtung der Versuche muss wieder abgeändert werden können, wenn die bereits durchgeführten Versuche sich als unzweckmässig oder ohne befriedigendes Ergebnis erweisen sollten. Sonst müsste entweder das Gesetz selber eine grössere Zahl von Möglichkeiten einzeln ordnen, oder es müsste nach verhältnismässig kurzer Zeit aufgrund der gemachten Erfahrungen wieder geändert werden. Das ist dem Gesetzgeber nicht zuzumuten. Für den Erlass solcher Durchführungsvorschriften, die zudem von praktisch beschränkter Tragweite sind, ist der Rahmen der Delegationsmöglichkeit weit zu fassen. Das gilt übrigens selbst in Abgabesachen, wo das Bundesgericht der Delegationsmöglichkeit besonders enge Schranken gesetzt hat (
BGE 99 Ia 703
,
BGE 100 Ia 142
,
BGE 101 Ib 76
).
Gewiss sind die Delegationsnormen des angefochtenen Gesetzes weit gefasst und bestimmt das Gesetz selber nur das Ziel der vorzunehmenden Schulversuche und gewisse organisatorische Grundbedingungen, wie z.B. dass sie nur in besonderen Schulen und Klassen durchgeführt werden können. Aber anderseits greifen die Schulversuche auch nicht besonders stark in den Rechtsbereich des Bürgers ein, so dass auch der zweiten, vom Bundesgericht für die Zulässigkeit der Delegation geforderten Bedingung genügt ist, falls man in § 2 SchVG überhaupt eine Delegation zum Erlass allgemeinverbindlicher Vorschriften sehen will.
Sollte sich in Zukunft zeigen, dass der Erziehungsrat unter Berufung auf § 2 SchVG für sich rechtsetzende Befugnisse in Anspruch nimmt, die nach dem Sinn des Gesetzes nicht ihm, sondern dem Gesetzgeber zustehen, verbleibt dem Beschwerdeführer immer noch die Möglichkeit, die zulässigen Rechtsbehelfe - zuletzt auch die Stimmrechtsbeschwerde und, soweit die besondern Voraussetzungen des
Art. 87 OG
erfüllt sind, auch die Beschwerde wegen Verletzung der Gewaltentrennung - gegen den Erlass selbst oder seine Anwendung im Einzelfall zu ergreifen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann. | public_law | nan | de | 1,976 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2d672461-6bae-47c7-9c77-50ca0dc460e9 | Urteilskopf
108 II 95
19. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. März 1982 i.S. X. gegen X. (Berufung) | Regeste
Ermittlung des Erbschaftsvermögens.
Bewertung des Anteilscheines einer Siedlungsgenossenschaft in einem Fall, da die Genossenschaftsstatuten vorsehen, dass ein gesetzlicher Erbe - unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Vorstand - in das Mietverhältnis des Erblassers mit der Genossenschaft eintreten kann. | Sachverhalt
ab Seite 95
BGE 108 II 95 S. 95
Der am 20. Juni 1977 verstorbene A. X. hinterliess als gesetzliche Erben seine zweite Ehefrau, B. X.-Y., sowie seinen Sohn aus erster Ehe, C. X. Er war Mitglied einer Siedlungsgenossenschaft gewesen und hatte in einem bei dieser Genossenschaft gemieteten Einfamilienhaus gewohnt. In einer letztwilligen Verfügung vom 6. Mai 1973 hatte A. X. im wesentlichen bestimmt, dass seine Ehefrau nach seinem Ableben mit allen Rechten und Pflichten in das Mietverhältnis mit der Siedlungsgenossenschaft eintrete und dass seinem Sohn in bezug auf die während der ersten Ehe im gemieteten Haus gemachten persönlichen Barinvestitionen der gesetzliche Pflichtteil zustehe; die verfügbare Quote hatte er sodann seiner Ehefrau als Erbin zugewiesen.
Zum Nachlass des Erblassers gehört der Anteilschein der Siedlungsgenossenschaft im Nominalwert von Fr. 1'000.--. Damit verbunden ist die Mitgliedschaft bei dieser Genossenschaft. Nach deren Statuten erfolgt die Aufnahme von Mitgliedern durch
BGE 108 II 95 S. 96
Abschluss eines Mietvertrages unter gleichzeitiger Abgabe einer Beitrittserklärung und Zeichnung eines Anteilscheines von Fr. 1'000.--, der nicht verzinst wird. Mit dem Tod des Mieters erlischt die Mitgliedschaft. Sie kann in diesem Fall auf den überlebenden Ehegatten oder auf einen andern gesetzlichen Erben übertragen werden, sofern dieser in den Mietvertrag an Stelle des Verstorbenen eintritt. Die Erneuerung des Mietvertrages mit einem gesetzlichen Erben bedarf der Genehmigung durch den Vorstand der Genossenschaft.
Am 18. Mai 1978 beschloss der Genossenschaftsvorstand, die Ehefrau des Erblassers als Genossenschafterin aufzunehmen. Im März 1979 kündigte B. X.-Y. den Mietvertrag und damit gleichzeitig die Mitgliedschaft bei der Genossenschaft. Sie teilte dies dem Miterben C. X. mit und erklärte sich bereit, ihm das Haus auf den 1. Juni 1979 zur Verfügung zu stellen. Die Siedlungsgenossenschaft lehnte jedoch unter Hinweis auf ihren gemeinnützigen Charakter die Aufnahme von C. X. ab und vermietete das Haus an eine kinderreiche Familie.
Unter den Erben entstand Streit vor allem darüber, zu welchem Wert der Anteilschein der Siedlungsgenossenschaft bei den Nachlassaktiven einzusetzen sei. B. X.-Y. vertrat die Auffassung, dass der Nominalwert von Fr. 1'000.-- massgebend sei. C. X. wollte den Anteilschein indessen zum Verkehrswert einsetzen, und zwar in der Weise, dass für die Wertbestimmung auf die vermögensrechtlichen Vorteile abgestellt werde, die mit dem Anteilschein verknüpft seien; dabei sei entweder vom Verkehrswert der Liegenschaft oder vom Barwert des Wohnrechts auszugehen, das mit dem Anteilschein verbunden sei.
In der Folge erhob C. X. Klage gegen B. X.-Y. Er verlangte die Feststellung des Nachlasses von A. X., die Herabsetzung der letztwilligen Verfügung und die Teilung des Nachlasses. Die Beklagte stellte ihrerseits den Antrag auf Feststellung des Nachlasses, schloss aber auf Abweisung der Herabsetzungsklage.
Gegen den zweitinstanzlichen Entscheid des Kantonsgerichtes vom 25. Mai 1981 hat der Kläger Berufung an das Bundesgericht erhoben.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Gegenstand der Hauptberufung bildet ausschliesslich die Frage, ob die Vorinstanz dadurch Bundesrecht verletzt habe, dass
BGE 108 II 95 S. 97
sie das im Anteilschein Nr. 18 der Siedlungsgenossenschaft ... verkörperte Mitgliedschaftsrecht des Erblassers nur zum Nominalwert dieses Anteilscheins, d.h. zu Fr. 1'000.--, in die Nachlass- und Pflichtteilsberechnung eingesetzt habe. Im angefochtenen Urteil wird diesbezüglich festgehalten, dass die aus der Genossenschaft austretenden oder ausscheidenden Mitglieder nach Art. 6 der Genossenschaftsstatuten keine Ansprüche an dem Genossenschaftsvermögen hätten, sondern lediglich befugt seien, die Anteilscheine zur Rückzahlung zu künden. Auch bei der Liquidation der Genossenschaft falle das vorhandene Vermögen nicht etwa an die Genossenschafter, sondern es sei der Stadt ... zu übergeben (Art. 15 der Statuten). Daraus hat die Vorinstanz abgeleitet, dass die Rechte der Genossenschafter sich im wesentlichen in den Mitgliedschaftsrechten erschöpften, wobei diese zur Hauptsache darin bestünden, mit der Genossenschaft einen Mietvertrag abzuschliessen. Dieses sich aus der Mitgliedschaft ergebende Recht sei aber schon für den Erblasser kein absolutes gewesen, da die Statuten in Art. 4 unter gewissen Voraussetzungen den Ausschluss eines Genossenschafters und damit den Verlust des Rechtes auf Miete vorsähen. Entscheidend sei indessen im vorliegenden Fall, dass den Erben kein rechtlich durchsetzbarer Anspruch auf Eintritt in die Genossenschaft zustehe. Nach Art. 4 lit. c Ziff. 2 der Statuten erlösche die Mitgliedschaft grundsätzlich mit dem Tode des Mieters, wobei sie auf den überlebenden Ehegatten oder einen andern gesetzlichen Erben übertragen werden könne, sofern dieser an Stelle des Verstorbenen in den Mietvertrag eintrete; die Erneuerung des Mietvertrages mit einem gesetzlichen Erben bedürfe jedoch der Genehmigung durch den Vorstand. Wenn diese Genehmigung auch nicht in willkürlicher Weise verweigert werden dürfe, so zeige die betreffende Regelung doch, dass ein klagbarer, rechtlich durchsetzbarer Anspruch auf Beitritt zur Genossenschaft nicht bestehe. Bestimmte Aufnahmevoraussetzungen könnten sich schon aus der Zielsetzung der Genossenschaft ergeben, wie beispielsweise hier aus dem Zweck der Erstellung einfacher Wohnhäuser zur Linderung der Wohnungsnot ... So habe der Vorstand der Genossenschaft das Aufnahmegesuch des Klägers denn auch unter Hinweis darauf abgelehnt, dass dieser sich nicht in einer Notlage befinde, und habe das Haus statt dessen an eine kinderreiche Familie vermietet. Das Mitgliedschaftsrecht stelle deshalb keinen wirtschaftlichen Wert dar, der zu den Nachlassaktiven hinzuzuzählen wäre.
In der Berufung wird demgegenüber eingewendet, der Übergang
BGE 108 II 95 S. 98
des Rechts zur Benützung des Einfamilienhauses auf die Beklagte sei infolge Erbrechts erfolgt. Die Beklagte habe sich deshalb den Wert des Vorteils anrechnen zu lassen, der in der ausschliesslichen und uneingeschränkten Nutzung eines Einfamilienhauses der fraglichen Art mitten in der Stadt ... bestehe. Auf Grund des Mietwertes des Hauses und unter Berücksichtigung der Lebenserwartung der Beklagten seien die mit der Mitgliedschaft bei der Genossenschaft verbundenen Rechte in der erbrechtlichen Auseinandersetzung mit Fr. 150'000.-- zu bewerten. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz habe die Beklagte nach dem Tode des Erblassers einen klaren, durchsetzbaren Anspruch auf Übertragung der Genossenschaftsmitgliedschaft und damit auf Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zu ihrem Ableben gehabt. Daran habe der Vorbehalt der Genehmigung der Erneuerung des Mietvertrages durch den Genossenschaftsvorstand nichts geändert. Gemäss Art. 6 der Statuten stehe dem ausscheidenden Mitglied ein Vorschlagsrecht für die Bestimmung des Nachfolgers zu. Davon habe der Erblasser in seinem Testament Gebrauch gemacht. Diese Willensäusserung des Erblassers hätte nur aus ganz gewichtigen Gründen übergangen werden dürfen. Im vorliegenden Fall hätte für den Vorstand der Genossenschaft kein Grund und damit rechtlich keine Möglichkeit bestanden, die Genehmigung der Fortsetzung des Mietverhältnisses mit der Beklagten zu verweigern. Eine Verweigerung wäre rechtsmissbräuchlich und deshalb anfechtbar gewesen. Eine solche sei denn auch tatsächlich nie in Erwägung gezogen worden, wie sich aus dem Gang der Ereignisse deutlich ergebe. Der Hinweis der Vorinstanz auf die Ablehnung der Erneuerung des Mietvertrages mit dem Kläger sei verfehlt. Als die Beklagte die Mitgliedschaft aufgegeben und den Mietvertrag gekündigt habe, habe sich der Kläger gegenüber der Genossenschaft nicht auf Art. 4 lit. c Ziff. 2 Abs. 1 der Statuten berufen können, da es sich nicht um einen Fall von Erlöschen der Mitgliedschaft infolge Todes gehandelt habe und er gegenüber der Beklagten als seiner Stiefmutter auch kein Erbrecht gehabt hätte.
2.
a) Es ist unbestritten, dass der zum Nachlass gehörende Genossenschaftsanteilschein kein Anrecht auf das Genossenschaftsvermögen verleiht. Eine Höherbewertung unter diesem Gesichtspunkt fällt deshalb, wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, ausser Betracht. Streitig ist einzig, ob die sich aus der Genossenschaftsmitgliedschaft des Erblassers ergebende Möglichkeit, unter Umständen in das Mietverhältnis mit der Genossenschaft
BGE 108 II 95 S. 99
einzutreten, die Pflichtteilsberechnung zu beeinflussen vermöge und ob der Beklagten mit Rücksicht darauf ein allenfalls noch näher zu bestimmender Wert angerechnet werden müsse.
b) Die Mitgliedschaft bei einer Genossenschaft ist nach
Art. 847 Abs. 1 OR
unvererblich, sofern die Statuten nicht, wie dies in
Art. 847 Abs. 2 OR
vorbehalten wird, bestimmen, dass die Erben ohne weiteres Mitglieder der Genossenschaft werden. Nach
Art. 847 Abs. 3 OR
können die Statuten ferner bestimmen, dass die Erben oder einer unter mehreren Erben auf schriftliches Begehren an Stelle des verstorbenen Genossenschafters als Mitglied anerkannt werden müssen. In diesem Fall besteht ein klarer Rechtsanspruch auf Beitritt zur Genossenschaft. Die Erben treten in die Mitgliedschaft des Erblassers ein und setzen diese fort (FORSTMOSER, N. 42 zu
Art. 847 OR
). Auch in diesem Fall liegt somit ein Übergang des Mitgliedschaftsrechtes kraft Erbrechts vor, obwohl der Rechtserwerb nicht ipso iure erfolgt, sondern von einem Willensentschluss der Erben abhängt. Im Unterschied dazu machen die Statuten der Siedlungsgenossenschaft ... den Übergang des Mietvertrages und der Mitgliedschaft nicht nur von der Bereitschaft eines der Erben abhängig, an Stelle des Verstorbenen in den Mietvertrag einzutreten, sondern sie behalten die Genehmigung des Eintritts durch den Vorstand ausdrücklich vor (Art. 4 lit. c Ziff. 2 Abs. 1). Wird diese Genehmigung erteilt, so ist wohl anzunehmen, dass der die Mitgliedschaft übernehmende Erbe in die Rechtsstellung des Erblassers nachrückt, dass mithin ein Fall von derivativem, und nicht von originärem Rechtserwerb vorliegt (FORSTMOSER, N. 42 zu
Art. 847 OR
). Unabhängig davon stellt sich jedoch die Frage, ob und inwieweit die mit der Genossenschaftsmitgliedschaft verbundenen Rechte bei der Festsetzung des Nachlassvermögens berücksichtigt und dem in die Genossenschaft eintretenden Erben wertmässig angerechnet werden können.
c) Bei der Ermittlung des Vermögensstandes zur Zeit des Todes des Erblassers - nach
Art. 474 Abs. 1 ZGB
ist dieser Zeitpunkt für die Berechnung des verfügbaren Teils massgebend - kann der mit der Genossenschaftsmitgliedschaft verbundene Vorteil der Weiterführung des (offenbar sehr günstigen) Mietvertrages aus zwei Gründen kaum als Vermögenswert anerkannt und zum Nachlass hinzugerechnet werden. Einmal steht in diesem Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit fest, ob einer der Erben die Mitgliedschaft übernehmen und in den Mietvertrag eintreten werde. Dazu kommt, dass noch offen ist, ob im Falle einer entsprechenden
BGE 108 II 95 S. 100
Bereitschaft eines der Erben die erforderliche Genehmigung seitens des Genossenschaftsvorstandes erteilt werden wird. Selbst wenn die mit dieser zweiten Frage verbundene Unsicherheit in einem Fall wie dem vorliegenden aus den in der Berufung dargelegten Gründen nicht sehr stark gewichtet werden wollte, ist es praktisch nicht möglich, die im Zeitpunkt des Todes des Erblassers vorhandene Möglichkeit, dass einer der Erben in die Mitgliedschaft des Erblassers eintritt, wertmässig zuverlässig zu erfassen. Entschlösse sich keiner der Erben zum Beitritt zur Genossenschaft oder würde die Genehmigung des Beitritts verweigert, so bestünde jedenfalls kein Grund für eine höhere Bewertung des Anteilscheins als zum Nominalwert von Fr. 1'000.--.
d) Aber auch auf einen späteren Zeitpunkt wie vor allem auf denjenigen der Erbteilung hin würde die Bewertung des mit der Genossenschaftsmitgliedschaft verbundenen Vorteils des billigen Wohnens zu grössten Schwierigkeiten führen. So könnte vor allem nicht einfach von der Annahme ausgegangen werden, der in das Mietverhältnis mit der Genossenschaft eintretende Erbe werde die Miete voraussichtlich lebenslänglich weiterführen. Eine solche Annahme, wie sie der klägerischen Wertberechnung zugrunde liegt, trägt dem Umstand nicht Rechnung, dass die Mietdauer aus den verschiedensten Gründen viel kürzer sein kann. Auch wäre es mit der persönlichen Freiheit des in das Mietverhältnis eintretenden Erben kaum vereinbar, ihn durch eine auf entsprechend langer Mietdauer beruhende Bewertung daran zu hindern, die Wohnung allenfalls schon viel früher wieder aufzugeben.
Es kann hier indessen offen bleiben, ob eine Wertbestimmung des sich aus der Weiterführung des Mietvertrages ergebenden Vorteils auf dem Wege der Schätzung überhaupt möglich und die Berücksichtigung eines entsprechenden Nachlassaktivums damit angezeigt wäre. Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich nämlich, dass die Beklagte, die am 18. Mai 1978 an Stelle des Erblassers in die Siedlungsgenossenschaft aufgenommen worden war, bereits am 14. März 1979, also nicht einmal ein Jahr später, den Mietvertrag wieder kündigte. Weshalb sie dies tat, kann dem vorinstanzlichen Urteil nicht entnommen werden. Es wird in der Berufung nicht geltend gemacht, die Beklagte habe in rechtsmissbräuchlicher Weise so gehandelt, etwa um dem Kläger damit zu schaden. Gegen eine solche Annahme spricht übrigens, dass sie dem Kläger Gelegenheit gab, sich selber um die Aufnahme in die Genossenschaft und die Weiterführung des Mietverhältnisses zu bewerben.
BGE 108 II 95 S. 101
Dass dem klägerischen Bestreben, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, kein Erfolg beschieden war, hat jedenfalls nicht die Beklagte zu vertreten. Es stand somit im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils fest, dass die Beklagte der Siedlungsgenossenschaft nur relativ kurze Zeit angehört und das Mietverhältnis nur etwa zwei Jahre über den Tod ihres Mannes hinaus weitergeführt hatte. Es verstösst jedenfalls nicht gegen Bundesrecht, wenn in dieser zeitlich eng begrenzten Weiterbenützung der ehelichen Wohnung zu einem sehr bescheidenen Mietzins nicht ein Vorteil erblickt wurde, der zu einer entsprechenden Höherbewertung des Genossenschaftsanteilscheins Anlass gegeben hätte. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die Beklagte mit der Kündigung des Mietverhältnisses auf den weiteren Genuss dieses Vorteils aus freien Stücken verzichtete. Mit dem Eintritt in die Genossenschaft und in das zwischen dieser und dem Erblasser bestehende Mietverhältnis wurde ihre Freiheit der Wohnungswahl nicht beschränkt. Sie war deshalb ihrem Miterben gegenüber in keiner Weise gehalten, das Mietverhältnis möglichst lange weiterzuführen. Der vorliegende Fall ist nicht anders zu behandeln als die Situation, da eine Witwe noch einige Zeit über den Tod ihres Mannes hinaus in einer günstigen Altwohnung weiterlebt, wie es in der Praxis recht häufig vorkommt. Niemand würde in einem solchen Fall der Witwe bei der Erbteilung anrechnen wollen, was sie sich an Mietzinsen, die sie in dieser Zeit für eine andere Wohnung hätte auslegen müssen, ersparen konnte. Die Hauptberufung erweist sich daher als unbegründet, ohne dass entschieden werden müsste, ob der mit der Genossenschaftsmitgliedschaft verbundene Vorteil des billigen Wohnens bei der Pflichtteilsberechnung im Falle einer längeren Dauer der Miete überhaupt zu berücksichtigen wäre. | public_law | nan | de | 1,982 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2d6a0abb-72dc-4653-8eb2-fa74888d9d91 | Urteilskopf
80 I 381
62. Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. Dezember 1954 i.S. Firma Fühner und Assmus gegen Eidg. Amt für geistiges Eigentum. | Regeste
Markenrecht.
Verweigerung des Schutzes in der Schweiz gegenüber zwei international hinterlegten Wortmarken, weil sie für die Gegenstände des Warenverzeichnisses, je nach deren Beschaffenheit, Sachbezeichnungen sind, irreführend wirken können oder blossen Defensivcharakter haben (Art. 6 lit. B Ziff. 2 und 3 der Pariser Verbandsübereinkunft,
Art. 3, 9 und 14 MSchG
). | Sachverhalt
ab Seite 382
BGE 80 I 381 S. 382
Die Firma Fühner & Assmus liess ihre in Deutschland hinterlegten Marken "Goldfront" und "Goldhelm" im internationalen Register verzeichnen wie folgt:
Nr. 170938 Goldfront:
Métaux précieux, objets en or, en argent, en nickel et en aluminium, objets en maillechort, en métal anglais et en alliages de métaux semblables, bijouterie en vrai et en faux, objets léoniques, garnitures d'arbres de Noël.
Nr. 170939 Goldhelm:
Métaux précieux, objets en or, en argent, en nickel et en aluminium, objets en maillechort, en métal anglais et en alliages de métaux semblables, bijouterie en vrai et en faux, objets léoniques.
Auf die Anzeige dieser Eintragung hin verweigerte das Eidg. Amt für geistiges Eigentum am 28. Mai 1954 die Aufnahme in das schweizerische Register.
Hiegegen richtet sich die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde, mit der beantragt wird, es sei die angefochtene Verfügung aufzuheben und den genannten internationalen Marken der Rechtsschutz in der Schweiz zu gewähren. Die Vernehmlassung des Amtes schliesst auf Abweisung.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Durch die Darlegungen in der Beschwerdeantwort und die unterbreiteten Akten ist erbracht, dass namentlich in der schweizerischen Uhrenindustrie Benennungen wie
Goldshell, Goldshield, Goldweld, Goldseal, Goldcoat,
Goldarmour, Goldclad, Gold-Front, Frontor, Goldcape,
Goldcover, Goldhood und Coiffe or (= Goldhelm)
als Sachbezeichnungen für Erzeugnisse aus Metall mit dickerer Goldauflage als bei den gewöhnlichen goldplattierten oder Doubléwaren (wenigstens 250 statt 8 bis höchstens 40 Mikron) verwendet werden. Was für einen so wichtigen und weitschichtigen Wirtschaftsbereich zutrifft, muss allgemein gelten. Als Marken für Gegenstände mit Goldüberzug sind daher die Wortverbindungen Goldfront und Goldhelm untauglich. Für Gegenstände mit einem
BGE 80 I 381 S. 383
lediglich wie Gold aussehenden Überzug wären sie irreführend und deswegen unzulässig. Dass sie für Gegenstände aus Gold gebraucht werden wollen, lässt sich unmöglich annehmen, weil sie ja hier herabsetzend wirken würden. Aus dem einen und andern Grunde drängt sich die Vermutung des Amtes auf, dass die gewählten Ausdrücke gemäss ihrer hinweisenden Bedeutung überhaupt nur für Gegenstände mit Goldüberzug benützt werden sollen. Dann ist aber die Folgerung unabweislich, dass sie für alle sonst erwähnten Waren reinen Defensivcharakter haben, weshalb jene unbeachtet bleiben können.
Die Anerkennung der umstrittenen Marken in Deutschland ist belanglos. Wie das Amt richtig bemerkt, hat unter dem für die Entscheidung massgeblichen Gesichtspunkte die Schweiz selbständig zu befinden und dabei auf schweizerische Verhältnisse abzustellen (
BGE 76 I 169
Erw. 1 am Ende).
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen. | public_law | nan | de | 1,954 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2d710847-7c55-4b0d-9ca5-b4d8d7a5adb9 | Urteilskopf
135 III 537
77. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour de droit civil dans la cause X. contre Y. SA (recours en matière civile)
4A_99/2009 du 10 juin 2009 | Regeste
Art. 23 ff. OR
; Irrtum über die Fläche von vermieteten Geschäftsräumen.
Wenn der Mietzins nach den Quadratmetern der Räume bestimmt wurde, kann eine Flächendifferenz von über 40 m
2
im Verhältnis zur im Vertrag angegebenen Fläche nicht darauf schliessen lassen, der Mieter habe dieser Angabe keine Bedeutung zugemessen (E. 2). | Sachverhalt
ab Seite 538
BGE 135 III 537 S. 538
A.
Par contrat du 14 novembre 2000, Y. SA a cédé à X., moyennant un loyer mensuel de 4'041 fr. plus 150 fr. d'acompte de chauffage et d'eau chaude, l'usage de locaux commerciaux, dont la surface indiquée était approximativement de 246 m
2
, dans un immeuble sis avenue V. à Lausanne, afin d'y poursuivre l'exploitation d'un solarium; conclu initialement du 1
er
décembre 2000 au 1
er
octobre 2002, le bail devait ensuite se renouveler tacitement de cinq ans en cinq ans, sauf congé donné une année à l'avance. Par la suite, le loyer mensuel, qui était soumis à une clause d'indexation, a été augmenté à 4'082 fr. dès le 1
er
mai 2003, puis à 4'138 fr. dès le 1
er
août 2004.
Le locataire ayant manifesté la volonté de résilier le bail pour le 31 octobre 2005, la bailleresse, par lettre du 22 septembre 2005, lui a fait observer qu'en raison de la clause de tacite reconduction du contrat, il était lié jusqu'au 30 septembre 2007.
X. a expliqué qu'il a alors étudié les problèmes de rentabilité de son solarium et qu'il a appris dans ce contexte, à l'automne 2005, de l'ingénieur A. que la surface louée ne correspondait pas à celle qui était indiquée dans le contrat. Il a été retenu que le locataire, dans l'année de la découverte de ce fait, a manifesté la volonté d'invalider partiellement le contrat pour cause d'erreur essentielle et qu'à aucun moment après la connaissance exacte des faits, il n'a ratifié la convention conclue.
La bailleresse s'est opposée à l'invalidation partielle du bail commercial pour cause d'erreur essentielle.
B.
B.a
Les 30 novembre 2005 et 25 avril 2006, le locataire a saisi la Commission de conciliation en matière de baux et loyers du district de Lausanne. Après l'échec de la tentative de conciliation, il a
BGE 135 III 537 S. 539
porté la cause devant le Tribunal des baux du canton de Vaud. Outre des conclusions qui ne sont plus en litige, il a demandé, en invoquant une invalidation partielle du contrat pour cause d'erreur essentielle, que le loyer soit réduit proportionnellement à la surface réelle et que le trop-perçu lui soit restitué.
L'instruction a permis d'établir les éléments relevés ci-dessous. La surface réelle des locaux loués était de 204,20 m
2
et il était impossible, en raison de la configuration et de l'agencement des locaux, de percevoir de visu que la surface n'était pas conforme à celle mentionnée dans le bail. Le loyer a été fixé en fonction de la surface. La bailleresse a acquis l'immeuble en 1996 et le premier locataire a été un gérant d'immeubles, qui a loué, outre les locaux en cause qui ont été comptés pour 246 m
2
, des surfaces au 1
er
étage représentant 120 m
2
; partant de l'idée que le loyer annuel au mètre carré devait être d'environ 197 fr., le loyer avait été fixé à 6'000 fr. par mois ([246 m
2
+ 120 m
2
= 366 m
2
] x 197 fr. : 12 mois = 6'008 fr. 50). En 1997, le gérant d'immeubles a quitté les locaux; ceux du 1
er
étage de 120 m
2
ont alors été séparés au moment de la relocation. Les locaux litigieux, toujours comptés pour 246 m
2
, ont été loués à B. pour un loyer mensuel de 4'041 fr., toujours en partant de la prémisse que le prix devait correspondre approximativement à 197 fr. par année au mètre carré (246 m
2
x 197 fr. = 48'462 fr. : 12 mois = 4'038 fr. 50). Lorsque B. a cédé l'exploitation de son solarium à X. au mois d'avril 2000, le contrat de bail conclu avec le nouvel exploitant a maintenu le loyer mensuel à 4'041 fr. sur la base du même raisonnement.
Statuant par jugement du 28 septembre 2007, le Tribunal des baux a admis l'invalidation partielle du contrat pour cause d'erreur essentielle et réduit le montant convenu ou accepté du loyer (à la suite des majorations successives) en fonction de la différence entre la surface indiquée dans le bail et la surface réelle des locaux; il a condamné la bailleresse à restituer le trop-perçu, soit 49'046 fr. 95 avec intérêts à 5 % l'an dès le 18 novembre 2006.
B.b
Par arrêt du 26 novembre 2008, la Chambre des recours du Tribunal cantonal vaudois a annulé le jugement attaqué et rejeté la demande du locataire, en considérant qu'il ne s'agissait pas d'un cas d'erreur essentielle.
C.
X. exerce un recours en matière civile au Tribunal fédéral. Soutenant que les conditions d'une invalidation partielle pour cause
BGE 135 III 537 S. 540
d'erreur essentielle sont réunies, il conclut à l'annulation de l'arrêt précité et à la confirmation du jugement de première instance.
Le Tribunal fédéral a admis le recours, annulé l'arrêt attaqué et fixé le loyer mensuel net dû par le recourant à l'intimée à partir du 1
er
décembre 2000 pour les locaux loués.
Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
2.1
Selon l'
art. 23 CO
, le contrat n'oblige pas celle des parties qui, au moment de le conclure, était dans une erreur essentielle.
Les cas d'erreur essentielle sont énumérés à l'
art. 24 CO
. L'erreur de calcul, dont parle l'
art. 24 al. 3 CO
, ne vise que l'hypothèse d'une erreur commune aux deux parties, résultant d'une pure inadvertance dans les opérations arithmétiques, alors qu'en réalité elles sont d'accord sur les prestations dues; ce cas de figure ne concerne pas l'hypothèse où, comme c'est le cas en l'espèce, une partie accepte de conclure le contrat à certaines conditions en étant dans l'erreur sur les surfaces qui lui sont en réalité vendues ou louées (
ATF 119 II 341
consid. 2 p. 343;
ATF 116 II 685
consid. 2b/bb p. 688). Il ne s'agit pas non plus d'une erreur sur l'étendue des prestations, dont parle l'
art. 24 al. 1 ch. 3 CO
, puisque le locataire connaissait les locaux qu'il louait et le montant du loyer qu'il devait payer. Le locataire fait valoir qu'il ignorait la surface réelle des locaux (c'est-à-dire qu'il était dans l'erreur sur un fait existant) et qu'il a été amené ainsi à accepter un loyer auquel il n'aurait pas consenti s'il avait connu la situation réelle; il se prévaut donc d'une erreur portant sur un fait que la loyauté commerciale permettait de considérer comme un élément nécessaire du contrat au sens de l'
art. 24 al. 1 ch. 4 CO
(cf.
ATF 129 III 363
consid. 5.3 p. 365;
ATF 119 II 341
consid. 2 p. 343).
Le contrat entaché d'une erreur essentielle est tenu pour ratifié lorsque la partie qu'il n'oblige point a laissé s'écouler une année, à compter du moment où l'erreur a été découverte, sans déclarer à l'autre sa résolution de ne pas le maintenir, ou sans répéter ce qu'elle a payé (
art. 31 al. 1 et 2 CO
). Déterminer à quel moment une partie a découvert son erreur et quand elle a manifesté sa volonté d'invalider le contrat sont des questions de fait qui lient le Tribunal fédéral (
art. 105 al. 1 LTF
). Il a été constaté in casu que le locataire avait manifesté sa volonté d'invalider partiellement le bail dans
BGE 135 III 537 S. 541
l'année à compter de la découverte de son erreur; sur la base d'un tel état de fait, il n'est pas douteux que l'invalidation est intervenue en temps utile. Il a d'autre part été relevé que le locataire, après avoir découvert la réalité, n'a, à aucun moment, manifesté la volonté de maintenir le contrat, de sorte qu'il apparaît d'emblée, sur la base de ces données factuelles liant le Tribunal fédéral, qu'il n'y a pas eu de ratification malgré l'erreur intervenue et qu'il n'y a donc pas à raisonner avec les règles sur les défauts initiaux de la chose louée au sens de l'
art. 258 CO
.
Bien que les dispositions sur les vices du consentement ne contiennent pas de règle analogue à celle figurant à l'
art. 20 al. 2 CO
, la jurisprudence a admis qu'une invalidation partielle est possible lorsque la prestation affectée du vice est divisible et que l'on peut admettre que les deux parties auraient conclu le contrat avec une prestation réadaptée pour tenir compte de ce vice (
ATF 130 III 49
consid. 3.2 p. 56 et les arrêts cités). Dès l'instant où il a été constaté en l'espèce que la bailleresse partait de l'idée qu'un loyer annuel d'environ 197 fr. au mètre carré était adéquat, un réajustement du loyer en fonction des surfaces réelles est assurément possible.
Selon l'arrêt déféré, la différence entre la surface indiquée et la surface réelle n'était pas perceptible de visu (ce qui distingue le cas de celui cité par la cour cantonale, arrêt du Tribunal fédéral 4A_408/2007 du 7 février 2008 consid. 3.3); il a en outre été déjà jugé que le locataire n'était pas tenu de contrôler les surfaces indiquées en les mesurant lui-même (arrêt 4C.5/2001 du 16 mars 2001 consid. 3a); en conséquence, il est évident que l'on ne se trouve pas en présence d'une erreur commise par négligence au sens de l'
art. 26 CO
, si bien que toute prétention en dommages-intérêts de ce chef est d'emblée exclue.
2.2
Le point à trancher est donc de savoir si l'on se trouve en présence d'une erreur portant sur un fait que la loyauté commerciale permettait de considérer comme un élément nécessaire du contrat au sens de l'
art. 24 al. 1 ch. 4 CO
.
Pour que ce cas d'erreur essentielle soit réalisé, il faut tout d'abord que le cocontractant puisse se rendre compte de bonne foi que l'erreur de l'autre partie porte sur un fait qui était objectivement de nature à déterminer la partie à conclure le contrat ou à le conclure aux conditions convenues; il faut encore, en se plaçant du point de vue
BGE 135 III 537 S. 542
de la partie qui était dans l'erreur, que l'on puisse admettre subjectivement que son erreur l'a effectivement déterminée à conclure le contrat ou à le conclure aux conditions convenues (
ATF 132 III 737
consid. 1.3 p. 741;
ATF 129 III 363
consid. 5.3 p. 365).
Ce que les parties avaient à l'esprit au moment de conclure ressortit au fait; relève en revanche du droit la qualification d'essentielle au sens de l'
art. 24 al. 1 ch. 4 CO
de l'erreur constatée (
ATF 113 II 25
consid. 1a p. 27).
Dans le domaine du bail à loyer, qu'il s'agisse d'un logement ou d'un local commercial, la surface à louer est évidemment un élément d'appréciation important pour décider de conclure ou non le contrat, ou en tout cas pour apprécier si le loyer demandé est conforme à l'état du marché dans la région concernée (cf. arrêt 4C.5/2001 du 16 mars 2001 consid. 3a). Cela vaut d'autant plus dans le domaine des locaux commerciaux, qui sont constamment évalués et comparés en fonction du prix au mètre carré. L'
art. 11 al. 2 de l'ordonnance du 9 mai 1990 sur le bail à loyer et le bail à ferme d'habitations et de locaux commerciaux (OBLF; RS 221.213.11)
prévoit d'ailleurs expressément que le loyer usuel au sens de l'
art. 269a let. a CO
peut être déterminé sur la base du prix au mètre carré usuel dans le quartier pour des objets semblables. L'intimée serait d'ailleurs d'autant plus mal placée pour contester l'importance de cet élément qu'elle l'a fait figurer dans le contrat et qu'elle admet elle-même que le loyer proposé a été déterminé en fonction des mètres carrés. La surface louée, en tant que critère déterminant pour fixer le loyer, était donc un fait que la loyauté commerciale permettait objectivement de considérer comme un élément nécessaire du contrat.
Il est vrai que le contrat n'indiquait qu'une surface approximative. Cette réserve doit être interprétée selon le principe de la confiance (cf.
ATF 132 III 24
consid. 4 p. 27/28). Elle doit être comprise de bonne foi en ce sens que le bailleur, sachant que la détermination exacte de la surface est dans la réalité une opération difficile, a cherché à se protéger contre une réclamation qui procéderait d'une menue divergence de calcul.
Or il n'y a rien de tel en l'espèce. La surface réelle est de 204,20 m
2
, au lieu des 246 m
2
indiqués. Il s'agit d'une différence de 41,8 m
2
représentant près de 17 % de la surface mentionnée dans le bail. On
BGE 135 III 537 S. 543
ne saurait parler à ce sujet d'une petite divergence de calcul. Si le caractère approximatif de la surface indiquée pouvait impliquer une certaine marge d'erreur, le locataire n'avait pas à compter avec une pareille différence, laquelle ne peut en aucun cas être couverte par la notion de surface approximative.
On observera à ce propos que, s'agissant d'un logement, la jurisprudence a admis une erreur essentielle dans un cas où la superficie réelle était inférieure de 13 m
2
à celle figurant dans le bail, ce qui correspondait à une pièce de dimension moyenne en moins (
ATF 113 II 25
consid. 1b p. 28 s.). Cet ordre de grandeur a été rappelé dans un autre cas où le locataire s'était fondé sur la garantie des défauts (arrêt 4C.81/1997 du 26 janvier 1998 consid. 3b/bb). Dans un autre arrêt, l'idée a été émise qu'une différence supérieure à 10 % n'était en tout cas pas admissible et fondait une erreur essentielle (arrêt 4C.5/2001 du 16 mars 2001 consid. 3a).
Il reste à examiner si, d'un point de vue subjectif, des circonstances particulières font apparaître que l'indication erronée de la surface n'avait pas un caractère essentiel pour le locataire d'espèce. La jurisprudence l'a déjà admis dans plusieurs cas, où il apparaissait, en fonction de circonstances particulières, que le locataire n'avait attaché aucune importance à l'indication erronée qu'il avait reçue (cf.
ATF 129 III 363
consid. 5.3 p. 365; arrêt 4A_408/2007 du 7 février 2008 consid. 3.3; arrêt 4C.5/2001 du 16 mars 2001 consid. 3b).
En l'occurrence, d'après l'état de fait déterminant, la différence n'était pas décelable de visu et le locataire n'en a pas eu connaissance avant les calculs d'un ingénieur en automne 2005. Le locataire pouvait se fier à la surface qui lui était indiquée, sans être tenu de procéder lui-même à des calculs (cf. consid. 2.1 in fine ci-dessus). Aucune constatation cantonale ne permet de penser que le locataire ait été à même de se rendre compte de la différence auparavant, à telle enseigne que, de son absence de réaction, l'on puisse déduire que la question n'avait pas d'importance pour lui. La présente espèce se distingue donc de celles où l'indifférence du locataire a été admise.
La cour cantonale semble avoir considéré qu'en occupant les locaux pendant plusieurs années sans protester, le locataire avait montré, par son comportement, que les locaux loués étaient conformes à ses attentes et qu'il ne souhaitait pas une surface plus importante.
BGE 135 III 537 S. 544
En raisonnant ainsi, la Chambre des recours a perdu de vue que le contrat de bail comporte deux prestations qui s'échangent: la cession de l'usage d'une chose et le paiement du loyer (
art. 253 CO
). Or, le différend ne se pose pas sous l'angle de la détermination de la chose (le locataire savait quels locaux lui étaient loués et il les connaissait), mais sur la détermination du loyer (qui a été effectuée en fonction des mètres carrés). Il est sans doute exact de dire que le locataire se satisfaisait des locaux qui lui étaient loués, mais la question est de savoir si l'intéressé était subjectivement disposé à payer un loyer surfait parce que celui-ci avait été arrêté en fonction d'une surface erronée. Du moment que la différence de surface est de 41,8 m
2
et que le loyer a été arrêté sur la base approximative d'un prix de 197 fr. le mètre carré, l'écart en valeur est d'environ 8'200 fr. par an. Il est insoutenable de penser que l'exploitant d'une petite entreprise est indifférent à l'idée de payer 8'200 fr. de trop par année. Rien ne permet de supposer que le locataire n'attachait aucune importance à la surface qui lui était indiquée pour apprécier le montant du loyer demandé. On doit bien au contraire reconnaître qu'une telle différence était aussi subjectivement essentielle.
Partant, il sied d'admettre - contrairement à la cour cantonale - que le locataire a invalidé partiellement le contrat pour cause d'erreur essentielle au sens de l'
art. 24 al. 1 ch. 4 CO
.
Les calculs effectués par les juges de première instance pour réajuster les loyers convenus en fonction de la surface effective et pour déterminer ainsi le trop-perçu à restituer n'ont été critiqués par aucune des parties devant le Tribunal fédéral, de sorte qu'il suffit d'en revenir au jugement de première instance. La cause sera renvoyée à l'autorité précédente pour déterminer à nouveau les frais et dépens de la procédure cantonale, puisque l'abandon de certaines conclusions - que le Tribunal fédéral n'a pas dû examiner - peut poser problème. | null | nan | fr | 2,009 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2d71192b-06e2-4369-a8c0-60b2894517ba | Urteilskopf
102 Ib 133
23. Extrait de l'arrêt du 25 juin 1976 dans la cause Anson contre la Division fédérale de justice | Regeste
Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland. Art. 6 Abs. 2 lit. b BB vom 23. März 1961; Art. 13 Abs. 2 Verordnung vom 21. Dezember 1973.
1. Die Bewilligung für den Erwerb eines Grundstücks zum Betrieb einer einzigen Unternehmung in der Schweiz wird nur erteilt, wenn feststeht, dass der Erwerber nicht unter einem Vorwand eine Kapitalanlage in der Schweiz behalten will.
2. Der Grundpfandgläubiger, der das belastete Grundstück ersteigern will, um den Verlust der unvorteilhaften Kapitalanlage zu decken, hat kein berechtigtes Interesse am Erwerb.
3. Das Grundstück dient nicht dem Erwerber, wenn dieser die Geschäftsführung einem Verwalter anvertrauen und eine Kontrolle durch einen Rechtsanwalt und eine Treuhandgesellschaft schaffen will, um die nach den Umständen gebotenen Entscheidungen treffen zu können. | Sachverhalt
ab Seite 134
BGE 102 Ib 133 S. 134
Hugo Anson, né en 1908, de nationalité britannique, ingénieur agronome, et sa femme Anna Francesca, née en 1912, sont établis à Rome. En février 1966, ils ont accordé à Louis Bulliard, industriel à Villars-sur-Glâne, un prêt de 400'000 fr. Ce prêt était garanti par trois obligations hypothécaires au porteur grevant en troisième rang l'immeuble dont l'emprunteur est propriétaire à Villars-sur-Glâne, immeuble où se trouve l'Hôtel du Moléson. La faillite de Bulliard fut prononcée le 5 janvier 1970.
Faisant valoir leur intérêt à participer aux enchères, les époux Anson ont requis l'autorisation d'acquérir l'immeuble. Cette autorisation leur a été accordée successivement par la Commission cantonale pour l'autorisation de
BGE 102 Ib 133 S. 135
l'acquisition d'immeubles par des personnes domiciliées à l'étranger, puis, malgré le recours du Ministère public cantonal, par arrêt du Conseil d'Etat fribourgeois. En bref, le Conseil d'Etat s'est fondé sur la déclaration suivante, établie le 28 octobre 1975 par les requérants invités à préciser leurs intentions:
"S'ils deviennent acquéreurs de l'immeuble, les époux Anson entendent
conclure un contrat de gérance avec M. Widmer (l'actuel tenancier de
l'Hôtel du Moléson) ou, si ce dernier s'y refuse, avec un autre intéressé.
Les époux Anson mandateront sur place un avocat et une fiduciaire, de façon
à ce qu'un contrôle efficace de gestion soit régulièrement effectué et que,
sur la base des rapports qui leur seront régulièrement soumis, ils puissent
prendre toutes décisions commandées par les circonstances et leurs
intérêts".
Contre la décision du Conseil d'Etat, la Division fédérale de justice recourt: en bref, elle conteste que les acquéreurs aient eux-mêmes l'intention d'exploiter l'entreprise et soutient que l'exploitation par l'acquéreur lui-même est une condition de l'autorisation d'acquérir l'immeuble, au sens de l'art. 6 al. 2 litt. b AF.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Selon l'art. 6 al. 2 litt. b AF, l'étranger justifie d'un intérêt légitime lorsqu'il est établi que l'immeuble servira à l'acquéreur pour y abriter l'établissement stable d'une entreprise commerciale ou industrielle. L'art. 13 al. 2 de l'ordonnance du Conseil fédéral du 21 décembre 1973 sur l'acquisition d'immeubles par des personnes domiciliées à l'étranger précise que l'acquisition est considérée comme un placement de capitaux - et que l'intérêt n'est dès lors plus légitime, sauf dans certains cas sans importance ici - lorsque l'acquéreur n'assume pas la direction effective de l'entreprise.
2.
a) La possibilité d'obtenir une autorisation d'achat immobilier pour exploiter une industrie ou un commerce a été introduite dans la législation en 1961, par les Chambres fédérales; elle l'a été pour que des entreprises étrangères puissent s'installer en Suisse et y acquérir les immeubles nécessaires et, partant, pour éviter que les entreprises suisses, désirant créer des établissements à l'étranger, ne s'exposent à des mesures de rétorsion. Ainsi, l'art. 6 al. 2, litt. b AF vise surtout le
BGE 102 Ib 133 S. 136
cas des entreprises exerçant leur activité dans un ou plusieurs pays étrangers et souhaitant s'établir aussi en Suisse. Cette disposition n'exclut pas nécessairement l'octroi d'une autorisation à un industriel ou à un commerçant gardant son domicile à l'étranger et désireux d'exploiter un établissement unique en Suisse. Cependant, sous réserve de cas exceptionnels - celui du frontalier, par exemple -, la requête de l'étranger, fondée sur l'allégation qu'il dirigera de l'étranger une entreprise unique en Suisse, sort des prévisions du législateur. Elle mérite un examen particulier et ne peut être admise que s'il est établi que le requérant n'invoque pas un prétexte en vue de conserver en Suisse un placement de capitaux. A cet égard, les intimés n'apportent aucune preuve satisfaisante. Les époux Anson sont respectivement âgés de 68 et 64 ans; ressortissants Anglais, ils sont établis à Rome; le mari est ingénieur agronome. Il n'est guère contestable que leur intention est avant tout de protéger des intérêts financiers menacés par la faillite du débiteur. Si compréhensible que soit cet intérêt, il n'est pas légitime au sens de la législation applicable. Toute autre solution permettrait au créancier étranger d'éluder les restrictions voulues par le législateur en accordant, à un débiteur obéré, des prêts garantis par des immeubles sis en Suisse. Le Tribunal fédéral a d'ailleurs déjà jugé que l'acquisition d'un immeuble pour couvrir la perte d'un placement désavantageux ne constitue pas un motif légitime d'acquérir (arrêt non publié du 25 septembre 1970 dans la cause Heitmann).
b) Le recours est d'autant plus fondé que les intimés, dans l'hypothèse où l'autorisation serait accordée, n'exploiteraient pas eux-mêmes l'Hôtel du Moléson. L'exigence d'une exploitation personnelle par l'acquéreur résulte déjà de la jurisprudence de l'ancienne commission fédérale de recours (RNRF 1965, p. 231, cause Maraschi). Cette jurisprudence a été consacrée par le législateur (FF 1969 II p. 1400) en ce sens que l'art. 6 al. 2 litt. b de l'arrêté, depuis la révision de 1970, veut que l'immeuble serve "à l'acquéreur". Elle a été rappelée par le Tribunal fédéral (
ATF 99 Ib 445
). Enfin, l'art. 13 al. 2 de l'ordonnance du 21 décembre 1973 va dans le même sens.
Or, de la déclaration même des intimés, il ressort que ceux-ci entendaient confier la gestion de l'hôtel à un gérant et instituer un contrôle par avocat et société fiduciaire pour prendre les décisions commandées par
BGE 102 Ib 133 S. 137
les circonstances. C'est dire qu'ils se proposaient de confier à d'autres la direction effective de l'établissement en ne gardant que la propriété économique.
3.
C'est donc à tort que le Conseil d'Etat fribourgeois a accordé aux intimés l'autorisation d'acquérir l'immeuble comprenant l'Hôtel du Moléson, à Villars-sur-Glâne. Le recours de la division fédérale de justice doit être admis et la décision attaquée, annulée. | public_law | nan | fr | 1,976 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2d77554e-8373-4171-a263-5ca6f0bfb35b | Urteilskopf
119 Ia 237
27. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. Juni 1993 i.S. D. gegen Kantonsgericht Obwalden (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Rechtsverzögerungsbeschwerde; Letztinstanzlichkeit (
Art. 87 OG
).
Auch dieser Rechtsbehelf wegen Verletzung von
Art. 4 BV
ist erst nach Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges zulässig (E. 2b).
Gibt die kantonale Aufsichtsbeschwerde ans Obergericht Anspruch auf Einschreiten, wenn sich eine bei ihm angehobene Rechtsverzögerungsbeschwerde als begründet erweisen sollte, so hat sich der Betroffene vor der Anrufung des Bundesgerichts an die kantonale Aufsichtsinstanz zu wenden (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 238
BGE 119 Ia 237 S. 238
Der Beschwerdeführer rügt mit staatsrechtlicher Beschwerde die Untätigkeit des Kantonsgerichts Obwalden, das trotz Interventionen das seit dem 16. August 1988 dort hängige Verfahren nicht vorwärtsgetrieben habe und seit April 1990 völlig untätig geblieben sei. Damit mache es sich einer gegen
Art. 4 BV
verstossenden Rechtsverzögerung schuldig, gegen die ein eigentliches kantonales Rechtsmittel nicht gegeben, sondern bloss eine Aufsichtsbeschwerde ohne Rechtsmittelcharakter an das Obergericht möglich sei. Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
2.
a) Die Rechtsverzögerung ist eine besondere Form der formellen Rechtsverweigerung, die sowohl gegen
Art. 4 BV
wie auch gegen den in dieser Hinsicht nicht weitergehenden
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
verstösst und beim Bundesgericht, wenn nicht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegeben ist (
BGE 103 V 193
ff.), mit staatsrechtlicher Beschwerde gerügt werden kann (
Art. 84 Abs. 1 lit. a OG
; HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 120).
b) Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
ist jedoch, von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen, erst gegen letztinstanzliche Entscheide zulässig (
Art. 87 OG
). Das bedeutet auch für die Rechtsverzögerungsbeschwerde, die nicht notwendig eine ausdrückliche zur Verzögerung führende Anordnung voraussetzt, sondern sowohl gegen das ausdrückliche wie auch gegen das bloss faktische Vorenthalten eines zeitgerechten Urteils gerichtet sein kann (KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, S. 165 f.; L. MEYER, Das Rechtsverzögerungsverbot nach
Art. 4 BV
, Diss. Bern 1982, S. 2 ff.), dass vor der Anrufung des Bundesgerichts der kantonale Instanzenzug ausgeschöpft sein muss.
Das seit 1943 im OG verankerte Erfordernis der Letztinstanzlichkeit ist ursprünglich durch die Praxis eingeführt worden aus der Überlegung, für die Anrufung des Bundesgerichts bestehe so lange kein Anlass, als staatlichen Eingriffen in verfassungsmässige Rechte
BGE 119 Ia 237 S. 239
bereits auf kantonaler Ebene begegnet werden könne. Letztinstanzlich in diesem Sinne ist ein Entscheid erst, wenn die Rüge, die Inhalt der staatsrechtlichen Beschwerde sein soll, bei keiner kantonalen Instanz mehr angebracht werden kann (MARTI, Die staatsrechtliche Beschwerde, S. 105). Das heisst, es darf im Kanton kein Rechtsbehelf irgendwelcher Art mehr zur Verfügung stehen (
BGE 90 I 230
; MARTI, a.a.O., S. 107). Die Möglichkeit der Anfechtung im Kanton schliesst freilich die staatsrechtliche Beschwerde nur aus, wenn auf die Entscheidung über den Gegenstand der Verfassungsrüge ein Rechtsanspruch besteht (MARTI, a.a.O., S. 106; MEYER, a.a.O., S. 122). Bei einer Petition oder einer Aufsichtsbeschwerde in ihrer Form als Disziplinarbeschwerde, wie sie etwa für die Aufsicht der Parlamente über die Gerichte vorgesehen ist, trifft das nicht zu (
BGE 90 I 230
; MEYER, a.a.O., S. 107).
3.
Das Kantonsgericht Obwalden ist in der vorliegenden Streitsache die erste von zwei kantonalen Instanzen (Art. 37 lit. b in Verbindung mit Art. 37 lit. a Ziff. 1 des kantonalen Gesetzes über die Gerichtsorganisation (OG). Es untersteht der Aufsicht des Obergerichts (
Art. 23 Abs. 1 OG
). Dieses kann, von Amtes wegen oder auf Beschwerde hin "gegen gesetzwidrige oder willkürliche Handlungen oder Unterlassungen" einschreiten und "die notwendigen Vorkehren" anordnen (
Art. 23 Abs. 2 OG
). Eine Beschwerde von Rechtsuchenden gegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung durch das Kantonsgericht ist mithin im Gesetz ausdrücklich vorgesehen. Ob ihre Unterlassung die staatsrechtliche Beschwerde ausschliesst, entscheidet sich entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht daran, ob diese Form der Aufsichtsbeschwerde ein Rechtsmittel oder einen Rechtsbehelf anderer Art darstellt, sondern einzig daran, ob sie Anspruch auf einen Entscheid gibt, der inhaltlich demjenigen des Bundesgerichts über die Verfassungsrüge entspricht. Das ist hier gleich wie für die Mehrzahl der andern Kantone, die ähnliche Regelungen kennen, zu bejahen. Die richterliche Aufsichtsinstanz ist verpflichtet, gegen die ihr bekanntgewordene Rechtsverzögerung einzuschreiten und die erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, gleichgültig, ob seitens der unteren Instanz ein disziplinarisch zu ahndendes Verschulden oder unverschuldetes Unvermögen vorliegt (
BGE 107 Ib 165
E. 3c,
BGE 103 V 195
E. 3; MEYER, a.a.O., S. 101 ff.; BEERLI, Die ausserordentlichen Rechtsmittel in der Verwaltungsrechtspflege des Bundes und der Kantone, Diss. Zürich 1985, S. 215). Die Rechtsverzögerungsbeschwerde stellt denn auch eine Mischform von Rechtsmittel und
BGE 119 Ia 237 S. 240
Aufsichtsbeschwerde im engern Sinn dar (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, S. 538 ff.; HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Aufl., Rz. 777; MEYER, a.a.O., S. 101 f.).
Besteht somit gegenüber dem Obergericht Anspruch auf Einschreiten, wenn sich eine bei ihm angehobene Rechtsverzögerungsbeschwerde als begründet erweisen sollte, so ist die direkte Anrufung des Bundesgerichts anstelle des Obergerichts nicht gegeben. Sie ist es umso weniger, als das Obergericht kraft seines Aufsichtsrechts zugleich in der Lage ist, konkrete Anordnungen zu treffen, Pflichtwidrigkeiten zu ahnden, dem Kantonsgericht Fristen zu setzen und den weiteren Gang des Verfahrens zu überwachen (
Art. 23 Abs. 3 OG
/OW;
BGE 117 Ia 458
E. 4; MEYER, a.a.O., S. 105). Zu den erforderlichen Vorkehren sind die Aufsicht führenden kantonalen Gerichte verpflichtet; andernfalls würde die Aufsicht über sämtliche unteren Instanzen partiell auf das Bundesgericht übertragen, was nicht angängig sein kann. | public_law | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2d782f10-1779-42a1-8f94-0398d1f7954b | Urteilskopf
122 I 1
1. Extrait de l'arrêt de la Ière Cour de droit public du 31 janvier 1996 dans la cause B. contre Vice-président du Tribunal de première instance du canton de Genève (recours de droit public) | Regeste
Art. 4 BV
;
Art. 4 ff. MWSTV
; Art. 19 Abs. 1 lit. c RAJ/GE; Berücksichtigung der Mehrwertsteuer bei der Festsetzung der Entschädigung für den amtlich bestellten Rechtsbeistand.
Übersicht über die Grundsätze betreffend Entschädigung von amtlich bestellten Rechtsvertretern (E. 3a).
Die Behörde ist bei der Festlegung der Entschädigung für den amtlich bestellten Rechtsbeistand gehalten, die Mehrkosten, die diesem durch die Mehrwertsteuer erwachsen, zu berücksichtigen, indem sie die Entschädigung in gleichem Masse erhöht (E. 3c). | Sachverhalt
ab Seite 2
BGE 122 I 1 S. 2
Le 17 novembre 1994, le Vice-président du Tribunal de première instance du canton de Genève a désigné Me B., avocate à Genève, comme avocat d'office dans une procédure civile.
Le 19 avril 1995, Me B. a adressé au Tribunal de première instance son état de frais.
Par "décision de taxation" du 26 mai 1995, le Vice-président du Tribunal de première instance a fixé l'indemnité due à Me B. à 1'465.10 fr.
Le 13 juin 1995, Me B. s'est adressée au Vice-président du Tribunal de première instance pour lui demander d'ajouter à l'indemnité accordée pour le travail accompli en 1995 le montant de 6,5% correspondant à l'impôt dont elle devait s'acquitter, pour cet exercice, au titre de la taxe sur la valeur ajoutée (TVA).
Le 30 juin 1995, le Vice-président du Tribunal de première instance a réservé sa réponse sur le fond.
Le Tribunal fédéral a admis, en tant qu'il était recevable, le recours de droit public formé par Me B. pour violation de l'
art. 4 Cst.
, et annulé la décision du 26 mai 1995.
Erwägungen
Extrait des considérants:
3.
La recourante reproche à l'autorité intimée de n'avoir pas ajouté à l'indemnité allouée le montant correspondant à la TVA, pour un taux de 6,5%, dont elle doit s'acquitter pour l'exercice 1995. De l'avis de la recourante, l'indemnité allouée au titre de la défense d'office se trouverait ainsi de fait diminuée du montant dû au fisc au titre de la TVA et serait, partant, arbitraire.
a) L'avocat d'office accomplit une tâche étatique régie par le droit public cantonal (
ATF 117 Ia 23
consid. 4a et les arrêts cités). Lors de sa désignation, il s'établit, entre l'avocat et l'Etat, un rapport juridique spécial en vertu duquel l'avocat a contre l'Etat une prétention de droit public à être rétribué dans le cadre des prescriptions cantonales applicables (
ATF 117 Ia 23
consid. 4a et les arrêts cités). L'autorité dispose à cet égard d'un large pouvoir d'appréciation: le Tribunal fédéral n'intervient que si l'indemnité a été fixée de manière arbitraire (
ATF 118 Ia 134
/135 consid. 2b,
ATF 109 Ia 109
consid. 2b). L'avocat d'office a droit au remboursement intégral de ses débours (
ATF 117 Ia 24
-26 consid. 4b-e,
ATF 109 Ia 112
consid. 3d), ainsi qu'à une indemnité s'apparentant aux honoraires perçus par le mandataire plaidant aux frais de son client (
ATF 117 Ia 22
/23 consid. 3a,
ATF 109 Ia 110
/111 consid. 3b). Pour fixer cette indemnité,
BGE 122 I 1 S. 3
l'autorité doit tenir compte de la nature et de l'importance de la cause, des difficultés particulières que celle-ci peut présenter en fait et en droit, du temps que l'avocat lui a consacré, de la qualité de son travail, du nombre des conférences, audiences et instances auxquelles il a pris part, du résultat obtenu et de la responsabilité qu'il a assumée (
ATF 117 Ia 22
consid. 3a, 109 Ia 110 consid. 3b). L'autorité doit aussi prendre en considération les charges inhérentes à l'activité indépendante de l'avocat, telles les absences dues aux maladies, au service militaire et aux vacances, ainsi que la nécessité de s'assurer une retraite convenable (
ATF 93 I 122
consid. 5a; arrêt non publié G., du 9 novembre 1988). A condition d'être équitable, il est admis que la rémunération de l'avocat d'office puisse être inférieure à celle du défenseur choisi (
ATF 118 Ia 134
consid. 2b,
ATF 117 Ia 23
consid. 3a,
ATF 109 Ia 111
consid. 3c et les arrêts cités).
En principe, l'indemnité allouée au défenseur d'office devrait couvrir les frais généraux de l'avocat, dont on estime qu'ils correspondent d'ordinaire à au moins 40% du revenu professionnel brut, voire la moitié de celui-ci (
ATF 109 Ia 112
consid. 3d in fine; arrêts non publiés J. du 20 janvier 1992 et G., du 9 novembre 1988, précité). Une indemnité qui ne correspond pas au moins à la fraction des honoraires de l'avocat choisi, normalement destinée à couvrir les frais généraux de l'étude, doit en principe être considérée comme inéquitable (arrêt non publié P., du 26 février 1986).
b) Aux termes de l'art. 11 al. 1 RAJ/GE, l'assistance juridique en matière civile comprend la dispense de l'avance et du paiement des frais de l'Etat (let. a), la dispense de l'avance de sûretés (let. b), la nomination d'un avocat d'office lorsque son assistance apparaît nécessaire et la dispense, pour le bénéficiaire, de rémunérer l'avocat d'office (let. c).
Quant à l'art. 19 RAJ/GE, il a la teneur suivante:
"1. L'indemnité payée à l'avocat nommé est calculée en principe selon le tarif horaire suivant:
a) avocats-stagiaires: 50 fr.
b) collaborateurs: 100 fr.
c) chefs d'étude: 120 fr.
2. Seules les heures nécessaires sont retenues pour le calcul de l'indemnité. L'appréciation des heures nécessaires se fait en tenant compte de la nature et de l'importance de la cause, soit notamment de la valeur litigieuse et de l'intérêt des parties, des difficultés spéciales qu'elle peut présenter en fait ou en droit, du temps que l'avocat y a consacré et de la qualité du travail fourni.
BGE 122 I 1 S. 4
3. L'indemnité ne couvre pas d'autres activités qui relèvent par exemple de l'assistance sociale ou celles dont d'autres organismes peuvent se charger à titre gratuit.
4. L'indemnité ne doit en règle générale pas dépasser 5'000 fr. (...)."
c) Sont soumises à la TVA notamment les prestations de services fournies à titre onéreux sur le territoire suisse (
art. 4 let. b OTVA
; RS 642.201). Est considérée comme prestation de services toute prestation qui ne constitue pas la livraison d'un bien (
art. 6 al. 1 OTVA
). Le conseil, l'expertise et la représentation juridiques sont des prestations au sens de cette disposition (Administration fédérale des finances, Instructions à l'usage des assujettis TVA, Berne, 1994, no 188-211; ALOIS CAMENZIND/NIKLAUS HONAUER, Handbuch zur neuen Mehrwertsteuer, Berne, 1995, no 162-164, 187-188, MARTIN BAUMLI/PETER GERMANN/THOMAS STADELMANN, Der Anwalt und die Mehrwertsteuer, Zurich 1995, p. 20-22); elles ne sont pas exclues ou exonérées du champ de l'impôt selon les art. 13 à 16 OTVA. La recourante ne conteste pas être assujettie à l'impôt, pour un taux de 6,5% (
art. 27 al. 1 let. b OTVA
), ses prestations de service dépassant globalement 75'000 fr. par an (
art. 17 al. 1 OTVA
).
Ni l'OTVA, ni le RAJ/GE, ne tranchent expressément le point de savoir si les honoraires versés en application d'un tarif officiel comprennent ou non le montant de la TVA dont devra s'acquitter l'avocat. Cela étant, il va de soi que la perception de la TVA sur les prestations fournies par l'avocat d'office accroît d'autant ses frais généraux variables. En d'autres termes, à défaut de compensation de cette charge nouvelle, l'indemnité allouée au défenseur d'office sera réduite en proportion du montant de l'impôt dû par le défenseur d'office au titre de la TVA. A prestations égales, et au regard du droit du défenseur d'office de recevoir une indemnité équitable, l'autorité est tenue de prendre en compte cet accroissement des charges du défenseur d'office en augmentant l'indemnité dans la même proportion (dans le même sens: BAUMLI/GERMANN/STADELMANN, op.cit., p. 33-34). Que l'indemnité au sens de l'art. 19 RAJ/GE soit fixée de manière globale, ou que la rémunération du défenseur d'office ne corresponde pas nécessairement aux honoraires d'un avocat choisi, ne change rien au fait qu'il n'existe pas de motif raisonnable pour reporter entièrement et exclusivement sur le défenseur d'office la charge nouvelle liée à l'introduction de la TVA. L'art. 19 RAJ/GE n'ayant pas été modifié pour tenir compte de cette situation nouvelle et l'autorité intimée n'entendant pas s'écarter en l'espèce du tarif horaire établi par cette norme, la décision attaquée a
BGE 122 I 1 S. 5
pour conséquence de réduire de manière arbitraire l'indemnité allouée à la recourante, en tant qu'elle concerne son activité déployée en 1995. Le recours doit être admis sur ce point. Cette solution s'impose d'autant plus que le tarif horaire de 120 fr. selon l'
art. 19 al. 1 let
. c RAJ/GE ne permet plus d'assurer au défenseur d'office une rémunération équitable (cf. les arrêts G. et M., de ce jour). Le Conseil d'Etat est d'ailleurs conscient des défauts de son règlement, puisqu'il en a entrepris la révision en vue d'augmenter la rémunération du défenseur d'office. | public_law | nan | fr | 1,996 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2d7caba6-9596-40c4-b30a-1c87797432c6 | Urteilskopf
116 II 320
58. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. April 1990 i.S. Schmid AG Gattikon gegen WSI Wollspinnerei Interlaken AG und Kammgarnspinnerei Interlaken AG in Konkurs (Berufung) | Regeste
Art. 718 Abs. 1 OR
. Vertretungsmacht des Verwaltungsrates einer überschuldeten Aktiengesellschaft.
Die in
Art. 718 Abs. 1 OR
vorgesehene Beschränkung der Vertretungsmacht kann nicht mehr ausschliesslich massgebend sein, wenn der Gesellschaftszweck zufolge Konkursreife der Gesellschaft ohnehin nicht mehr zu erreichen ist. Sind einschneidende Massnahmen zur Erhaltung des Betriebes dringend geboten, verunmöglichen aber besondere Umstände eine rechtzeitige Beschlussfassung durch die Generalversammlung, so rechtfertigt es sich ausnahmsweise, dem Verwaltungsrat den nötigen Handlungsspielraum zuzugestehen und seine Vertretungsmacht entsprechend zu erweitern (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 320
BGE 116 II 320 S. 320
A.-
Die zur COOP-Gruppe gehörende Pent Holding Ltd. und die EMS-Chemie Holding AG hielten seit Ende 1980 je die Hälfte des Aktienkapitals der Kammgarnspinnerei Interlaken AG. Die beiden Aktionärinnen bestellten einvernehmlich die Organe, fällten die unternehmerischen Entscheide, brachten die zur Weiterführung des defizitären Betriebes nötigen Mittel auf und verpflichteten sich als Bürgen. Schon im Jahre 1982 wurde die Veräusserung der Kammgarnspinnerei Interlaken AG an Dritte ins Auge gefasst. Übernahmeverhandlungen mit der Schmid AG Gattikon scheiterten im Januar 1983, weshalb im März 1983 der Schweizerischen
BGE 116 II 320 S. 321
Bankgesellschaft ein Mandat zur Vermittlung weiterer Interessenten erteilt wurde. Bereits im Dezember 1982 hatte COOP jedoch ohne Wissen der EMS-Chemie Holding AG auch separate Verhandlungen mit der Schmid AG Gattikon über die Übernahme ihres hälftigen Anteils an der Kammgarnspinnerei Interlaken AG aufgenommen; diese Verhandlungen führten am 14. April 1983 zu einer entsprechenden Vereinbarung zwischen der Pent Holding Ltd. und der Schmid AG Gattikon. Die EMS-Chemie Holding AG weigerte sich indessen, die Schmid AG Gattikon als Aktionärin anzuerkennen und ihr den entsprechenden Anteil der bei ihr deponierten Titel herauszugeben. Sie hinterlegte die Aktienzertifikate und Einzelaktien mit Ausnahme der Pflichtaktien des Verwaltungsrates bei der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich mit der Weisung, die Titel nur auf gemeinsames Verlangen der Pent Holding Ltd. und der EMS-Chemie Holding AG herauszugeben. In der Zwischenzeit hatte die Bank verschiedene Übernahmeinteressenten ausfindig gemacht, unter anderen die Firma Südwolle der Gebrüder Steger in Nürnberg.
Die Pent Holding Ltd. focht in der Folge ihren Vertrag vom 14. April 1983 mit der Schmid AG Gattikon beim Handelsgericht Zürich wegen Grundlagenirrtums an. Die Schmid AG Gattikon ihrerseits machte am 11. Juli 1983 beim Bezirksgericht Imboden eine Klage gegen die EMS-Chemie Holding AG auf Herausgabe der Titel für die von ihr gekauften Aktien anhängig.
Nachdem die Kontrollstelle der Kammgarnspinnerei Interlaken AG am 30. Juni 1983 den Fortbestand der Unternehmung als in höchstem Masse gefährdet bezeichnet und auf die Vorschriften von
Art. 725 Abs. 2 und 3 OR
aufmerksam gemacht hatte, wurde im August 1983 eine Zwischenbilanz zu Veräusserungswerten erstellt, welche eine Unterbilanz von fast 5 Mio. Franken ergab. Angesichts dieser finanziellen Lage betrachtete man seitens der Kammgarnspinnerei Interlaken AG die Bilanzdeponierung als unausweichlich. An seiner Sitzung vom 13.-15. August 1983 beschloss der Verwaltungsrat, sämtliche Aktiven des Unternehmens sowie einen Teil der Passiven auf eine inzwischen vom Rechtsanwalt der EMS-Chemie Holding AG unter der Firma Inkami AG gegründete Auffanggesellschaft zu übertragen und die Kammgarnspinnerei Interlaken AG mit den restlichen, weiterhin von COOP und der EMS-Chemie Holding AG verbürgten Passiven in Konkurs gehen zu lassen. Mit der Inkami AG wurde zu diesem Zweck ein Übernahmevertrag und ein öffentlich beurkundeter Liegenschaftskaufvertrag
BGE 116 II 320 S. 322
abgeschlossen. Eine am 17. August 1983 durchgeführte ausserordentliche Generalversammlung, zu welcher allerdings keine Vertreter der Schmid AG Gattikon eingeladen worden waren, nahm Kenntnis von der Notwendigkeit der Bilanzdeponierung und genehmigte die mit der Inkami AG geschlossenen Verträge einstimmig.
Am 24. August 1983 wurde über die Kammgarnspinnerei Interlaken AG der Konkurs eröffnet. Die Inkami AG, die an die Gebrüder Steger veräussert wurde, änderte am 4. Oktober 1983 ihre Firma in WSI Wollspinnerei Interlaken AG.
B.-
Am 5. Dezember 1983 erhob die Schmid AG Gattikon beim Appellationshof des Kantons Bern Klage gegen die WSI Wollspinnerei Interlaken AG und die Kammgarnspinnerei Interlaken AG in Konkurs. Sie verlangte unter anderem, es seien sämtliche Beschlüsse der ausserordentlichen Generalversammlung der Kammgarnspinnerei Interlaken AG vom 17. August 1983 sowie der Übernahmevertrag und der Liegenschaftskaufvertrag zwischen der Kammgarnspinnerei Interlaken AG und der Inkami AG nichtig zu erklären.
Mit Urteil vom 22. Juni 1989 stellte der Appellationshof fest, die Beschlüsse der ausserordentlichen Generalversammlung der Kammgarnspinnerei Interlaken AG vom 17. August 1983 seien nichtig; das Begehren auf Nichtigerklärung des Übernahmevertrages und des Liegenschaftskaufvertrages zwischen der Kammgarnspinnerei Interlaken AG und der Inkami AG hingegen wies er ab.
C.-
Das Bundesgericht weist die von der Klägerin eingereichte Berufung ab, soweit es darauf eintritt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Nach
Art. 718 Abs. 1 OR
sind die zur Vertretung befugten Personen ermächtigt, im Namen der Aktiengesellschaft alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die der Gesellschaftszweck mit sich bringen kann. Der Appellationshof hält im angefochtenen Urteil fest, die Veräusserung sämtlicher Aktiven des Unternehmens durch den Verwaltungsrat liege zwar nicht mehr im Rahmen des Gesellschaftszwecks; aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falles sei das Vorgehen des Verwaltungsrates der Kammgarnspinnerei Interlaken AG aber dennoch gerechtfertigt gewesen. Nach Ansicht der Klägerin verstösst diese Auffassung gegen Bundesrecht.
BGE 116 II 320 S. 323
a) Die Vorschrift von
Art. 718 Abs. 1 OR
wird in Lehre und Rechtsprechung weit ausgelegt. Unter Rechtshandlungen, die der Gesellschaftszweck mit sich bringen kann, sind nicht bloss solche zu verstehen, die der Gesellschaft nützlich sind oder in ihrem Betrieb gewöhnlich vorkommen; erfasst sind vielmehr ebenfalls ungewöhnliche Geschäfte, sofern sie auch nur möglicherweise im Gesellschaftszweck begründet sind, d.h. durch diesen zumindest nicht geradezu ausgeschlossen werden (
BGE 111 II 288
f.;
BGE 96 II 444
f., je mit Hinweisen; BÜRGI, Zürcher Kommentar, N. 3 zu
Art. 718 OR
; MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Grundriss des schweizerischen Gesellschaftsrechts, 6. Aufl. 1989, S. 288 f.; VON GREYERZ, SPR VIII/2, S. 210). Die Veräusserung des gesamten Betriebes mit allen Aktiven der Gesellschaft liegt indessen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich auch nicht mehr innerhalb dieses weit umschriebenen Rahmens durch den Gesellschaftszweck gedeckter Rechtshandlungen (unveröffentlichtes Urteil vom 7. April 1989 i.S. C.); dem Verwaltungsrat ist es grundsätzlich verwehrt, in eigener Kompetenz das ganze Unternehmen zu veräussern.
Besondere Umstände können jedoch eine andere Betrachtungsweise rechtfertigen. Die Beschränkung der Vertretungsmacht auf Rechtshandlungen, die der Verfolgung des Gesellschaftszwecks dienen können, kann dann nicht mehr massgebend sein, wenn dieser zufolge Konkursreife der Gesellschaft ohnehin nicht mehr zu erreichen ist. Diesfalls muss es zulässig sein, die Vertretungsmacht an anderen Kriterien zu orientieren, insbesondere an den Interessen der Beschäftigten und der übrigen Gläubiger sowie am Allgemeinwohl (vgl. THALMANN, Die Treuepflicht der Verwaltung der Aktiengesellschaft, Diss. Bern 1975, S. 31 ff.). Ist die Aufgabe des ursprünglichen Unternehmenszwecks zufolge Überschuldung der Gesellschaft unausweichlich, so haben deren Organe das Recht und - zumindest moralisch - auch die Pflicht, in anderer Hinsicht drohenden Schaden soweit möglich zu verhindern oder zu begrenzen; es gilt, für die Betroffenen zu retten, was noch zu retten ist. Dazu können insbesondere auch geeignete Massnahmen zur Erhaltung des Betriebes dienen.
Angesichts der kurzen gesetzlichen Einberufungsfrist (
Art. 700 Abs. 1 OR
) wird es im Regelfall allerdings auch hier möglich sein, die nötigen Beschlüsse durch eine Generalversammlung fassen zu lassen. Soweit das der Fall ist, ist - insbesondere bei Beschlüssen mit erheblicher Tragweite - dieser Weg zu wählen. Eine
BGE 116 II 320 S. 324
Erweiterung der in
Art. 718 Abs. 1 OR
vorgesehenen Vertretungsmacht des Verwaltungsrates kann sich nur rechtfertigen, wenn einerseits unverzügliches Handeln dringend geboten ist, anderseits aber besondere Umstände eine rechtzeitige Beschlussfassung durch die Generalversammlung als grundsätzlich zuständiges Organ verunmöglichen.
b) Der Appellationshof hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, die Kammgarnspinnerei Interlaken AG sei im August 1983 massiv überschuldet gewesen. An diese Feststellung, die die Klägerin in ihrer staatsrechtlichen Beschwerde erfolglos angefochten hat, ist das Bundesgericht im Berufungsverfahren gebunden (
Art. 63 Abs. 2 OG
). Ist somit davon auszugehen, dass die Gesellschaft im massgeblichen Zeitpunkt konkursreif war, so kann nach dem Gesagten für die Vertretungsmacht ihrer Organe der - ohnehin nicht mehr zu erreichende - Gesellschaftszweck nicht mehr das entscheidende Kriterium sein. Aus den Feststellungen im angefochtenen Urteil geht überdies hervor, dass die Höhe der Überschuldung ein weiteres Zuwarten nicht mehr zuliess, zumal die Gebrüder Steger, die bereit waren, den Betrieb fortzuführen, ihr Übernahmeinteresse bis Ende August 1983 limitiert hatten; an einer solchen Fortführung aber bestand auf seiten der Arbeitnehmerschaft und der Öffentlichkeit unbestrittenermassen ein gewichtiges Interesse. Gleichzeitig war die Zuständigkeit an der Hälfte der Aktien und damit die entsprechende Stimmberechtigung streitig und Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung; bei Stimmberechtigung der Klägerin wären sich zudem zwei Inhaber von je 50% der Aktien gegenübergestanden, so dass angesichts dieser Pattsituation das Zustandekommen eines Mehrheitsbeschlusses an einer Generalversammlung ohnehin nicht hätte erwartet werden können. Unter diesen Umständen erscheint es durchaus sachgerecht, dass der Appellationshof dem Verwaltungsrat den gebotenen Handlungsspielraum zugestanden hat. Die Rüge einer Verletzung von Bundesrecht ist unbegründet.
c) Daran vermögen auch
Art. 725 Abs. 2-4 OR
nichts zu ändern; die Berufung der Klägerin auf diese Vorschriften geht fehl. Die dort vorgesehene Pflicht des Verwaltungsrates, bei Überschuldung der Gesellschaft den Richter zu benachrichtigen, dient dem Schutz der Interessen der Gläubiger (BÜRGI, a.a.O., N. 2 zu
Art. 725 OR
); kommt der Verwaltungsrat seiner Anzeigepflicht nicht oder nur verspätet nach, haftet er deshalb den Gläubigern für allfälligen dadurch verursachten Schaden (
Art. 754 Abs. 1 OR
;
BGE 116 II 320 S. 325
BÜRGI, a.a.O., N. 11 zu
Art. 725 OR
). Eine Grundlage für Ansprüche eines Aktionärs gegen die Gesellschaft oder gegen Dritte vermögen
Art. 725 Abs. 2-4 OR
hingegen nicht abzugeben. | public_law | nan | de | 1,990 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2d7fc531-3724-49c5-9b6b-b0b783d93575 | Urteilskopf
92 IV 105
27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. Mai 1966 i.S. Raths gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. | Regeste
Art. 35 Abs. 2 und 90 Ziff. 2 SVG
.
Der Autofahrer, der unbekümmert darum, dass er andere Fahrzeuge ernstlich gefährdet, überholt, macht sich einer groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig. | Sachverhalt
ab Seite 105
BGE 92 IV 105 S. 105
Aus dem Tatbestand:
Raths fuhr am 20. Mai 1964, kurz nach 19 Uhr, am Steuer seines Personenwagens (Mercedes) auf der 7,50 m breiten Hauptstrasse von Maienfeld gegen Chur. Zwischen dem alten Bahnübergang nach Untervaz und dem Armenhaus Trimmis, wo die Strasse eine langgezogene, nach rechts beginnende S-Biegung beschreibt, holte er einen Personenwagen ein, der von Frau Lichtensteiger gesteuert war. Diese folgte mit 70 km/Std und einem Abstand von etwa 30 m einem Lastwagen. Raths liess zwei entgegenkommende Fahrzeuge durch und setzte dann zum Überholen an. Als er sich nach seinen Angaben auf der Höhe des Wagens von Frau Lichtensteiger befand, sah er aus der Gegenrichtung einen Personenwagen nahen, der von De Chesne geführt war. Raths bog daraufhin hinter dem Lastwagen nach rechts ein, wodurch er Frau Lichtensteiger zu schnellem Bremsen veranlasste. De Chesne musste ebenfalls bremsen und zudem rasch nach rechts halten, um einen Zusammenstoss zu vermeiden. Sein Fahrzeug kam deswegen auf der nassen Fahrbahn ins Gleiten, wobei es über den rechten Strassenrand hinausgeriet und einen Drahtzaun durchstiess.
Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden sprach Raths am 31. Januar 1966 insbesondere der Verletzung von
Art. 35 Abs. 2 SVG
schuldig und verurteilte ihn in Anwendung von
BGE 92 IV 105 S. 106
Art. 90 Ziff. 2 SVG
zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von sechs Tagen sowie Fr. 100.-- Busse. Die Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten wurde abgewiesen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
(Gekürzt.)
Art. 35 Abs. 2 SVG
hat der Beschwerdeführer schon dadurch verletzt, dass er sich vor dem Überholen nicht pflichtgemäss vergewisserte, ob die dazu notwendige Strecke frei sei. Obschon Raths vor Beginn des Überholens die Strasse angeblich über 400 m weit überblicken konnte, übersah er den entgegenkommenden Wagen; er gewahrte ihn erst, als er auf der Höhe des zu überholenden Fahrzeugs angelangt und vom entgegenkommenden nur noch etwa 220 m entfernt war.
Pflichtwidrig war es sodann, nach der Wahrnehmung des entgegenkommenden Wagens, der sich ihm mit 60-70 km/Std näherte, mit dem Überholen fortzufahren. Der Beschwerdeführer meint zwar, dass der offene Zwischenraum auch dann noch ausgereicht habe, um das Unternehmen fortsetzen und ordnungsgemäss wieder einbiegen zu können. Die Vorinstanz stellt jedoch fest, dass es unweigerlich zu einem frontalen Zusammenstoss gekommen wäre, wenn De Chesne seinen Wagen nicht stark abgebremst und der Angeklagte nicht brüsk nach rechts gehalten hätte. Sie hält zudem für erwiesen, dass daraufhin auch Frau Lichtensteiger die Fahrt sofort verlangsamen musste, um einen Unfall zu vermeiden. Daraus geht deutlich hervor, dass der nötige Raum zum Überholen fehlte. Dasselbe folgt aus den eigenen Aussagen des Beschwerdeführers, gab er doch während der Untersuchung wiederholt zu, dass er angesichts des entgegenkommenden Fahrzeuges die Geschwindigkeit forcieren, d.h. äusserst beschleunigen musste, um noch vor der Durchfahrt De Chesnes die Lücke zwischen den beiden vorausfahrenden Wagen erreichen zu können.
5.
Der Beschwerdeführer macht geltend, dass seine Handlungsweise auf jeden Fall nicht als grobe Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von
Art. 90 Ziff. 2 SVG
gewürdigt werden könne.
Er verkennt, dass er
Art. 35 Abs. 2 SVG
in mehrfacher Hinsicht gröblich missachtet und dadurch sowohl den entgegenkommenden wie den überholten Personenwagen erheblich
BGE 92 IV 105 S. 107
gefährdet hat. Raths bekümmerte sich weder zu Beginn des Manövers noch im Zeitpunkt, als er das entgegenkommende Fahrzeug erblickte, gewissenhaft darum, ob er ohne Behinderung und Gefährdung anderer überholen könne. Um eines schnöden Zeitgewinnes willen - Raths hatte es zugegebenermassen eilig - liess er von seinem Unternehmen selbst dann nicht ab, als er die Gefahr erkannte; er steigerte vielmehr die Geschwindigkeit noch weiter und überliess es den Gefährdeten, wie sie dem drohenden Unglück ausweichen wollten. Solch verwegenes und unverantwortliches Gebaren, das immer wieder zu schweren Unfällen führt, lässt sich nicht damit verharmlosen, dass selbst einem erprobten Automobilisten derartige Fehlbeurteilungen unterlaufen könnten. Es stellt im Gegenteil eine grobe Unbekümmertheit um wichtige Verkehrsverpflichtungen dar, der auch dann, wenn die Gefahr dank sofortiger Vorkehren Dritter, wie hier, glimpflich verläuft, mit aller Strenge entgegenzutreten ist.
Der Beschwerdeführer ist deshalb mit Recht nach
Art. 90 Ziff. 2 SVG
bestraft worden. | null | nan | de | 1,966 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2d8327b2-88c6-431b-86d0-bbdb13c49084 | Urteilskopf
97 I 878
126. Urteil vom 8. Dezember 1971 i.S. Ernst Böhlen AG gegen Eidg. Finanz- und Zolldepartement. | Regeste
Art. 99 lit. h OG
. Unzulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verweigerung von Beiträgen, auf die das Bundesrecht keinen Anspruch einräumt.
1. Begriff des "Bundesrechts". Verordnungen ohne allgemein verpflichtenden Inhalt (Verwaltungsverordnungen) fallen nicht darunter (Erw. 1).
2. Die Verweigerung von Beiträgen des Bundes für den Transport von Kartoffeln kann nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden (Erw. 2). | Sachverhalt
ab Seite 878
BGE 97 I 878 S. 878
Die Firma Ernst Böhlen AG liess in den Monaten Oktober und November 1970 mit der Eisenbahn von verschiedenen Stationen der Ost- und Westschweiz in 27 Sendungen 448 771 kg Speisekartoffeln der Ernte 1970 nach Langenthal kommen. Am 31. Dezember 1970 ersuchte sie die Alkoholverwaltung, ihr für diese Sendungen Frachtbeiträge von insgesamt Fr. 2 720.28
BGE 97 I 878 S. 879
auszurichten. Die Alkoholverwaltung lehnte das Begehren ab mit der Begründung, dass nach ihren Weisungen vom 22. Oktober 1970 keine Transportbeiträge für Sendungen nach Überschussgebieten gewährt werden. Die von der Gesuchstellerin hiegegen erhobene Beschwerde wurde vom Eidg. Finanz- und Zolldepartement am 9. August 1971 abgewiesen. Diesen Entscheid ficht die Firma gemäss Rechtsmittelbelehrung mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht an.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 99 lit. h OG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig "gegen die Bewilligung oder Verweigerung von Beiträgen..., auf die das Bundesrecht keinen Anspruch einräumt". Im vorliegenden Fall ist demnach die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nur zulässig, wenn das Bundesrecht einen Anspruch auf die in Frage stehenden Frachtbeiträge einräumt.
Wie in einem Meinungsaustausch zwischen Bundesgericht und Bundesrat i.S. Paul Kocher festgestellt wurde, fallen unter den Begriff "Bundesrecht" ("législation fédérale") im Sinne von
Art. 99 lit. h OG
die Bundesgesetze und die von der Bundesversammlung erlassenen allgemein verbindlichen Beschlüsse sowie die Rechtsverordnungen des Bundesrates, seiner Departemente und ihrer Dienstabteilungen, nicht aber blosse Verwaltungsverordnungen, d.h. Verordnungen ohne allgemein verpflichtenden Inhalt.
Nach Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 12. März 1948 über die Rechtskraft der Bereinigten Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen für die Jahre 1848-1947 und über die neue Reihe der Sammlung sind Dienstabteilungen der Departemente zum Erlass allgemein verpflichtender Vorschriften nur noch dann zuständig, wenn ein Bundesgesetz oder ein Bundesbeschluss das vorsieht. Übrigens sind von Dienstabteilungen ausgehende Verfügungen allgemein verpflichtenden Inhalts für den Bürger nur verbindlich, wenn sie in der Gesetzessammlung veröffentlicht sind (Art. 9 in Verbindung mit Art. 4 lit. g desselben Gesetzes).
2.
Die von der Alkoholverwaltung alljährlich erlassenen Weisungen über die Ausrichtung von Beiträgen für den Transport von Kartoffeln der betreffenden Ernte stellen keine Rechtsverordnungen dar. Ein Bundesgesetz oder ein Bundesbeschluss,
BGE 97 I 878 S. 880
in welchem die Zuständigkeit der Alkoholverwaltung zum Erlass allgemein verpflichtender Vorschriften über die Gewährung solcher Beiträge vorgesehen wäre, besteht nicht. Auch dem Alkoholgesetz vom 21. Juni 1932 lässt sich eine Ermächtigung der Alkoholverwaltung hiezu nicht entnehmen. Die genannten Weisungen werden denn auch nicht in der Gesetzessammlung veröffentlicht. Sind sie demnach als blosse Verwaltungsverordnungen zu betrachten, so kann nicht angenommen werden, dass sie im Sinne von
Art. 99 lit. h OG
einen Anspruch auf Beiträge gewähren.
Eine Rechtsverordnung ist dagegen der BRB vom 7. Juli 1967 über die Verwertung der Kartoffelernten (AS 1967, 1041), auf den die Alkoholverwaltung ihre einschlägigen Weisungen stützt. Er ermächtigt diese Dienstabteilung allerdings, Beiträge für den Transport von Kartoffeln zu gewähren (Art. 2 lit. a). Aber er schreibt nicht vor, dass solche Beiträge gewährt werden müssen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Auch aus ihm lässt sich daher ein Anspruch auf Beiträge für den Transport von Kartoffeln nicht ableiten.
Das Alkoholgesetz begründet ebenfalls keinen solchen Anspruch. Es erwähnt in Art. 24 Abs. 2 (Fassung gemäss BG vom 25. Oktober 1949) die Gewährung von Frachtbeiträgen als eine der Massnahmen, durch welche die brennlose Verwertung der Kartoffeln (und der anderen Brennereirohstoffe) zu fördern ist, doch sagt es nicht, dass unter bestimmten Voraussetzungen Beiträge gewährt werden müssen.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher im vorliegenden Fall nach
Art. 99 lit. h OG
nicht zulässig. Die Beurteilung der Beschwerde der Firma Ernst Böhlen AG fällt in die Zuständigkeit des Bundesrates. Das ist auch die Auffassung der Eidg. Justizabteilung, wie sich im durchgeführten Meinungsaustausch ergeben hat.
Dispositiv
Demnach beschliesst das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird dem Bundesrat übergeben. | public_law | nan | de | 1,971 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2d8935ce-cd9e-459e-adb1-29d056be11e8 | Urteilskopf
126 V 276
47. Extrait de l'arrêt du 11 juillet 2000 dans la cause L. contre Office cantonal AI du Valais et Tribunal des assurances du canton du Valais | Regeste
Art. 8 Abs. 1 und 2,
Art. 19 Abs. 1 und 3 IVG
;
Art. 10 Abs. 1 und 2 lit. c IVV
: Begriff der "heilpädagogischen Früherziehung".
Die Angemessenheit einer für ein invalides Kind bestimmten Eingliederungsmassnahme ist bezogen auf dessen Interesse zu beurteilen.
Eine enge Betrachtungsweise, die der teils sehr raschen Entwicklung der Situation und der besonderen Bedürfnisse des Kindes nicht Rechnung trägt, lässt sich mit dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel, die Förderung des Kindes im Hinblick auf die Erleichterung seiner künftigen Schulung zu unterstützen, nicht vereinbaren.
Auch muss die Früherziehung je nach den auf Grund der konkreten Verhältnisse gebotenen Erfordernissen sowohl ambulant wie auch im Rahmen einer darauf spezialisierten Einrichtung stationär erfolgen können. | Sachverhalt
ab Seite 277
BGE 126 V 276 S. 277
A.-
Née en 1996, L. présente de graves troubles moteurs cérébraux survenus à la suite d'une encéphalopathie à cytomégalovirus d'origine congénitale. Pour cette raison, elle bénéficie depuis sa naissance de différentes prestations de l'assurance-invalidité.
Par décision du 28 août 1998, l'Office cantonal AI du Valais lui a octroyé, pour la période du 1er août 1998 au 31 décembre 2000, une contribution aux frais de soins spéciaux pour mineurs impotents d'un montant de 27 francs par jour pour une impotence grave, et de 56 francs par jour "en cas de placement dans un établissement non AI, contribution de frais de pension en sus".
Par décision du 9 octobre 1998, l'office AI a également accordé à l'assurée, pour la période du 1er juin 1998 au 31 décembre 2000, des mesures médicales sous la forme d'une contribution pour les frais supplémentaires occasionnés par le traitement à domicile; d'un montant maximal de 1'990 francs par mois, cette contribution est déterminée mensuellement en fonction de l'intensité des soins qui ont été requis par l'assurée, ainsi que du nombre de jours où celle-ci
BGE 126 V 276 S. 278
a résidé chez ses parents. Cette décision de l'office AI faisait suite à un rapport du 3 septembre 1998 du docteur M., médecin traitant, dans lequel ce neuropédiatre indiquait qu'au vu de la gravité de la situation, un placement à la journée dans une institution spécialisée serait vraisemblablement nécessaire, en plus des prestations à domicile assurées par le service éducatif itinérant (ci-après: le SEI).
Le 29 octobre 1998, le docteur M. a sollicité de l'office AI la prise en charge d'"un placement à temps partiel à l'Institut B. dès le début novembre 1998 à raison de 2 journées par semaine, fréquence qui pourrait être augmentée par la suite". Dans une lettre du 11 décembre 1998, ce médecin a fourni des précisions à l'intention de l'office AI (...).
Par décision du 5 février 1999, l'office AI a pris en charge, au titre des mesures d'éducation précoce pour la période du 1er janvier 1999 au 31 août 2001, les prestations fournies par le SEI au domicile de l'assurée.
Dans une lettre du 16 avril 1999, l'Office fédéral des assurances sociales (OFAS) a donné à l'office cantonal AI l'instruction de refuser son intervention pour le placement de l'assurée à l'Institut B. Selon l'OFAS, l'éducation précoce est en effet "toujours une mesure ambulatoire, qui est habituellement dispensée à raison d'une à deux heures par semaine"; or, le placement sollicité par l'assurée, qui est entre-temps devenu effectif depuis le mois de novembre 1998, "n'est autre que stationnaire. Il est en plus accompagné de mesures d'éducation précoce alors que l'assurée en bénéficie déjà. D'autre part, ce placement a également pour but de décharger les parents de L. ce qui est déjà le cas avec les contributions pour mineur impotent qu'ils reçoivent".
Sur la base de ces instructions, l'office AI a communiqué aux parents de l'assurée un projet de prononcé dans le sens d'un refus de prestations, au double motif que les mesures sollicitées ne pouvaient lui être accordées, au titre des mesures d'éducation précoce, que sous une forme ambulatoire et que, d'autre part, de telles mesures lui étaient déjà octroyées à son domicile par le SEI. (...). Reprenant mot pour mot les termes de son projet de décision, l'office AI a refusé de prendre en charge le placement de l'assurée en institution spécialisée, par décision du 21 mai 1999.
B.-
Représentée par ses parents, L. a recouru contre la décision de l'office AI.
Par jugement du 16 décembre 1999, le Tribunal des assurances du canton du Valais a rejeté le recours.
BGE 126 V 276 S. 279
C.-
Toujours représentée par ses parents, L. interjette recours de droit administratif contre ce jugement dont elle requiert, sous suite de dépens, la réforme, en ce sens que des mesures de formation scolaire spéciale lui soient accordées "pour les deux jours qu'elle passe à l'Institut B.". A l'appui de son recours, elle dépose un rapport établi le 25 janvier 2000 par le docteur M.
L'office AI a renoncé à se déterminer sur le recours, tandis que l'OFAS propose son rejet.
Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
Sur le fond, le litige porte sur le droit de la recourante à des mesures de formation scolaire spéciale, au sens de l'
art. 19 LAI
, pour les deux journées hebdomadaires qu'elle passe à l'Institut B.
a) Les assurés âgés de moins de 20 ans révolus qui n'exercent pas d'activité lucrative sont réputés invalides lorsqu'ils présentent une atteinte à la santé physique ou mentale qui aura probablement pour conséquence une incapacité de gain (
art. 5 al. 2 LAI
). Ils ont droit aux mesures de réadaptation prévues à l'
art. 19 LAI
sans égard aux possibilités de réadaptation à la vie professionnelle (
art. 8 al. 1 et 2 LAI
).
Aux termes de l'
art. 19 al. 1 LAI
, des subsides sont alloués pour la formation scolaire spéciale des assurés éducables qui n'ont pas atteint l'âge de 20 ans révolus mais qui, par suite d'invalidité, ne peuvent suivre l'école publique ou dont on ne peut attendre qu'ils la suivent. La formation scolaire spéciale comprend la scolarisation proprement dite ainsi que, pour les mineurs incapables ou peu capables d'assimiler les disciplines scolaires élémentaires, des mesures destinées à développer soit l'habileté manuelle, soit leur aptitude à accomplir les actes ordinaires de la vie ou à établir des contacts avec leur entourage.
L'
art. 19 al. 3 LAI
donne au Conseil fédéral la compétence de définir les conditions nécessaires à l'octroi de ces subsides et d'édicter des prescriptions sur l'octroi de subsides correspondants pour des mesures dispensées à des enfants invalides d'âge préscolaire, notamment pour la préparation à la formation scolaire spéciale.
b) En l'espèce, vu l'âge de la recourante au moment déterminant (soit lorsque l'intimé a statué, le 21 mai 1999), les seules mesures de formation scolaire spéciale qui pourraient entrer en ligne de compte sont celles prévues pour les enfants invalides d'âge préscolaire.
BGE 126 V 276 S. 280
3.
a) Jusqu'au 31 décembre 1996, les mesures destinées aux enfants invalides d'âge préscolaire étaient prévues à l'ancien
art. 12 RAI
. Elles comprenaient notamment des mesures pédago-thérapeutiques devant préparer les enfants à la fréquentation d'une école spéciale ou publique, ainsi que la scolarisation spéciale au niveau du jardin d'enfants (ancien
art. 12 al. 1 let. a et b RAI
). Par renvoi à l'ancien
art. 9 RAI
, les enfants scolarisables d'âge préscolaire avaient droit aux mesures pédago-thérapeutiques de l'ancien
art. 12 al. 1 let. a RAI
lorsque, du fait d'une grave infirmité physique ou mentale ou en raison de l'interaction de plusieurs déficiences d'un degré de gravité moindre, un enseignement adapté à leurs aptitudes et au développement de leurs facultés était impossible, peu envisageable, ou simplement compromis; l'examen de ce droit pouvait nécessiter, selon le type d'atteinte à la santé présenté, l'avis conjoint de médecins et de pédagogues spécialisés (RCC 1989 p. 45). Selon la jurisprudence, ces mesures devaient en outre être accordées dès le moment où, en l'état des connaissances scientifiques, l'on pouvait en attendre un effet bénéfique sur le but visé, soit la scolarisation future de l'assuré. Elles devaient par ailleurs consister en un traitement qualifié, sous la forme par exemple d'une pédagogie curative, mais ne recouvraient pas n'importe quel soin visant à développer, de manière générale, l'intégration sociale de l'assuré. Dans ce contexte, la Cour de céans a notamment précisé que des mesures de pédagogie curative devaient être mises en oeuvre le plus tôt possible chez les enfants atteints de débilité mentale, afin de prévenir le dépérissement de leurs aptitudes éventuelles (RCC 1982 p. 186 consid. 2a et les références).
b) Le 1er janvier 1997 est entré en vigueur l'
art. 10 RAI
, qui fixe désormais, en lieu et place de l'ancien
art. 12 RAI
, les mesures de nature pédago-thérapeutique que peuvent prétendre les assurés en âge préscolaire en vue d'être préparés à la fréquentation de l'école spéciale ou de l'école publique. Aux termes de l'
art. 10 al. 2 let
. c RAI, ces mesures comprennent notamment l'éducation précoce, pour les assurés selon l'art. 8 al. 4 let. a à g RAI.
L'
art. 8 al. 4 RAI
dispose:
"La contribution aux frais d'école est octroyée pour:
a. les assurés handicapés mentaux dont le quotient d'intelligence ne dépasse pas 75;
b. les assurés aveugles et ceux dont l'acuité visuelle binoculaire reste inférieure à 0,3 après correction;
BGE 126 V 276 S. 281
c. les assurés sourds et les assurés malentendants avec une perte d'ouïe moyenne de la meilleure oreille d'au moins 30 dB dans l'audiogramme tonal ou une perte d'ouïe équivalente dans l'audiogramme vocal;
d. les assurés souffrant d'un handicap physique grave;
e. les assurés atteints de graves difficultés d'élocution;
f. les assurés souffrant de graves troubles du comportement;
g. les assurés qui, si l'on prend isolément leurs atteintes à la santé, ne remplissent pas entièrement les conditions énumérées aux lettres a à f mais qui, parce qu'ils cumulent des atteintes à la santé, ne peuvent pas fréquenter l'école publique."
c) La notion d'"éducation précoce", introduite à l'
art. 10 al. 2 let
. c RAI, a été interprétée par la pratique administrative dans la Circulaire AI no 136 du 28 avril 1998, émise par l'OFAS, dont la teneur est la suivante (p. 1):
"Par éducation précoce spécialisée (EPS), on entend une intervention globale, ciblée sur la stimulation et l'éducation de la personnalité d'enfant handicapé considéré dans sa famille et dans son environnement social le plus proche. L'EPS n'a pas seulement pour but de développer l'habileté et les fonctions comme la perception, la motricité et le langage, mais également d'encourager le développement de l'estime de soi, de la créativité et des facultés d'action et de contact. En fonction de la situation individuelle de l'enfant et de son entourage, les domaines susmentionnés sont différenciés selon leur importance. L'EPS comprend également le soutien, l'instruction et le conseil du milieu familial en cas d'incertitude quant à l'éducation, la collaboration avec les médecins et le personnel paramédical/pédago-thérapeutique ainsi qu'avec les institutions éducatives et scolaires. L'EPS est apportée de façon continue, c'est-à-dire régulièrement, soit à domicile, soit dans les services de l'EPS.
Ne font pas partie de l'EPS le soutien pédagogique effectué dans le cadre de l'enseignement scolaire (y compris l'école enfantine), le traitement de graves difficultés d'élocution (...), ainsi que l'entraînement auditif et l'enseignement de la lecture labiale des enfants malentendants (...). En revanche, les mesures favorisant l'acquisition et la structuration du langage chez les handicapés mentaux font partie de l'EPS."
Pour bien cerner la pratique administrative en question, cette directive doit être rapprochée non seulement du nouvel
art. 10 al. 2 let
. c RAI, mais également des ch. 2.2 et 2.5 de la Circulaire de l'OFAS concernant les mesures pédago-thérapeutiques dans l'AI, valable dès le 1er mars 1975, qu'elle est destinée à remplacer.
4.
a) Les premiers juges ont dénié à la recourante le droit à la prise en charge des deux journées hebdomadaires qu'elle passe à l'Institut B., en considérant que les mesures de nature pédago-thérapeutique qui lui sont dispensées à domicile par le SEI satisfont pleinement à son droit à l'éducation précoce découlant de l'
art. 10
BGE 126 V 276 S. 282
al. 2 let
. c RAI, si bien que le placement stationnaire à l'institut n'est pas nécessité par son invalidité, mais vise en réalité à décharger ses parents. A cet égard, les premiers juges relèvent que la recourante bénéficie d'une contribution aux frais de soins spéciaux pour mineurs impotents (
art. 20 LAI
) qui est précisément destinée à alléger la tâche de ses parents, de telle sorte que cette prestation ferait double emploi avec la mesure sollicitée, si cette dernière lui était accordée.
Pour sa part, la recourante soutient que les mesures dispensées à l'Institut B. sont nécessitées par son invalidité et elle renvoie à l'avis de son médecin traitant.
Quant à l'OFAS, il expose que l'
art. 10 al. 2 RAI
énumère exhaustivement les mesures pédago-thérapeutiques auxquelles peuvent prétendre les assurés invalides en âge préscolaire. Se fondant sur sa Circulaire AI no 136, déjà citée, il soutient que l'éducation précoce spécialisée prévue à l'
art. 10 al. 2 let
. c RAI ne peut être qu'une mesure de nature ambulatoire, habituellement dispensée à raison d'une à deux heures par semaine, comme c'est le cas des prestations fournies à la recourante par le SEI. A supposer, poursuit l'OFAS, que la situation de l'intéressée requiert des séances d'éducation précoce supplémentaires, c'est à ce service qu'il reviendrait de les dispenser, la recourante ne pouvant prétendre plus que des mesures simples et adéquates.
b) L'affirmation de l'OFAS d'après laquelle l'éducation précoce au sens de l'
art. 10 al. 2 let
. c RAI est toujours une mesure ambulatoire ne trouve appui ni dans la loi (
art. 19 al. 3 LAI
), ni dans son règlement d'exécution. Il s'agit en réalité d'une interprétation qui résulte certes de la Circulaire AI no 136 mais qui, à ce titre, n'a pas valeur de règle de droit et ne lie pas le juge; dans le cadre de son pouvoir d'instruction fondé sur l'
art. 72 al. 1 LAVS
en liaison avec l'
art. 64 LAI
, l'OFAS ne saurait en effet subordonner l'octroi de prestations d'assurance à d'autres conditions que celles qui figurent dans la loi ou les ordonnances d'exécution édictées par le Conseil fédéral ou l'un de ses départements (
ATF 124 V 261
et les références).
Pour un enfant en bas âge qui souffre de graves troubles moteurs cérébraux, comme c'est le cas de la recourante, les mesures de nature pédago-thérapeutique qui répondent aux critères de l'
art. 10 al. 1 RAI
doivent pouvoir être administrées aussi bien de manière ambulatoire - généralement au sein de la famille - que dans le cadre d'une institution spécialisée. Toute solution rigide qui ne tiendrait pas compte de l'évolution, parfois très rapide, de la situation de l'enfant et de ses besoins spécifiques, s'écarterait du but visé par le législateur
BGE 126 V 276 S. 283
qui est de favoriser le développement de celui-ci en vue de permettre et de faciliter sa future scolarisation. C'est toujours par rapport à l'intérêt de l'enfant qu'il faut juger du caractère adéquat d'une mesure de réadaptation (comp.
ATF 124 V 320
consid. 2a). A cet égard, les principes développés par la jurisprudence sous l'empire de l'ancien droit (RCC 1982 p. 186 consid. 2) ont conservé toute leur valeur. Comme pour toute autre mesure de cette nature, il convient donc de procéder à une appréciation d'ensemble, en distinguant notamment ce qui relève de la pédagogie thérapeutique et ce qui ressortit aux mesures médicales au sens des
art. 12 et 13 LAI
(
ATF 114 V 22
).
c) In casu, les indications données par le médecin traitant en procédure cantonale et en procédure fédérale établissent de manière convaincante que le placement litigieux s'inscrit dans le cadre d'un ensemble cohérent de mesures à la fois médicales et pédago-thérapeutiques qui sont de nature à améliorer, autant que faire se peut, les aptitudes de l'assurée en vue de favoriser sa scolarisation future. Il se justifie, par conséquent, de mettre le coût de ce placement à la charge de l'assurance-invalidité. A cet égard, le point de savoir si cette nouvelle prestation fait double emploi avec d'autres prestations déjà accordées à la recourante sort du cadre de la présente contestation.
Il convient donc d'annuler le jugement attaqué et la décision litigieuse et de renvoyer la cause à l'office AI pour qu'il fixe le montant des prestations qui sont dues à la recourante. | null | nan | fr | 2,000 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2d8b1183-6a7b-408c-a60e-da2354de1e7f | Urteilskopf
138 I 425
37. Extrait de l'arrêt de la Cour de droit pénal dans la cause X. contre Ministère public de la République et canton de Genève, Delieutraz et B. (recours en matière pénale)
6B_814/2011 du 30 août 2012 | Regeste
Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht, Vorführung als Ausstandsgrund?
Art. 30 Abs. 1 BV
,
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
,
Art. 56 und 232 Abs. 1 StPO
.
Entscheidet der Präsident des Berufungsgerichts während der Berufungsverhandlung, die in Haft zu setzende Person vorführen zu lassen, muss er deswegen für den Sachentscheid nicht in den Ausstand treten (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 426
BGE 138 I 425 S. 426
A.
Par jugement du 3 mars 2011, le Tribunal correctionnel de la République et canton de Genève (ci-après: le Tribunal correctionnel) a acquitté X. de la prévention de lésions corporelles graves au détriment de la partie plaignante, B. En revanche, il l'a reconnu coupable de menaces au préjudice de C., ainsi que d'infraction à l'
art. 116 al. 1 let. a LEtr
(RS 142.20), l'a condamné à une peine pécuniaire de 360 jours-amende à 20 fr. le jour et a ordonné sa libération. Par ce même jugement, le Tribunal correctionnel a également condamné quatre coprévenus.
B.
B., X. et ses quatre coprévenus ont chacun formé appel de ce jugement. Le Ministère public du canton de Genève (ci-après: le Ministère public) a quant à lui renoncé à faire appel et à déposer un appel joint.
B.a
Agissant en qualité de direction de la procédure, le Président Jacques Delieutraz a, par ordonnance du 10 août 2011, notamment communiqué la composition de la juridiction d'appel, ordonné l'ouverture d'une procédure orale et cité les cinq coprévenus, la partie plaignante ainsi que le Ministère public à comparaître aux débats d'appel appointés aux 28 et 29 septembre 2011.
B.b
Au cours de la première journée d'audience, le Président Jacques Delieutraz a constaté la présence de toutes les parties, procédé à l'ouverture de la procédure probatoire, auditionné les cinq prévenus et la partie plaignante. Après la clôture de la procédure probatoire, les conseils des quatre coprévenus de X. ont plaidé.
B.c
Au cours des débats du 29 septembre 2011, le conseil de la partie plaignante a plaidé le premier, concluant à ce que X. soit reconnu coupable de lésions corporelles graves. L'avocat de X. a pris la parole immédiatement après, concluant à l'acquittement de son client
BGE 138 I 425 S. 427
de ce chef d'accusation. Le Ministère public, qui a plaidé ensuite, a repris à son compte les conclusions de la partie plaignante tendant à la condamnation de X. pour lésions corporelles graves et requis contre lui une peine privative de liberté de 5 ans. Les conseils des quatre coprévenus de X. ont ensuite répliqué, la partie plaignante y renonçant.
Le Président Jacques Delieutraz a alors informé les parties qu'il entendait faire application de l'
art. 232 al. 1 CPP
(RS 312.0) en faisant amener devant lui X. "au motif de l'apparition de motif de détention nouveau en lien avec des charges qui se sont alourdies durant l'instruction du jugement d'appel, le risque de fuite étant accru par la peine risquant d'être prononcée. Un mandat d'amener sera décerné dans ce sens". Le Ministère public a été appelé à préciser sa position en lien avec l'application éventuelle de l'
art. 232 al. 2 CPP
. Invité à se déterminer également sur l'éventuel placement en détention pour des motifs de sûreté de son client de même qu'à répliquer sur le fond, le mandataire de X. a sollicité la récusation du Président Jacques Delieutraz pour apparence de prévention. Il a présenté ses arguments et exposé que les conditions d'application de l'
art. 232 al. 2 CPP
n'étaient pas réunies. Le Ministère public a dupliqué, puis X. s'est personnellement exprimé au sujet de la détention pour des motifs de sûreté, ensuite de quoi la direction de la procédure a décerné un mandat d'amener contre lui.
B.d
Le lendemain 30 septembre 2011, la Chambre pénale d'appel - présidée par Jacques Delieutraz - a ouvert en séance publique le dispositif de l'arrêt au fond. D'une part, elle a rejeté les appels des cinq coprévenus. D'autre part, elle a partiellement admis celui de la partie plaignante, reconnaissant X. coupable de lésions corporelles graves en sus des chefs de condamnation retenus en première instance, a révoqué un précédent sursis, l'a condamné à une peine privative de liberté de quatre ans et ordonné sa mise en détention pour des motifs de sûreté.
B.e
Statuant le 7 novembre 2011 sans le concours du Président Jacques Delieutraz, la Chambre pénale d'appel a rejeté la requête de récusation formée par X. lors des débats tenus le 29 septembre 2011.
C.
X. forme un recours en matière pénale au Tribunal fédéral contre la décision sur récusation du 7 novembre 2011 dont il réclame la réforme en concluant, sous suite de dépens, à l'admission de la demande de récusation, à l'annulation de l'arrêt du 30 septembre 2011
BGE 138 I 425 S. 428
et à la répétition des débats. Il requiert en outre le bénéfice de l'assistance judiciaire.
Invités à se déterminer sur le recours, la Chambre pénale d'appel s'est référée à son arrêt, tandis que le Ministère public et B. ont conclu au rejet. Des déterminations sur déterminations ont été déposées.
D.
Le Tribunal fédéral a rendu son jugement en séance publique.
Erwägungen
Extrait des considérants:
4.
4.1
Le recourant se plaint de violation des
art. 30 al. 1 Cst.
, 6 par. 1 CEDH et 56 let. f CPP. En bref, il fait valoir qu'en invoquant la peine encourue en appel comme nouveau motif de détention après avoir entendu le Ministère public et les avocats de ses coaccusés et avant de lui accorder la parole, le Président Jacques Delieutraz a donné l'apparence d'une prévention. De même, en retenant que le risque de fuite justifiant sa mise en détention pour des motifs de sûreté était accru par la sanction requise en appel, il a procédé à un examen se confondant avec celui de la culpabilité, en violation de la garantie d'un juge impartial.
4.2
4.2.1
La garantie d'un tribunal indépendant et impartial instituée par les
art. 30 al. 1 Cst.
et 6 par. 1 CEDH - qui ont, de ce point de vue, la même portée - permet de demander la récusation d'un juge dont la situation ou le comportement est de nature à susciter des doutes quant à son impartialité. Elle vise à éviter que des circonstances extérieures à l'affaire puissent influencer le jugement en faveur ou au détriment d'une partie. Il suffit que les circonstances donnent l'apparence de la prévention et fassent redouter une activité partiale du magistrat, mais seules des circonstances constatées objectivement doivent être prises en considération; les impressions purement individuelles du plaideur ne sont pas décisives (
ATF 136 III 605
consid. 3.2.1 p. 608;
ATF 134 I 20
consid. 4.2 p. 21,
ATF 134 I 238
consid. 2.1 p. 240 et les arrêts cités;
ATF 131 I 24
consid. 1.1 p. 25). Les motifs de récusation mentionnés à l'
art. 56 CPP
concrétisent ces garanties. La récusation d'un magistrat s'impose en particulier lorsque certains motifs, notamment un rapport d'amitié étroit ou d'inimitié avec une partie ou son conseil, sont de nature à le rendre suspect de prévention (
art. 56 let
. f CPP). Cette dernière disposition a la portée d'une clause générale (cf. arrêt 6B_621/2011 du 19 décembre 2011 consid. 2.2 et les références citées).
BGE 138 I 425 S. 429
Le fait que le juge a déjà participé à l'affaire à un stade antérieur de la procédure peut éveiller le soupçon de partialité. La jurisprudence a toutefois renoncé à résoudre une fois pour toute la question de savoir si le cumul des fonctions contrevient ou non aux
art. 30 al. 1 Cst.
et 6 par. 1 CEDH (
ATF 131 I 113
consid. 3.4 p. 117;
ATF 114 Ia 50
consid. 3d p. 57 ss et les arrêts cités). Elle exige, cependant, que l'issue de la cause ne soit pas prédéterminée, mais qu'elle demeure au contraire indécise quant à la constatation des faits et à la résolution des questions juridiques. Il faut, en particulier, examiner les fonctions procédurales que le juge a été appelé à exercer lors de son intervention précédente, prendre en compte les questions successives à trancher à chaque stade de la procédure, et mettre en évidence leur éventuelle analogie ou leur interdépendance, ainsi que l'étendue du pouvoir de décision du juge à leur sujet. Il peut également se justifier de prendre en considération l'importance de chacune des décisions pour la suite du procès (
ATF 131 I 24
consid. 1.1 et la jurisprudence citée).
En matière de procédure pénale, le Tribunal fédéral a été amené à se prononcer sur la compatibilité de certaines situations avec les
art. 30 al. 1 Cst.
et 6 par. 1 CEDH. Il a sanctionné le cumul des fonctions de juge du renvoi et de juge du fond (
ATF 114 Ia 50
consid. 4 et 5 p. 60 ss), ainsi que de juge du mandat de répression et de juge du fond (
ATF 114 Ia 143
consid. 7b p. 151 ss). En revanche, le rejet d'une demande d'assistance judiciaire pour défaut de chances de succès ne constitue pas un motif suffisant pour obtenir la récusation du juge du fond (
ATF 131 I 113
consid. 3.7 p. 120). Le Tribunal fédéral n'a pas non plus condamné l'union personnelle du juge de la détention et du juge du fond, les questions à résoudre étant suffisamment distinctes (
ATF 117 Ia 182
consid. 3b p. 184 ss).
Sur cette question particulière, le Tribunal fédéral a exposé que le fait que le juge du fond ait eu précédemment à s'occuper de la cause ne constitue pas à lui seul un motif de récusation, du moins lorsque les problèmes de fait et de droit soulevés restent entiers. En d'autres termes, il n'y a pas d'inconvénient à la participation à l'audience de jugement du magistrat compétent pour se prononcer sur la détention préventive lorsque l'issue du procès reste suffisamment incertaine pour qu'il n'y ait pas apparence de prévention. Il faut donc se demander quelles sont les compétences de l'un et de l'autre. Le juge de la détention doit examiner s'il se justifie d'ordonner celle-ci ou de la prolonger, soit s'il existe à la charge du prévenu des charges suffisantes de la commission d'une infraction (
dringender Tatverdacht
) et s'il
BGE 138 I 425 S. 430
présente un danger pour la sécurité et l'ordre public, un risque de fuite ou de collusion. Il incombe en revanche au juge du fond de déterminer si l'accusé s'est bien rendu coupable des faits qui lui sont reprochés et, en cas de réponse affirmative, quelle peine il y a lieu de lui infliger. La différence essentielle est que le juge de la détention préventive n'a pas à se prononcer sur le degré de culpabilité du délinquant. On ne saurait donc affirmer que dans les cas où le juge du fond a eu à se prononcer sur le problème de la détention préventive, le sort de l'accusé apparaît scellé ou du moins qu'il y a risque de prévention. Il suit de là qu'en principe, il n'apparaît pas contraire à la Constitution et à la Convention que le même magistrat exerce les deux fonctions.
4.2.2
A l'instar de la jurisprudence du Tribunal fédéral, la jurisprudence de la Cour européenne des droits de l'homme (CourEDH) n'a jamais considéré que l'union personnelle du juge de la détention et du juge du fond était d'emblée contraire à l'
art. 6 par. 1 CEDH
et rendait ainsi le juge récusable, réaffirmant récemment que le fait qu'un juge ait pris des décisions avant le procès, notamment au sujet de la détention provisoire, ne justifie pas des appréhensions quant à son impartialité (cf. arrêt de la CourEDH
Alony Kate contre Espagne
du 17 janvier 2012 cf. § 52; voir également les arrêts de la CourEDH
Hauschildt contre Danemark
du 24 mai 1989 § 50 et
Sainte-Marie
contre France
du 16 décembre 1992 § 32). La question portant sur le placement en détention provisoire ne se confond pas avec la question portant sur la culpabilité de l'intéressé. On ne saurait assimiler des soupçons à un constat formel de culpabilité, même si des circonstances particulières peuvent, dans une affaire donnée, mener à une conclusion différente (arrêt de la CourEDH
Cardona Serrat contre Espagne
du 26 octobre 2010 § 31). La CourEDH a en particulier admis des doutes quant à l'impartialité du tribunal incompatible avec l'
art. 6 CEDH
dans le cas d'un juge danois, également chargé du fond de l'affaire, qui s'était préalablement prononcé sur la détention provisoire, laquelle était subordonnée à la condition légale de l'existence de "soupçons particulièrement renforcés" que le prévenu ait commis l'infraction (arrêt de la CourEDH
Hauschildt,
§ 50-52).
4.2.3
Au vu de la jurisprudence du Tribunal fédéral et de la CourEDH qui considère qu'il faut trancher de cas en cas, la doctrine, divisée sur la question de la compatibilité du cumul des fonctions du juge de la détention et du juge du fond, en particulier de la compatibilité de l'
art. 232 CPP
avec l'
art. 6 par. 1 CEDH
, n'apporte pas d'éclairage
BGE 138 I 425 S. 431
déterminant. Certains auteurs semblent critiques (PIQUEREZ/MACALUSO, Procédure pénale suisse, 3
e
éd. 2011, n° 650 p. 22; FRANÇOIS PAYCHÈRE, Privation de liberté et pouvoirs du juge d'appel: vers un conflit entre la CEDH et le nouveau CPP suisse?, in SJ 2009 II p. 292; ALAIN MACALUSO, Quelques aspects des procédures relatives à la détention avant jugement dans le CPP suisse, in forum poenale 2011 p. 313 ss, spéc. 319/320; RICHARD CALAME, in Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, n° 3 ad
art. 388 CPP
qui affirme à tort que selon la jurisprudence établie, le juge de fond ne peut être identique au juge de la détention). D'autres tiennent un tel cumul pour conforme à l'
art. 6 CEDH
au vu de l'examen sommaire des charges effectué pour la mise en détention et autant que le juge se limite à un tel examen (MARKUS BOOG, in Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, n° 27 ad
art. 56 CPP
avec renvoi à l'arrêt 117 Ia 182 du 21 août 1991; MARTIN ZIEGLER, ibidem, n° 1 ad
art. 388 CPP
; GOLDSCHMID/MAURER/SOLLBERGER, Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO] vom 5. Oktober 2007, 2008, p. 47 avec renvoi à la décision de la CourEDH
Hauschildt contre Danemark
; DANIEL LOGOZ, in Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, n° 2 ad
art. 232 CPP
; ANDREAS J. KELLER, in Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, n° 34 ad
art. 56 CPP
; NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, n° 514 p. 198; REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, 2001, p. 155 ss; FRÉDÉRIC SUDRE, Droit européen et international des droits de l'homme, Paris 2011, p. 441; ROBERT LEVI, Zum Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das kantonale Prozessrecht - Erwartungen und Ergebnisse, in RPS 106/1989 p. 233).
4.3
Au cours des débats tenus le 29 septembre 2011, le Président Jacques Delieutraz a décerné, après les plaidoiries, un mandat d'amener à l'encontre du recourant en vue d'une éventuelle décision de détention pour des motifs de sûreté, considérant que le risque de fuite était accru par la peine encourue. La détention pour des motifs de sûreté en tant que telle n'a été ordonnée que le 30 septembre suivant, lors de l'ouverture en séance publique du dispositif de l'arrêt au fond. Il convient ainsi de distinguer entre le mandat d'amener décerné par le Président Jacques Delieutraz sur la base de l'
art. 232 al. 1 CPP
et la décision de détention ordonnée en application de l'
art. 232 al. 2 CPP
par la Chambre pénale d'appel subséquemment au verdict de culpabilité. Le recours formé contre cette décision a été rejeté par le Tribunal fédéral qui a admis l'existence d'un risque de fuite (arrêt
BGE 138 I 425 S. 432
1B_623/2011). En d'autres termes, il s'agit de déterminer si la décision de la direction de la procédure de décerner un mandat d'amener - qui ne s'apparente pas encore à une décision formelle de mise en détention pour des motifs de sûreté - lors des débats d'appel a pour conséquence d'entraîner la récusation du magistrat qui l'a rendue si celui-ci participe ensuite à la décision sur le fond.
4.4
Selon l'
art. 232 al. 1 CPP
, la direction de la procédure fait amener immédiatement le prévenu par la police et l'interroge si des motifs de détention n'apparaissent que pendant la procédure devant la juridiction d'appel. En d'autres termes, la direction de la procédure décerne un mandat d'amener.
Les conditions présidant à la délivrance d'un mandat d'amener sont prévues à l'
art. 207 al. 1 CPP
. En particulier, si un motif de détention pour des motifs de sûreté survient pendant la procédure d'appel, la direction de la procédure peut décerner un mandat d'amener à condition que la personne concernée soit fortement soupçonnée d'avoir commis un crime ou un délit et qu'il y ait lieu de présumer des motifs de détention à l'encontre de celle-ci (
art. 207 al. 1 let
. d CPP). En tant que l'
art. 207 al. 1 let
. d CPP pose comme préalable à la délivrance d'un mandat d'amener que le prévenu soit fortement soupçonné d'avoir commis un crime ou un délit, ses conditions d'application semblent se recouper avec celles auxquelles l'
art. 221 al. 1 CPP
subordonne la détention pour des motifs de sûreté. Selon cette dernière disposition, la détention pour des motifs de sûreté ne peut notamment être ordonnée qu'à la condition que le prévenu soit fortement soupçonné d'avoir commis un crime ou un délit. Pour autant, la délivrance d'un mandat d'amener et la décision sur la détention pour des motifs de sûreté n'assujettissent pas le juge au même pouvoir d'examen.
Décerné en principe par écrit, le mandat d'amener peut l'être oralement en cas d'urgence et à condition d'être confirmé par écrit (
art. 208 al. 1 CPP
). Il contient les mêmes indications que le mandat de comparution (
art. 201 al. 2 CPP
) ainsi que la mention de l'autorisation expresse donnée à la police de recourir à la force si nécessaire et de pénétrer dans les bâtiments, les habitations et les autres locaux non publics pour exécuter le mandat (
art. 208 al. 2 CPP
). Il devra donc désigner l'autorité qui l'a décerné et les personnes qui exécuteront l'acte de procédure, la personne citée à comparaître et la qualité en laquelle elle doit participer à l'acte de procédure, le motif du mandat, pour autant que le but de l'instruction ne s'oppose pas à cette indication, le lieu,
BGE 138 I 425 S. 433
la date et l'heure de la comparution, la sommation de se présenter personnellement, les conséquences juridiques d'une absence non excusée, la date de son établissement et la signature de la personne qui l'a décerné (
art. 201 al. 2 CPP
). Dès lors qu'il suffit que le mandat d'amener indique le motif pour lequel il est décerné (
art. 201 al. 2 let
. c par renvoi de l'
art. 208 al. 2 CPP
), ses exigences de motivation sont moindres que celles qui président au prononcé d'une décision de détention. En outre, la finalité du mandat d'amener n'est pas la même que celle de la détention pour des motifs de sûreté en ce sens que celui-là vise à assurer la présence du prévenu jusqu'à ce qu'une décision soit prise sur la détention et permet en outre qu'il soit interrogé sur d'éventuels motifs de détention pour respecter son droit d'être entendu. Aucune décision n'est véritablement prise à ce stade sur la détention. En tant que le mandat d'amener constitue l'étape préalable à la future décision de confirmation ou d'infirmation de la détention pour motifs de sûreté, il est le résultat d'un examen très sommaire qui n'est en rien comparable avec celui approfondi auquel les juges de la juridiction du fond se livrent.
En dépit de la terminologie légale qui subordonne la délivrance d'un mandat d'amener à la condition que le prévenu soit
fortement soupçonné d'avoir commis un crime ou un délit
et qui pourrait donner à penser, abstraitement, que la marge distinguant le prononcé d'un mandat d'amener de l'énoncé d'un verdict de culpabilité est infime, l'examen des circonstances concrètes présidant à l'une et à l'autre décision est fondamentalement différent. La première est très succincte et ne comporte aucune appréciation anticipée de la prévention qui aille si loin que le juge serait tenu par la suite dans l'examen de sa décision au fond par sa précédente appréciation. Pour s'en convaincre, il suffit de lire en l'espèce la motivation du mandat d'amener qui tient en trois lignes: "l'apparition de motif de détention nouveau en lien avec des charges qui se sont alourdies durant l'instruction du jugement d'appel, le risque de fuite étant accru par la peine risquant d'être prononcée". A l'instar des principes posés par la jurisprudence du Tribunal fédéral et de la CourEDH, on ne saurait considérer que les soupçons fondant la délivrance d'un mandat d'amener en vue d'une éventuelle détention dans l'attente du jugement au fond sont assimilables à un constat de culpabilité. Dans ce dernier cas, les magistrats examinent la réalisation des conditions objectives et subjectives d'une infraction. S'agissant d'établir la culpabilité de l'auteur, ils prennent en considération les antécédents et la situation personnelle de l'auteur
BGE 138 I 425 S. 434
ainsi que l'effet de la peine sur son avenir (
art. 47 al. 1 CP
). La culpabilité elle-même est déterminée par la gravité de la lésion ou de la mise en danger du bien juridique concerné, par le caractère répréhensible de l'acte, par les motivations et les buts de l'auteur et par la mesure dans laquelle celui-ci aurait pu éviter la mise en danger ou la lésion, compte tenu de sa situation personnelle et des circonstances extérieures (
art. 47 al. 2 CP
). L'ensemble de ces éléments n'est pas examiné à l'énoncé d'un mandat d'amener, la condition que le détenu soit fortement soupçonné d'avoir commis un crime ou un délit servant strictement à éviter la délivrance arbitraire de tels mandats. L'appréciation par la direction de la procédure des conditions posées au prononcé d'un mandat d'amener ne se confond ainsi nullement avec l'examen de la culpabilité du recourant.
4.5
Au demeurant, il est constant qu'après avoir clôturé la procédure probatoire, le Président Jacques Delieutraz a fait procéder aux plaidoiries des cinq coprévenus et de la partie plaignante avant de donner la parole au Ministère public - lequel a requis une peine privative de liberté de cinq ans à l'encontre du recourant - puis aux quatre coprévenus du recourant qui ont répliqué. C'est alors que le magistrat a déclaré qu'il entendait faire application de l'
art. 232 al. 1 CPP
"au motif de l'apparition de motif de détention nouveau en lien avec les charges qui se sont alourdies durant l'instruction de jugement, le risque de fuite étant accru par la peine risquant d'être prononcée". Ce faisant, il s'est borné à prononcer les mesures nécessaires à la sauvegarde des conclusions prises à l'issue des débats d'appel par le Ministère public. Pour autant, il n'a procédé à aucune évaluation de la culpabilité, respectivement de la peine imputable au recourant.
4.6
Il s'ensuit que ni la délivrance d'un mandat d'amener par le Président Jacques Delieutraz, pas plus que les circonstances concrètes dans lesquelles celui-là a été décerné, n'ont donné l'apparence de prévention et constitué un motif de récusation. Le grief se révèle mal fondé. | public_law | nan | fr | 2,012 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2d94a26a-2738-4510-8ef3-ec50deec1b59 | Urteilskopf
107 Ib 355
63. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. Dezember 1981 i.S. Erbengemeinschaft des Alfred Werner Behn-Eschenburg gegen Politische Gemeinde Küsnacht und Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 1 FPolV
.
1. Gesetzmässigkeit der Walddefinition des
Art. 1 FPolV
, insbesondere der Formulierung "ungeachtet der Entstehung" (Erw. 2c).
2. Die Absicht des pflanzenden Grundeigentümers, eine baumbestandene Parkanlage und nicht Wald zu schaffen, ist für die forstrechtliche Qualifikation einer Bestockung ohne Bedeutung (Erw. 2d). | Erwägungen
ab Seite 355
BGE 107 Ib 355 S. 355
Auszug aus den Erwägungen:
2.
a) Schutzobjekt des Forstpolizeirechtes ist das "Waldareal" (
Art. 31 Abs. 1 FPolG
).
Art. 1 FPolV
umschreibt den Begriff des Waldes näher. Bei der Beurteilung, ob eine Bodenfläche als Wald zu qualifizieren sei, stellen sich Tat- und Rechtsfragen. In tatsächlicher Hinsicht sind der in einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich vorhandene Wuchs, dessen Dichte, Alter und Ausmass sowie der Zusammenhang mit benachbarter Bestockung von entscheidender Bedeutung. Ferner ist erheblich, ob die bestockte Fläche geeignet ist, Schutz und Wohlfahrtswirkungen auszuüben. Rechtsfrage ist anderseits, wie der vom Gesetz- und Verordnungsgeber verwendete Begriff des Waldes und dessen einzelne Elemente auszulegen sind.
b) Die Beschwerdeführer bestreiten die tatsächlichen Feststellungen des Regierungsrates, die beim Augenschein der
BGE 107 Ib 355 S. 356
bundesgerichtlichen Delegation ihre Bestätigung erfahren haben, nicht und leiten aus den natürlichen Wuchsverhältnissen - im Wäldchen finden sich auch einige artfremde Sträucher wie Lorbeer und Bambus - nichts zu ihren Gunsten ab. Insbesondere behaupten sie nicht, es handle sich um eine Garten- oder Parkanlage im Sinne von
Art. 1 Abs. 3 FPolV
. Hingegen halten sie auch in ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde am Einwand fest, bei der Qualifikation der Bestockung hätte der Wille des pflanzenden Grundeigentümers, der lediglich eine baumbestandene Parkanlage, nicht aber Wald schaffen wollte, berücksichtigt werden müssen. Wegen fehlender Widmung könne im vorliegenden Fall nicht von Wald im Rechtssinne gesprochen werden. Die Beschwerdeführer halten
Art. 1 FPolV
, der die Waldeigenschaften "ungeachtet der Entstehung" umschreibt, für gesetzwidrig.
c) In
Art. 1 FPolV
wird der Begriff des Waldes weit umschrieben. Das Bundesgericht hat die Vorschrift als gesetzmässig anerkannt. Es geht davon aus, mit der Definition des Waldes in
Art. 1 FPolV
habe der Bundesrat dem Walderhaltungsgebot des
Art. 31 Abs. 1 FPolG
eine den heutigen Bestrebungen des Landschaftsschutzes entsprechende Tragweite gegeben, ohne damit seine Befugnis zum Erlass von Vollzugsbestimmungen (
Art. 50 FPolG
) zu überschreiten (vgl. z.B. nicht veröffentlichte Urteile Ligue suisse pour la protection de la nature c. Marmy vom 2. März 1973 E. 3a; Cattaneo vom 11. Oktober 1974 E. 2; Aebi vom 27. Juni 1975 E. 5b). Auch der hier vorgebrachte Einwand,
Art. 1 FPolV
verstosse gegen das Forstpolizeigesetz, weil bei der Qualifizierung eines Baumbestandes als Wald der Wille des pflanzenden Eigentümers ausser acht gelassen werde, erweist sich als unbegründet. Aus dem Forstpolizeigesetz und seiner Systematik ergibt sich nichts zu Gunsten der Auffassung der Beschwerdeführer. Soweit das Gesetz "Neuaufforstungen" (Art. 31 Abs. 3 und Art. 42) und die "Gründung von Schutzwaldungen" (Art. 36) erwähnt, hat es wohl die willentliche Schaffung neuen Waldes im Auge, doch kann daraus nicht negativ abgeleitet werden, die Waldeigenschaft fehle, wo bei der Anpflanzung kein Wald geschaffen werden wollte. Gegenteils sprechen Sinn und Zweck der forstpolizeilichen Normen dafür, dass das gesamte Waldareal der Schweiz in seinem natürlichen Bestand zu schützen sei, unabhängig davon, ob der Waldwuchs mit oder ohne Willen des Grundeigentümers entstanden sei und ob er den dem Wald vom Gesetz zugedachten Schutz wollte oder nicht. Sowohl dem
Art. 24 BV
wie dem Forstpolizeigesetz
BGE 107 Ib 355 S. 357
liegt die Erkenntnis zugrunde, der Wald stelle seiner mannigfaltigen Schutz- und Wohlfahrtswirkungen wegen ein derart bedeutendes Gut dar, dass seine Erhaltung im öffentlichen Interesse zu gewährleisten sei und das Gebot der Walderhaltung den abweichenden Interessen der Waldeigentümer oder Nutzungsberechtigten in der Regel vorzugehen habe.
Mit der Formulierung "ungeachtet der Entstehung" fügt die Walddefinition des
Art. 1 FPolV
kein neues Element zum Waldbegriff hinzu, das nicht schon im Gesetz und in der Verfassung enthalten wäre. Das Bundesgericht hat sich denn auch in konstanter Rechtsprechung an den dem
Art. 1 FPolV
zugrundeliegenden natürlichen Waldbegriff gehalten. Zwar hat es jungen Waldwuchs, der von sich aus in offenes Land vorgedrungen ist, vom Waldbegriff im Rechtssinne ausgenommen, sofern der Eigentümer zur Verhinderung der Bewaldung alles vorgekehrt hat, was unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise von ihm erwartet werden konnte (
BGE 98 Ib 364
ff.). Ist der Wuchs jedoch älter als 10-15 Jahre, so nimmt die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch gegen den Willen des Eigentümers das Vorhandensein von Wald im Rechtssinne an. Auch hier ist somit letztlich nicht der Wille des Eigentümers, sondern die Natur und das Alter des Wuchses massgebend.
d) Ist die Formulierung "ungeachtet der Entstehung" in
Art. 1 Abs. 1 FPolV
gesetzmässig, so ist es ohne Bedeutung, ob der Grundeigentümer tatsächlich die Absicht hatte, eine baumbestandene Parkanlage, nicht aber Wald zu schaffen. Ein entsprechendes Beweisverfahren erübrigt sich. Dass die Anlage während der Geltungsdauer der Forstpolizeiverordnung von 1903, die noch keine Walddefinition enthielt, angepflanzt wurde, ist ebenfalls irrelevant, weil sich die Gesetzgebung und die Rechtsprechung im Forstpolizeirecht mit der im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorhandenen Bestockung befassen (vgl. Gotthard BLOETZER, Die Oberaufsicht über die Forstpolizei nach schweizerischem Bundesstaatsrecht, Diss. Zürich 1978, S. 202 ff.; Hans DUBS, Rechtsfragen der Waldrodung in der Praxis des Bundesgerichts, in: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen, 1975, S. 275 ff.;
BGE 98 Ib 364
E. 1, nicht veröffentlichtes Urteil Aschwanden vom 17. Juni 1977 E. 2). Hält sich die Walddefinition der heute geltenden Verordnung im Rahmen des Forstpolizeigesetzes, so gilt sie für sämtlichen Waldwuchs, unabhängig davon, ob eine frühere Verordnung eine ausdrückliche Walddefinition
BGE 107 Ib 355 S. 358
enthielt oder nicht. Es wäre offensichtlich verfehlt, den forstrechtlichen Schutz denjenigen Bestockungen zu versagen, die vor 1965 gepflanzt wurden.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen. | public_law | nan | de | 1,981 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2da43d3f-b061-4186-90a7-955c4920eae2 | Urteilskopf
124 V 22
5. Urteil vom 27. Januar 1998 i.S. Wincare Versicherungen gegen Klinik B. AG und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau | Regeste
Art. 89 Abs. 1 und 4 KVG
;
Art. 58 Abs. 1 BV
;
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
;
Art. 97 ff. OG
;
Art. 5 und 45 VwVG
. Zusammenfassung der Eintretensvoraussetzungen bei Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Zwischenverfügungen über den Ausstand oder die Ablehnung von Mitgliedern eines kantonalen Schiedsgerichts nach KVG.
Art. 89 Abs. 1 und 4 KVG
. Ob kantonale Schiedsgerichte nach
Art. 89 KVG
auch mit nicht im Kanton wohnhaften Schiedsrichtern besetzt werden können, bestimmt sich mangels einer bundesrechtlichen Regelung nach kantonalem Recht. | Sachverhalt
ab Seite 23
BGE 124 V 22 S. 23
A.-
Am 20. Juni 1995 kündigte der Kantonalverband Thurgauischer Krankenkassen (KTK) die Vereinbarung mit der Klinik B. AG vom 1. April 1993 "über die stationäre und ambulante Behandlung von Krankenkassen-Mitgliedern sowie die Leistungen der Krankenkassen" auf den 31. Dezember 1995. Auf Antrag der Klinik verlängerte der Regierungsrat des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 26. März 1996 den Tarifvertrag um ein Jahr bis zum 31. Dezember 1996. Die hiegegen erhobene Verwaltungsbeschwerde des Kassenverbandes wies der Bundesrat am 23. September 1996 ab.
Unter Hinweis auf einen (weiteren) Entscheid des Bundesrates vom 30. September 1996, womit dieser die vom thurgauischen Regierungsrat am 19. Dezember 1995 beschlossene Erhöhung des Taxpunktwertes für ambulante Behandlungen in den kantonalen Krankenanstalten von Fr. 4.65 bzw. Fr. 4.76 auf Fr. 4.95 ab 1. Januar 1996 bestätigte, stellte die Klinik B. im Februar 1997 verschiedenen Krankenversicherern, unter anderem der Wincare Versicherungen mit Hauptsitz in Winterthur (im folgenden: Wincare), eine entsprechende Nachbelastung in Rechnung. Da sich die Wincare - auf Empfehlung des KTK - weigerte, für 1996 aufgrund eines höheren Taxpunktwertes Nachzahlungen zu leisten, erhob die Klinik B. AG am 29. Mai 1997 Klage beim kantonalen Versicherungsgericht als Schiedsgericht im Sinne von
Art. 89 KVG
mit den Rechtsbegehren:
"Die Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin den Betrag von Fr. 10'836.60 nebst 5% Zins seit 24.03.1997 zu bezahlen;
unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beklagten."
Im weitern benannte die Klinik B. Dr. iur. G., Rechtsanwalt, "als von ihr delegierten Vertreter in das Schiedsgericht".
B.-
Nachdem die Wincare ihrerseits Frau Dr. iur. H. als ihre Vertreterin für das schiedsgerichtliche Verfahren vorgeschlagen hatte, beantragte sie mit Eingabe vom 20. Juni 1997 die Ablehnung des Dr. G. als "Vertreter der
BGE 124 V 22 S. 24
Klägerin im Schiedsgericht". Dieser biete als Präsident der Interessengemeinschaft Thurgauer Privatkliniken, deren Mitglied die Klinik B. AG sei, und gleichzeitiger Präsident des Verwaltungsrates der P. AG, einer Privatklinik mit Sitz im Kanton Thurgau, "nicht die für Schiedsrichter nötige Gewähr für eine unabhängige und unparteiische Beurteilung der Streitsache". In ihrer Stellungnahme vom 4. Juli 1997 wies die Klinik die Vorbehalte gegen Dr. G. als ihren Vertreter im Schiedsgericht als "haltlos und unbegründet" zurück. Nach Eingang der Klageantwort wies das thurgauische Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht das Rekusationsbegehren ab (Entscheid vom 20. August 1997).
C.-
Die Wincare führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, der "Entscheid des KVG-Schiedsgerichts des Kantons Thurgau vom 20. August 1997 sei aufzuheben und der von der Beschwerdebeklagten 1 ernannte Schiedsrichter, Herr Dr. G., Rechtsanwalt, abzulehnen".
Das kantonale Versicherungsgericht beantragt in seiner Vernehmlassung Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, desgleichen die Klinik B. AG. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 89 KVG
entscheidet ein Schiedsgericht Streitigkeiten zwischen Versicherern und Leistungserbringern (Abs. 1). Zuständig ist das Schiedsgericht desjenigen Kantons, dessen Tarif zur Anwendung gelangt, oder desjenigen Kantons, in dem die ständige Einrichtung des Leistungserbringers liegt (Abs. 2). Der Kanton bezeichnet ein Schiedsgericht. Es setzt sich zusammen aus einer neutralen Person, die den Vorsitz innehat, und aus je einer Vertretung der Versicherer und der betroffenen Leistungserbringer in gleicher Zahl. Die Kantone können die Aufgaben des Schiedsgerichts dem kantonalen Versicherungsgericht übertragen; dieses wird durch je einen Vertreter oder eine Vertreterin der Beteiligten ergänzt (Abs. 4). In diesem Sinne hat der Kanton Thurgau Zuständigkeit und Zusammensetzung des kantonalen Schiedsgerichts gemäss
Art. 89 KVG
geregelt (vgl. § 69a Abs. 1 Ziff. 1 in Verbindung mit § 33 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Februar 1981 [VRG; Thurgauer Rechtsbuch I, Nr. 170.1]).
BGE 124 V 22 S. 25
2.
a) Das Eidg. Versicherungsgericht beurteilt letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von
Art. 5 VwVG
auf dem Gebiete der Sozialversicherung (Art. 128 in Verbindung mit
Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG
). Zu diesen auf bundesrechtlicher Grundlage beruhenden Verfügungen gehören nach
Art. 5 Abs. 2 und
Art. 45 VwVG
unter anderem die in Streitigkeiten nach
Art. 89 Abs. 1 KVG
erlassenen Zwischenentscheide über die Ablehnung eines Ausstandsbegehrens (vgl.
Art. 45 Abs. 2 lit. b VwVG
; RKUV 1997 KV Nr. 14 S. 312 Erw. II/2a). Solche Verfügungen sind selbständig anfechtbar, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (
Art. 45 Abs. 1 VwVG
;
BGE 120 Ib 97
Erw. 1c,
BGE 97 V 248
) und gegen den Endentscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidg. Versicherungsgericht geführt werden kann (Art. 129 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 101 lit. a OG
;
BGE 119 V 487
Erw. 2a,
BGE 117 V 187
Erw. 1a,
BGE 116 V 133
Erw. 1; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 140 ff.).
b) In dem vor dem kantonalen Schiedsgericht gemäss
Art. 89 KVG
hängigen Klageverfahren geht es in der Hauptsache um die "Nachforderung für Leistungsvergütungen im Jahre 1996" im Rahmen des Tarifvertrages vom 1. April 1993 aufgrund eines höheren als des ursprünglich verrechneten Taxpunktwertes. Auch wenn das Begehren alle in jenem Jahr von der Beschwerdegegnerin erbrachten und von der Beschwerdeführerin übernommenen Leistungen betrifft, es sich streng genommen nicht um die Anwendung eines Tarifes im Einzelfall handelt, liegt eine Streitigkeit zwischen Versicherern und Leistungserbringern im Sinne von
Art. 89 Abs. 1 KVG
vor, zu deren Beurteilung die kantonalen Schiedsgerichte zuständig sind (vgl.
BGE 116 V 126
Erw. 2a,
BGE 112 V 310
Erw. 3b,
BGE 111 V 346
Erw. 1b; vgl. auch
BGE 119 V 326
Erw. 5 und
BGE 123 V 280
). Da im weitern Zwischenverfügungen über den Ausstand oder die Ablehnung von Mitgliedern eines kantonalen Schiedsgerichts nach KVG einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von
Art. 45 Abs. 1 VwVG
bewirken können (RKUV 1997 KV Nr. 14 S. 312 Erw. II/2c mit Hinweisen), gegen den Endentscheid der Vorinstanz Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidg. Versicherungsgericht geführt werden kann (
Art. 91 KVG
) und auch die übrigen formellen Voraussetzungen erfüllt sind, ist Eintreten gegeben.
3.
Der vorliegende Rechtsstreit hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (vgl.
BGE 122 V 136
Erw. 1) zum
BGE 124 V 22 S. 26
Gegenstand. Das Eidg. Versicherungsgericht hat daher nur zu prüfen, ob der angefochtene Entscheid auf einer Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, beruht (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 104 OG
). Dabei ist es an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden, wenn diese den Sachverhalt nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 105 Abs. 2 OG
;
BGE 103 V 149
Erw. 1; RKUV 1984 Nr. K 573 S. 76 Erw. 3). Schliesslich darf das Gericht weder zugunsten noch zuungunsten der Parteien über deren Begehren hinausgehen (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 114 Abs. 1 OG
).
4.
Gegen die Mitwirkung von Dr. G. im kantonalen Schiedsgericht gemäss
Art. 89 KVG
wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im wesentlichen vorgebracht, dieser "sitze" als Vertreter der P. AG in der Interessengemeinschaft Thurgauischer Privatkliniken. Als Mitglied dieses Gremiums sei er beauftragt, die Interessen der kantonalen Privatspitäler und damit auch diejenigen der Beschwerdegegnerin zu wahren. Die Gefahr der Voreingenommenheit sei daher offenkundig. Ferner sei Dr. G. als Präsident des Verwaltungsrates der P. AG sinngemäss in gleicher Weise wie diese Privatklinik vom Verfahrensausgang betroffen, und zwar in einem Masse, welches seine Befangenheit begründe, zumal der Entscheid in der Hauptsache einen Einfluss auf die Frage habe, ob Nachforderungsbegehren (anderer kantonaler Privatkliniken) gestellt werden. Anders verhielte es sich nur, wenn der von der Klägerin und jetzigen Beschwerdegegnerin bezeichnete Vertreter im schiedsgerichtlichen Verfahren Vertreter einer Privatspitalvereinigung eines anderen Kantons wäre.
5.
Die Vorbringen des beschwerdeführenden Versicherers sind nicht geeignet, eine Verletzung des aus
Art. 58 Abs. 1 BV
und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
fliessenden und grundsätzlich auch im Verfahren vor den kantonalen Schiedsgerichten gemäss
Art. 89 KVG
zu beachtenden Anspruchs der Prozessparteien darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirkung sachfremder Umstände entschieden wird, darzutun. Namentlich vermag die Tatsache allein, dass Dr. G. Präsident des Verwaltungsrates einer ebenfalls im Kanton Thurgau gelegenen Privatklinik ist, bei objektiver Betrachtung nicht den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen (vgl.
BGE 120 V 365
Erw. 3a,
BGE 119 Ia 226
Erw. 3,
BGE 115 V 260
BGE 124 V 22 S. 27
Erw. 2a mit Hinweisen; RKUV 1997 KV Nr. 14 S. 309).
a) Die neben dem Vorsitzenden tätigen bzw. das Versicherungsgericht ergänzenden Schiedsrichter erscheinen aufgrund ihrer Verbundenheit mit den Versicherern und Leistungserbringern erfahrungsgemäss bald als kaum ganz unabhängig. Dies bedeutet indessen, wie das Eidg. Versicherungsgericht bereits unter dem alten Recht feststellte, nicht schon Parteilichkeit im Sinne einer unzulässigen einseitigen Parteinahme. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie gegensätzliche Standpunkte einnehmen können, auch wenn sie unparteiisch handeln. Sodann besteht die der paritätischen Mitwirkung zugedachte Aufgabe nicht in einer einseitigen Interessenwahrnehmung für eine Prozesspartei. Vielmehr hat der Gesetzgeber den in
Art. 89 Abs. 1 KVG
angeführten interessierten Kreisen die Möglichkeit einräumen wollen, Leute ihres Vertrauens in die Schiedsgerichte zu entsenden, um die notwendige Sachkunde zu vermitteln und die branchenspezifischen Gesichtspunkte zur Kenntnis zu bringen, so dass die für oder gegen die Parteien sprechenden Umstände voll zur Geltung kommen und sorgfältig gewürdigt werden können (RKUV 1997 KV Nr. 14 S. 313 f. Erw. II/5 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts zu
Art. 25 Abs. 1 und 4 KUVG
).
b) Im Lichte dieser vom Gesetzgeber gewollten schiedsgerichtlichen Ordnung könnte dem hier zur Diskussion stehenden Ausstandsbegehren nur dann Erfolg beschieden sein, wenn die Interessengemeinschaft Thurgauischer Privatkliniken massgeblich auf Betreiben von Dr. G. gebildet worden wäre, er innerhalb dieses Gremiums, welchem offenbar keine Rechtspersönlichkeit zukommt, eine organähnliche Stellung einnähme und die Wahrung der Interessen einzelner Kliniken in (durch die zuständigen Gerichte zu beurteilenden) Tarifstreitigkeiten zu deren Zielsetzungen gehörte. Solche über das Präsidium des Verwaltungsrates der P. AG hinausgehende Aktivitäten werden indessen nicht geltend gemacht. Ebenfalls finden sich keine Hinweise in den Akten, dass diese Privatklinik oder deren Rechtsträger an der Beschwerdegegnerin (massgeblich) beteiligt ist oder Dr. G. selber in dieser oder einer anderen Form mit der am Recht stehenden Privatklinik in Beziehung steht. Im übrigen hält der angefochtene Entscheid zu Recht fest, dass allein die "Gefahr" allfälliger Nachforderungsbegehren seitens der P. AG nicht genügt, um objektiv Misstrauen hinsichtlich der Unvoreingenommenheit des Dr. G. zu begründen, zumal die Rechtsbeziehungen zwischen diesen (juristischen) Personen auf einer anderen vertraglichen
BGE 124 V 22 S. 28
Grundlage als der hier massgebenden Tarifvereinbarung vom 1. April 1993 beruhen und daher "völlig offen" ist, ob dem Entscheid in der Hauptsache "überhaupt präjudizieller Charakter" zukommt. Die vorinstanzliche Ablehnung des ihn betreffenden Ausstandsbegehrens ist daher von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden.
6.
Dr. G., wie auch die von der Beschwerdeführerin als Beklagten in das Schiedsgericht vorgeschlagene Frau Dr. H., haben beide im Kanton St. Gallen, somit ausserhalb des Kantons Thurgau Wohnsitz. Es stellt sich die von Amtes wegen zu prüfende Frage, ob diese Tatsache einer Mitwirkung als Schiedsrichter im vorinstanzlich hängigen Verfahren entgegensteht.
Das Eidg. Versicherungsgericht hat im schon mehrmals erwähnten Urteil Klinik A. vom 31. Juli 1997 (RKUV 1997 KV Nr. 14 S. 309) offengelassen, ob ein kantonales Schiedsgericht nach
Art. 89 KVG
auch mit ausserkantonalen Schiedsrichtern besetzt werden kann (S. 318 Erw. 9). Die Regelung dieser Frage, mit welcher sich das Gericht, soweit ersichtlich, auch unter altem Recht nie zu befassen hatte, ist mangels einer bundesrechtlichen Vorschrift Sache der Kantone. Dabei handelt es sich um selbständiges kantonales Verfahrensrecht, dessen Verletzung grundsätzlich nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde gerügt werden kann (
BGE 123 II 361
Erw. 1a/aa,
BGE 122 II 243
Erw. 2a,
BGE 112 V 110
ff. Erw. 2c mit zahlreichen Hinweisen auf die Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts; Gygi, a.a.O., S. 93 f.). Soweit die Rüge der Verletzung von Bundesrecht zulässig ist, kommen als Beschwerdegrund praktisch nur der verfassungsmässige und gesetzliche Anspruch der Prozessparteien auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schiedsrichter sowie das Willkürverbot nach
Art. 4 Abs. 1 BV
in Betracht (vgl.
BGE 114 V 205
Erw. 1a,
BGE 111 V 54
Erw. 4c,
BGE 110 V 136
Erw. 6).
Im Lichte der vorstehenden Ausführungen ist die Bestellung der nicht im Kanton wohnhaften Dr. G. und Dr. H. in das Schiedsgericht nach
Art. 89 KVG
des Kantons Thurgau von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden.
7.
(Kosten und Parteientschädigung) | null | nan | de | 1,998 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2da98e7e-7e13-4361-99bf-9056335cf5f9 | Urteilskopf
123 II 37
5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. November 1996 i.S. Bundesamt für Polizeiwesen gegen K. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Art. 32 Abs. 1,
Art. 16 Abs. 3 lit. a und
Art. 90 Ziff. 2 SVG
;
Art. 4a Abs. 1 lit. a VRV
; Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit innerorts, schwere Verkehrsgefährdung.
Wird die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts um 25 km/h oder mehr überschritten, ist ungeachtet der konkreten Umstände objektiv eine schwere Verkehrsgefährdung bzw. grobe Verkehrsregelverletzung gegeben (E. 1d). | Sachverhalt
ab Seite 37
BGE 123 II 37 S. 37
A.-
K. überschritt am 14. März 1996 um 11.44 Uhr mit seinem Personenwagen in Trimbach die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h um 26 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge von 5 km/h). Das Untersuchungsrichteramt des Kantons Solothurn bestrafte ihn deshalb mit Fr. 350.-- Busse. Der Entscheid ist rechtskräftig.
BGE 123 II 37 S. 38
Am 20. Juni 1996 entzog das Departement des Innern des Kantons Solothurn K. den Führerausweis für die Dauer eines Monats. Eine von K. dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn am 28. August 1996 teilweise gut, hob den Führerausweisentzug auf und verwarnte den Fahrzeuglenker.
B.-
Das Bundesamt für Polizeiwesen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichtes aufzuheben; K. sei der Führerausweis für die Dauer eines Monats zu entziehen.
Das Verwaltungsgericht und K. beantragen Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Die Geschwindigkeit ist stets den Umständen anzupassen, namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung sowie den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Wo das Fahrzeug den Verkehr stören könnte, ist langsam zu fahren und nötigenfalls anzuhalten, namentlich vor unübersichtlichen Stellen, vor nicht frei überblickbaren Strassenverzweigungen sowie vor Bahnübergängen (
Art. 32 Abs. 1 SVG
; SR 741.01). Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge beträgt unter günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen 50 km/h in Ortschaften (Art. 4a Abs. 1 lit. a der Verkehrsregelverordnung [VRV; SR 741.11]).
Gemäss
Art. 16 Abs. 2 SVG
kann der Führerausweis entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat (Satz 1). In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führerausweis muss entzogen werden, wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat (
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
).
Gemäss
Art. 90 Ziff. 1 SVG
wird mit Haft oder mit Busse bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. Nach
Art. 90 Ziff. 2 SVG
wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.
b) In schwerer Weise gefährdet den Verkehr im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von
Art. 90 Ziff. 2 SVG
eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Diese beiden Vorschriften stimmen inhaltlich miteinander überein (
BGE 120 Ib 285
).
BGE 123 II 37 S. 39
Art. 90 Ziff. 2 SVG
ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret gefährdet hat. Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines rücksichtslosen oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von
Art. 90 Ziff. 2 SVG
ist bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte Gefahr setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus (
BGE 122 II 228
E. 3b mit Hinweis).
c) Bei den Vorschriften über die Geschwindigkeit handelt es sich um grundlegende Verkehrsregeln. Sie sind wesentlich für die Gewährleistung der Sicherheit des Strassenverkehrs. Nach der Rechtsprechung gilt insoweit folgendes: Wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn um deutlich mehr als 30 km/h überschritten, sind die Voraussetzungen von Art. 90 Ziff. 2 bzw.
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
ungeachtet der konkreten Umstände erfüllt (
BGE 122 IV 173
E. 2c mit Hinweis). Eine solche deutliche Überschreitung der Grenze von 30 km/h hat das Bundesgericht bejaht bei einem Fahrzeuglenker, der auf der Autobahn die allgemeine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 37 km/h überschritten hatte (
BGE 118 IV 188
); ebenso bei Fahrzeuglenkern, die auf der Autobahn die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h bzw. 80 km/h um 35 km/h überschritten hatten (unveröffentlichte Urteile des Kassationshofes vom 18. März 1994 in Sachen Bundesamt für Polizeiwesen gegen T., E. 4a, und vom 25. September 1996 in Sachen W. gegen Kantonsgericht von Graubünden, E. 1d). Wird die Höchstgeschwindigkeit um wenig mehr als 30 km/h überschritten, sind die konkreten Umstände zu prüfen (
BGE 122 IV 173
E. 2b/bb mit Hinweis).
Diese Rechtsprechung gilt für Autobahnen. Wie in
BGE 122 IV 173
(E. 2c) hervorgehoben wurde, darf sie nicht unbesehen auf andere Konstellationen übertragen werden. Die gegenüber der Autobahn abweichende Gefahrenlage ist zu berücksichtigen. Bereits in
BGE 104 Ib 49
wurde gesagt, dass es nicht belanglos ist, ob die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn oder innerorts überschritten wurde und man nicht im Sinne einer absoluten Regel annehmen kann, dass der, welcher auf der Autobahn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 30 km/h überschreitet, dieselben Gefahren hervorruft wie der, welcher das innerorts tut (E. 3b).
BGE 123 II 37 S. 40
In
BGE 122 IV 173
äusserte sich das Bundesgericht zu den gegenüber der Autobahn abweichenden Gefahren auf nicht richtungsgetrennten Autostrassen. Das Risiko einer Frontalkollision mit schweren Folgen ist auf solchen Autostrassen wesentlich höher als auf richtungsgetrennten Autobahnen. Das Bundesgericht nahm deshalb an, dass bei nicht richtungsgetrennten Autostrassen ungeachtet der konkreten Umstände eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln gemäss
Art. 90 Ziff. 2 SVG
objektiv bereits dann gegeben ist, wenn die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 30 km/h oder mehr überschritten wurde (E. 2d).
d) Die Gefahrenlage innerorts unterscheidet sich wesentlich von der auf der Autobahn. Wie in
BGE 121 II 127
(E. 4b) dargelegt wurde, stellt eine übersetzte Geschwindigkeit gerade innerorts eine erhebliche Gefahr dar. Die Zahl der vom Lenker zu verarbeitenden Reize ist innerorts grösser als ausserorts und auf der Autobahn, was eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfordert. Zudem sind innerorts viele schwache Verkehrsteilnehmer vorhanden (Fussgänger, Velofahrer), die - vor allem Kinder und ältere Menschen - einem besonderen Risiko ausgesetzt sind. Darüber hinaus besteht eine erhöhte Gefahr von Seitenkollisionen. Die anderen Verkehrsteilnehmer dürfen sich, auch soweit sie wartepflichtig sind, auf den Vertrauensgrundsatz berufen (
BGE 120 IV 252
E. 2d/aa). Sie müssen sich nicht darauf einstellen, dass ein Fahrzeug innerorts mit einer übersetzten Geschwindigkeit wie hier herannaht (vgl.
BGE 118 IV 277
, wonach auf Hauptstrassen ausserorts, wo die allgemeine Höchstgeschwindigkeit nach Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV 80 km/h beträgt, generell mit Geschwindigkeiten von über rund 90 km/h nicht gerechnet werden muss). Welch schwerwiegende Folgen Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts, wo Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen häufig sind, haben können, zeigen physikalische Berechnungen: Fährt ein Auto mit einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 55 km/h statt mit einer solchen von 50 km/h, hat es dort, wo es bei einer Vollbremsung mit 50 km/h stillstehen würde, immer noch eine Geschwindigkeit von 28,2 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 60 km/h noch eine solche von 40,5 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 70 km/h noch eine solche von 59 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 80 km/h noch eine solche von 74,3 km/h. Derartige Aufprallgeschwindigkeiten können bei Fussgängern zu schwersten und tödlichen Verletzungen führen. Ab einer Kollisionsgeschwindigkeit von 20 km/h sind Becken- und Beinbrüche, ab
BGE 123 II 37 S. 41
einer solchen von 45 km/h tödliche Verletzungen sehr wahrscheinlich (Bericht von Prof. Dr. Felix Walz, Institut für Rechtsmedizin, Universität Zürich, vom 17. November 1994 zu Handen des Kassationshofes).
In Anbetracht dieser gegenüber der Autobahn erheblich abweichenden Gefahrenlage ist innerorts ungeachtet der konkreten Umstände objektiv eine grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von
Art. 90 Ziff. 2 SVG
bzw. eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
zu bejahen, wenn die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 25 km/h oder mehr überschritten wurde.
Die Rechtsprechung entspricht damit dem neuen Ordnungsbussenrecht, das ebenfalls unterscheidet, ob die Geschwindigkeitsvorschriften auf der Autobahn, auf der Autostrasse oder innerorts missachtet wurden und entsprechende Abstufungen vornimmt (vgl. Ziff. 303 des Anhangs 1 der am 1. September 1996 in Kraft getretenen neuen Ordnungsbussenverordnung [AS 1996 S. 1088]).
e) Wird die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts um weniger als 25 km/h überschritten, sind die konkreten Umstände zu prüfen. Eine grobe Verkehrsregelverletzung kann auch insoweit gegeben sein, ja sogar da, wo sich der Lenker im Rahmen der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit hält. Wie bereits in
BGE 121 II 127
hervorgehoben wurde, darf die allgemeine Höchstgeschwindigkeit gemäss
Art. 4a Abs. 1 VRV
nicht unter allen Umständen ausgefahren werden, sondern nur bei günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Fährt der Lenker beispielsweise innerorts mit 50 km/h nahe an einer Gruppe spielender Kinder vorbei, kommt die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung in Betracht (vgl.
BGE 120 Ib 312
, wo das Bundesgericht eine schwere Verkehrsgefährdung nach
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
bejaht hat bei einem Fahrzeuglenker, der trotz starkem Regen auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h fuhr und infolge Aquaplanings ins Schleudern geriet [E. 4c]).
f) Wer die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts um 25 km/h oder mehr überschreitet, tut das in der Regel mindestens grobfahrlässig. Der subjektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung ist hier deshalb regelmässig zu bejahen. Eine Ausnahme kommt etwa da in Betracht, wo der Lenker aus nachvollziehbaren Gründen gemeint hat, er befinde sich noch nicht oder nicht mehr im
BGE 123 II 37 S. 42
Innerortsbereich. Eine solche Ausnahmesituation ist hier nicht ersichtlich.
g) Der Ausweis ist dem Beschwerdegegner danach in Anwendung von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
obligatorisch zu entziehen. Die beantragte Entzugsdauer entspricht dem gesetzlichen Minimum (
Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG
). Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird deshalb gutgeheissen und dem Beschwerdegegner der Führerausweis für die Dauer eines Monats entzogen.
2.
(Kostenfolgen). | public_law | nan | de | 1,996 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2daa7174-a531-4d07-a846-c3418fa5be42 | Urteilskopf
99 IV 41
9. Extrait de l'arrêt de la Cour de cassation pénale du 18 mai 1973 dans la cause Cygan contre Ministère public du canton de Vaud. | Regeste
Art. 43 Ziff. 4 Abs. 1 JVG
.
Das Verbot der Schrotflinten mit grösserem Kaliber als 12 erstreckt sich auch auf sog. Entenkanonen. | Sachverhalt
ab Seite 42
BGE 99 IV 41 S. 42
A.-
En décembre 1971 et janvier 1972, E. Cygan a chassé à plusieurs reprises le canard, sur le lac de Morat, avec un bateau équipé d'une canardière de 39 mm de calibre.
Le préfet du district d'Avenches lui a infligé une amende de 125 fr. pour contravention aux art. 43 ch. 4 al. 1 LCho et 12 al. 2 de l'ordonnance d'exécution du 7 juin 1971.
B.-
Le Ministère public vaudois ayant fait opposition à ce prononcé, le juge informateur de l'arrondissement de Payerne-Avenches a rendu, le 4 décembre 1972, une ordonnance de non-lieu, que le Tribunal d'accusation a maintenue, le 2 février 1973.
C.-
Contre cet arrêt, le Ministère public de la Confédération se pourvoit en nullité au Tribunal fédéral. Il conclut au renvoi de la cause à l'autorité cantonale, en vue de l'ouverture d'une nouvelle procédure qui aboutisse à la condamnation de l'inculpé.
D.-
Ce dernier conclut au rejet du pourvoi.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
(Recevabilité du pourvoi).
2.
Aux termes de l'art. 43 ch. 4 al. 1 LCho (version du 23 mars 1962), est puni d'une amende de 100 à 400 fr. celui notamment qui porte ou utilise pour chasser des fusils à grenaille d'un calibre supérieur à 12 (18,2 mm). La canardière utilisée par Cygan est-elle un fusil à grenaille au sens de cette disposition?
Selon l'ordonnance de non-lieu, l'art. 43 ch. 4 al. 1 LCho ne mentionne pas les canardières, qui ne sauraient être assimilées aux fusils, armes portatives.
a) Le projet de revision de la loi sur la chasse énonçait à l'art. 43 ch. 4 al. 1:
"Celui qui porte ou utilise pour chasser ... des canardières dont le canon a un diamètre supérieur à 23.4 mm (d'un calibre supérieur au no 4) ... est puni d'une amende de 100 à 400 fr.".
Le Conseil fédéral exposait dans le message que les canardières, qui sont interdites par la nouvelle convention internationale pour la protection des oiseaux, sont prohibées par le fait même que les canons d'un diamètre supérieur à 23.4 mm
BGE 99 IV 41 S. 43
ou les calibres dépassant le no 4 ne sont pas autorisés (FF 1961 II 423). Sur proposition de sa commission, le Conseil des Etats a toutefois modifié le texte du projet en mentionnant, à la place des canardières, les fusils à grenaille d'un calibre supérieur à 12. Le rapporteur a déclaré, à l'appui de cette proposition (Bull. st. CE 1961 p. 255):
"Es werden hier Entengewehre mit grösserem Rohrdurchmesser als 23.4 - also grösser als Kaliber 4 - verboten. Aber auch Kaliber 4 ist eine fürchterliche Munition. Hier sehen Sie eine solche Patrone. Darum schlagen wir vor, sie dürfen nicht grösser sein als Kaliber 12 ... Mit diesen Patronen schiesst man auf einzelne Tiere, einzelne Enten usw. Mit Kaliber 4 schiessen ganz gewöhnliche ,Schiesser', die in eine Herde Enten schiessen, welche ruhig auf dem Wasser liegt; sie treffen dann vielleicht eine oder zwei so, dass sie tödlich verletzt sind, ein grösserer Teil wird verletzt. Ich bin dafür, dass man solche Munition verbietet."
La proposition fut admise et le Conseil national s'y rallia sans discussion.
Il est significatif que, pour motiver une proposition tendant à remplacer la mention des canardières par celle des fusils à grenaille d'un certain calibre, le rapporteur ait commencé par affirmer: "Es werden hier Entengewehre mit grösserem Rohrdurchmesser als 23.4 - also grösser als Kaliber 4 - verboten", ce qui correspond au texte initial du projet. Il faut en déduire que le parlement n'a rien changé à l'intention d'interdire l'utilisation des canardières: il les a simplement englobées dans la notion jugée plus générale des fusils à grenaille, puisque la grenaille est la seule munition des canardières. La volonté de se conformer à la convention internationale sur la protection des oiseaux du 18 octobre 1950 - entrée en vigueur pour la Suisse le 26 octobre 1956 (ROLF 1955, 1062) - n'a pas été mise en doute lors des débats parlementaires. Or elle tend à faire cesser tant l'usage des canardières que celui des armes à feu autres que celles susceptibles d'être épaulées (art. 5 al. 2 litt. b et f).
Pour ces raisons la thèse du silence qualifié n'est pas fondée. Emise par le Ministère public vaudois, elle n'a d'ailleurs été reprise ni par le juge informateur ni par le Tribunal d'accusation.
b) La canardière utilisée par l'intimé était montée sur un affût. S'ensuit-il qu'elle n'est pas assimilable à un fusil? Le recourant soutient qu'un fusil ne change pas de dénomination
BGE 99 IV 41 S. 44
et reste un fusil quand il est fixé sur un affût. C'est exact, mais non pertinent, car il arrive qu'un même nom serve à désigner des objets différents. Ainsi, dans le domaine des armes, personne n'aurait l'idée de classer dans une même catégorie une bombarde et une bombarde à main. Or on distingue deux types de canardières: le fusil canardier et le canon canardier. Le premier, qui s'épaule, est un fusil classique, de gros calibre (10, soit 19.7 mm, à 4, soit 23.4. mm), à long canon (70 cm à 1 m contre 60 à 70 cm pour un fusil normal), d'un poids de 3,5 à 5 kg (pour 3 kg environ au fusil de calibre 12), permettant de tirer une charge de grenaille inférieure à 100 g à une distance utile de moins de 80 m. Le second est comparable à une petite pièce d'artillerie, il est monté à tourillons ou sur un dispositif anti-recul, il est le plus souvent dépourvu de crosse. Le calibre en est de 26 mm à 50 mm, le canon mesure de 2 m à 2 m 50 et le poids varie de 35 à 70 kg. Ces engins projettent une charge de grenaille de 155 g à 700 g à une portée de 80 à 150 m. Ce modèle est plus efficace que l'autre en raison de la supériorité des caractéristiques balistiques, mais il est trop lourd et encombrant pour être transporté facilement sans l'aide d'un véhicule. Il n'est pas assimilable à un fusil au sens habituel du terme, au point de vue de la forme et du mode d'emploi. En revanche il a la même destination qui est de servir à chasser le gibier de plume vivant sur l'eau et dans les marais.
c) La Commission intercantonale de la chasse sur le lac de Neuchâtel lui ayant fait savoir, par lettre du 3 décembre 1963, que la canardière sur affût ne tombait pas, à son avis, sous le coup de l'art. 43 ch. 4 al. 1 LCho, le Conseil fédéral lui répondit, le 26 juin 1964, que les autorités fédérales interprétaient cette disposition en ce sens que par "fusils à grenaille" on entend aussi les canons à grenaille, donc également les canardières sur affût. Bien que l'assimilation des deux armes ne puisse se fonder que sur leur destination commune, cette interprétation reprise à l'art. 12 al. 2 de l'Ordonnance d'exécution du 7 juin 1971 est seule conforme à la ratio legis. L'interdiction d'utiliser des fusils à grenaille d'un calibre supérieur à 12 serait illusoire si les chasseurs pouvaient se servir impunément de canons à grenaille, plus meurtriers pour le gibier. Le projet du Conseil fédéral visait toutes les canardières, sans distinction. En les comprenant dans la catégorie des fusils à grenaille, les
BGE 99 IV 41 S. 45
Chambres fédérales n'ont en tout cas pas restreint la prohibition envisagée.
Il s'ensuit que les éléments objectifs de l'infraction définie par l'art. 43 ch. 4 al. 1 LCho sont réunis.
Dispositiv
Par ces motifs, la Cour de cassation pénale:
Admet le pourvoi. | null | nan | fr | 1,973 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2dadb382-c691-4e3f-a830-b0590e44c3ef | Urteilskopf
106 Ib 193
30. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 28. März 1980 i.S. Bundesamt für Justiz gegen Jenner und Stucky (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland.
1. Die Volljährigkeit eines Ausländers, der ein Gesuch um Erteilung der Bewilligung zum Erwerb eines Grundstückes in der Schweiz stellt, ist nach dem Recht seines Heimatstaates zu beurteilen (E. 1).
2. Wohnsitz im Sinne von
Art. 4 BewB
; Fall eines Ausländers, der sich zu Studienzwecken in der Schweiz aufhält (E. 2).
3. Die Fälle, in denen ein berechtigtes Interesse am Erwerb eines Grundstückes in der Schweiz besteht, sind in
Art. 6 Abs. 2 BewB
abschliessend aufgezählt; berechtigtes Interesse vorliegend verneint (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 193
BGE 106 Ib 193 S. 193
Udo Jenner, geboren am 9. Mai 1960, ist deutscher Staatsangehöriger und hält sich seit September 1974 als Internatsschüler des Instituts Montana auf dem Zugerberg auf. Er beabsichtigt,
BGE 106 Ib 193 S. 194
sein Maturitätsexamen im Jahre 1980 abzulegen und anschliessend ein Studium an der Universität Zürich aufzunehmen. Seit dem 6. September 1974 besitzt Jenner eine Aufenthaltsbewilligung für Schüler.
Mit öffentlicher Urkunde vom 23. November 1977 verkaufte Fritz Stucky, Architekt in Baar, Udo Jenner ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück in der zugerischen Gemeinde Neuheim. Dieser Kaufvertrag wurde unter dem Vorbehalt geschlossen, dass dem Käufer die nach dem Bundesbeschluss über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (BewB) erforderliche Bewilligung erteilt werde. Am 25. August 1978 verweigerte die Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zug Jenner die Bewilligung, das genannte Grundstück zu erwerben. Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus, einerseits sei der Bewerber nach schweizerischem Recht minderjährig und deshalb nicht handlungsfähig, anderseits sei die Annahme nicht von der Hand zu weisen, dass der Bewerber mit dem Grundstückskauf eine Kapitalanlage beabsichtige, ohne sich über ein berechtigtes Interesse im Sinne des Bewilligungsbeschlusses ausweisen zu können. Auf Beschwerde des Verkäufers Stucky und des Käufers Jenner hob das Verwaltungsgericht des Kantons Zug am 18. Oktober 1978 den Entscheid der Volkswirtschaftsdirektion auf und wies die Sache zur Erteilung der Bewilligung an diese zurück.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Justiz, es sei der Entscheid des Verwaltungsgerichtes des Kantons Zug vom 19. Oktober 1978 aufzuheben und die nachgesuchte Bewilligung zum Erwerb des genannten Grundstücks zu verweigern.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesamt für Justiz macht zunächst (gleich wie zuvor die Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zug) geltend, im vorliegenden Fall richte sich die Handlungsfähigkeit von Udo Jenner nach schweizerischem Recht. Die Anwendung ausländischen Rechts stehe hier dem Zweck des BewB entgegen und müsse auch unter Berufung auf den schweizerischen ordre public verweigert werden. Jenner, der somit als minderjährig zu betrachten sei, habe ohne Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters keine gültigen Rechtshandlungen vornehmen können.
BGE 106 Ib 193 S. 195
Sein Gesuch um Bewilligung des Grundstückerwerbs und seine Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Zug seien aus diesem Grund rechtlich nicht zulässig gewesen und die Behörden des Kantons Zug hätten auf die Sache nicht eintreten dürfen. Die Beschwerdegegner vertreten andererseits die Auffassung, die Handlungsfähigkeit des Käufers bestimme sich nach deutschem Recht.
a) Der Bewilligungsbeschluss enthält keine besonderen Regeln über die Fähigkeit ausländischer Personen, bewilligungspflichtige Rechtsgeschäfte abzuschliessen und vor Verwaltungs- und Gerichtsbehörden aufzutreten. Eine solche Regel kann, entgegen der Auffassung des beschwerdeführenden Amtes, auch nicht aus dem Zweck dieses Beschlusses abgeleitet werden. Insbesondere ergibt sich daraus nicht, dass im Anwendungsbereich des BewB die Handlungsfähigkeit ausländischer Personen nach schweizerischem Recht zu beurteilen sei. Der BewB verfolgt das Ziel, den Verkauf von Grundstücken an Ausländer einzuschränken, ohne dabei die nach schweizerischem Recht noch nicht handlungsfähigen Personen benachteiligen zu wollen. Da weder aus dem Wortlaut, noch aus dem Zweck des BewB eine Regel zur Beurteilung der Handlungsfähigkeit ausländischer Personen hervorgeht, ist diese Frage auch im Anwendungsbereich des BewB nach den internationalprivatrechtlichen Normen, nach denen sich die Handlungsfähigkeit ausländischer Personen im allgemeinen richtet, zu entscheiden. Der schweizerische ordre public ist dabei nicht betroffen.
b) Der Kaufvertrag wurde im vorliegenden Fall am 23. November 1977 geschlossen. An diesem Datum hatte der Käufer Jenner, der am 9. Mai 1960 geboren ist, das 18. Altersjahr noch nicht vollendet. Er war somit sowohl nach schweizerischem als auch nach deutschem Recht minderjährig und daher noch nicht handlungsfähig (
Art. 14 Abs. 1 ZGB
, § 2 BGB). Bei dieser Rechtslage konnte sich Jenner mit dem Abschluss des Kaufvertrages nur unter Mitwirkung seines gesetzlichen Vertreters gültig verpflichten (
Art. 19 ZGB
, § 107 BGB). Weder der Kaufvertrag vom 23. November 1977 noch sonst ein Schriftstück, das den kantonalen Behörden eingereicht wurde, weist jedoch auf eine Zustimmung durch seinen gesetzlichen Vertreter hin. Es ist daher davon auszugehen, dass sich Jenner mit dem erwähnten Kaufvertrag nicht rechtsgültig verpflichtet hat.
BGE 106 Ib 193 S. 196
Im schweizerischen wie im deutschen Recht sind Rechtsgeschäfte, die von urteilsfähigen unmündigen oder entmündigten Personen ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters getätigt werden, nicht nichtig, sie sind vielmehr gültig, wenn dieser ausdrücklich oder konkludent zustimmt oder nachträglich genehmigt. Ausserdem kann eine Person Rechtsgeschäfte, welche sie vor Erreichen der Mündigkeit abgeschlossen hat, nach Eintritt der Mündigkeit genehmigen (BGE
BGE 82 II 172
, § 108 Abs. 3 BGB). Diese Genehmigung durch die mündiggewordene Person ist an keine Form gebunden, selbst dann nicht, wenn das derart genehmigte Rechtsgeschäft formbedürftig ist (
BGE 75 II 341
; STAUDINGER, Kommentar zum (deutschen) Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl., N. 18 zu § 108).
Jenner ist nach deutschem Recht seit dem 9. Mai 1978 volljährig (§ 2 BGB). Wenn dieses Recht anwendbar ist, muss davon ausgegangen werden, dass er nach Erreichen der Mündigkeit, mindestens konkludent den fraglichen Kaufvertrag genehmigt hat. Er konnte in diesem Fall ferner rechtsgültig am 28. Juni 1978 eine Bewilligung zum Erwerb des Grundstücks beantragen sowie vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug Beschwerde führen. Nach schweizerischem Recht hingegen hätte Jenner die Möglichkeit nicht gehabt, diese Handlungen gültig vorzunehmen, da er im massgebenden Zeitraum noch unmündig war. Es ist daher zu entscheiden, nach welchem Recht seine Handlungsfähigkeit beurteilt werden muss.
c) Nach
Art. 59 SchlT ZGB
bleibt das Bundesgesetz vom 25. Juni 1891 betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter (NAG) für die Rechtsverhältnisse der Schweizer im Ausland und der Ausländer in der Schweiz in Kraft. Dieses Gesetz behält seinerseits in Art. 34 die Anwendbarkeit von Art. 10 Abs. 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1881 betreffend die persönliche Handlungsfähigkeit (AS Bd. V, 1880-81, S. 556) vor. Diese beiden Absätze von Art. 10 sind deshalb weiterhin in Kraft, obschon das Gesetz über die persönliche Handlungsfähigkeit durch
Art. 60 Abs. 2 SchlT ZGB
an sich aufgehoben worden ist (
BGE 61 II 17
mit Hinweis).
Nach Art. 10 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die persönliche Handlungsfähigkeit richtet sich die Handlungsfähigkeit der Ausländer in der Schweiz nach dem Recht ihres Heimatstaates. Dieser internationalprivatrechtliche Grundsatz ist von der
BGE 106 Ib 193 S. 197
Rechtsprechung verschiedentlich bestätigt worden (
BGE 82 II 172
mit Hinweisen). Zwar vermag sich der Ausländer gemäss Art. 10 Abs. 3 des genannten Gesetzes in der Schweiz durch seine hier vorgenommenen Rechtsgeschäfte gültig zu verpflichten, wenn er nach schweizerischem Recht handlungsfähig wäre, auch wenn ihm nach seinem Heimatrecht die Handlungsfähigkeit fehlt (vgl. auch
Art. 7b Abs. 1 NAG
). Es handelt sich bei dieser Bestimmung jedoch um eine Ausnahme im Interesse der Rechtssicherheit. Entgegen der Auffassung der erstinstanzlichen Bewilligungsbehörde ist die Handlungsfähigkeit aber nicht generell nach schweizerischem Recht zu beurteilen, sobald ein Rechtsgeschäft unter Anwesenden in der Schweiz abgeschlossen worden ist.
Im vorliegenden Fall ist somit davon auszugehen, dass sich die Handlungsfähigkeit des Käufers Jenner nach dessen Heimatrecht richtet. Nach diesem Recht wurde Jenner am 9. Mai 1978 mündig und erwarb damit die Handlungsfähigkeit. Er konnte demnach den Kaufvertrag vom 23. November 1977 gültig genehmigen und war zur Einreichung eines Gesuchs bei der Volkswirtschaftsdirektion sowie zur Beschwerdeführung vor Verwaltungsgericht fähig.
2.
Jenner bestreitet nicht, dass er für den Erwerb eines Grundstückes in der Schweiz einer Bewilligung im Sinne des BewB bedarf. Die Frage der Unterstellung unter die Bewilligungspflicht ist jedoch vom Bundesgericht vom Amtes wegen zu prüfen (
BGE 104 Ib 143
E. 1).
Nach
Art. 1 BewB
bedarf der Erwerb von Grundstücken in der Schweiz durch Personen mit Wohnsitz im Ausland der Bewilligung der zuständigen kantonalen Behörde. Als Personen mit Wohnsitz im Ausland gelten u.a. natürliche Personen, die ihren Wohnsitz nicht in der Schweiz haben (
Art. 3 lit. a BewB
). Als Wohnsitz im Sinne des BewB ist ein zivilrechtlicher Wohnsitz zu betrachten, der ununterbrochen mehr als fünf Jahre gedauert hat (
Art. 4 BewB
).
Der Beschwerdegegner Jenner hält sich seit mehr als fünf Jahren aufgrund einer regelmässig verlängerten Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz auf. Bis zu seiner Mündigkeit am 9. Mai 1978 teilte er jedoch von Gesetzes wegen den ausländischen Wohnsitz seines Vaters (
Art. 25 Abs. 1 ZGB
). Aber auch nach Erreichen der Volljährigkeit konnte er in der Schweiz keinen Wohnsitz begründen, da ein Aufenthalt zu Studienzwecken
BGE 106 Ib 193 S. 198
keine Voraussetzung dafür schafft (
Art. 26 ZGB
; Urteil vom 14. Februar 1977 in ZGBR 59/1978, S. 242 E. 3a). Er ist somit als Person mit Wohnsitz im Ausland zu betrachten. Da auch keine Ausnahme im Sinne von
Art. 5 BewB
zutrifft, bedarf ein von ihm abgeschlossener Grundstückerwerb der Bewilligung durch die zuständige kantonale Behörde.
3.
Die Bewilligung zum Erwerb eines Grundstückes in der Schweiz wird erteilt, wenn der Erwerber mit Wohnsitz im Ausland ein berechtigtes Interesse am Erwerb nachweist (
Art. 6 Abs. 1 BewB
). Die Fälle, in denen ein berechtigtes Interesse am Erwerb besteht, sind in
Art. 6 Abs. 2 BewB
abschliessend aufgezählt (Urteil vom 27. Oktober 1972 in ZGBR 54/1973 S. 119 E. 3, Urteil vom 27. Oktober 1972 in ZGBR 54/1973 S. 124 E. 2). Im vorliegenden Fall, bei dem es sich um den Erwerb einer Zweitwohnung handelt, ist zu untersuchen, ob eine der in
Art. 6 Abs. 2 lit. a BewB
genannten Voraussetzungen erfüllt ist.
a) Die Vorinstanz hat zu Unrecht angenommen, die Bewilligung könne in Anwendung von Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 erteilt werden. Nach dieser Bestimmung ist ein berechtigtes Interesse anzunehmen, wenn aussergewöhnlich enge geschäftliche oder andere schutzwürdige Beziehungen des Erwerbers zum Ort des zu erwerbenden Grundstückes bestehen. Jenner hält sich seit September 1974 im Internat Montana auf dem Zugerberg (Gemeinde Zug) auf, während das Grundstück, das er erwerben will, in Neuheim, d.h. in einer anderen Gegend des Kantons Zug liegt. Jenner macht nicht geltend, er unterhalte zur Gemeinde Neuheim besonders enge Beziehungen. Er behauptet auch nicht, er unterhalte zu einer Nachbargemeinde von Neuheim besonders enge Beziehungen, welche denjenigen zum Ort des zu erwerbenden Grundstücks gleichgestellt werden (
Art. 12 BewV
). Bei dieser Sachlage kann die Bewilligung aufgrund von Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 BewB nicht erteilt werden.
b) Die Vorinstanz hat ferner zu Unrecht Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 2 BewB angewendet. Die Fremdenpolizei hat Jenner eine Aufenthaltsbewilligung für einen Aufenthalt im Institut Montana auf dem Zugerberg, d.h. in der Gemeinde Zug erteilt. Eine Bewilligung für den Aufenthalt in der Gemeinde Neuheim, wo sich das fragliche Grundstück befindet, stand nie zur Diskussion. Jenner kann sich folglich nicht darauf berufen, er halte sich im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 2 BewB "mit Bewilligung der Fremdenpolizei" am Ort des zu erwerbenden Grundstücks auf.
BGE 106 Ib 193 S. 199
c) Schliesslich ist die Gemeinde Neuheim kein Ort, dessen Wirtschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 BewB vom Fremdenverkehr abhängt. Eine Bewilligung kann daher, was unbestritten ist, auch aufgrund dieser Bestimmung nicht erteilt werden.
d) Da im vorliegenden Fall keine der in Art. 6 Abs. 2 lit. a genannten Voraussetzungen zutreffen, kann Jenner die Bewilligung zum Erwerb der Parzelle Nr. 410 von Neuheim nicht erteilt werden. Die Vorinstanz hat daher mit dem angefochtenen Entscheid, in dem sie die Erteilung der Bewilligung anordnete, Bundesrecht verletzt. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde des Bundesamtes für Justiz. Bei dieser Rechtslage braucht nicht geprüft zu werden, ob Jenner die Parzelle Nr. 410 des Grundbuches Neuheim im Auftrag und für Rechnung einer Drittperson (z.B. seines Vaters) zu erwerben beabsichtigt und ob daher ein Umgehungsgeschäft vorliegt.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 19. Oktober 1978 aufgehoben und die Bewilligung zum Erwerb des Grundstückes GBP 410 in der Gemeinde Neuheim verweigert. | public_law | nan | de | 1,980 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2db0ab62-a688-4a1f-b3e5-b038bc1dd44e | Urteilskopf
102 V 112
25. Arrêt du 5 mai 1976 dans la cause Petter contre Caisse interprofessionnelle romande d'AVS des syndicats patronaux et Commission cantonale genevoise de recours en matière d'assurance-vieillesse et survivants | Regeste
Nachzahlung von Leistungen bei verspäteter Geltendmachung (
Art. 48 Abs. 2 IVG
).
Natur der Frist, innert welcher das Gesuch eingereicht werden muss.
Wiederherstellung dieser Frist. | Sachverhalt
ab Seite 112
BGE 102 V 112 S. 112
A.-
Petter a dû cesser pratiquement toute activité professionnelle depuis le 1er juin 1971 sous l'effet d'une grave dépression. Il s'est annoncé à l'assurance-invalidité le 11 janvier 1974. Considérant que le requérant souffrait d'une affection évolutive, qu'il aurait donc eu droit à une rente dès le 1er mai 1972 mais qu'il avait déposé sa demande tardivement, l'administration le mit le 18 octobre 1974 au bénéfice d'une rente entière d'invalidité depuis le 1er janvier 1973.
B.-
L'assuré essaya le 4 juin 1974 de travailler de nouveau; cela avec succès. Au cours des mois qui suivirent, il reçut un salaire net supérieur à la moitié de celui que, dans le cours normal des choses, il gagnerait s'il n'était pas atteint d'une infirmité. Le 27 novembre 1974, l'assurance-invalidité supprima la rente avec effet dès et y compris le mois suivant.
C.-
L'assuré recourut contre la décision du 18 octobre 1974, en concluant à ce que la rente lui fût aussi accordée pour la période antérieure à janvier 1973. Selon lui, il avait été empêché sans sa faute de s'annoncer à l'assurance-invalidité avant le début de 1974.
Il recourut également contre la décision du 27 novembre 1974, en contestant avoir perdu moins de la moitié de sa capacité de gain.
Statuant en un seul jugement sur les deux recours, la Commission cantonale genevoise de recours en matière d'assurance-vieillesse et survivants les rejeta le 3 octobre 1975.
BGE 102 V 112 S. 113
D.-
Agissant pour le compte de Petter, Me S. a formé en temps utile un recours de droit administratif contre la décision cantonale. Il expose en substance qu'en 1972 et 1973 la santé psychique de son client était altérée au point que celui-ci se trouvait hors d'état de faire une démarche auprès de l'assurance-invalidité; que les médecins traitants et autres spécialistes estimaient une rente de l'assurance-invalidité contre-indiquée; qu'ils avaient convaincu la femme du recourant; que ce dernier n'avait recouvré qu'en janvier 1974 assez d'énergie pour déposer une demande; que la commission cantonale de recours aurait dû instruire sur la vérité de ces allégations, reconnaître que le recourant s'était trouvé sans sa faute dans l'impossibilité d'agir plus tôt et lui accorder une rente dès la première date utile. Il conclut à l'annulation du jugement attaqué et, semble-t-il, au renvoi de la cause à la juridiction cantonale, afin qu'elle complète l'instruction et prenne une nouvelle décision.
La caisse intimée s'en remet à justice, alors que l'Office fédéral des assurances sociales propose de rejeter le recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
a) Aux termes de l'art. 48 al. 2 LAI, si l'assuré présente sa demande plus de 12 mois après la naissance du droit, les prestations ne sont allouées que pour les 12 mois précédant le dépôt de la demande; elles sont accordées pour une période antérieure si l'assuré ne pouvait pas connaître les faits ouvrant droit à des prestations et qu'il présente sa demande dans les 12 mois dès le moment où il en a eu connaissance.
La seconde phrase de cette disposition légale s'applique lorsque l'assuré ne savait pas et ne pouvait savoir qu'il était atteint d'une diminution de la capacité de gain de la moitié au moins (un tiers dans les cas pénibles), permanente ou d'une durée supérieure à 360 jours, provenant d'une infirmité congénitale, d'une maladie ou d'un accident. Ce sont là les conditions objectives du droit à la rente. Cette seconde phrase ne concerne pas les cas où l'assuré connaissait les faits précités mais ignorait qu'ils donnent droit à une rente de l'assurance-invalidité (voir par exemple RO 100 V 114, plus spécialement 119/120 consid. 2c). L'art. 48 al. 2 LAI institue ainsi un délai (que l'on pourrait qualifier de délai sui generis;
BGE 102 V 112 S. 114
cf. ZWEIFEL, Zeitablauf als Untergangsgrund öffentlich-rechtlicher Ansprüche, Bâle 1960, p. 82 ad art. 16 al. 2 LAVS) de péremption ("Verwirkung"; voir par exemple RCC 1970 p. 472), qui par conséquent ne saurait être ni interrompu ni suspendu (OSER/SCHÖNENBERGER, Das Obligationenrecht, 2e éd., pp. 639 ss, plus spécialement notes 9 p. 641, 4 p. 650, 17 p. 656; TH. GUHL, Das schweizerische Obligationenrecht, 6e éd., p. 278; P. ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, Neuchâtel 1973, p. 537; J. A. WYSS, La péremption dans le code civil suisse, thèse de Lausanne, 1957, p. 36 et les auteurs cités; ZWEIFEL, op.cit., p. 23), mais dont la seconde phrase de l'al. 2 accorde la restitution à celui qui a connaissance tardivement des faits dont il faut déduire son droit.
b) Le recourant avait conscience dès le mois de juin 1972 d'être incapable de gagner sa vie depuis plus de 360 jours pour cause de maladie. Il ne saurait donc se prévaloir de la seconde phrase de l'art. 48 al. 2 LAI pour échapper à la péremption instituée dans la première. Aussi bien invoque-t-il un moyen que la LAI ignore: l'impossibilité où il se serait trouvé d'agir avant janvier 1974. Le silence de la loi ne signifie pas forcément que le moyen soit irrecevable; il appartient en effet au juge de combler les lacunes proprement dites de la loi selon l'art. 1er al. 2 CC (voir par exemple RO 99 V 19). Or la Cour de céans a déjà jugé que la restitution du délai de demande de l'art. 48 al. 2 LAI n'est pas exclue mais suppose des conditions très particulières (voir ATFA 1962 p. 361; RCC 1970 p. 472, plus spécialement p. 473 consid. 3; 1968 p. 374; 1967 p. 259; 1963 p. 233). La question se pose de savoir si cette jurisprudence doit être maintenue, et, si oui, sur quelle base juridique.
2.
a) Une restitution de délai - expressément prévue dans certaines circonstances par l'art. 48 al. 2 LAI, on l'a vu plus haut - n'est pas incompatible avec l'institution de la péremption (v. H. BECKER, Obligationenrecht, 1. Abt., Bern 1941, note 5 ad art. 130 CO p. 680; ENGEL, op.cit., p. 551; GUHL, op.cit., p. 278; WYSS, op.cit., pp. 107 ss; ZWEIFEL, op.cit., pp. 24-25 et 50; s'agissant d'adhésion à l'AVS facultative, v. RO 97 V 213 et la jurisprudence citée; C. VAUTIER, SJZ 1951, vol. 47, pp. 271 ss); d'ailleurs, il arrive que la loi fasse courir le délai de péremption à partir de la connaissance d'un fait
BGE 102 V 112 S. 115
(voir art. 127 et 253 CC); on pourrait considérer que l'art. 48 al. 2 LAI fait courir un délai de péremption particulier, de 12 mois également, dans les circonstances prévues. A propos de la prescription, réglée par l'art. 134 CO, la doctrine n'est pas unanime. Suivant BECKER (op.cit., ad art. 134 CO note 9 p. 668), le juge devrait compléter le code et admettre que la prescription ne court pas pendant que le créancier est empêché de faire valoir son droit par un cas de force majeure, à la condition qu'il s'agisse véritablement de force majeure et non d'un contretemps banal ("bloss gewöhnlicher Zufall"), tel qu'une indisposition ("Erkrankung"). Sont d'un avis contraire: VON TUHR, Partie générale du Code fédéral des obligations, trad. DE TORRENTÉ/THILO, Lausanne 1931, vol. 2, p. 614, et OSER/SCHÖNENBERGER, op.cit., ad art. 134 CO n. 12 p. 652.
Dans ces conditions, la Cour de céans a eu raison de considérer comme une véritable lacune, due à une inadvertance du législateur, l'absence à l'art. 48 al. 2 LAI d'une disposition relative à l'impossibilité d'agir pour cause de force majeure. Il est juste d'assimiler à la demande présentée dans l'année qui suit la naissance du droit celle que l'assuré empêché d'agir à temps par un cas de force majeure présente plus tard, dans un délai convenable - qu'il n'est pas indispensable de préciser dans le présent arrêt - après la cessation de l'empêchement. Car il serait difficilement concevable qu'un malade, frappé par exemple d'une attaque qui le laisse conscient mais incapable de s'exprimer, et cependant dépourvu de représentant légal, pâtisse de la péremption instituée par la disposition précitée. Mais encore faut-il, ici aussi, qu'il s'agisse d'une impossibilité objective, s'étendant sur la période au cours de laquelle l'assuré se serait vraisemblablement annoncé à l'assurance-invalidité s'il l'avait pu, et non d'une difficulté ou d'un motif subjectif, comme d'ignorer son droit ou de mal concevoir ses intérêts.
b) On pourrait songer, il est vrai, à recourir aujourd'hui au système des art. 24 LPA - applicable en matière d'assurance-invalidité en vertu des art. 81 LAI et 96 LAVS - ainsi que 35 OJ dans le cadre de l'art. 48 al. 2 LAI. L'administration saisie d'une requête tardive pourrait donc accorder la restitution du délai d'une année, lorsque le requérant ou son mandataire a été empêché, sans sa faute, d'agir en temps utile et
BGE 102 V 112 S. 116
qu'une demande motivée de restitution et la demande de prestation soient présentées dans les dix jours à compter de celui où l'empêchement a cessé. Du point de vue de la protection de l'assuré, cette solution est plus favorable que celle exposée ci-dessus, dans ce sens qu'elle permet d'être moins strict dans l'appréciation des motifs de l'empêchement. Elle l'est moins, dans ce sens qu'elle impose à l'assuré défaillant un délai très bref pour remédier à la situation. Toutefois les
art. 32 à 35
OJ régissent les délais applicables aux actes de procédure exécutés devant le Tribunal fédéral et le Tribunal fédéral des assurances. L'art. 24 LPA, les délais applicables à la procédure administrative en matière de décision et de recours à d'autres autorités fédérales.
Contrairement à ce qui se passe lorsqu'une personne n'utilise pas un délai fixé par le droit matériel pour exercer un droit, l'inobservation d'un délai de procédure n'a pas d'influence directe sur l'existence du droit litigieux ou l'exigibilité de la prestation litigieuse, mais seulement sur la marche de l'instance (v. WYSS, op.cit., pp. 24 ss). Donc, dans le système du droit suisse, l'extinction d'un droit ou du caractère obligatoire de la prestation qui en est l'objet ne relève pas de la procédure; elle appartient au fond du droit (VON TUHR, op.cit., trad. DE TORRENTÉ/THILO, à propos de la prescription, p. 603; ENGEL, op.cit. pp. 537-538), de sorte que, par exemple, ce sont les normes du code des obligations (art. 77 et 78 CO) qui régissent la supputation des délais de prescription, et non les lois de procédure (VON TUHR, op.cit., trad. DE TORRENTÉ/THILO, p. 611). Prescription et péremption obéissent à cet égard aux mêmes règles. Elles diffèrent en revanche en ce que l'une donne naissance à une exception, tandis que l'autre entraîne la perte de la créance. En outre, la première est généralement susceptible d'être interrompue et suspendue, tandis que l'autre ne l'est que dans la mesure où une loi l'ordonne spécialement (ibidem, p. 557; GUHL, op.cit., p. 278; ENGEL, op.cit., p. 551; ZWEIFEL, op.cit., p. 24; WYSS, op.cit., pp. 25 et 36 ainsi que les auteurs cités).
Dans ces circonstances, assimiler le délai de péremption de l'art. 48 al. 2 LAI à un délai de procédure serait contraire à un principe du droit suisse (v. WYSS, op.cit., pp. 32 ss). Sans rappeler expressément ce principe, GRISEL, parlant de la péremption de l'action en responsabilité du lésé contre la
BGE 102 V 112 S. 117
Confédération, déclare: "Aucun des délais de l'art. 20 LRCF n'est susceptible d'être interrompu... Le seul moyen d'éviter l'extinction de la responsabilité de la Confédération, c'est d'agir à temps (RO 86 I 66 ss...)" (GRISEL, Droit administratif suisse, Neuchâtel 1970, p. 434). L'auteur ne fait aucune réserve en faveur des art. 24 LPA ou 35 OJ.
Par conséquent, c'est bien un motif jurisprudentiel de restitution de délai conçu comme une disposition de droit matériel, ainsi que le propose BECKER à propos de la prescription de droit civil, que la jurisprudence introduit dans le domaine de l'art. 48 LAI.
c) La situation de l'assuré qui se trouve dans l'impossibilité de demander une prestation de l'assurance-invalidité et qui n'a pas de représentant légal présente toutefois ceci de particulier que certains tiers sont qualifiés pour agir en sa faveur: aux termes de l'art. 66 RAI, l'exercice du droit aux prestations appartient non seulement à l'invalide ou à son représentant légal mais encore, pour lui, à son conjoint, à ses parents en ligne directe ascendante ou descendante, à ses frères et soeurs et aux autorités ou autres personnes qui l'assistent régulièrement ou prennent soin de lui d'une manière permanente. Il faut donc se demander si cet assuré peut se prévaloir de l'impossibilité où il était d'agir dans le délai de l'art. 48 al. 2 LAI, alors qu'un ou plusieurs des tiers énumérés à l'art. 66 RAI auraient pu prendre l'initiative d'agir à sa place, et cela en vertu d'un droit originaire (v. RO 99 V 165). Il le peut sans doute. En effet, l'art. 66 RAI confère une faculté; il n'impose point d'obligation. L'assuré, seul titulaire du droit aux prestations de l'assurance-invalidité, ne doit en principe pas voir sa volonté supplantée par celle de personnes qui ne le représentent pas pleinement; la situation résultant d'obligation d'entretien ou d'assistance étant réservée en cas de refus d'agir de l'assuré (RO 99 V 165). Au surplus, ce serait trop demander à l'administration et au juge administratif que de rechercher dans chaque cas si, dans quelle mesure et avec quels effets l'assuré pouvait exiger d'être assisté par son conjoint, sa parenté ou les autorités et autres personnes mentionnées à l'art. 66 RAI (cf. les art. 159 al. 3 et 161 al. 2 CC). Reconnaître à ces derniers le droit originaire de déposer une demande de prestations - le cas échéant contre la volonté de l'assuré - est une chose. Les obliger à agir en est une autre,
BGE 102 V 112 S. 118
qui mènerait trop loin en imposant pratiquement à ces tiers l'obligation de gérer les affaires de l'assuré en matière d'assurance-invalidité.
3.
Le recourant a souffert dès juin 1971 d'une grave dépression. Selon lui, ses médecins et autres thérapeutes ont déclaré que l'octroi d'une rente d'invalidité compromettrait sa guérison et en ont convaincu son entourage, notamment sa femme; il n'aurait pas eu la force de combattre cette opinion et de s'annoncer à l'assurance-invalidité avant le début de 1974.
Vu ce qui a été exposé plus haut, l'absence de toute démarche de l'épouse auprès de l'assurance-invalidité ne saurait porter préjudice au recourant. Il reste donc à savoir si ce dernier s'est trouvé, objectivement, de juin 1971 à la fin de 1973 dans l'impossibilité de demander une rente d'invalidité. Ce ne serait pas le cas si, même à contrecoeur, il s'était rallié à l'avis de ses conseillers et avait préféré renoncer à une rente pour ne pas compromettre sa guérison; mais bien si sa dépression l'avait privé de la capacité de faire des démarches en vue de l'obtention d'une rente qu'il avait pourtant décidé de réclamer contre l'opinion de son entourage. L'enquête n'a pas porté sur cette question. Le dossier ne donne qu'un tableau succinct de l'étendue des troubles psychiques de l'intéressé. Il faut donc renvoyer la cause à l'administration, afin qu'elle complète l'instruction et qu'elle prenne une nouvelle décision, en lieu et place de celle du 18 octobre 1974, par laquelle la rente a été accordée depuis le 1er janvier 1973 seulement.
4.
Quant à la décision du 27 novembre 1974, qui a supprimé la rente avec effet immédiat, elle n'est plus attaquée dans l'instance fédérale.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral des assurances prononce:
Le recours est admis. La décision du 18 octobre 1974 et le jugement attaqués sont annulés dans la mesure où ils fixent au 1er janvier 1973 le début de la rente d'invalidité au recourant Petter. Ils sont maintenus pour le surplus. La cause est renvoyée à la caisse de compensation intimée, afin qu'elle fasse compléter l'instruction et qu'elle prenne une nouvelle décision sur la date du début de la rente, dans le sens des considérants. | null | nan | fr | 1,976 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2dc00ebf-7357-4663-a93c-148d9ce7fd96 | Urteilskopf
109 IV 65
19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. November 1983 i.S. R. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 19, 20 StGB
.
Wer sich über Lebensvorgänge oder Umstände irrt, welche einem objektiven Tatbestandsmerkmal entsprechen (z.B. über die Fremdheit einer weggenommenen Sache), befindet sich in einer irrigen Vorstellung über den rechtserheblichen Sachverhalt im Sinne von
Art. 19 StGB
.
Art. 20 StGB
regelt demgegenüber ausschliesslich den Irrtum darüber, ob ein bestimmtes Verhalten verboten ist. | Sachverhalt
ab Seite 65
BGE 109 IV 65 S. 65
A.-
Am 17. August 1979 wurde vom Schweinehändler G. eine als Auftragsbestätigung bezeichnete vertragliche Abmachung mit der Firma R. AG unterzeichnet. Nach dem Inhalt dieses Schriftstückes verpflichtete sich die Firma R. zur Lieferung der Bauelemente für den Neubau eines Schweinezuchtstalles; zu den vertraglich versprochenen Leistungen gehörte auch das Anfertigen und Vervielfältigen sämtlicher Ausführungs- und Armierungspläne sowie die Bauleitung bis zur schlüsselfertigen Übergabe der Anlage. Als Bauherr war S. angeführt. Die Auftragsbestätigung der Firma R. richtete sich an den Geldgeber G. und wurde nur von diesem unterschrieben, nicht vom Grundeigentümer S.
BGE 109 IV 65 S. 66
Nach Lieferung der Elemente und nachdem der Bau des Schweinestalles begonnen war, wurde die Liegenschaft des S. betreibungsrechtlich verwertet. Neuer Eigentümer des Grundstückes wurde O. Die Firma R. erhielt aus dem Verwertungserlös aufgrund eines Bauhandwerkerpfandrechtes Fr. 20'287.--. Auf dem versteigerten Grundstück blieb verschiedenes Baumaterial zurück, das nicht Gegenstand der Versteigerung gebildet hatte und vom neuen Eigentümer O. nicht übernommen wurde.
Nach Korrespondenz mit dem Anwalt des G. und Konsultation des eigenen Rechtsvertreters beauftragte R. als verantwortlicher Geschäftsführer der Firma R. AG einen Angestellten, das restliche Baumaterial (im angeblichen Wert von Fr. 24'151.60) auf der Baustelle abzuholen. - S., der frühere Eigentümer der Liegenschaft, erstattete in der Folge Strafanzeige und machte geltend, er sei Eigentümer des abtransportierten Materials.
B.-
Das Bezirksgericht Steckborn sprach R. mit Entscheid vom 26. Mai/20. Juni 1983 des Diebstahls schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt aufgeschobenen Strafe von 20 Tagen Gefängnis.
Auf Berufung des R. erkannte das Obergericht des Kantons Thurgau am 27. September 1983, dieser sei im Sinne der
Art. 137 Ziff. 1 und 143 StGB
des Diebstahls und der Sachentziehung schuldig und nahm gemäss
Art. 20 StGB
von Strafe Umgang.
C.-
R. führt gegen dieses Urteil des Obergerichtes Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeurteilung im Sinne eines Freispruches von sämtlichen Anklagepunkten an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Wie auch immer die getroffene Vereinbarung unter zivilrechtlichen Aspekten letztlich einzuordnen sein mag, auf jeden Fall ist dem Beschwerdeführer nach den Feststellungen der Vorinstanz zugute zu halten, dass er nicht eine fremde Sache rechtswidrig wegnehmen und sich aneignen wollte, sondern nach Fühlungnahme mit dem eigenen Anwalt und dem Rechtsvertreter des Vertragspartners G. davon ausging, er nehme Ware zurück, die im Rahmen eines Werkvertrages vor der Verarbeitung gar nie in das Eigentum des Bestellers übergegangen war oder im Rahmen eines Kaufvertrages zwar geliefert, aber mit Zustimmung des vom Vertrag
BGE 109 IV 65 S. 67
zurücktretenden Käufers G. wieder abzuholen sei. Die Vorinstanz betrachtete dies als Rechtsirrtum und brachte daher
Art. 20 StGB
zur Anwendung.
Nach unangefochtener, herrschender Lehre regelt
Art. 20 StGB
ausschliesslich den Verbotsirrtum, d.h. den Irrtum darüber, ob ein bestimmtes Verhalten verboten und unter Strafe gestellt ist, nicht aber den Irrtum über Tatbestandsmerkmale rechtlicher Natur, welche in einem andern Rechtsgebiet (ausserhalb des Strafrechts) umschrieben werden. Hat sich der Täter über Lebensvorgänge oder Umstände geirrt, welche einem objektiven gesetzlichen Tatbestandsmerkmal entsprechen, wie beispielsweise über die Fremdheit der Sache, die er wegnimmt, so befand er sich in einer irrigen Vorstellung über den rechtserheblichen Sachverhalt (
BGE 82 IV 202
;
BGE 85 IV 192
f., SCHULTZ, A.T. I, 4. Aufl. S. 226; NOLL, A.T. I, S. 132; HAUSER-REHBERG, Strafrecht I, 3. Aufl. S. 78 und 157; vgl. zum deutschen Recht: BLEI, Strafrecht I A.T., 18. Aufl. S. 201). Geht man von dieser zutreffenden Abgrenzung zwischen Sachverhaltsirrtum (Tatbestandsirrtum gemäss
Art. 19 StGB
) und Rechtsirrtum (
Art. 20 StGB
) aus, so ist der von der Vorinstanz festgestellte Irrtum - falls die zivilrechtliche Beurteilung der Situation durch den Beschwerdeführer überhaupt unrichtig gewesen sein sollte - nicht ein Rechtsirrtum, sondern ein Sachverhaltsirrtum, denn R. irrte sich nicht über die strafrechtliche Regelung; dass die Wegnahme fremder Sachen strafbar ist, war für ihn selbstverständlich nicht zweifelhaft. Sein allfälliger Irrtum konnte sich nur auf die Frage beziehen, ob die von ihm gelieferten, noch nicht eingebauten Materialien bereits fremde Sachen seien, bzw. darauf, ob er nicht (selbst bei Annahme eines vorherigen Übergangs des Eigentums auf den Erwerber) durch die Aufhebung des Vertrages und die Zustimmung des Vertragspartners/Käufers G. kraft dieser neuen Vereinbarung zur Rücknahme des verbleibenden Materials berechtigt sei. Ein solcher Irrtum über die zivilrechtliche Situation ist als Sachverhaltsirrtum zu behandeln, d.h. der Täter ist gemäss
Art. 19 StGB
nach dem Sachverhalt zu beurteilen, den er sich vorgestellt hat. Aufgrund der Feststellungen der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer glaubte, er sei als Eigentümer oder kraft neuer vertraglicher Abmachung zur Rücknahme des in Frage stehenden Baumaterials befugt. Sein Vorsatz ging also nicht dahin, fremden Gewahrsam zu brechen, sich rechtswidrig fremde Sachen anzueignen, und sich auf diesem Wege unrechtmässig zu bereichern. Auch wenn die zivilrechtliche
BGE 109 IV 65 S. 68
Auffassung der Vorinstanz sich als richtig erweisen sollte, so hat der Beschwerdeführer aufgrund seiner - unter diesen Umständen irrigen - Vorstellung über den Sachverhalt, insbesondere über die Gewahrsams- und Eigentumsverhältnisse, durch den Abtransport des Materials weder Art. 137 noch
Art. 143 StGB
erfüllt. Das angefochtene Urteil verletzt daher Bundesrecht.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
In Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 27. September 1983 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen zur Freisprechung des Beschwerdeführers. | null | nan | de | 1,983 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2dc31e41-7744-4289-afed-1fe26bd286b2 | Urteilskopf
110 Ia 190
38. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2. November 1984 i.S. L. AG gegen Kantone Wallis, Zürich, Tessin, Uri, Schwyz (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 46 Abs. 2 BV
; Betriebsstätte einer Bauunternehmung.
Die Unternehmung, die sich an einem Konsortium beteiligt, welches ein umfangreiches Werk (Staudamm) während mehrerer Jahre erstellt und zu diesem Zweck über feste Betriebseinrichtungen, eine eigene Geschäftsleitung und eine separate Buchhaltung verfügt, hat am Orte der Werkausführung eine Betriebsstätte, die im betreffenden Kanton die Steuerpflicht der Unternehmung entstehen lässt. Dazu ist nicht erforderlich, dass die festen Einrichtungen des Konsortiums der Erstellung mehrerer Werke unbestimmter Anzahl dienen. | Sachverhalt
ab Seite 190
BGE 110 Ia 190 S. 190
Die L. AG hat ihren statutarischen Sitz in Zürich und eine Zweigniederlassung im Kanton Tessin. Seit Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre war sie zu 7,5% am Konsortium für den Bau des Staudammes Emosson (Wallis) beteiligt.
Bereits am 4. Oktober 1967 teilte die Steuerverwaltung des Kantons Wallis der L. AG mit, ihre Beteiligung am Konsortium
BGE 110 Ia 190 S. 191
Emosson sei als Betriebsstätte anzusehen, weshalb ihr ab 1968 ein Steuererklärungsformular zugestellt werde.
In der Schlussabrechnung des Baukonsortiums wurde der L. AG im Jahr 1977 ein Gewinn von Fr. ... aus ihrer mehrjährigen Beteiligung am Bauwerk zugewiesen, welcher rund 95% ihres gesamten Unternehmensgewinns des Jahres 1977 ausmachte.
Am 11. April 1980 veranlagte das Steueramt der Stadt Zürich die L. AG für das Jahr 1978. Die Steuerausscheidung entsprach einem von der L. AG selber vorgelegten Ausscheidungsvorschlag und sah nebst einem Praecipuum von 10% für den Sitzkanton Zürich eine Aufteilung des verbleibenden Gewinns unter den Kantonen Zürich (0,791%), Tessin (97,702%), Schwyz (0,0239%) und Uri (1,286%) vor, also keine Zuteilung an den Kanton Wallis. Die Kantone Tessin, Schwyz und Uri besteuerten die L. AG entsprechend der vom Kanton Zürich vorgenommenen Steuerausscheidung.
Da der Kanton Wallis davon ausging, dass die L. AG während ihrer Beteiligung am Baukonsortium im Kanton Wallis eine Betriebsstätte gehabt hatte und somit für den aus dieser Beteiligung erzielten, im Jahr 1977 gutgeschriebenen Gewinn im Kanton Wallis steuerpflichtig sei, besteuerte er die L. AG für einen Anteil von 91,315% des Gesamtunternehmensgewinns des Jahres 1977. Eine gegen diese Veranlagung erhobene Einsprache wies die Steuerverwaltung des Kantons Wallis am 5. Januar 1982 ab.
Gegen diesen Einspracheentscheid erhob die L. AG mit Schreiben vom 29. Januar 1982 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 46 Abs. 2 BV
. Sie stellt folgende Anträge:
"1. Es sei festzustellen, dass in der Bemessung ihres im Kanton Wallis steuerbaren Gewinnes von Fr. ... eine unzulässige Doppelbesteuerung vorliege.
2. Es sei die Beteiligung der Beschwerdeführerin am Konsortium
Emosson wie eine Betriebsstätte der Beschwerdeführerin zu behandeln und daher der Anteil der Beschwerdeführerin am Gewinn des Gemeinschaftsunternehmens als Bestandteil des Gesamtgewinnes der Beschwerdeführerin zu besteuern.
3. Es seien die Kantone Zürich, Tessin, Uri und Schwyz zur Neuveranlagung auf Grund des neuen, den Kanton Wallis einbeziehenden Verteilungsschlüssels aufzufordern.
4. ..."
In ihrer Vernehmlassung vom 31. März 1982 beantragt die Steuerverwaltung des Kantons Wallis Abweisung der Beschwerde, soweit sie sich gegen ihren Einspracheentscheid richtet. Sodann
BGE 110 Ia 190 S. 192
beantragt sie, die interkantonale Steuerausscheidung des Kantons Zürich vom 11. April 1980 sei aufzuheben und auf der Grundlage der direkten Methode eine neue Steuerausscheidung vorzunehmen.
Bezüglich der gerügten Doppelbesteuerung beantragt der Kanton Zürich Abweisung der Beschwerde. Der Kanton Tessin beantragt dagegen, die Beschwerde sei gutzuheissen und die Veranlagung der Beschwerdeführerin dahingehend zu ändern, dass eine Doppelbesteuerung vermieden werde, wobei der Kanton Wallis auch berücksichtigt werden müsse. Die Kantone Uri und Schwyz haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt die Veranlagungen aller beteiligten Kantone auf. Es stellt fest, dass die L. AG im Kanton Wallis ein sekundäres Steuerdomizil hat, und fordert die beteiligten Kantone zur Neuveranlagung im Sinne der Erwägungen auf.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Beschwerdeführerin anerkennt mit ihren Rechtsbegehren den Besteuerungsanspruch des Kantons Wallis. Sie verlangt aber im wesentlichen, sie sei in den beteiligten Kantonen Wallis, Zürich, Tessin, Uri und Schwyz nach einem neuen Verteilungsschlüssel zu besteuern. Es stellt sich damit die Frage, ob für das Jahr 1977 im Kanton Wallis eine Betriebsstätte, also ein sekundäres Steuerdomizil der Beschwerdeführerin, zu anerkennen sei. Diese Frage ist nicht schon darum zu verneinen, weil im Jahr 1977 die Anlagen und Einrichtungen des Konsortiums, an dem die Beschwerdeführerin beteiligt war, nicht mehr im Betrieb waren. Die Tatsache, dass der Gewinn aus der Beteiligung der Beschwerdeführerin erst im Jahr 1977 zugewiesen wurde, ist ausschliesslich darauf zurückzuführen, dass das Konsortium erst zu diesem Zeitpunkt abrechnete. Der Gewinn ist aber Resultat der früheren Geschäftstätigkeit des Konsortiums im Kanton Wallis. Sollte das Konsortium sich dort für seine Geschäftstätigkeit ständiger Anlagen und Einrichtungen bedient haben, so muss für die Beschwerdeführerin hinsichtlich ihres Gewinns aus der Beteiligung am Konsortium, einer einfachen Gesellschaft, ein sekundäres Steuerdomizil im Kanton Wallis anerkannt werden: Die Erträge einer einfachen Gesellschaft dürfen nach feststehender Praxis bei den einzelnen Gesellschaftern grundsätzlich am Orte besteuert werden, wo die
BGE 110 Ia 190 S. 193
Gesellschaft ständige Anlagen und Einrichtungen besitzt, die der Geschäftstätigkeit dienen (
BGE 66 I 154
ff.;
BGE 48 I 408
ff. E. 2; Urteil vom 13. Juni 1967 in ASA 37 S. 234/5 E. 3).
3.
Zur Begründung einer Betriebsstätte bedarf es nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung keiner eigentlichen Geschäftsniederlassung (Filiale oder Zweigniederlassung) im handelsrechtlichen Sinn; es genügt, dass das Unternehmen an einem Ort ständige körperliche Anlagen oder Einrichtungen besitzt, mittels derer sich ein qualitativ und quantitativ wesentlicher Teil des technischen und kommerziellen Betriebs vollzieht (
BGE 95 I 435
E. 3 mit Hinweisen; LOCHER, Das interkantonale Doppelbesteuerungsrecht, in: Die Praxis der Bundessteuern, III. Teil, § 8, I B, 2 Nr. 3; HÖHN, Interkantonales Steuerrecht, § 10 I (1)).
An die ständigen Anlagen und Einrichtungen eines Konsortiums von Bauunternehmungen, die seiner Geschäftstätigkeit dienen, sind jedenfalls nicht strengere Anforderungen zu stellen. Nicht umstritten ist, dass die Anlagen und Einrichtungen des Konsortiums im Kanton körperlicher Natur waren. Es liegt auch auf der Hand, dass die dort abgewickelten Tätigkeiten qualitativ und quantitativ wesentlich und insbesondere auch für die Beschwerdeführerin nicht bloss untergeordnet oder nebensächlich waren. Es stellt sich aber die Frage, ob das Konsortium über ständige Anlagen und Einrichtungen verfügte. Nur wenn auch diese Bedingung erfüllt ist, kann die Steuerpflicht der Beschwerdeführerin im Kanton Wallis begründet werden.
4.
a) Das Bundesgericht anerkennt in konstanter Rechtsprechung der Bautätigkeit dienende Anlagen (bspw. Baubüros, Aufbereitungsanlagen für Strassenbelag) als ständige körperliche Einrichtungen und damit als Betriebsstätten, wenn sie der Ausführung mehrerer Werkverträge dienen und auf (unbestimmte) Dauer angelegt sind (LOCHER, a.a.O., § 8, I D, 2 Nr. 9;
BGE 95 I 435
ff. E. 3;
BGE 62 I 139
E. 2; Urteil vom 13. Juni 1967 in ASA 37 S. 234 E. 3). Nicht als Betriebsstätte anerkannt wurden bisher jedoch regelmässig Baustellen und Baubüros, wenn sie zur Ausführung bloss eines einzelnen Bauwerks errichtet wurden (LOCHER, a.a.O., § 8, I D, 2 Nrn. 5, 7, 8, 10, 11, 13), selbst wenn das einzelne Bauwerk eine Bauzeit von mehreren Jahren erforderte (
BGE 41 I 441
/2, bestätigt in
BGE 67 I 95
/6; vgl. zudem LOCHER, a.a.O., § 8, I D, 2 Nr. 11).
In der kantonalen Praxis wird diesem Grundsatz allerdings nicht durchwegs nachgelebt (HÖHN, a.a.O., S. 152, FN 38). Das Bundesgericht hat in zwei in den Jahren 1968 und 1969 entschiedenen
BGE 110 Ia 190 S. 194
Fällen unter Hinweis auf die Kritik verschiedener Autoren denn auch die Möglichkeit einer Praxisänderung nicht ausgeschlossen (
BGE 94 I 332
E. 3e
;
95 I 437
E. 3). Es musste damals dazu allerdings nicht weiter Stellung nehmen, da die Steuerhoheit der betroffenen Kantone sich schon aus anderen Gründen ergab.
b) Gegen die Anerkennung einer Baustelle, die zur Erstellung eines einzigen - wenn auch umfangreichen - Werks dient, als ständige Anlage oder Einrichtung im Sinne des doppelbesteuerungsrechtlichen Begriffs der Betriebsstätte wurde immer eingewendet, dies würde zu einer Zersplitterung der Steuerpflicht führen (LOCHER, a.a.O., § 8, I D, 2 Nrn. 5 und 11;
BGE 94 I 332
E. 3e). Es wurde aber durchaus eingeräumt, dass Billigkeitserwägungen gerade bei der Errichtung grösserer Werke an sich für eine Berücksichtigung des Kantons sprächen, in dem das Werk erstellt wird (LOCHER, a.a.O.).
In der Tat sind es namentlich die Bergkantone, wo besonders bedeutende Bauprojekte realisiert werden, deren Ausführung längere Zeit beansprucht. Die mit dem Bau beauftragten spezialisierten Unternehmungen, die häufig aus anderen Kantonen beigezogen werden müssen, erzielen bei der Ausführung solcher Werke bedeutende Gewinne, die der Besteuerung durch den Kanton, auf dessen Gebiet das Werk ausgeführt wird, entzogen sind (JEAN-MARC RIVIER, L'imposition des entreprises internationales, thèse Lausanne 1964, S. 68). Viele Kantone sind schon seit langem dazu übergegangen, in die Konzessionserteilungen etwa an Elektrizitätsgesellschaften die Auflage aufzunehmen, dass alle Bauarbeiten an im Kanton ansässige Unternehmungen zu vergeben sind, bzw. an solche Unternehmungen, die im Kanton eine die Steuerpflicht begründende Zweigniederlassung errichten (RIVIER, a.a.O.; Bericht des Eidg. Finanz- und Zolldepartements zum Vorentwurf vom 5. April 1961 zu einem Bundesgesetz über das Verbot der Doppelbesteuerung, S. 8 oben). Wie gesehen handhaben die Kantone sodann teilweise die Betriebsstätte-Praxis weniger restriktiv, als sie nach den - durchwegs älteren - Entscheiden des Bundesgerichts galt (vgl. vorne E. 4a).
Schon der Vorentwurf zum Ausführungsgesetz zu
Art. 46 Abs. 2 BV
vom 5. April 1961 sah in Art. 8 lit. e vor, dass eine Bauausführung oder Montage, deren Dauer zwölf Monate übersteigt, die Annahme einer Betriebsstätte rechtfertige. Diese Bestimmung trug der Kritik verschiedener Bergkantone Rechnung, die diese im Rahmen einer Umfrage des Eidg. Finanz- und Zolldepartements
BGE 110 Ia 190 S. 195
im Hinblick auf das geplante Ausführungsgesetz zu
Art. 46 Abs. 2 BV
äusserten (Bericht des EFZD zum Vorentwurf, S. 7 und 8).
Bei dieser Ausgangslage kann heute nicht mehr die These vertreten werden, den berechtigten Interessen von Kantonen mit grossen Baustellen ginge in jedem Fall ein gewichtigeres Interesse daran vor, die Zersplitterung der Steuerpflicht zu verhindern. In dieser Hinsicht bedarf die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung, wie bereits in früheren Urteilen angedeutet (
BGE 94 I 332
E. 3e;
BGE 95 I 437
E. 3), einer Änderung.
c) Das Erfordernis der "Beständigkeit" der Baustellen-Einrichtungen kann nicht mehr in dem Sinn rein zeitlich verstanden werden, dass nur Einrichtungen als Betriebsstätten anerkannt werden, die auf unbestimmt lange Dauer angelegt sind. Zwar spielt das zeitliche Element insofern eine Rolle, als während bloss kürzerer Zeit bestehenden Baustellen regelmässig von vornherein schon wirtschaftlich keine derart grosse Bedeutung zukommt, dass sich eine Steueraufteilung rechtfertigte. Gegen eine so weitgehende Aufsplitterung der Steuerpflicht sprechen tatsächlich Gründe der Praktikabilität. Aufwendige Grossprojekte (Grossüberbauungen, Staudämme etc.), bei denen eine längere Bauzeit von mehr als bloss einigen wenigen Jahren schon technisch durch Art und Umfang des zu erstellenden Werks bedingt ist, können jedoch jenen zeitlich enger befristeten Baustellen nicht gleichgestellt werden. Es rechtfertigt sich bei solchen Grossbaustellen heute nicht mehr, den Baustellen-Kanton steuerlich leer ausgehen zu lassen.
Kriterien für die "Beständigkeit" von Einrichtungen auf Baustellen sind somit nicht so sehr absolute zeitliche Limiten, als vielmehr die wirtschaftliche Bedeutung des Bauwerks und die Art und Organisation der Einrichtungen am Ort. Handelt es sich dabei nicht bloss um die üblichen mobilen Anlagen, die eine leistungsfähige Bauunternehmung vorübergehend auf ihren Baustellen einzusetzen pflegt (wie z.B. Kräne und Kranbahnen, Zementsilos, Garderobe-, Material- und Baubürobaracken u.ä.), sondern um mehrere Jahre bestehende und womöglich für die Unternehmung errichtete Zufahrtsstrassen, Seilbahnen, Aufbereitungsanlagen, Kantinen, Werkspitäler, Maschinenparks, Reparaturwerkstätten und Bauleitungsbüros, die eine Zusammenarbeit mehrerer Bauunternehmungen nahelegen, so rechtfertigt es sich, von "ständigen" und nicht bloss provisorischen Anlagen und Einrichtungen und somit von einer die Steuerpflicht im Kanton begründenden Betriebsstätte der beteiligten Bauunternehmungen zu sprechen.
BGE 110 Ia 190 S. 196
d) Der Staudamm in Emosson wurde in rund 10jähriger Arbeit durch ein Konsortium, eine von verschiedenen Bauunternehmungen gebildete einfache Gesellschaft, erstellt. Das Konsortium zog eine selbständige Organisation ausschliesslich zum Zweck der Erstellung eines Bauwerks auf. Es hatte eine Geschäftsleitung und führte für die Baustelle separat Buch. Faktisch handelte es sich daher beim Konsortium um ein eigentliches Unternehmen mit festen eigenen Betriebseinrichtungen, das während Jahren ein Grossprojekt verwirklichte. Es konnte zwar als einfache Gesellschaft nicht Steuersubjekt sein, jedoch begründete es in der beschriebenen Ausgestaltung und nach dem Umfang des Bauwerks eine Betriebsstätte der beteiligten einzelnen Unternehmungen. Damit ist die Beschwerdeführerin für das Jahr 1977 kraft ihrer Beteiligung am Konsortium grundsätzlich anteilsmässig im Kanton Wallis steuerpflichtig. | public_law | nan | de | 1,984 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2dd09a6a-ef8e-48ab-9885-7057b956df8a | Urteilskopf
106 II 1
1. Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Februar 1980 i.S. H. gegen H. (Berufung) | Regeste
Art. 153 Abs. 1 ZGB
; Rentenanspruch des im Konkubinat lebenden, geschiedenen Ehegatten.
Das Konkubinat hat nur dann den Verlust des Rentenanspruchs zur Folge, wenn es dem rentenberechtigten Ehegatten wirtschaftlich ähnliche Vorteile wie eine Ehe bietet, was auf Grund der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen ist (Präzisierung der Rechtsprechung). | Sachverhalt
ab Seite 1
BGE 106 II 1 S. 1
A.-
Werner und Berta H., die am 1. November 1958 geheiratet hatten, wurden mit Urteil des Bezirksgerichts Horgen
BGE 106 II 1 S. 2
vom 12. Dezember 1977 geschieden. Der aus ihrer Ehe hervorgegangene Sohn Urs, geboren am 3. August 1966, wurde unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt, und der Vater wurde verpflichtet, an die Kosten des Unterhalts und der Erziehung des Kindes einen indexierten monatlichen Beitrag von Fr. 600.-- zuzüglich Kinderzulagen zu bezahlen. In einer vom Gericht genehmigten Scheidungskonvention hatte sich der Ehemann verpflichtet, der Ehefrau einen indexierten Unterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 900.-- bis zum 31. Juli 1984 und von da einen solchen von Fr. 550.-- zu bezahlen.
B.-
Am 20. September 1978 reichte Werner H. beim Bezirksgericht Zürich gegen Berta H. eine Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils ein, mit der er die Aufhebung des Unterhaltsbeitrags an die geschiedene Ehefrau beantragte. Zur Begründung führte er aus, diese lebe seit dem 1. Juli 1978 mit W. im Konkubinat und heirate diesen nur deshalb nicht, um den Rentenanspruch nicht zu verlieren. Darin liege ein Rechtsmissbrauch im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 ZGB
.
Während das Bezirksgericht die Klage am 17. Januar 1979 abwies, hiess sie das Obergericht des Kantons Zürich auf Berufung des Klägers hin mit Urteil vom 2. Juli 1979 gut und hob die Rentenverpflichtung mit Wirkung ab 1. Januar 1979 auf.
C.-
Mit Berufung ans Bundesgericht beantragt die Beklagte, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Klage abzuweisen; eventuell sei das Rentenbezugsrecht der Beklagten erst ab 1. Mai 1979 und nur für solange einzustellen, als die Beklagte mit W. eheähnlich zusammenlebe.
Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 153 Abs. 1 ZGB
hört die Pflicht zur Entrichtung einer Rente im Sinne von Art. 151 bzw. 152 ZGB auf, wenn der berechtigte Ehegatte sich wieder verheiratet. Das Bundesgericht hat in
BGE 104 II 154
ff. ausgeführt, es stelle einen offenbaren Rechtsmissbrauch dar, wenn der rentenberechtigte Ehegatte nach der Scheidung mit einem Angehörigen des andern Geschlechts eine eheähnliche Lebensgemeinschaft bilde, diesen aber nur deswegen nicht heirate, um der gesetzlichen Folge des Rentenverlustes auszuweichen. Es hat deshalb
BGE 106 II 1 S. 3
im erwähnten Entscheid den Rentenanspruch einer im Konkubinat lebenden, geschiedenen Frau aufgehoben.
Auf diese Rechtsprechung stützt sich der angefochtene Entscheid. Die Vorinstanz stellt fest, dass das Verhältnis zwischen der Beklagten und W. intim sei, dass die Beklagte mit ihrem Sohn Urs zusammen mit W. in einer von diesem gemieteten 3 1/2-Zimmerwohnung wohne, dass sie mit W. im Sommer 1978 zwei Wochen Segelferien am Bodensee verbracht habe und dessen Geschäftswagen für nicht geschäftliche Zwecke benütze, dass sie zur Ausstattung der gemeinsamen Wohnung auch Möbel angeschafft habe und dass W. die Kosten von Ausflügen und damit verbundenen Konsumationen bezahle. Nicht bewiesen sei dagegen, dass W. und die Beklagte in der Öffentlichkeit als Ehepaar aufträten, gemeinsam Anlässe besuchten, Spaziergänge unternähmen und allgemein wie Verheiratete lebten. Wenn der Anschein einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft gegeben und als solcher bewiesen sei, sei es jedoch gerechtfertigt, von der durch das normale menschliche Verhalten und den gewöhnlichen Lauf der Dinge gegebenen Tatsachenvermutung auszugehen, welche durch den Nachweis umgestossen werden könne, dass entgegen dem äusseren Anschein nicht eine Lebensgemeinschaft, sondern nur ein loses, z.B. rein obligationenrechtliches Verhältnis vorliege. Einen solchen Nachweis habe die Beklagte nicht erbracht. Dass sie sich von W. nicht aushalten lasse, sondern an die Kosten des gemeinsamen Haushaltes monatlich Fr. 1'500.-- beitrage, lasse sich durch dessen Belastung mit Unterhaltsleistungen aus seiner Ehescheidung erklären. Wenn die Beklagte trotz der nunmehr einjährigen Probezeit und des vorgerückten Alters der beiden Konkubinatspartner immer noch nicht an Heirat denke, so sei anzunehmen, sie verhalte sich so, um sich des Rentengenusses nicht zu begeben. Ihr Verhalten sei daher als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren, was zur Aufhebung der Rentenverpflichtung des Klägers führen müsse.
2.
Entgegen der Ansicht der Vorinstanz kann indessen allein aus der Tatsache, dass die Beklagte im Konkubinat lebt, nicht auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten geschlossen werden. Wenn
Art. 153 Abs. 1 ZGB
die Pflicht zur Bezahlung einer Scheidungsrente mit der Wiederverheiratung des berechtigten Ehegatten enden lässt, so liegt der gesetzgeberische Sinn dieser Bestimmung offensichtlich darin, dass der rentenberechtigte
BGE 106 II 1 S. 4
Ehegatte mit der Eingehung einer neuen Ehe wiederum in den Genuss der unter Ehegatten geltenden Beistandspflicht (
Art. 159 Abs. 3 ZGB
) gelangt. Handelt es sich dabei, was die Regel darstellt, um die Ehefrau, so erwirbt sie überdies den Unterhaltsanspruch des
Art. 160 Abs. 2 ZGB
gegenüber dem neuen Ehemann. Mit dem Erwerb dieser Ansprüche ist die Bedürftigkeit des berechtigten Ehegatten bzw. der Schaden, für den die Rente Ersatz bieten soll, behoben, so dass die Aufhebung der Rente gerechtfertigt ist. Das Konkubinat unterscheidet sich von der Ehe nun gerade dadurch, dass zwischen den Partnern eines Konkubinatsverhältnisses keine gesetzliche Beistands- und Unterhaltspflicht besteht. Auch in anderer Hinsicht (Erbrecht, Anteil am Vorschlag, Ansprüche aus Art. 151/152 ZGB im Falle der Auflösung des Verhältnisses) ist die Konkubine schlechter gestellt als die Ehefrau. Wenn ein rentenberechtigter geschiedener Ehegatte mit einem neuen Partner keine Ehe eingeht, sondern mit ihm einfach in einem eheähnlichen Verhältnis zusammenlebt, so kann daher darin allein noch nicht ohne weiteres ein Rechtsmissbrauch erblickt werden, der das Dahinfallen der Rente bewirken würde. Von einem solchen kann vielmehr erst dann gesprochen werden, wenn der Rentenberechtigte aus der neuen Gemeinschaft ähnliche Vorteile zieht, wie sie ihm die Ehe bieten würde, wenn also anzunehmen ist, der neue Partner biete ihm Beistand und Unterstützung, wie
Art. 159 Abs. 3 ZGB
das von einem Ehegatten fordert.
Wann dies der Fall sei, kann nicht generell gesagt werden, sondern ist auf Grund der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei ist vor allem die Dauer des Konkubinats von Bedeutung. Je länger nämlich ein Konkubinat gedauert hat, desto eher ist in der Regel der Schluss berechtigt, die Partner fühlten sich moralisch verpflichtet, sich gegenseitig wie Ehegatten beizustehen. Dieser Schluss kann sich auch dann aufdrängen, wenn die Konkubine erwerbstätig ist und ihren Anteil an den Kosten des gemeinsamen Haushalts selber trägt. Wie zwei Ehegatten, so können auch zwei Konkubinatspartner übereinkommen, beide dem Verdienst nachzugehen, um sich einen entsprechend höheren Lebensstandard leisten zu können. Das schliesst nicht aus, dass beide den Willen haben, wie Ehegatten füreinander zu sorgen, wenn der eine von ihnen aus irgendeinem Grund nicht mehr erwerbstätig sein kann. Umgekehrt genügt es entgegen der Ansicht von BÜHLER/SPÜHLER (N. 23 zu
Art. 153 ZGB
)
BGE 106 II 1 S. 5
für das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs nicht, dass der Konkubinatspartner für den Unterhalt der Konkubine aufkommt. Zu beachten ist ferner, dass nach
Art. 2 Abs. 2 ZGB
nur der offenbare Missbrauch eines Rechts keinen Rechtsschutz findet. Kann der rentenberechtigte Ehegatte plausible Gründe dafür anführen, weshalb er seinen Konkubinatspartner nicht heiratet, so kann ihm nicht ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden. Wohl zu weit geht auf der andern Seite die Auffassung von MERZ (N. 578 zu
Art. 2 ZGB
), wonach der Rentenanspruch dann untergeht, wenn angenommen werden muss, die im Konkubinat lebende geschiedene Ehefrau gehe "einzig und allein" deshalb keine neue Ehe ein, um die Rente nicht zu verlieren, dürften doch für den Entscheid, nicht wieder zu heiraten, vielfach auch andere Überlegungen mitspielen, bei beidseitiger Erwerbstätigkeit insbesondere solche fiskalischer Natur.
3.
Im vorliegenden Fall hatte das Konkubinat der Beklagten mit W. im Zeitpunkt der Einreichung der Klage noch nicht einmal drei Monate und im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids erst ein Jahr gedauert. Diese verhältnismässig kurze Dauer lässt den Schluss noch nicht zu, dass das Verhältnis Bestand haben und damit der Beklagten wirtschaftlich ähnliche Vorteile bieten werde, wie dies eine Ehe täte. Dazu kommt, dass das Verhalten der Beklagten durchaus verständlich ist. Sie schliesst eine Wiederverheiratung nicht aus, macht aber geltend, eine neue Bindung müsse reiflich überlegt werden, da sowohl sie als auch W. erst seit kurzem geschieden seien und sie zudem ihrem Sohn eine zweite gescheiterte Ehe ersparen möchte. Wenn die Beklagte mit der Wiederverheiratung zuwartet, um sicher zu sein, dass ihr Verhältnis mit W. von Dauer sein wird, so kann ihr dies in der Tat nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jedenfalls kann unter den heute gegebenen Umständen nicht gesagt werden, sie heirate in rechtsmissbräuchlicher Weise deswegen nicht, um den Rentenanspruch nicht zu verlieren. Die gegenteilige Annahme der Vorinstanz beruht nicht auf Beweiswürdigung, sondern stellt eine aus der allgemeinen Lebenserfahrung fliessende Schlussfolgerung dar, an die das Bundesgericht nicht gebunden ist (
BGE 99 II 84
und 329,
BGE 95 II 124
und 169). Dadurch unterscheidet sich der vorliegende Fall von
BGE 104 II 154
ff. In jenem Entscheid hatte die Vorinstanz auf Grund von Zeugenaussagen positiv
BGE 106 II 1 S. 6
festgestellt, dass die damalige Beklagte nur wegen des drohenden Verlustes des Rentenanspruches nicht heiraten wollte, was aus der publizierten Erwägung freilich nicht hervorgeht.
Die Klage ist daher, jedenfalls zur Zeit, abzuweisen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich (I. Zivilkammer) vom 2. Juli 1979 aufgehoben und die Klage abgewiesen. | public_law | nan | de | 1,980 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2dd105d7-b11f-4856-92f1-254a17c4ede7 | Urteilskopf
119 V 456
66. Urteil vom 21. Dezember 1993 i.S. S. AG gegen Bundesamt für Sozialversicherung und Eidgenössisches Departement des Innern | Regeste
Art. 19 VwVG
i.V.m.
Art. 58 BZP
,
Art. 22 und 23 OG
,
Art. 10 VwVG
: Ausstand der Experten der Eidgenössischen Arzneimittelkommission (EAK). Die Experten der EAK unterliegen nicht den für Richter geltenden, besonderen Ausstandsvorschriften der
Art. 22 und 23 OG
(Erw. 4). Indes sind die allgemeinen Ausstandsbestimmungen des
Art. 10 Abs. 1 VwVG
anwendbar (Erw. 5).
Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 Vo VIII über die Krankenversicherung,
Art. 10 Abs. 1 lit. d VwVG
: Spezialitätenliste, Streichungsverfahren, Befangenheit. Befangenheit eines wissenschaftlichen Experten der EAK bejaht, dessen Sohn als Forschungslaborleiter eines Betriebes arbeitet, der zur von einer Streichungsverfügung betroffenen Firma in einem Konkurrenzverhältnis steht (Erw. 5c). | Sachverhalt
ab Seite 457
BGE 119 V 456 S. 457
A.-
Die Firma S. AG vertreibt das Präparat O., das 1977 als Vasodilatator in die therapeutische Gruppe 02.04.50 (gefässerweiternde Mittel und/oder cerebrale Aktivatoren) der Spezialitätenliste (SL) Aufnahme fand.
Mit Schreiben vom 4. August 1983 teilte das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) der Firma S. AG mit, dass die Eidg. Arzneimittelkommission (EAK) beschlossen habe, die cerebral-vasoaktiven Medikamente zu überprüfen. Die Firma wurde aufgefordert, dem BSV klinische, im Doppelblindverfahren geprüfte Arbeiten zuzustellen. Zur Bestimmung des Ist-Zustandes seien Beiträge aus wissenschaftlich anerkannten Zeitschriften oder Manuskripte für Publikationen vorzuweisen, die sich mit der Wirkung des Präparates bei Behandlung von cerebralen Erkrankungen im Alter befassten.
Sämtliche eingereichten Studien wurden einer Arbeitsgruppe von wissenschaftlichen Experten der EAK, bestehend aus den Professoren S., R. und F., zur Begutachtung unterbreitet. Die Arbeitsgruppe legte im Februar 1984 ihren Bericht (Rapport I) vor. Dieser nimmt unter anderem eine Klassifikation der Wirksamkeit (Kategorien A-D) vor. In die Kategorien A und B der wirksamen Medikamente wurden nur jene mit dem Wirkstoff Co-dergocrin (H. und Nachahmer)
BGE 119 V 456 S. 458
sowie Naftidrofuryl (P.) eingeteilt, die übrigen kamen in die Kategorien C und D mit ungenügender Wirksamkeit. Der Ausschuss für Grundsatzfragen und das Plenum der EAK genehmigten den Bericht. In der Folge beantragte die EAK dem BSV, den einzelnen Firmen das Ergebnis der Untersuchungen für das sie betreffende Präparat und die aufgrund des Berichtes zu ziehenden Konsequenzen bekanntzugeben. Gleichzeitig wurde das Amt ersucht, für die von der Arbeitsgruppe in die Kategorie C oder D eingeteilten Präparate das Streichungsverfahren einzuleiten.
Mit Schreiben vom 18. Juli 1985 eröffnete das BSV der Firma S. AG den Bericht der Arbeitsgruppe (unter Ausklammerung sämtlicher Hinweise auf einzelne Präparate) sowie die Begründung der Bewertung von O., das in die Kategorie C eingeteilt werde. Die Firma erhielt Gelegenheit, zu der beabsichtigten Streichung Stellung zu nehmen.
In der August-Ausgabe einer Fachzeitschrift erschien 1985 ein Artikel von Prof. R., der sich kritisch zu den sogenannten zerebroaktiven Medikamenten äusserte.
Mit Schreiben vom 6. September 1985 gab die S. AG ihrem Befremden über die erwähnte Publikation Ausdruck. Diese Veröffentlichung sei nicht vertretbar, da die Firma zur vorgesehenen Einteilung des Präparates O. noch nicht Stellung genommen habe.
Das Schweizer Fernsehen widmete am 9. September 1985 einen Teil der Sendung "Kassensturz" den cerebral-vasoaktiven Substanzen, wobei gestützt auf die Publikation von Prof. R. das Ergebnis der Abklärungen über die Wirksamkeit der verschiedenen Präparate dargestellt wurde.
Am 10. Oktober 1985 liess sich die Firma S. AG zur vorgesehenen Streichung ihres Präparates vernehmen.
Nach Einholung eines zusätzlichen Berichtes der Arbeitsgruppe vom 15. April 1986 (Rapport II) strich das BSV das O. mit dem Wirkstoff Vincamin mit Verfügung vom 17. Dezember 1986 aus der SL, wobei es gleichzeitig hinsichtlich weiterer 28 Medikamente Streichungen verfügte. Das Präparat gehöre in die Kategorie C (Medikamente, über die verschiedene klinische Arbeiten vorliegen, die aber keine symptomatischen, durch kontrollierte, gültige Studien nachweisbaren Verbesserungen hervorrufen, oder die nur einen unbedeutenden Heileffekt haben).
B.-
Die Firma S. AG führte Beschwerde beim Eidg. Departement des Innern (EDI). Sie beantragte unter Einreichung einer neuen Arbeit die Aufhebung der Streichungsverfügung. Gerügt wurden
BGE 119 V 456 S. 459
unter anderem die fehlende Unbefangenheit und Unparteilichkeit von Prof. R.
Auf Antrag des BSV sistierte das EDI das Beschwerdeverfahren im Hinblick auf erforderliche umfangreiche Abklärungen und bestätigte die aufschiebende Wirkung der Beschwerde (Zwischenverfügung vom 22. Juni 1988). Nach Durchführung eines doppelten Schriftenwechsels wies das EDI die Beschwerde mit Entscheid vom 29. Mai 1992 ab. Die Rüge der fehlenden Objektivität der Experten wurde als unbegründet verworfen: "Cela vaut en particulier pour le reproche adressé au professeur R. en raison du fait qu'il avait déjà été appelé à traiter de la question auparavant. N'est pas déterminant à cet égard le fait que son fils travaille dans la division de recherche de l'entreprise S. S.A. Il en va de même pour son article sur les médicaments dits cérébro-actifs ..., même si le moment de la publication peut être considéré dans certains milieux comme peu opportun."
C.-
Die Firma S. AG lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit den Rechtsbegehren, der Entscheid des EDI und die Verfügung des BSV seien aufzuheben und der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Das EDI schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
D.-
Mit Verfügung vom 1. Oktober 1992 hat der Präsident des Eidg. Versicherungsgerichts der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt.
Der Instruktionsrichter hat am 8. März 1993 vom BSV weitere Unterlagen edieren lassen und eine Beweisauskunft eingeholt. Diese Aktenstücke sind dem Rechtsvertreter der S. AG zugestellt worden, soweit sie für das vorliegende Urteil von Bedeutung sind.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig ist eine Verfügung des Bundesamtes für Sozialversicherung betreffend Aufnahme eines Arzneimittels in die Spezialitätenliste (SL) bzw. Streichung aus derselben gemäss Art. 3 ff. der Vo VIII über die Krankenversicherung vom 30. Oktober 1968. Solche Verfügungen sind, soweit sie vor dem 1. Dezember 1992 ergangen sind (vgl. Verordnung über die teilweise Inkraftsetzung der Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 18. November 1992, AS 1992 II 2350), mangels einer anderslautenden Bestimmung des KUVG durch
BGE 119 V 456 S. 460
Verwaltungsbeschwerde gemäss
Art. 44 und 47 Abs. 1 lit. c VwVG
beim EDI anfechtbar. Dessen Entscheide unterliegen nach Art. 98 lit. b in Verbindung mit
Art. 128 OG
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht. Da es nicht um Versicherungsleistungen im Sinne von
Art. 132 OG
geht, sind sie vom Eidg. Versicherungsgericht nur hinsichtlich der Rüge der Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, nicht aber auf Angemessenheit zu prüfen; an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhaltes ist das Gericht nicht gebunden (Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 1 OG
;
BGE 108 V 132
Erw. 1,
BGE 102 V 78
Erw. 1).
2.
a) Nach
Art. 12 Abs. 6 KUVG
bezeichnet der Bundesrat nach Anhören der von ihm bestellten Eidg. Arzneimittelkommission (EAK) die Arzneimittel, die nicht als Pflichtleistung gelten, deren Übernahme jedoch den Krankenkassen empfohlen wird. Die Empfehlung erfolgt in Form der vom BSV herausgegebenen SL (Art. 3 Vo VIII). Nach Art. 4 Abs. 1 Vo VIII sind für die Aufnahme eines Arzneimittels massgebend das medizinische Bedürfnis (lit. a), die Zweckmässigkeit und Zuverlässigkeit in bezug auf Wirkung und Zusammensetzung (lit. b) sowie die Wirtschaftlichkeit (lit. c). Nach Abs. 6 der Bestimmung ordnet das EDI nach Anhören der EAK das Nähere über die Aufnahmebedingungen. Dies ist mit der Verordnung 10 des EDI über die Krankenversicherung betreffend die Aufnahme von Arzneimitteln in die SL vom 19. November 1968 geschehen (
BGE 110 V 111
Erw. 2,
BGE 108 V 133
Erw. 2,
BGE 102 V 79
Erw. 2).
b) Nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 Vo VIII ist ein in die SL aufgenommenes Arzneimittel auf Antrag der EAK zu streichen, wenn es u.a. nicht mehr alle Voraussetzungen gemäss Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung erfüllt (lit. a). Streichungen sind erst nach Anhören der Betroffenen zulässig und im Bulletin des Bundesamtes für Gesundheitswesen zu veröffentlichen; sie treten drei Monate nach der Veröffentlichung in Kraft, sofern nicht besondere Gründe für eine sofortige Inkraftsetzung vorliegen (Art. 6 Abs. 2 Vo VIII).
c) Nach
Art. 12 Abs. 6 KUVG
bestellt der Bundesrat die EAK und bezeichnet nach deren Anhören die Arzneimittel und Analysen, die von den Kassen als Pflichtleistung zu übernehmen sind, sowie die Arzneimittel, deren Übernahme den Kassen empfohlen wird. Über Zusammensetzung, Aufgaben, Organisation und Arbeitsweise der Kommission und ihrer Ausschüsse enthält die Verordnung VIII über
BGE 119 V 456 S. 461
die Krankenversicherung betreffend die Auswahl von Arzneimitteln und Analysen vom 30. Oktober 1968 in der geltenden Fassung folgende Bestimmungen:
"
Art. 8
1. Zusammensetzung
1 Der Bundesrat ernennt jeweils für eine vierjährige Amtsdauer eine Arzneimittelkommission, bestehend aus höchstens 28 ordentlichen Mitgliedern und einer angemessenen Zahl von Ersatzmitgliedern. Sie wird vom Direktor des Bundesamtes oder seinem Stellvertreter präsidiert und setzt sich zusammen aus Vertretern:
a. des Bundesamtes für Gesundheitswesen,
b. der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel,
c. der Dozenten der Medizin und Pharmazie,
d. der Krankenkassen,
e. der Ärzte,
f. der Apotheker,
g. der Heilanstalten,
h. der Laboratorien,
i. der Versicherer nach dem Bundesgesetz vom 20. März 1981 1) über die Unfallversicherung (UVG).
2 Der Armeeapotheker nimmt mit beratender Stimme an den Sitzungen der Arzneimittelkommission und der Ausschüsse teil.
3 Die Mitglieder können sich an den Sitzungen der Arzneimittelkommission und der Ausschüsse durch Ersatzmitglieder vertreten lassen.
Art. 9
2. Aufgaben
1 Die Arzneimittelkommission bearbeitet die in Artikel 1 Absatz 1 vorgesehenen Listen und passt sie dem jeweiligen Stand der ärztlichen Bedürfnisse und der Entwicklung auf dem Gebiet der Heilmittel und Analysen an, wobei die Wünsche der interessierten Kreise von ihr überprüft werden.
2 Sie stellt dem Departement bzw. dem Bundesamt Antrag auf Aufnahme oder Streichung von Arzneimitteln und Analysen in diesen Listen sowie auf Festlegung der Vergütungen nach Art. 22quater Absatz 1 des Gesetzes.
Art. 10
3. Ausschüsse
a. Zusammensetzung
1 Die Arzneimittelkommission setzt zur Vorberatung einzelner Geschäfte aus ihrer Mitte die folgenden Ausschüsse ein:
a. einen Ausschuss für wissenschaftliche Fragen, bestehend aus den
BGE 119 V 456 S. 462
wissenschaftlichen Experten;
b. einen Ausschuss für wirtschaftliche Fragen, bestehend aus drei Vertretern der Krankenkassen, je zwei Vertretern der Ärzte und der Apotheker, einem Vertreter der Heilanstalten und einem Vertreter der Unfallversicherer nach UVG;
c. einen Ausschuss für Analysenfragen, bestehend aus je drei Vertretern der Krankenkassen und der Laboratorien, je zwei Vertretern der Ärzte und der Apotheker, einem Vertreter der Heilanstalten und einem Vertreter der Unfallversicherer nach UVG;
d. einen Ausschuss für Grundsatzfragen, bestehend aus zwei wissenschaftlichen Experten, drei Vertretern der Krankenkassen und je zwei Vertretern der Ärzte, Apotheker und Laboratorien, einem Vertreter der Heilanstalten und einem Vertreter der Unfallversicherer nach UVG; der Bundesrat ernennt ferner je zwei Vertreter der schweizerischen Hersteller und der Importeure pharmazeutischer Spezialitäten, die mit beratender Stimme an den Arbeiten des Ausschusses teilnehmen, sofern diese nicht einzelne Arzneimittel zum Gegenstand haben.
2 Die Vertreter des Bundesamtes für Gesundheitswesen und der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel nehmen an den Sitzungen sämtlicher Ausschüsse teil.
Art. 11
b. Aufgaben
1 Der Ausschuss für wissenschaftliche Fragen beurteilt die Arzneimittel gemäss den Vorschriften von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a und b und Absatz 2.
2 Der Ausschuss für wirtschaftliche Fragen beurteilt auf Grund der Beschlüsse des Ausschusses für wissenschaftliche Fragen die Arzneimittel gemäss der Vorschrift von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c.
3 Der Ausschuss für Analysenfragen beurteilt die Analysen gemäss Artikel 7.
4 Der Ausschuss für Grundsatzfragen beurteilt die grundsätzlichen Fragen hinsichtlich der Anwendung dieser Verordnung. Er hat die Organisationen der in Betracht fallenden Kreise anzuhören.
5 Die Ausschüsse werden vom Präsidenten der Arzneimittelkommission oder dessen Stellvertreter präsidiert. Diese können das Präsidium einem Mitarbeiter des Bundesamtes oder dem der Arzneimittelkommission angehörenden Vertreter des Bundesamtes für Gesundheitswesen übertragen."
3.
a) Wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren lässt die Beschwerdeführerin in prozessualer Hinsicht eine Verletzung der Ausstandsvorschrift des
Art. 10 Abs. 1 lit. d VwVG
geltend machen. Prof. R., Mitglied der von der EAK eingesetzten Arbeitsgruppe, habe
BGE 119 V 456 S. 463
1985 nach Eröffnung des Streichungsverfahrens und noch vor Erlass der Verfügung des BSV vom 17. Dezember 1986 einen Artikel betreffend das strittige Thema publiziert, in welchem er mit seinen Untersuchungsergebnissen an die Öffentlichkeit gelangt sei. Nach dem Erscheinen dieses Artikels habe das Schweizer Fernsehen in seiner Sendung "Kassensturz" vom 9. September 1985 einen Teil der Sendezeit den cerebral-vasoaktiven Substanzen gewidmet und die Ergebnisse von Prof. R. einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Diese Sendung habe bei den Ärzten und Patienten eine beträchtliche Verunsicherung ausgelöst und zu einer verunglimpfenden Negativpublizität geführt. Zudem sei der Sohn des Prof. R., Dr. R., Leiter des Forschungslabors der Firma S. AG, welche das Konkurrenzprodukt H. herstelle. Aufgrund dieser Tatsachen müsse Prof. R. als befangen bezeichnet werden.
b) Gemäss
Art. 10 Abs. 1 lit. d VwVG
haben Personen, die eine Verfügung treffen oder diese vorbereiten, in Ausstand zu treten, wenn sie aus anderen als den in lit. a bis c (persönliches Interesse, Verwandtschaft oder Vertreter einer Partei) angeführten Gründen in der Sache befangen sein könnten. Dabei unterscheidet das VwVG in
Art. 10 VwVG
nicht zwischen Ausschlussgründen, die zwingend zu beachten sind, und den Ablehnungsgründen, deren Geltendmachung den Beteiligten freisteht, wie etwa nach der Bestimmung von Art. 22 f. OG. Vielmehr müssen sämtliche Ausstandsgründe von Amtes wegen berücksichtigt werden (KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 1993, S. 74 f., Rz. 104).
Neben dieser Bestimmung kennt die Bundesrechtspflege weitere, speziell auf Experten zugeschnittene Regelungen. Nach
Art. 19 VwVG
in Verbindung mit
Art. 58 BZP
gelten für Sachverständige die gleichen Ausstandsgründe, die für die Richter in den
Art. 22 und 23 OG
vorgesehen sind.
4.
Zu prüfen ist vorab, ob Prof. R. den Ausstandsregeln für Experten unterliegt.
a) Auszugehen ist davon, dass das Verwaltungsverfahren vor dem BSV, in dem über die Aufnahme oder Streichung von Arzneimitteln in die bzw. aus der SL sowie über Preisanpassungen entschieden wird, grundsätzlich vom VwVG beherrscht ist (
Art. 1 Abs. 1 und 2 lit. a VwVG
). Im Einzelfall ist zu prüfen, inwieweit die Vorschriften und Grundsätze des Verwaltungsverfahrensrechts zum Zuge kommen. So hat sich das Eidg. Versicherungsgericht im Zusammenhang mit der Beurteilung von verfahrensrechtlichen Rügen in
BGE 119 V 456 S. 464
BGE 108 V 139
ff. Erw. 4c und d mit der Rechtsstellung der EAK befasst. Es verwies auf das Urteil W. AG vom 30. Mai 1978 (RSKV 1978 S. 193 Erw. 4c), wonach die EAK "nach ihrer Zusammensetzung und Arbeitsweise als eine im praktischen Ergebnis verwaltungsunabhängige Fachkommission zu betrachten" sei, deren Stellungnahmen "als neutrale Beurteilungen bewertet werden" dürften. Von der Zusammensetzung des Gremiums zu unterscheiden sei aber dessen Funktion, die grundsätzlich eine rein verwaltungsinterne zuhanden des Bundesrates bzw. - kraft Delegation - des Bundesamtes sei. Aus dieser rechtlichen Stellung der EAK als einem funktionell bloss verwaltungsinternen beratenden Gremium folge, dass die Kommission zwar als beratendes Fachgremium beizuziehen und "anzuhören" sei; die eigentliche Entscheidung sei aber vom Bundesrat bzw. vom BSV zu fällen. Gegenüber dem Gesuchsteller trete grundsätzlich nur das BSV in erster und das EDI in zweiter Instanz in Erscheinung, nicht aber die EAK;
Art. 12 lit. e VwVG
und
Art. 57 ff. BZP
(in Verbindung mit
Art. 19 VwVG
) fänden daher keine Anwendung. Die bisherige Rechtsprechung sei zu bestätigen, wonach die EAK ein neutrales und nach Zusammensetzung und Arbeitsweise verwaltungsunabhängiges Organ darstelle, wobei aber zwischen den Stellungnahmen interner Beratungsgremien - zu welchen die EAK gehört - und den Sachverständigengutachten im Sinne von
Art. 12 lit. e VwVG
unterschieden werden müsse (
BGE 108 V 139
/140 Erw. 4c und d).
b) Es besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung zu gutachtlichen Meinungsäusserungen der EAK abzuweichen. Sie gilt umsomehr, wenn es bloss um Vorarbeiten zu solchen Stellungnahmen geht. Dementsprechend brauchen die Stellungnahmen der EAK resp. deren Arbeitsgruppen die Anforderungen, welche das Gesetz an ein Sachverständigengutachten (
Art. 57 ff. BZP
) stellt, nicht zu erfüllen. Prof. R. ist daher nicht als Sachverständiger im Sinne von
Art. 12 lit. e VwVG
anzusehen, der nach
Art. 19 VwVG
in Verbindung mit
Art. 58 BZP
den für Richter geltenden, besonderen Ausstandsvorschriften unterliegt.
Art. 22 und 23 OG
über die Ausschliessungs- und Ablehnungsgründe finden somit keine Anwendung.
5.
Daraus kann indes nicht abgeleitet werden, dass die Mitglieder der EAK von jeglichen Ausstandspflichten ausgenommen sein können. Die Aufgabe, die an ein "neutrales" und verwaltungsunabhängiges, den Grundsätzen gesetzmässiger Verwaltung verpflichtetes staatliches Organ gestellt ist, lässt dies nicht zu. Ob Ausstandsgründe bestehen, ist von Fall zu Fall und mit einer gewissen
BGE 119 V 456 S. 465
Zurückhaltung zu entscheiden, setzt sich doch die EAK auch aus Vertretern von Organisationen und Fachschaften zusammen, die im gesetzlichen Rahmen ihre spezifischen Interessen wahrnehmen. Die wissenschaftlichen Experten aber haben in vermehrtem Masse dem Anspruch auf Objektivität und Unparteilichkeit zu genügen, insbesondere wenn sie, wie hier, gestützt auf einen Expertenauftrag des BSV und der EAK im Rahmen einer Arbeitsgruppe eine wissenschaftliche Überprüfung und Beurteilung von Medikamenten vorzunehmen haben. Die Rüge der Befangenheit ist daher nach den allgemeinen Grundsätzen des
Art. 10 Abs. 1 VwVG
zu untersuchen.
a) Als erstes stellt sich die Frage, ob Prof. R. im Rahmen seiner Tätigkeit in der Arbeitsgruppe eine Verfügung "vorbereitet" hat. Dies ist - in einem weiteren Sinne - zu bejahen. Unter Personen, die eine Verfügung vorbereiten, fallen zwar in erster Linie administrative, juristische oder technische Sachbearbeiter, wie dies bei der Mitarbeiterin der Sektion 11, Abteilung Allgemeines Recht, der Generaldirektion PTT gemäss unveröffentlichtem Urteil des Bundesgerichts vom 5.2.1990 i.S. K. der Fall war. Indessen liegt kein Grund vor, darunter nicht auch die Mitglieder der EAK zu verstehen. Die Kommission stellt dem BSV Antrag auf Aufnahme oder Streichung von Arzneimitteln (Art. 9 Abs. 2 Vo VIII). Obwohl diese Mitglieder direkt keine Verfügung vorbereiten und obgleich die eigentliche Entscheidung beim BSV bzw. beim Bundesrat liegt, wirken sie in einem beratenden Fachgremium mit. Dessen gutachtliche Meinungsäusserung und Empfehlung sind erfahrungsgemäss für Aufnahme oder Verbleib eines Medikamentes in der SL und damit für den Inhalt des zu treffenden Entscheides weithin ausschlaggebend. Diese entscheidungsvorbereitende Tätigkeit rechtfertigt es durchaus, die Mitglieder der EAK grundsätzlich der Ausstandsregelung von
Art. 10 Abs. 1 VwVG
zu unterwerfen.
b) Die Rechtsprechung leitet aus
Art. 4 BV
eine
Art. 58 Abs. 1 BV
entsprechende Garantie ab für den Fall, dass ein Entscheid - statt von einem Gericht - von einer Verwaltungsbehörde oder vom Parlament getroffen wird (
BGE 117 Ia 410
Erw. 2; KÖLZ/HÄNER, a.a.O., Rz. 106). Es kann daher zur Beurteilung des Ausstandsgrundes von
Art. 10 Abs. 1 lit. d VwVG
die zu
Art. 58 BV
(und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
) ergangene Rechtsprechung sinngemäss herangezogen werden. Danach ist Befangenheit anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters zu wecken. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten persönlichen Verhalten des betreffenden Richters oder in
BGE 119 V 456 S. 466
gewissen funktionellen und organisatorischen Gegebenheiten begründet sein. In beiden Fällen wird aber nicht verlangt, dass der Richter deswegen tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände gegeben sind, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit und der Gewichtung solcher Umstände kann jedoch nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abgestellt werden; das Misstrauen in den Richter muss vielmehr in objektiver Weise als begründet erscheinen (
BGE 118 Ia 286
Erw. 3d,
BGE 117 Ia 326
,
BGE 116 Ia 33
Erw. 2b; vgl. ferner
BGE 115 V 263
Erw. 5a, je mit Hinweisen).
c) Prof. R. gehörte in der EAK zur Gruppe der wissenschaftlichen Experten (Dozenten der Medizin und Pharmazie). Laut Angaben des BSV vom 23. März 1993 trat der Sohn von Prof. R., PD Dr. med. R., am 1. September 1982 in die Dienste der S. AG und arbeitete als Leiter des Forschungslabors dieser Firma. In die Überprüfung der Wirksamkeit der Medikamente einer ganzen therapeutischen Gruppe durch die Arbeitsgruppe S./R./F. wurde auch das Präparat H. der S. AG einbezogen (das zusammen mit den Nachahmern als einziges in die Kategorie A kam und mit wenigen anderen Präparaten als wirksam in der SL verblieben ist). Angesichts des engen Verwandtschaftsverhältnisses und der wichtigen Position des Sohnes von Prof. R. bei der S. AG sind in der Tat objektive Umstände gegeben, die den Anschein der Befangenheit wecken können. Weil der blosse, objektiv gerechtfertigte Anschein genügt, kommt es nicht darauf an, ob Anhaltspunkte für eine tatsächliche Voreingenommenheit von Prof. R. bestehen. Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf richtige, d.h. unparteiische Zusammensetzung der entscheidenden Verwaltungsbehörde ist verletzt.
Daran ändert nichts, dass Prof. R. die wissenschaftliche Überprüfung der Medikamente im Rahmen einer dreiköpfigen Arbeitsgruppe vorgenommen hat, bei der gemäss Darstellung des BSV das Einstimmigkeitsprinzip galt. Auch ist entgegen der Auffassung des BSV irrelevant, ob das Präparat H. schon 1956 in die SL aufgenommen worden ist und PD R. an der Entwicklung dieses Medikamentes nicht beteiligt war. Schliesslich bestehen keine Zweifel darüber, dass eine Firma befugt ist, im Streichungsverfahren gegen eines ihrer Medikamente Befangenheitsgründe gegen einen Experten geltend zu machen, die sich aus dessen Verhältnis zur Firma oder zu den Mitarbeitern eines Konkurrenzbetriebes ergeben, dessen Medikamente gleichzeitig einer Wirksamkeitsüberprüfung unterzogen werden. Die
BGE 119 V 456 S. 467
Tatsache, dass die S. AG in diesem Verfahren nicht Partei ist, kann daher keine Rolle spielen.
d) Genügen die geltend gemachten besonderen Verhältnisse für sich allein betrachtet, um den Anschein der Befangenheit zu wecken, kann dahingestellt bleiben, ob die Tatsache, dass Prof. R. vorzeitig und gegen beschlossene Vorgehensweisen in die Medien gelangte, ebenfalls geeignet wäre, Anlass zu begründeter Besorgnis hinsichtlich der Unbefangenheit dieses Sachverständigen zu geben. Ebenso braucht nicht geprüft zu werden, ob bei der gegebenen Aktenlage die Streichungsverfügung materiell begründet war.
6.
Obwohl das Verfahren grundsätzlich kostenpflichtig ist (
Art. 134 OG
), können dem BSV keine Gerichtskosten auferlegt werden (
Art. 156 Abs. 2 OG
).
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Eidg. Departementes des Innern vom 29. Mai 1992 und die angefochtene Verfügung vom 17. Dezember 1986 aufgehoben werden und die Sache an das Bundesamt für Sozialversicherung zurückgewiesen wird, damit dieses, nach nochmaligem Anhören der Eidg. Arzneimittelkommission ohne Mitwirkung von Prof. R., über die Streichung des Medikamentes O. neu befinde.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. | null | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2dd40db3-fafd-4696-b599-b6d076355f5f | Urteilskopf
124 II 570
55. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4. November 1998 i.S. X. Stiftung gegen Bundesamt für Sozialversicherung und Eidgenössische Beschwerdekommission der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Art. 30a ff. BVG
;
Art. 331d OR
und
Art. 331e OR
; Verwaltungskosten der Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge.
Voraussetzungen, unter denen für den Vorbezug oder die Verpfändung von Vorsorgemitteln für den Erwerb von Wohneigentum von Destinatären ein Verwaltungskostenbeitrag erhoben werden kann (E. 2).
Erfordernis einer reglementarischen Grundlage (E. 3).
Rückerstattung der zu Unrecht erhobenen Beiträge (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 570
BGE 124 II 570 S. 570
A.-
Die X. Stiftung (Stiftung) ist eine Sammelstiftung mit dem Zweck, für die Arbeitnehmer der angeschlossenen Arbeitgeber die berufliche Vorsorge durchzuführen. Sie untersteht der Aufsicht des
BGE 124 II 570 S. 571
Bundesamtes für Sozialversicherung (Bundesamt). Der bei der Stiftung versicherte Y. ersuchte mit Schreiben vom 20. Mai 1995 um Zustellung der Unterlagen für den Vorbezug von Mitteln der beruflichen Vorsorge zur Förderung von Wohneigentum im Sinne von
Art. 30c des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG; SR 831.40)
in der Fassung des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1993 über die Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge (AS 1994 2372). Am 26. Juni 1995 sandte ihm die Stiftung die entsprechenden Unterlagen. Zugleich forderte sie ihn auf, ihr eine Bearbeitungsgebühr von Fr. 400.-- zukommen zu lassen, worin die Gebühren für den Grundbucheintrag enthalten seien. Y. stellte sich daraufhin unter Hinweis auf eine Mitteilung des Bundesamtes für Sozialversicherung vom 12. Juni 1995 auf den Standpunkt, eine solche Pauschale dürfe nicht verlangt werden. Zudem setzte er das Bundesamt als Aufsichtsbehörde in Kenntnis über die Forderung der Stiftung.
Das Bundesamt erliess am 14. März 1996 eine aufsichtsrechtliche Verfügung im Sinne von
Art. 62 BVG
. Darin erwog es, die Verwaltungskosten beim Vorbezug zur Finanzierung von Wohneigentum seien gemäss
Art. 66 Abs. 1 BVG
paritätisch und kollektiv zu tragen; sie dürften nur auf den einzelnen Versicherten überwälzt werden, wenn sie das übliche Mass überschreiten. Es sei anzunehmen, dass die Stiftung nicht nur im Falle von Y., sondern auch in übrigen Fällen einen Kostenbeitrag erhoben habe, obwohl ihr seit dem 12. Juni 1995 die gegenteilige Auffassung des Bundesamtes bekannt sei. Demgemäss verpflichtete das Bundesamt die Stiftung, innert drei Monaten sämtlichen Versicherten, denen seit dem 12. Juni 1995 für die Geltendmachung des Vorbezugs oder der Verpfändung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge zur Finanzierung des Wohneigentums
BGE 124 II 570 S. 572
Verwaltungskosten belastet worden waren und deren Gesuche keine besonderen Aufwendungen verursacht hatten, die jeweils erhobenen Verwaltungskosten mit Ausnahme der Gebühren für den Grundbucheintrag zurückzuvergüten.
Die Stiftung erhob gegen diese Verfügung Beschwerde an die Eidgenössische Beschwerdekommission der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (Beschwerdekommission). Diese erwog mit Urteil vom 5. August 1997, die Verwaltungskosten der beruflichen Vorsorge seien gemäss
Art. 66 Abs. 1 BVG
paritätisch zu tragen und nicht auf die einzelnen Versicherten zu überwälzen. Beim Bezug von Vorsorgegeldern zur Finanzierung des Wohneigentums könne zwar grundsätzlich ein individueller Unkostenbeitrag erhoben werden, da dies nicht eine für das Sozialversicherungsrecht typische Leistung sei und nur von einem Teil der Versicherten in Anspruch genommen werde. Eine solche Kostenauflage sei aber unabhängig vom Aufwand im Einzelfall nur zulässig, wenn sie reglementarisch oder statutarisch vorgesehen sei, was vorliegend nicht der Fall sei. Demgemäss wies die Beschwerdekommission die Beschwerde ab und änderte die angefochtene Verfügung in dem Sinne ab, dass die Stiftung sämtliche von ihr seit dem 1. Januar 1995 verlangten Unkostenbeiträge für die Geltendmachung des Vorbezugs oder der Verpfändung von Mitteln der beruflichen Vorsorge, unabhängig vom Verwaltungsaufwand im Einzelfall, den betroffenen Versicherten zurückzuerstatten habe, mit Ausnahme der Gebühren für die Anmerkung im Grundbuch.
B.-
Die Stiftung erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil der Beschwerdekommission aufzuheben und festzustellen, dass sie nicht verpflichtet sei, die erhobenen Verwaltungskostenbeiträge zurückzuerstatten.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
2.
a) Streitig ist, ob die Vorsorgeeinrichtungen von den Versicherten für den Vorbezug und die Verpfändung von Vorsorgemitteln zur Finanzierung von Wohneigentum Bearbeitungsgebühren verlangen dürfen. Nicht umstritten ist demgegenüber, dass die Auszahlung der Vorsorgemittel nicht von der vorgängigen Bezahlung einer solchen Gebühr abhängig gemacht werden darf.
b) Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, der einzelne Versicherte verursache durch den Vorbezug bzw. die Verpfändung aussergewöhnliche Unkosten, die nicht durch die Gesamtheit der Versicherten getragen, sondern den individuellen Verursachern überbunden werden sollten. Demgegenüber ist das Bundesamt der Ansicht, diese Unkosten gehörten zu den ordentlichen Verwaltungskosten, welche nicht von den einzelnen Versicherten, sondern gemäss
Art. 66 BVG
durch die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu finanzieren seien. Nur wenn die Kosten das übliche Mass überstiegen, könne der betreffende Teil den einzelnen Versicherten überbunden werden. Nach Auffassung der Beschwerdekommission schliesslich ist die Überbindung der Verwaltungskosten auf einzelne Versicherte unter bestimmten Voraussetzungen zulässig; namentlich müssten die Arbeitgeberbeiträge gesamthaft mindestens
BGE 124 II 570 S. 573
gleich hoch sein wie die Arbeitnehmerbeiträge inklusive der individuell erhobenen Verwaltungskostenbeiträge; zudem bedürfe die Überbindung der Kosten in jedem Fall einer reglementarischen Grundlage.
c) Die Vorsorgeeinrichtungen sind gemäss
Art. 49 BVG
im Rahmen der gesetzlichen und verfassungsmässigen Schranken in ihrer Finanzierung frei (
BGE 121 II 198
E. 3 S. 203). Die Aufsichtsbehörden haben über die Einhaltung der Rechtmässigkeit zu wachen (
Art. 62 BVG
;
BGE 121 II 198
E. 2a S. 201), wozu namentlich auch der Grundsatz der Gleichbehandlung der Destinatäre gehört (
BGE 121 II 198
E. 4). Hingegen dürfen die Aufsichtsbehörden nicht in den Ermessensbereich der Einrichtungen eingreifen (CHRISTINA RUGGLI, Die behördliche Aufsicht über Vorsorgeeinrichtungen, Diss. Basel 1992, S. 80). Es ist somit zu prüfen, ob eine Rechtsnorm oder ein allgemeiner Rechtsgrundsatz die Erhebung individueller Verwaltungskostenbeiträge verbietet.
d) Weder die
Art. 30a ff. BVG
bzw. 331d und 331e OR noch die Verordnung vom 3. Oktober 1994 über die Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge (WEFV; SR 831.411) äussern sich ausdrücklich zur Frage, ob den Versicherten beim Vorbezug oder bei der Verpfändung von Vorsorgemitteln zur Wohneigentumsförderung Verwaltungskosten auferlegt werden dürfen.
e)
Art. 66 Abs. 1 BVG
legt für den obligatorischen Bereich den Grundsatz der Beitragsparität fest; für den überobligatorischen Bereich ergibt sich dieser Grundsatz aus
Art. 331 Abs. 3 OR
. Diese beiden Bestimmungen verlangen jedoch nur eine kollektive oder relative Beitragsparität, nicht eine individuelle: Die Summe der Arbeitgeberbeiträge muss mindestens gleich hoch sein wie die Summe der Arbeitnehmerbeiträge. Das schliesst nicht aus, dass einzelne Arbeitnehmer mehr bezahlen als andere und auch mehr, als der Arbeitgeber für sie persönlich leistet (STEFANO BEROS, Die Stellung des Arbeitnehmers im BVG. Obligatorium und freiwillige berufliche Vorsorge. Diss. Zürich 1993, S. 89 f.; GERHARD GERHARDS, Grundriss Zweite Säule, Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, Bern 1990, S. 108 f.; HANS MICHAEL RIEMER, Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, Bern 1985, S. 98 f.).
Art. 66 Abs. 1 BVG
bzw.
Art. 331 Abs. 3 OR
stehen somit einer Kostenauflage an einzelne Versicherte nicht entgegen, die einen besonderen Verwaltungsaufwand verursacht haben. Auch aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Destinatäre lässt sich ein solches Verbot nicht ableiten: Wer einen besonderen Aufwand verursacht, schafft
BGE 124 II 570 S. 574
insofern aussergewöhnliche Sachumstände, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Das steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, wonach eine Überbindung von Auslagen an den Versicherten unzulässig ist, soweit es um Abklärungen im Zusammenhang mit Leistungen im Umfange der BVG-Mindestvorschriften geht, im Übrigen jedoch erlaubt ist (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 25. Juli 1994, publiziert in SVR, 1994 BVG 18 47, E. 4).
f) Nach Ansicht der Beschwerdeführerin ist auch der Grundsatz der kollektiven Beitragsparität für die Verwaltungskosten bei Verpfändung und Vorbezug zum Zweck der Wohneigentumsförderung nicht anwendbar. Indessen ergibt sich dieser Grundsatz zwingend aus dem klaren Text von
Art. 66 Abs. 1 BVG
. Auch der im überobligatorischen Bereich massgebende
Art. 331 Abs. 3 OR
ist zu Gunsten der Arbeitnehmer zwingend (
Art. 362 OR
;
BGE 107 II 430
E. 4 S. 435). Dass
Art. 67 BVG
in Verbindung mit
Art. 42 BVV 2
(SR 831.441.1) nur von den Risiken Alter, Tod und Invalidität spricht, bedeutet nicht, dass Verwaltungskosten vom Grundsatz der Beitragsparität ausgenommen wären:
Art. 66 BVG
bezieht sich nicht auf die zu deckenden Risiken, sondern auf die gesamten Aufwendungen der Vorsorgeeinrichtung. Dazu gehören klarerweise nebst den zur Risikodeckung erforderlichen Mitteln auch die Verwaltungskosten (CARL HELBLING, Personalvorsorge und BVG, 6. Aufl. Bern 1995, S. 119 und 279; GERHARDS, a.a.O., S. 105). Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb das für einzelne Arten von Verwaltungskosten nicht gelten soll. Die Wohneigentumsförderung ist nicht ein systemfremdes Element im Recht der beruflichen Vorsorge, sondern eine gesetzlich vorgesehene Form der Altersvorsorge. Wohl hat der Gesetzgeber beim Erlass von
Art. 66 BVG
noch nicht an die Verwaltungskosten im Zusammenhang mit der Wohneigentumsvorsorge gedacht. Das kann aber kein Grund sein, diese Kosten vom Grundsatz der Parität auszunehmen; es ist nicht selten, dass ein Gesetz auf Sachverhalte angewendet wird, die es in dieser Form beim Erlass des Gesetzes noch nicht gab. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ergibt sich auch kein innerer Widerspruch, wenn einerseits eine individuelle Kostenbeteiligung der Versicherten zugelassen, andererseits trotzdem der Grundsatz der kollektiven Betragsparität angewendet wird. Die kollektive Beitragsparität bezieht sich auf die Summe aller Beiträge, die individuelle auf die Beiträge Einzelner. Dass von dieser abgewichen werden kann, bedeutet nicht, dass jene nicht einzuhalten wäre.
BGE 124 II 570 S. 575
g) Mit Recht hat die Beschwerdekommission verlangt, der individuell verlangte Beitrag dürfe nicht so hoch sein, dass eine abschreckende Wirkung erzielt werde. Der gesetzliche Zweck, den Erwerb von Wohneigentum zu fördern, darf nicht durch die Ausgestaltung von Verwaltungskostenvorschriften vereitelt werden. Die Beschwerdeführerin verlangt für den Vorbezug einen Pauschalbeitrag von Fr. 400.--. Umgerechnet auf die minimale Vorbezugssumme von Fr. 20'000.-- (
Art. 5 Abs. 1 WEFV
) entspricht das 2%. Dieser Betrag bewegt sich in der Grössenordnung der Bearbeitungsgebühr, welche auch von privaten Banken für die Erteilung von Hypothekarkrediten in dieser Höhe verlangt wird, und kann nicht beanstandet werden.
h) Nach Auffassung des Bundesamtes ist eine Erhebung individueller Verwaltungskostenbeiträge nur zulässig, soweit diese Kosten über die zur Bearbeitung eines normalen Gesuchs erforderlichen Aufwendungen hinausgehen. Diese Unterscheidung ergibt sich nicht aus dem Gesetz. Sie wirft zudem Praktikabilitätsprobleme auf. Es müsste festgelegt werden, was unter einem "normalen" Gesuch bzw. Aufwand zu verstehen ist; der darüber hinausgehende Bearbeitungsaufwand müsste individuell erhoben werden. Im Lichte einer rationellen Verwaltungsführung muss - soweit überhaupt eine Unkostenbeteiligung der Versicherten ins Auge gefasst wird - eine weitgehende Pauschalierung zulässig sein.
3.
Die Beschwerdekommission hat somit zu Recht erwogen, dass die Erhebung eines individuellen Unkostenbeitrags grundsätzlich zulässig ist; sie hat dafür jedoch eine Grundlage im Reglement verlangt.
a) Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, in ihren Reglementen befinde sich eine Grundlage für die Erhebung der fraglichen Unkostenbeiträge. Sie bringt hingegen vor, die Erhebung von Unkostenanteilen sei auch aufgrund von Einzelabreden zulässig. Das gelte bereits für den obligatorischen und umso mehr für den überobligatorischen Bereich.
b) Im obligatorischen Bereich entsteht das Vorsorgeverhältnis unmittelbar von Gesetzes wegen; einzelvertragliche Abmachungen sind zwar nicht völlig ausgeschlossen, doch lässt die gesetzliche und reglementarische Regelung nur einen geringen Spielraum für privatautonome Gestaltung (BEROS, a.a.O., S. 48, 54 ff.; JÜRG BRÜHWILER, Die betriebliche Personalvorsorge in der Schweiz, Bern 1989, S. 442; RIEMER, a.a.O., S. 99 f.). Jedenfalls dürfen sie nicht einer gesetzlichen Regelung widersprechen.
BGE 124 II 570 S. 576
Gemäss
Art. 50 BVG
erlassen die Vorsorgeeinrichtungen reglementarische Bestimmungen unter anderem über ihre Verwaltung und Finanzierung. Nach
Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BVG
wird sodann die Höhe der Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den reglementarischen Bestimmungen festgelegt. Finanzielle Pflichten der Versicherten bedürfen daher einer reglementarischen Grundlage (vgl.
BGE 118 V 229
E. 6c/bb S. 236; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 27. Dezember 1988, publiziert in SZS 1989 211, E. 3). Die Bedeutung dieser Bestimmung liegt - analog zu dem im staatlichen Bereich geltenden Legalitätsprinzip - einerseits darin, dass für alle Beteiligten die massgebenden Regeln in generell-abstrakter Form festgelegt sind, wodurch Vorhersehbarkeit und Rechtsgleichheit in der Anwendung gewährleistet werden (vgl.
BGE 118 V 229
E. 6c/bb S. 236); andererseits können beim Erlass von Reglementen die Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch mitwirken (
Art. 51 BVG
). Das Erfordernis einer reglementarischen Form sichert damit die gesetzlich vorgesehene paritätische Verwaltung der Vorsorgeeinrichtungen, die insbesondere bei Sammel- oder Gemeinschaftseinrichtungen sonst schlecht gewährleistet werden kann (vgl.
BGE 124 II 114
E. 2b/c). Dieses Erfordernis muss auch gelten für die Auferlegung von Verwaltungskosten bei Aufwendungen, die ein normales Ausmass überschreiten. Das ergibt sich bereits daraus, dass die Abgrenzung zwischen normalen und darüber hinausgehenden Aufwendungen nicht eindeutig ist; ohne reglementarische Grundlage kann eine rechtsgleiche und willkürfreie Handhabung einer solchen Abgrenzung nicht sichergestellt und die erforderliche Rechtssicherheit nicht gewährleistet werden.
c) Es trifft zu, dass die
Art. 50 und 66 BVG
gemäss
Art. 49 Abs. 2 BVG
für den überobligatorischen Bereich nicht anwendbar sind. Anders als im obligatorischen Bereich wird hier das Vorsorgeverhältnis nicht unmittelbar durch Gesetz, sondern durch einen privatrechtlichen Vorsorgevertrag begründet; das Reglement der Vorsorgeeinrichtung stellt den vorformulierten Inhalt des Vorsorgevertrags dar, wobei unter Umständen im Einzelfall schriftliche abweichende Abreden nicht ausgeschlossen sind (
BGE 122 V 142
E. 4b S. 145;
118 V 229
4b S. 232).
d) Im Bereich der Verpfändung oder des Vorbezugs von Mitteln der beruflichen Vorsorge zum Zwecke der Wohneigentumsförderung ist die Unterscheidung zwischen obligatorischem und überobligatorischem Bereich jedoch weder praktikabel noch rechtlich erheblich: Im Einzelfall dürfte es kaum möglich sein, ein konkretes Gesuch
BGE 124 II 570 S. 577
je nach Bereich unterschiedlich zu behandeln. Verpfändet und vorbezogen werden können Ansprüche auf Altersleistung unabhängig davon, ob es sich um obligatorische oder überobligatorische Ansprüche handelt. Die Vorsorgeeinrichtungen sind unmittelbar gesetzlich verpflichtet, den Versicherten auf deren Ersuchen hin unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen den Vorbezug zu ermöglichen (vgl. Botschaft zum Wohneigentumsförderungsgesetz, BBl 1992 VI 237 ff., 249, 264; MARKUS MOSER, Die Anforderungen des neuen Wohneigentumsförderungsgesetzes, SZS 1995 S. 200 f.); das Gesetz stellt es weder im obligatorischen (
Art. 30a ff. BVG
) noch im überobligatorischen (Art. 331d f. OR) Bereich ins Belieben der Vorsorgeeinrichtung, die Verpfändung bzw. den Vorbezug zuzulassen oder nicht. Das schliesst insoweit die Möglichkeit einer vertraglichen Regelung zwingend aus: Eine solche käme nur bei übereinstimmender gegenseitiger Willensäusserung zustande (
Art. 1 Abs. 1 OR
). Wäre eine vertragliche Regelung zulässig, hätte es die Vorsorgeeinrichtung in der Hand, einen Vorbezug nicht oder nur unter einschränkenden Voraussetzungen zuzulassen. Das widerspräche dem Willen des Gesetzes.
Zudem gelten auch im Bereich der überobligatorischen Versicherung die Vorschriften über die paritätische Verwaltung (
Art. 51 BVG
) sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie namentlich das Prinzip der Gleichbehandlung der Destinatäre (vgl.
BGE 121 II 198
E. 2a und 4;
BGE 120 V 312
E. 4). Einzelabreden sind deshalb auch im Bereich der überobligatorischen Versicherung unzulässig, soweit sie dazu führen, dass diese Grundsätze missachtet werden.
e) Auch die Beschwerdeführerin anerkennt, dass die Auszahlung nicht von der vorgängigen Leistung eines Unkostenbeitrags abhängig gemacht werden darf; logischerweise kann sie deshalb auch nicht davon abhängig sein, dass der Versicherte sich vertraglich bereit erklärt, einen Unkostenbeitrag zu leisten, da dies rechtlich zum gleichen Ergebnis führen würde. Die vertragliche Verpflichtung, einen Unkostenbeitrag zu leisten, würden demnach nur diejenigen Vorsorgenehmer eingehen, welche freiwillig bereit sind, der Vorsorgeeinrichtung mehr zu bezahlen, als sie müssten, bzw. - realistisch gesehen - diejenigen, welche über die Rechtslage schlecht informiert sind. Gerade in dem konkreten Fall, welcher der vorliegenden Streitigkeit zugrunde lag, ist hinsichtlich des Unkostenbeitrags keine übereinstimmende gegenseitige Willensäusserung zustande gekommen, so dass auch nach Auffassung der Beschwerdeführerin der Beitrag nicht erhoben werden könnte. Die von der
BGE 124 II 570 S. 578
Beschwerdeführerin vorgeschlagene vertragliche Konstruktion würde darauf hinauslaufen, dass ein Teil der Vorsorgenehmer aufgrund ihres schlechten Informationsstandes einen reglementarisch nicht vorgesehenen Beitrag leistet. Die Beschwerdekommission hat mit Recht erkannt, dass dies zu einer ungerechtfertigten und daher bundesrechtswidrigen Ungleichbehandlung unter den Versicherten führen würde.
f) Die von der Beschwerdeführerin erhobenen Unkostenbeiträge sind somit mangels einer reglementarischen Grundlage rechtswidrig.
4.
a) Das Bundesamt hatte die Beschwerdeführerin verpflichtet, alle seit dem 12. Juni 1995 erhobenen Verwaltungskosten (mit Ausnahme der Grundbuchgebühren) zurückzuerstatten, soweit die Behandlung der Gesuche keine besonderen Aufwendungen verursachten. Das Datum des 12. Juni 1995 begründete das Bundesamt damit, dass in den an diesem Tag erschienenen «Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 33» seine Auffassung publiziert wurde und seither der Beschwerdeführerin bekannt war. Die Beschwerdekommission änderte die Verfügung des Bundesamtes in zwei Punkten zum Nachteil der Beschwerdeführerin ab: Erstens sind sämtliche Unkostenbeiträge zurückzuerstatten, nicht nur diejenigen im Zusammenhang mit Gesuchen, die keinen besonderen Aufwand verursachten; zweitens sind nicht erst die seit dem 12. Juni 1995 erhobenen Beiträge zurückzuerstatten, sondern alle, die seit Inkrafttreten des Wohneigentumsförderungsgesetzes am 1. Januar 1995 erhoben wurden. Diese reformatio in peius ist grundsätzlich zulässig, nachdem die Beschwerdeführerin im Verfahren vor der Beschwerdekommission Gelegenheit hatte, sich dazu zu äussern (
Art. 62 Abs. 2 und 3 VwVG
in Verbindung mit
Art. 74 Abs. 3 BVG
bzw.
Art. 71a Abs. 2 VwVG
). Zu prüfen bleibt, ob die Anordnung inhaltlich rechtmässig ist.
b) Analog zu den privatrechtlichen Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung (
Art. 62 ff. OR
) gilt auch im Verwaltungsrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass Zuwendungen, die aus einem nicht verwirklichten oder nachträglich weggefallenen Grund erfolgen, zurückzuerstatten sind (
BGE 105 Ia 214
E. 5 S. 217;
BGE 88 I 213
S. 216 f.;
BGE 78 I 86
E. 1 S. 88; nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 28. Februar 1997 i.S. T., E. 3a; ULRICH HÄFELIN/GEORG MÜLLER, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 3. Aufl. Zürich 1998, S. 158; MAX IMBODEN/RENÉ A. RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Basel 1976,
BGE 124 II 570 S. 579
Nr. 32.B.I S. 191; PIERRE MOOR, Droit administratif, Vol. 2, Bern 1991, S. 100 ff.; RENÉ RHINOW/BEAT KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel 1990, Nr. 32.B.I S. 93; BLAISE KNAPP, Précis de droit administratif, 4. Aufl. Basel 1991, S. 166 Rz. 756). Das gilt auch im Sozialversicherungsrecht (vgl.
BGE 110 V 145
E. 4a S. 154;
BGE 105 V 309
E. I.1 S. 313;
BGE 102 V 91
E. III.1 S. 98 f.;
BGE 98 V 274
E. 2 S. 275 f.; HÄFELIN/MÜLLER, a.a.O., S. 158 Rz. 611). Ungerechtfertigt sind namentlich Leistungen, auf welche materiellrechtlich kein Anspruch besteht (
BGE 98 V 274
E. 2 S. 275). Da, wie ausgeführt, keine Rechtsgrundlage für die Erhebung der Unkostenbeiträge besteht, ist die Beschwerdeführerin um den Betrag der bezogenen Beiträge ungerechtfertigt bereichert.
c) Eine Leistung ist nicht ohne Rechtsgrund erbracht worden, wenn sie aufgrund einer zwar materiellrechtlich falschen, aber rechtskräftigen Verfügung erfolgt ist und sofern kein Grund besteht, auf diese Verfügung zurückzukommen (
BGE 111 V 329
E. 1 S. 332;
BGE 110 V 176
E. 2a S. 179;
BGE 105 Ia 214
E. 5 S. 217; IMBODEN/RHINOW, a.a.O., Nr. 32.B.II; MOOR, a.a.O., S. 102; KNAPP, a.a.O., S. 166 Rz. 757; RHINOW/KRÄHENMANN, a.a.O., Nr. 32.B.II). Die vorliegend zur Diskussion stehenden Beiträge sind jedoch nicht aufgrund einer Verfügung geleistet worden, zumal Vorsorgeeinrichtungen gar nicht ermächtigt sind, Verfügungen zu erlassen (
BGE 115 V 224
E. 2).
d) Nach
Art. 63 OR
kann, wer eine Nichtschuld freiwillig bezahlt hat, das Geleistete nur dann zurückfordern, wenn er nachzuweisen vermag, dass er sich über die Schuldpflicht im Irrtum befand. Mit diesem zusätzlichen Erfordernis ist für den Bereich der Leistungskondiktion eine gegenüber der allgemeinen Regel von
Art. 62 OR
abweichende Spezialregelung festgelegt (
BGE 123 III 101
E. 3a S. 107). Hingegen liegt keine freiwillige Bezahlung einer Nichtschuld vor, wenn eine Leistung versehentlich und ungewollt erbracht wurde (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 19. Dezember 1989 i.S. M., E. 2a). In diesem Fall entfällt der Irrtumsnachweis (
BGE 123 III 101
E. 3a S. 107).
e) Die Regeln des Zivilrechts sind auf individualisierbare Einzelfälle zugeschnitten. Sie können nicht in jeder Hinsicht unbesehen auf das öffentliche Recht übertragen werden, insbesondere wenn es sich um Rechtsbeziehungen im Bereich der Massenverwaltung handelt. Vorliegend kann aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass diejenigen Versicherten, welche der Aufforderung der Beschwerdeführerin
BGE 124 II 570 S. 580
nachgekommen sind und den Unkostenbeitrag entrichtet haben, dies nicht freiwillig taten, sondern der Meinung waren, den einverlangten Betrag zu schulden. Unter diesen Umständen kann nicht verlangt werden, dass die einzelnen Versicherten individuell nachweisen, sich über den Bestand der Schuld geirrt oder die Leistung versehentlich erbracht zu haben. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanzen die Beschwerdeführerin aufsichtsrechtlich ohne weitere Voraussetzung verpflichtet haben, die erhobenen Beiträge zurückzuerstatten.
f) Da, wie festgestellt, auch für die Erhebung überdurchschnittlicher Gebühren eine reglementarische Grundlage erforderlich ist, hat die Beschwerdekommission mit Recht die Rückerstattung sämtlicher Beiträge (mit Ausnahme der Grundbuchgebühren) angeordnet.
g) Das Bundesamt hatte die Rückerstattung erst für die ab 12. Juni 1995 verlangten Beiträge verfügt, da sie erst dann ihre Rechtsauffassung publiziert habe. Bei der entsprechenden Notiz in den «Mitteilungen über die berufliche Vorsorge» handelte es sich indessen um eine rechtlich unverbindliche Meinungsäusserung des Bundesamtes. Die Rechtswidrigkeit der erhobenen Beiträge kann sich nicht daraus ergeben, dass die Beschwerdeführerin einer unverbindlichen Meinungsäusserung des Bundesamtes zuwiderhandelte, sondern einzig daraus, dass die Beiträge mit dem objektiv geltenden, seit 1. Januar 1995 in Kraft stehenden Recht nicht vereinbar sind. Dass die Rechtslage nicht von Anfang an völlig klar und unbestritten war, ändert daran nichts. Auch spielt es im Recht der ungerechtfertigten Bereicherung keine Rolle, ob der Bereicherte um das Fehlen eines Rechtsgrundes wusste. Mit Recht hat daher die Beschwerdekommission die Rückerstattung bereits für die ab 1. Januar 1995 erhobenen Beiträge angeordnet. | public_law | nan | de | 1,998 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2dd4934b-9478-418c-9aea-6367c75cd460 | Urteilskopf
119 IV 190
33. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. Juni 1993 i.S. L. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 43 Ziff. 3 und 44 Ziff. 3 StGB
,
Art. 5 VwVG
,
Art. 97 Abs. 1 OG
,
Art. 268 BStP
; Entscheid über die Aussichtslosigkeit einer Massnahme; Rechtsweg.
Der Entscheid, ob und wann eine Behandlung nach
Art. 43 oder 44 StGB
als erfolglos anzusehen ist, ist ein Vollzugsentscheid, der letztinstanzlich mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzufechten ist. | Sachverhalt
ab Seite 190
BGE 119 IV 190 S. 190
A.-
L. wurde mit Urteil der Kriminalkammer Thurgau vom 24. Oktober 1988/17. April 1989 wegen Vermögens- und Betäubungsmitteldelikten, teilweise als Zusatzstrafe, zu viereinhalb Jahren Zuchthaus bestraft. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde zugunsten einer stationären Behandlung von Rauschgiftsüchtigen aufgeschoben.
Nachdem die Massnahmen mit verschiedenen Unterbrüchen an mehreren Orten vollzogen worden war, hob das Departement für
BGE 119 IV 190 S. 191
Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau am 21. September 1992 die gerichtlich angeordnete Massnahme wegen Aussichtslosigkeit mit sofortiger Wirkung auf.
B.-
Das Obergericht des Kantons Thurgau erklärte hierauf mit Urteil vom 27. Oktober 1992 die Reststrafe als vollziehbar und ordnete an, L. habe sich während der Dauer des Strafvollzuges einer ambulanten psychiatrischen respektive psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen.
C.-
Dagegen führt L. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer wendet ein, die verhängte Massnahme sei zu Unrecht als aussichtslos bezeichnet und aufgehoben worden.
Bei Erfolg- oder Aussichtslosigkeit der Behandlung entscheidet nach
Art. 43 Ziff. 3 und 44 Ziff. 3 StGB
der Richter, ob und welche Sanktion an die Stelle der ursprünglichen Massnahme treten soll. Aus diesen Bestimmungen geht nicht ausdrücklich hervor, welche Behörde zu entscheiden hat, ob und wann eine Behandlung erfolglos, unzweckmässig, für Dritte gefährlich oder aussichtslos ist. Wenn das kantonale Recht die Beurteilung dieser Frage der administrativen Vollzugsbehörde überträgt, wie dies vorliegend der Fall ist, so äussert sich diese einzig über die Wirksamkeit der verfügten Massnahme, wobei sie sich auf die Erfahrungen stützt, die während der Durchführung der Massnahme gemacht wurden. Auch wenn die Behörde zum Schluss kommt, dass die Weiterführung der Behandlung aussichtslos und diese deshalb abzubrechen sei, wird mit dem Entscheid noch nichts am Urteil, mit dem die Massnahme angeordnet wurde, geändert: Das Urteil bleibt bestehen, es wird einzig festgestellt, dass die angeordnete Massnahme ihren Zweck nicht erreichen kann und auf deren weiteren Vollzug zu verzichten ist. Die Verfügung ist somit eine typische Vollzugsentscheidung, die nach Ausschöpfung der kantonalen Rechtsmittel mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden kann (
Art. 5 VwVG
;
Art. 97 ff. OG
).
Das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau entschied am 21. September 1992, dass es aussichtslos sei, den Beschwerdeführer weiter im Massnahmevollzug zu belassen und hob die nach
Art. 44 StGB
verhängte stationäre Massnahme auf. Gegen
BGE 119 IV 190 S. 192
diese Verfügung, die in Rechtskraft erwachsen ist, wäre nach Ergreifen der kantonalen Rechtsmittel die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offengestanden, wurde indessen nicht ergriffen. Im heute angefochtenen Urteil hatte die Vorinstanz hingegen nur noch über den Vollzug der aufgeschobenen Strafen oder die Anordnung einer anderen Massnahme zu entscheiden. In der Nichtigkeitsbeschwerde gegen diesen Entscheid kann die festgestellte Aussichtslosigkeit der Massnahme nicht mehr angefochten werden. Auf den Einwand des Beschwerdeführers ist deshalb nicht einzutreten. | null | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2dd5bb1b-f28f-4a17-bb2d-93b2c0f23e6a | Urteilskopf
80 III 18
5. Arrêt du 28 avril 1954 dans la cause Société immobilière Charmettes Square SA | Regeste
Unpfändbarkeit.
Art. 92 SchKG
.
War der Schuldner zum Verkauf unpfändbarer Sachen gezwungen, so kann der von ihm gelöste Preis nicht gepfändet werden, wenn er daraus binnen kurzem gleichwertige Gegenstände anschaffen will. | Sachverhalt
ab Seite 18
BGE 80 III 18 S. 18
A.-
La Société immobilière Charmettes Square S. A. a poursuivi sa locataire Marie-Jeanne Aebischer en paiement de loyers arriérés. Les meubles saisissables de la débitrice furent réalisés au profit de la créancière. Il subsista cependant un découvert de 947 fr. 25. Dame Aebischer fut expulsée de son appartement et se réfugia provisoirement chez une voisine. Ne pouvant entreposer chez cette dernière le mobilier qui lui restait, elle le vendit, le 1er mars 1954, à un marchand, qui lui délivra un bon de 400 fr. pour l'achat ultérieur de meubles. A la requête de la Société immobilière Charmettes Square S. A., l'Office des poursuites de l'arrondissement de la Sarine a saisi cette créance.
B.-
Dame Aebischer a porté plainte contre cette mesure, en concluant à son annulation. Elle alléguait que
BGE 80 III 18 S. 19
sa créance de 400 fr. ne pouvait être saisie, étant destinée au remploi de meubles visés par l'art. 92 ch. 1 LP.
La Chambre des poursuites et des faillites du Tribunal cantonal fribourgeois a admis la plainte et annulé la saisie.
C.-
La Société immobilière Charmettes Square S. A. recourt au Tribunal fédéral contre cette décision.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
La loi énumère limitativement les biens insaisissables (RO 61 III 45, 65 III 10). Faute de disposition contraire, on doit donc admettre en principe que le bénéfice de compétence ne s'étend pas au prix que le débiteur obtient par la vente d'objets insaisissables. Mais l'application stricte de cette règle produirait des effets inconciliables avec l'esprit de la loi. Il se peut en effet que le débiteur ait des raisons pertinentes pour remplacer certains objets qui lui ont été laissés en vertu de l'art. 92 LP; ne pouvant généralement procéder à un troc direct, il doit être en mesure de les vendre sans risquer de voir saisir le produit de leur réalisation. C'est pourquoi l'on admet en jurisprudence que, lorsque le débiteur a dû aliéner des biens insaisissables, le prix qu'il en a obtenu ne peut être saisi s'il veut l'affecter à bref délai à l'acquisition d'objets équivalents (RO 73 III 127 consid. 5). Sans doute ce prix risque-t-il d'être détourné de sa destination; mais cet élément n'est pas décisif: il n'a pas empêché le législateur de déclarer insaisissable, dans certains cas, l'argent liquide nécessaire à l'achat ou au remplacement de biens indispensables (cf. art. 92 ch. 5 i. f. LP et 55 al 2 LCA); et, en cas de remploi, un tel risque de détournement est considérablement réduit par l'examen attentif auquel l'office des poursuites et, le cas échéant, l'autorité de surveillance doivent soumettre les circonstances de l'affaire et les intentions du débiteur.
2.
En l'espèce, la juridiction cantonale a fait une juste application des principes énoncés ci-dessus. La
BGE 80 III 18 S. 20
recourante prétend, il est vrai, que la débitrice n'a pas l'intention de racheter des meubles et veut simplement léser ses créanciers. Ces allégations se heurtent toutefois aux constatations de fait de l'autorité de surveillance, qui admet que dame Aebischer a réellement le dessein de consacrer son bon à l'achat d'un mobilier et qui fonde son opinion sur des arguments pertinents: expulsée de son appartement et ne disposant d'aucun local pour entreposer ses meubles, il était normal que la débitrice les aliénât, se réservant d'en - acquérir de nouveaux au moyen du prix qu'elle en obtenait; ce dessein ressort en outre de ce qu'elle s'est fait délivrer un bon. La recourante soutient cependant qu'en échange de son mobilier, dame Aebischer a reçu également 100 fr. en argent liquide. Mais, à supposer que ce fait soit exact, on ne pourrait en conclure que la débitrice veuille détourner de sa destination son bon de 400 fr., qui est seul en cause en l'occurrence et qui - ce que la recourante admet elle-même - ne peut être affecté qu'à l'achat de meubles.
D'autre part, ce bon date du 1er mars 1954 et il a été saisi le 12 mars. On ne peut donc dire que la débitrice l'ait gardé trop longtemps sans l'utiliser.
3.
Enfin, la recourante allègue qu'une partie des meubles vendus par dame Aebischer étaient saisissables. Mais elle n'est plus recevable à invoquer ce moyen, qu'elle aurait dû faire valoir lors de la première saisie.
Dispositiv
La Chambre des poursuites et des faillites prononce:
Le recours est rejeté. | null | nan | fr | 1,954 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2ddc9eae-64c1-419a-a049-201f5ab55247 | Urteilskopf
115 IV 144
32. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. Juli 1989 i.S. A. und B. gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 12 Abs. 1,
Art. 29 und 93 Ziff. 2 SVG
,
Art. 57 Abs. 1 und 4 VRV
,
Art. 22 Abs. 3,
Art. 23 Abs. 1 lit. c und
Art. 24 VVV
, Art. 85 Abs. 1 der Verordnung über Bau und Ausrüstung der Strassenfahrzeuge vom 27. August 1969 (BAV).
Auch wer durch den Kollektiv-Fahrzeugausweis berechtigt ist, an geprüften und nicht geprüften Fahrzeugen Händlerschilder anzubringen, muss - abgesehen von bestimmten Ausnahmen - die einschlägigen Bau- und Ausrüstungsvorschriften beachten.
Als Probefahrt, bei der das Fahrzeug ausnahmsweise nicht in allen Teilen den Vorschriften entsprechen muss, gilt nur die zum Zwecke der Abklärung des Defektes und der Kontrolle der Behebung von Mängeln notwendige Fahrt. | Sachverhalt
ab Seite 144
BGE 115 IV 144 S. 144
Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Zürich verurteilte A. und B. am 20. April 1988 wegen SVG-Widerhandlungen (Art. 93 Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 29) zu Fr. 100.-- respektive Fr. 200.-- Busse. Eine dagegen eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde hiess das Obergericht des Kantons Zürich am 15. November 1988 teilweise gut. Es sprach die Einsprecher lediglich der Übertretung von Art. 93 Ziff. 2 in Verbindung mit
BGE 115 IV 144 S. 145
Art. 29 SVG
schuldig, bestätigte jedoch die Bussen des Einzelrichters.
A. und B. führen Nichtigkeitsbeschwerde und beantragen, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und zur Freisprechung an das Obergericht zurückzuweisen.
Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die Beschwerdeführer machen geltend, ein noch nicht typengeprüftes Fahrzeug, das unter Verwendung von Händlerschildern erprobt werde, sei nicht vorschriftswidrig im Sinne von
Art. 29 SVG
, auch wenn nicht feststehe, dass die Lärm- und Abgasvorschriften schon vollumfänglich erfüllt würden. Die Vorinstanz hielt demgegenüber fest, auch mit einem Händlerschild versehene, nicht typengeprüfte Fahrzeuge müssten den gesetzlichen und insbesondere den Lärm- und Abgasvorschriften entsprechen. Hievon gebe es zwar Ausnahmen, für den vorliegenden Fall treffe aber keine solche zu. Den Beschwerdeführern sei bewusst gewesen, dass ihr Motorrad den in der Schweiz geltenden Vorschriften nicht entsprochen habe, weshalb sie zu Recht der Übertretung von
Art. 93 Ziff. 2 SVG
in Verbindung mit
Art. 29 SVG
schuldig gesprochen worden seien.
b) Nach
Art. 93 Ziff. 2 SVG
wird bestraft, wer ein Fahrzeug führt, von dem er weiss oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen kann, dass es den Vorschriften nicht entspricht. Diese Bestimmung bezieht sich auf
Art. 29 SVG
, wonach Fahrzeuge nur in betriebssicherem und vorschriftsgemässem Zustand verkehren dürfen; diese müssen so beschaffen und unterhalten sein, dass die Verkehrsregeln befolgt werden können und dass Führer, Mitfahrende und andere Strassenbenützer nicht gefährdet und die Strassen nicht beschädigt werden. Gemäss
Art. 85 Abs. 1 BAV
gilt ein Fahrzeug auch dann als nicht vorschriftsgemäss, wenn dauernd, zeitweilig oder für bestimmte Fälle vorgeschriebene Teile, inbegriffen Breite-, Geschwindigkeits- oder Landeszeichen, fehlen oder den Vorschriften nicht entsprechen und wenn dauernd oder zeitweilig untersagte Teile, wie Reifen mit Metallstiften, vorhanden sind oder bewilligungspflichtige ohne Bewilligung angebracht wurden. Daraus ergibt sich, dass sich ein Fahrzeug immer dann in vorschriftswidrigem Zustand (
Art. 93 Ziff. 2 SVG
) befindet, wenn
BGE 115 IV 144 S. 146
das Fahrzeug den massgebenden Bau- und Ausrüstungsvorschriften nicht entspricht (115 IV 150 E. 3a).
Gemäss
Art. 22 Abs. 3 VVV
berechtigt der Kollektiv-Fahrzeugausweis zum Anbringen der darin genannten Händlerschilder an geprüften und nicht geprüften Fahrzeugen der im Ausweis genannten Art und zur Verwendung dieser Fahrzeuge im Verkehr nach Massgabe der nachfolgenden Bestimmungen. Der Dispens von der Prüfpflicht bedeutet aber nicht, dass auch die generelle gesetzliche Verpflichtung, die einschlägigen Bau- und Ausrüstungsvorschriften einzuhalten, entfällt. Dies kommt in der geltenden Regelung dadurch zum Ausdruck, dass der Kollektiv-Fahrzeugausweis nur an Personen und Unternehmungen abgegeben wird, welche die erforderlichen Fachkenntnisse und Einrichtungen besitzen, um selbst beurteilen zu können, ob das Fahrzeug den Vorschriften entspricht und betriebssicher ist. Da zudem auch für Führer, die Fahrzeuge mit Händlerschildern verwenden, die Verpflichtung des
Art. 57 Abs. 1 VRV
gilt, wonach jeder Führer sich vergewissern muss, dass das Fahrzeug in vorschriftsgemässem Zustand ist, kann aus der geltenden Regelung bezüglich Händlerschilder nicht geschlossen werden, mit dem Verzicht auf die amtliche Prüfung habe der Gesetzgeber auch von der Einhaltung der Ausrüstungsvorschriften dispensiert.
Auch wenn die Erleichterung bei Fahrzeugen mit Händlerschildern sich grundsätzlich auf die Befreiung von der amtlichen Prüfpflicht beschränkt, und damit diese Fahrzeuge nur in vorschriftsgemässem Zustand verkehren dürfen, lässt die geltende Regelung Ausnahmen zu. Ausdrücklich festgehalten ist dies für Überführungsfahrten in
Art. 57 Abs. 4 VRV
. Nach dieser Bestimmung, die allgemein und nicht nur für Inhaber von Händlerschildern gilt, dürfen mit Motorfahrzeugen, die sich im Bau, Umbau oder in Reparatur befinden, Überführungsfahrten ausgeführt werden, wenn wenigstens Lenkung und Bremsen betriebssicher sind, ein Bremslicht vorhanden ist, bei Nacht oder schlechter Witterung die Beleuchtung den Vorschriften entspricht und kein übermässiger Lärm entsteht. Darüber hinaus ist es in der Praxis im Rahmen der in
Art. 24 VVV
zugelassenen Verwendungszwecke von Händlerschildern auch in anderen Fällen nicht immer möglich, den vorschriftsgemässen Zustand voll einzuhalten. Dies trifft insbesondere bei Erprobung von neuen Fahrzeugen durch Hersteller und Sachverständige zu, wobei als Sachverständige im Sinne dieser Bestimmung nicht nur die amtlichen Experten gelten, sondern alle Personen,
BGE 115 IV 144 S. 147
die nach
Art. 23 Abs. 1 lit. c VVV
die nötigen fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen zur Verwendung nicht geprüfter Fahrzeuge besitzen. Wenn der Gesetzgeber diese Verwendungsarten ausdrücklich zulässt, so nimmt er damit in Kauf, dass das Fahrzeug auf solchen Fahrten unter Umständen nicht in allen Teilen den Vorschriften entspricht. Dabei muss aber stets - analog den in
Art. 57 Abs. 4 VRV
enthaltenen Kautelen - gefordert werden, dass mindestens immer Lenkung und Bremsen betriebssicher sind und ein Bremslicht vorhanden ist, beziehungsweise bei Nacht oder schlechter Witterung die Beleuchtung den Vorschriften entspricht und kein übermässiger Lärm entsteht. Als Probefahrt, bei der das Fahrzeug ausnahmsweise nicht in allen Teilen den Vorschriften entsprechen muss, gilt aber nur die zum Zwecke der Abklärung des Defektes und der Kontrolle der Behebung von Mängeln notwendige Fahrt. Dies ist der Fall, wenn gewisse Funktionen sich nicht anders kontrollieren lassen, nicht aber dann, wenn es zur Abklärung des Defektes keiner Probefahrt bedarf (
BGE 106 IV 404
f. E. 4).
c) Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
) haben die Beschwerdeführer vom Mai 1986 bis August 1987 in der Schweiz mit dem fraglichen Motorrad mehrere tausend Kilometer zurückgelegt im Bewusstsein, dass es den in der Schweiz geltenden Vorschriften nicht entsprach. Mit dem Vorbringen, "sämtliche Motorräder, welche zur Zeit in die Schweiz eingeführt würden, benötigten zusätzliche Drosselungseinrichtungen zur Verminderung von Lärm und Abgasen", bestätigen sie indirekt diesen Sachverhalt. Ob für die Lärm- und Abgasmessung des Motorrades der Beschwerdeführer Probefahrten überhaupt notwendig waren, ist fraglich. Jedenfalls waren dazu nicht Fahrten von insgesamt mehreren tausend Kilometern erforderlich. Da somit kein hievor aufgezählter Ausnahmefall zutrifft, büsste die Vorinstanz die Beschwerdeführer zu Recht wegen Übertretung von Art. 93 Ziff. 2 in Verbindung mit
Art. 29 SVG
. Da die Beschwerdeführer nicht davon ausgehen, dass nur notwendige Fahrten mit einem Fahrzeug in vorschriftswidrigem Zustand zulässig sind, erweisen sich ihre Rügen als unbegründet. | null | nan | de | 1,989 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2de3ca80-5601-45ae-ad50-394048833ed4 | Urteilskopf
94 I 649
89. Auszug aus dem Urteil vom 18. Dezember 1968 i.S. Bornblick Immobilien AG gegen Gemeinderat Müllheim und Regierungsrat des Kantons Thurgau. | Regeste
Entzug des Wirtschaftspatentes und Schliessung der Wirtschaft.
Kantonale Vorschrift, wonach in allen Fällen, in denen das (persönliche) Wirtschaftspatent "erlischt", die Schliessung der Wirtschaft zu verfügen ist. Darf gestützt auf diese Vorschrift eine Wirtschaft auch dann geschlossen werden, wenn sie verpachtet ist und dem Pächter das Patent wegen Verlusts des guten Leumunds entzogen wird? Legitimation des Eigentümers der Wirtschaft zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Schliessung (Erw. 1). Willkürliche Auslegung der erwähnten Vorschrift? (Erw. 4). Vereinbarkeit der Vorschrift mit
Art. 4 und 31 BV
? (Erw. 5 und 6). | Sachverhalt
ab Seite 650
BGE 94 I 649 S. 650
A.-
Das thurgauische Wirtschaftsgesetz vom 12. März 1906 (WG) bestimmt im Abschnitt über den "Verlust des Wirt schaftsrechts":
§ 17. Das Wirtschaftspatent erlischt:
a) durch den Tod des Patentierten...
b) durch freiwilligen Verzicht. Als solcher ist auch die tatsächliche Einstellung des Wirtschaftsbetriebes zu betrachten;
c) wenn die gesetzlichen Taxen für die Patenterneuerung nicht rechtzeitig entrichtet werden;
d) wenn durch gerichtliches Urteil der Entzug des Wirtschaftsrechtes ausgesprochen wird;
e) wenn dem Wirt das Niederlassungsrecht entzogen wird;
f) wenn der Wirt die Handlungsfähigkeit oder das Aktivbürgerrecht verliert oder in Konkurs gerät oder fruchtlos gepfändet wird...
g) wenn der Wirt oder einer seiner Hausgenossen den guten Leumund verliert;
h) wenn die Lokale und die Wirtschaftseinrichtungen den bestehenden Vorschriften nicht entsprechen und trotz Aufforderung innert der angesetzten Frist die verlangten Verbesserungen nicht vorgenommen werden;
i) wenn der Wirt für einen ordentlichen und ehrbaren Wirtschaftsbetrieb keine Gewähr mehr bietet;
k) infolge schwerer Verletzung der gesetzlichen Bestimmungen betreffend die Wirtschaftspolizei.
§ 18. In den Fällen des § 17, lit. a bis i, hat der Gemeinderat, in denjenigen des § 17, lit. k, das Bezirksamt die Schliessung der Wirtschaft zu verfügen...
B.-
Die Bornblick Immobilien AG, die ihren Sitz in Aarburg (Kt. Aargau) hat, ist seit 1963 Eigentümerin einer Liegenschaft in Müllheim (Kt. Thurgau), worin die Wirtschaft "zum Rebstock" sowie eine Tankstelle betrieben werden. Sie hat die Wirtschaft seit dem 1. Januar 1966 an X. verpachtet. Aufgrund wiederholter Klagen erteilte der Gemeinderat Müllheim am 1. Dezember 1966 X. eine "ernsthafte Verwarnung" wegen mangelhafter Wirtschaftsführung und drohte ihm für den Fall weiterer Klagen "wesentlich schärfere Massnahmen" an. Die Bornblick AG, die hievon Kenntnis erhielt, ersuchte den Gemeinderat
BGE 94 I 649 S. 651
durch ihren Anwalt mit Schreiben vom 28. Februar 1967 um "eine klare Darstellung der Verhältnisse unter Beilage der sachbezüglichen Akten zur Stellungnahme" und fügte bei, wenn wirtschaftspolizeilich ernsthaft ins Gewicht fallende Tatbestände wirklich erwiesen sein sollten, müsste ihr als Eigentümerin "vorerst auf jeden Fall Gelegenheit geboten werden, die Sache zu prüfen und nötigenfalls selber zum Rechten zu sehen". Der Gemeinderat gab diesem Gesuch keine Folge, und ebensowenig dem später wiederholt von Vertretern der Bornblick AG geäusserten Wunsche um Orientierung über die Untersuchung und allfällig vorgesehene wirtschaftspolizeiliche Massnahmen.
Am 4. November 1967 stellte der Gemeinderat aufgrund neuer polizeilicher Erhebungen über sittliche Verfehlungen des X. fest, dass dieser den für den Wirt notwendigen guten Leumund verloren habe und demzufolge für einen ordentlichen und ehrbaren Wirtschaftsbetrieb keine Gewähr mehr biete; er beschloss daher, "gestützt auf
§ 17 lit. i WG
", X. mit sofortiger Wirkung das Wirtschaftspatent zu entziehen (Ziff. 1) und die Wirtschaft "zum Rebstock" definitiv zu schliessen (Ziff. 2).
Während sich X. mit diesem Entscheid abfand, focht ihn die Bornblick AG, der er ebenfalls eröffnet wurde, durch Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Thurgau an mit dem Antrag, ihn aufzuheben, eventuell die Wiedereröffnung der Wirtschaft gemäss
§ 12 Abs. 2 WG
zu bewilligen.
Der Regierungsrat wies am 8. Juli 1968 die Beschwerde und das Gesuch um Wiedereröffnung der Wirtschaft ab. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus: Hinsichtlich der Wirtschaftsführung, auf die sich die Verwarnung vom 1. Dezember 1966 bezogen habe, seien seither keine Klagen mehr eingegangen. Dagegen hätten Erhebungen vom August/September 1967 sittliche Verfehlungen des X., u.a. Ehebruch mit einer Serviertochter, festgestellt. Damit seien, zumal nach der vorausgegangenen Verwarnung, die Patenterlöschungsgründe von
§ 17 lit. g und i WG
gegeben. Das habe nach
§ 18 Abs. 1 WG
unausweichlich die Schliessung der Wirtschaft zur Folge. Der Eventualantrag auf Wiedereröffnung gemäss
§ 12 Abs. 2 WG
scheitere daran, dass in der Gemeinde Müllheim immer noch zwölf statt nach der Bedürfniszahl zehn Wirtschaften bestünden.
C.-
Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates und den damit bestätigten Beschluss des Gemeinderates hat die Bornblick
BGE 94 I 649 S. 652
AG staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie macht Verletzung der
Art. 4 und 31 BV
geltend.
D.-
Der Regierungsrat des Kantons Thurgau und der Gemeinderat Müllheim beantragen Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Ausführungen darüber, dass auf die Beschwerde insoweit, als sie sich gegen den Entzug des Wirtschaftspatentes richtet, mangels Legitimation der Beschwerdeführerin nicht einzutreten ist.)
Die Schliessung der Wirtschaft trifft auch die Beschwerdeführerin als Hauseigentümerin in ihren Rechten; denn sie hindert sie, die bisher in ihrem Hause betriebene Wirtschaft durch einen neuen Pächter (oder einen Geranten) weiterführen zu lassen, und vermindert dadurch den Wert des Hauses. Zur Beschwerde hiegegen ist sie daher legitimiert, und zwar wegen Verletzung von Art. 4 wie auch von
Art. 31 BV
, da die Verpachtung der Wirtschaft einen Teil ihres Geschäftsbetriebes bildet und daher unter dem Schutz der Handels- und Gewerbefreiheit steht (vgl. KIRCHHOFER, ZSR 1935 S. 169 und
BGE 48 I 47
Erw. l'wo die Legitimation zur Beschwerde wegen Verletzung des
Art. 31 BV
sogar dem Hypothekargläubiger zuerkannt wurde).
2.
(Abweisung der Rüge formeller Rechtsverweigerung.)
3.
Die angefochtene Schliessung der Wirtschaft beruht auf der Annahme, sie sei gemäss
§ 18 Abs. 1 WG
eine zwingende Folge des Patententzugs, der aufgrund von
§ 17 lit. g und i WG
gegenüber X. verfügt wurde. Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, die Schliessung verstosse gegen die
Art. 4 und 31 BV
, wobei sie nicht nur die Anwendung von
§ 18 Abs. 1 WG
im konkreten Fall als Willkür und Ermessensmissbrauch beanstandet, sondern offenbar auch geltend machen will, diese Bestimmung selber sei verfassungswidrig. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob die Auslegung und Anwendung der Bestimmung durch den Regierungsrat vor
Art. 4 BV
standhält. Ist dies der Fall, so fragt sich weiter, ob die Bestimmung so, wie sie der Regierungsrat ausgelegt und angewendet hat, mit
Art. 4 und 31 BV
vereinbar ist.
4.
Das WG umschreibt in § 17 unter lit. a-k die Voraussetzungen, bei deren Eintritt das Wirtschaftspatent "erlischt",
BGE 94 I 649 S. 653
und bestimmt in § 18 Abs. 1, dass in allen diesen Fällen die Schliessung der Wirtschaft zu verfügen ist.
Im vorliegenden Fall haben der Gemeinderat und ihm folgend der Regierungsrat festgestellt, dass der Pächter X. infolge sittlicher Verfehlungen den guten Leumund verloren habe und für einen ordentlichen und ehrbaren Wirtschaftsbetrieb keine Gewähr mehr biete. Diese Feststellungen, die nach dem in Erw. 1 Gesagten von der Beschwerdeführerin nicht angefochten werden können, führten nach
§ 17 lit. g und i WG
dazu, dass das an X. erteilte Patent "erlosch", und dies hatte wiederum nach
§ 18 Abs. 1 WG
zur Folge, dass die Wirtschaft zu schliessen war. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass dies dem Wortlaut der beiden Bestimmungen entspricht. Sie glaubt aber, die Auslegung, wonach der Patententzug in jedem Falle die Schliessung nach sich ziehe, sei dann willkürlich, wenn der Wirt, dem das Patent entzogen wird, mit dem Eigentümer der Wirtschaft nicht identisch sei, wie das hier der Fall ist. Da
§ 18 Abs. 1 WG
zwischen Identität und Nichtidentität von Wirt und Eigentümer nicht unterscheidet, verstösst die Annahme, dass die Bestimmung für beide Fälle gelte, jedenfalls nicht gegen den klaren Wortlaut. Es kann aber auch nicht gesagt werden, sie widerspreche dem klaren Sinn der gesetzlichen Ordnung, denn diese erscheint als mangelhaft. Nach § 18 in Verbindung mit § 17 wäre die Wirtschaft in allen Fällen, wo das Patent erlischt, zu schliessen, also auch, wo dem Wirt oder Eigentümer keinerlei Vorwurf gemacht werden kann wie beim Tod des Patentinhabers (§ 17 lit.a) oder wenn er, z.B. infolge Geisteskrankheit, handlungsunfähig wird (§ 17 lit. f). Eine Vorschrift, dass in solchen Fällen die Wirtschaft nicht zu schliessen sei, sondern das Patent einem neuen Wirt erteilt werden könne, enthält das Gesetz nicht. Nur mittelbar, aus der Bestimmung, wonach für die Eröffnung neuer Wirtschaften bei Überschreiten der Bedürfniszahl kein Patent erteilt werden darf (
§ 11 Abs. 2 WG
), kann geschlossen werden, dass für eine bestehende Wirtschaft trotz Eintritts von Patenterlöschungsgründen wieder ein Patent erteilt werden kann, die Schliessung also nicht zwingend vorgeschrieben ist. In welchen der in
§ 17 WG
aufgezählten Patenterlöschungsfällen die Erteilung eines neuen Patents zulässig sei, ist indes dem WG ebensowenig zu entnehmen, wie dass dabei zu unterscheiden wäre zwischen dem Fall, wo Wirt und Eigentümer der Wirtschaft identisch, und demjenigen, wo sie es nicht sind. Die Auslegung,
BGE 94 I 649 S. 654
wonach die Wirtschaft bei Eintritt der Voraussetzungen von
§ 17 lit. g oder i WG
in jedem Falle, also auch wenn sie der Eigentümer verpachtet hat, zu schliessen ist, kann daher nicht als schlechthin unhaltbar, geradezu willkürlich bezeichnet werden. Zu prüfen bleibt, ob diese Ordnung vor
Art. 4 und 31 BV
standhält.
5.
Die Beschwerdeführerin führt aus, die Ordnung, wonach der Patententzug automatisch die Schliessung der Wirtschaft zur Folge habe, möge richtig sein, wenn Wirt und Eigentümer zusammenfallen. Wenn dies jedoch nicht der Fall sei, so werde mit der Schliessung der Eigentümer für das Verhalten eines Dritten bestraft, das ausserhalb seines Einflusses und seiner Verantwortung liege, und eine solche Ordnung sei so ungerecht und stossend, dass sie nicht einmal dann haltbar wäre, wenn sie im Gesetz vorgesehen sei. Damit macht sie dem Sinne nach geltend, dass die gesetzliche Ordnung gegen
Art. 4 BV
verstosse, weil diese eine Unterscheidung, die richtigerweise getroffen werden sollte, nicht treffe und damit der Grundsatz verletzt werde, dass nicht nur Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, sondern auch Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln ist.
Bei den in § 17 lit. e, f, g und i WG aufgezählten Patenterlöschungsgründen handelt es sich um den Wegfall der persönlichen Voraussetzungen, von denen die Erteilung des Wirtschaftspatentes nach § 6 a, b, c und § 7 c abhängt. Auch die Patenterlöschungsgründe von § 17 lit. a-d beziehen sich auf die Person des Patentinhabers. Das Wirtschaftspatent begründet, wie
§ 8 WG
betont, kein dingliches, sondern nur ein persönliches Recht. Es mag sich daher vielleicht rechtfertigen, in den Fällen, in denen in der Person des Wirtes ein Patenterlöschungsgrund eintritt, hieran als weitere Folge die Schliessung der Wirtschaft zu knüpfen, wenn der Wirt zugleich Eigentümer der Wirtschaft ist. Dagegen ist kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb ein in der Person des Wirtes eingetretener Patenterlöschungsgrund auch dann, und zwar ausnahmslos und zwingend, zur Schliessung der Wirtschaft führen soll, wenn diese Eigentum eines Dritten ist. Es liegt nahe, ja erscheint als geboten, diesen Fall inbezug auf die Schliessung anders zu behandeln als denjenigen der Identität von Wirt und Eigentümer. Ob das Fehlen dieser Differenzierung geradezu gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit (
Art. 4 BV
) verstosse, kann indes dahingestellt bleiben, da sich
BGE 94 I 649 S. 655
aus den nachstehenden Ausführungen ergibt, dass die in den
§
§ 17 und 18 WG
enthaltene Regelung so, wie sie vom Regierungsrat verstanden wird, jedenfalls gegen den von der Beschwerdeführerin weiterhin angerufenen Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit (
Art. 31 BV
) verstösst. Dass die Beschwerdeführerin den
Art. 31 BV
in der kantonalen Beschwerde nicht angerufen hat, steht dem Eintreten auf diese Rüge nicht entgegen, da der Regierungsrat freie Kognition besass und das Recht von Amtes wegen anzuwenden hatte, so dass neue rechtliche Vorbringen in der staatsrechtlichen Beschwerde nicht ausgeschlossen sind (
BGE 94 I 132
Erw. 5 und dort zitierte frühere Urteile).
6.
Der Regierungsrat hält der Berufung auf
Art. 31 BV
entgegen, die Handels- und Gewerbefreiheit sei für das Wirtschaftsgewerbe durch die
Art. 31ter und 32quater BV
eingeschränkt und es seien daher "sehr einschneidende polizeiliche Massnahmen gegen die Inhaber von Wirtschaftsbetrieben und gegen diese selbst zulässig".
a) Die
Art. 31ter und 32quater BV
ermächtigen die Kantone, die dort vorgesehenen Beschränkungen des Wirtschaftsgewerbes "auf dem Wege der Gesetzgebung" einzuführen. Von der in Art. 31ter enthaltenen Ermächtigung hat der thurgauische Gesetzgeber bisher keinen Gebrauch gemacht. Dagegen enthält das WG in § 11 eine Bedürfnisklausel, die sich auf Art. 31 lit. c (heute: 32quater) BV stützt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts wie schon nach der Praxis des Bundesrates können die Kantone bestimmen, ob das Bedürfnis nur bei Eröffnung einer neuen Wirtschaft oder auch bei der Patenterneuerung und der Patentübertragung zu überprüfen sei (
BGE 63 I 5
).
§ 11 WG
macht nur die Eröffnung neuer Wirtschaften vom Vorliegen eines Bedürfnisses abhängig. Die vom Gemeinderat und vom Regierungsrat im Anschluss an den Patententzug angeordnete Schliessung lässt sich daher nicht auf
§ 11 WG
stützen. Der Regierungsrat hat denn auch die Überschreitung der Bedürfniszahl nicht als Grund für den Patententzug und die Schliessung betrachtet, sondern hat damit lediglich die Abweisung des (für den Fall der Zulässigkeit der Schliessung gestellten) Gesuchs um Wiedereröffnung der Wirtschaft begründet. Kann sich aber die Schliessung nicht auf die Bedürfnisklausel stützen, so geht auch die Berufung des Regierungsrates auf
Art. 32quater BV
fehl, da diese Bestimmung nur die Einführung der Bedürfnisklausel
BGE 94 I 649 S. 656
gestattet und nicht zur Rechtfertigung anderer Einschränkungen des Wirtschaftsgewerbes angerufen werden kann (BURCKHARDT, Komm. der BV S. 267; MARTI, Handels- und Gewerbefreiheit S. 182). Solche Beschränkungen sind nur zulässig, wenn und soweit sie sich im Rahmen des
Art. 31 BV
halten.
b) Diese Bestimmung, welche die Handels- und Gewerbefreiheit gewährleistet, lässt Beschränkungen der Gewerbetätigkeit nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit, Sittlichkeit und Gesundheit zu. Solche polizeilichen Beschränkungen müssen zudem verhältnismässig sein, wenn sie
Art. 31 BV
nicht verletzen sollen (
BGE 94 I 26
Erw. 5 mit Verweisungen). Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit erheischt, dass die Einschränkungen nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um den gewerbepolizeilichen Zweck zu erfüllen, dem sie dienen (
BGE 91 I 464
und dort angeführte frühere Urteile).
Unter diesem Gesichtspunkt besteht ein wesentlicher, vom WG nicht berücksichtigter Unterschied zwischen dem Patententzug als einer Massnahme, die sich in erster Linie gegen den Wirt richtet, und der Wirtschaftsschliessung, die auch, ja vor allem den Eigentümer der Wirtschaft trifft. Dabei genügt es, hier die Prüfung auf die in Frage stehenden lit. g und i des
§ 17 WG
zu beschränken, wonach das Wirtschaftspatent "erlischt", wenn der Wirt den guten Leumund verliert oder für einen ordentlichen und ehrbaren Wirtschaftsbetrieb keine Gewähr mehr bietet.
Dass diese Bestimmungen nicht gegen
Art. 31 BV
verstossen, wurde bereits in
BGE 43 I 20
festgestellt und entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts. Es handelt sich um gewerbepolizeiliche Beschränkungen, die sich in dieser oder ähnlicher Form wohl in allen kantonalen Wirtschaftsgesetzen finden und sich durch die polizeiliche Sorge für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sittlichkeit in den öffentlichen Lokalen rechtfertigen lassen. Als fraglich erscheint dagegen, ob und inwieweit dieser Zweck die Schliessung zu decken vermag.
Wenn die Person, die eine Wirtschaft betreibt, die dafür erforderlichen moralischen Eigenschaften verliert, genügt es im allgemeinen, ihr das Patent zu entziehen und damit die weitere Führung der Wirtschaft zu verunmöglichen. Im Falle, wo der Wirt bloss Pächter ist, besteht jedenfalls in der Regel kein polizeilicher Grund, überdies die Wirtschaft zu schliessen und es
BGE 94 I 649 S. 657
damit ihrem Eigentümer zu verwehren, sie selber, durch einen Geranten oder durch einen anderen Pächter weiterzubetreiben. Eine Schliessung im Anschluss an den gegenüber dem Pächter verfügten Patententzug lässt sich höchstens dann ausna hmsweise rechtfertigen, wenn das Haus, in dem die Wirtschaft betrieben wird, in einen schlechten Ruf geraten ist, so dass es von anständigen Gästen gemieden wird und deshalb eine einwandfreie Führung kaum mehr möglich ist (vgl.
BGE 48 I 47
Erw. 2 und 3), ferner dann, wenn der Eigentümer der Wirtschaft nicht gewillt oder nicht fähig ist, einen den sittlichen Anforderungen genügenden Pächter zu finden und dessen Wirtschaftsführung in dem ihm zumutbaren Masse zu beaufsichtigen. Weder das eine noch das andere ist im vorliegenden Falle dargetan.
Es mag auffallen, dass zwischen dem 12. Juni 1963 (Erwerb der Wirtschaft durch die Beschwerdeführerin) und dem 4. November 1967 (Schliessung der Wirtschaft durch den Gemeinderat) drei Pächter einander ablösten. Im ersten Fall ergab sich jedoch nachträglich, was bei der Patenterteilung weder der Beschwerdeführerin noch dem Gemeinderat bekannt war, dass der Ehemann der Pächterin vorbestraft und schlecht beleumdet war. Dem zweiten Pächter hat die Beschwerdeführerin gekündigt, weil er mit der Zahlung des Pachtzinses in Rückstand geraten war. Erst dem dritten Pächter X. war eine mangelhafte Wirtschaftsführung vorzuwerfen. Dass die Wirtschaft in der kurzen Zeit unter X. (1. Januar 1966 bis 4. November 1967) in schlechten Ruf geraten wäre, wird von den Behörden nicht behauptet, noch bestehen nach den Akten Anhaltspunkte dafür.
Dagegen führt der Regierungsrat in der Beschwerdeantwort aus, wer Eigentümer einer Wirtschaft sei, die er nicht selber betreibe, sei "zu höchster Sorgfalt bei der Auswahl der Pächter oder Geranten und zu intensiver Überwachung derselben gezwungen, wenn er unangenehme Überraschungen vermeiden" wolle. Sofern der Regierungsrat damit, was nicht ganz klar ist, sagen will, die Beschwerdeführerin habe im Falle des Pächters X. ihre Sorgfaltspflicht in einem Ausmasse verletzt, dass sich eine so tiefgreifende Massnahme wie die Schliessung der Wirtschaft rechtfertige, so wäre dieser Vorwurf unbegründet, da weder im angefochtenen Entscheid noch in der Beschwerdeantwort näher dargelegt wird und auch nicht ersichtlich ist, inwiefern die Beschwerdeführerin ihre Diligenzpflicht verletzt haben soll. X. war vor der Übernahme der Wirtschaft während zehn Jahren Pfleger
BGE 94 I 649 S. 658
in einer Heil- und Pflegeanstalt und hat sich dort offenbar bewährt. Seine Wirtschaftsführung gab freilich schon in der ersten Zeit zu Klagen Anlass, so dass ihm der Gemeinderat am 1. Dezember 1966 eine "ernsthafte Verwarnung" erteilte. Als die Beschwerdeführerin, der diese Verwarnung nicht mitgeteilt wurde, nachträglich davon erfuhr, wandte sie sich mit Schreiben vom 27. Februar 1967 an den Gemeinderat mit dem Ersuchen um eine klare Darlegung der Verhältnisse und um Akteneinsicht, um - vor weiteren amtlichen Massnahmen gegen X. - "nötigenfalls selber zum Rechten zu sehen". Seit jener Verwarnung sind, wie im angefochtenen Entscheid festgehalten wird, bezüglich der Wirtschaftsführung keine Klagen mehr laut geworden. Der Patententzug gegenüber X. erfolgte, weil im August/Sep.. tember 1967 festgestellt worden war, dass dieser anfangs Februar 1967 einmal mit einer Serviertochter geschlechtlich verkehrt und im April 1967 eine andere Serviertochter in deren Zimmer unsittlich belästigt hatte. Dass und wie die Beschwerdeführerin von diesen vereinzelten Vorfällen, die erst viel später der Polizei von den betreffenden Serviertöchtern und der Ehefrau X. mitgeteilt wurden, hätte Kenntnis erhalten können, ist unerfindlich, noch bestehen Anhaltspunkte dafür, dass sie in diesem Falle nicht eingeschritten wäre; ihr Schreiben vom 27. Februar 1967 spricht vielmehr für das Gegenteil. Da ihr der Gemeinderat weder genaue Kenntnis von den Tatsachen, die zur Verwarnung vom 1. Dezember 1966 führten, noch vom Gegenstand der späteren Untersuchung gab, konnte ihr nicht zugemutet werden, den Pachtvertrag gemäss
Art. 291 oder 294 OR
aufzulösen, da sie mangels Beweisen keine Gewissheit hatte, in einem allfälligen Prozess über die Folgen der Vertragsauflösung obzusiegen.
Bei dieser Sachlage ist wohl der Patententzug gegenüber X., nicht dagegen die Schliessung der Wirtschaft mit
Art. 31 BV
vereinbar. Der Hauptantrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung des Entscheids des Regierungsrates und des dadurch bestätigten Beschlusses des Gemeinderates (soweit darauf nach Erw. 1 einzutreten ist) erweist sich damit als begründet. | public_law | nan | de | 1,968 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2deff530-e511-450d-9f7d-ffe62f873123 | Urteilskopf
96 IV 102
26. Urteil des Kassationshofes vom 16. Oktober 1970 i.S. Kern gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. | Regeste
Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB
. Bedingter Strafvollzug bei Angetrunkenheit am Steuer.
Wegen angetrunkenen Fahrens Verurteilte trifft in der Regel der Vorwurf der Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit. Dieser kann dadurch entkräftet werden, dass die Tatumstände zwar nicht für sich allein, jedoch zusammen mit dem Vorleben den Schluss erlauben, der Verurteilte lasse sich durch eine bedingt aufgeschobene Strafe dauernd bessern. Die Tat ist daher mit den persönlichen Verhältnissen gesamthaft zu würdigen (Bestätigung der in
BGE 95 IV 49
ff. und 55 ff. eingeleiteten Rechtsprechung). | Sachverhalt
ab Seite 102
BGE 96 IV 102 S. 102
A.-
Kern hielt sich Freitagabend, den 13. Juni 1969, nach dem Nachtessen am Familientisch, in einem Aarauer Restaurant auf, wo er, nachdem er ein alkoholfreies Getränk genossen hatte, bei einer Runde Weisswein mithielt. Etwa um 21.15 Uhr begab er sich zu einer privaten Einladung. Dort wurden nach 22.00 Uhr Champagner, um 23.00 Uhr kalte Speisen (kaltes Buffet) und anschliessend roter Aigle serviert. Kern sprach dem Alkohol dabei so zu, dass er, als er sich um 01.00 Uhr (14. Juni) mit seinem Wagen auf den Heimweg machte, völlig betrunken war und wegen seiner Fahrweise auffiel. Die um 02.10 Uhr vorgenommene
BGE 96 IV 102 S. 103
Blutprobe ergab 2,45-2,51 Gewichtspromille Alkohol im Blut, was für die Zeit der Beendigung seiner Autofahrt (01.15 Uhr) einem Alkoholgehalt von 2,5-2,6 Gewichtspromille entsprach.
B.-
Das Bezirksgericht Aarau verurteilte Kern in Anwendung von
Art. 91 Abs. 1 SVG
zu 12 Tagen Gefängnis und Fr. 3000.-- Busse. Für die Freiheitsstrafe verweigerte es den bedingten Strafvollzug.
Eine gegen dieses Urteil gerichtete Berufung wies das Obergericht des Kantons Aargau am 25. Mai 1970 ab.
C.-
Kern führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die Sache sei zur Gewährung des bedingten Strafvollzuges und zur Bewilligung der vorzeitigen Löschung der Busse, eventuell zur Neubeurteilung, an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt, die Beschwerde sei kostenfällig abzuweisen.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 41 Ziff. 1 StGB
kann der Richter den Vollzug einer Haft- oder Gefängnisstrafe unter anderem dann aufschieben, wenn Vorleben und Charakter des Verurteilten erwarten lassen, er werde durch diese Massnahme von weitern Verbrechen und Vergehen abgehalten. Ob sich diese Erwartung rechtfertige, ist Ermessenssache. Der Kassationshof greift deshalb erst bei Ermessensüberschreitung ein (
BGE 88 IV 6
;
BGE 82 IV 151
Erw. 2).
Bei der Gewährung des bedingten Strafvollzuges ist gegenüber wegen angetrunkenen Fahrens Verurteilten besondere Zurückhaltung geboten (
BGE 95 IV 53
/54 Erw. 1b). Es trifft sie in der Regel der Vorwurf der Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit. Heute sollte jedem Fahrer bekannt sein, dass die Fähigkeit, ein Fahrzeug zu beherrschen, bereits bei leichter Alkoholisierung beeinträchtigt wird, der Fahrer sich aber gerade in diesem Stadium für besonders fahrtüchtig hält, und dass ferner die Leistungsfähigkeit eines Fahrers jedenfalls von einem Alkoholgehalt von 0,8 Promille an allgemein nachlässt und die Unfallgefahr erheblich zunimmt. Wer beim heutigen Verkehr, der oft auch schon den nüchternen Fahrer überfordert, vor der Fahrt trotz aller Warnungen in der Öffentlichkeit übermässig alkoholische Getränke geniesst, muss als unzuverlässiger und verantwortungsloser Verkehrsteilnehmer behandelt werden. Im Hinblick
BGE 96 IV 102 S. 104
auf die grossen Gefahren, die das Fahren in angetrunkenem Zustand mit sich bringt, sind an die Gewähr, die ein gestützt auf
Art. 91 Abs. 1 SVG
Verurteilter für künftiges Wohlverhalten bieten muss, aus spezial- wie aus generalpräventiven Gründen selbst dann strenge Anforderungen zu stellen, wenn der Täter zum ersten Mal wegen Fahrens in angetrunkenem Zustande vor dem Richter steht und seine bisherige Führung nicht zu bemängeln ist (
BGE 95 IV 52
/53 Erw. 1b, 58 Erw. 1). Verharmlosender Nachsicht ist entschieden entgegenzutreten.
Damit indessen die Gewährung des bedingten Strafvollzuges nicht einseitig von der Art und den Umständen der Tat abhange, sind die letzteren mit den persönlichen Verhältnissen des Täters gesamthaft zu würdigen. Der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit kann dadurch entkräftet werden, dass die Tatumstände zwar nicht für sich allein, jedoch zusammen mit dem Vorleben den Schluss erlauben, der Verurteilte lasse sich schon durch eine bedingt aufgeschobene Warnungsstrafe dauernd bessern (
BGE 95 IV 52
Erw. 1 a;
BGE 95 IV 57
Erw. 1).
2.
Im vorliegenden Fall wusste der Beschwerdeführer, dass er mit dem Wagen heimkehren und diesen selber lenken werde. Gleichwohl genoss er bereits in einem Restaurant Alkohol und liess sich zu einem privaten Anlass einladen, von dem er wissen oder annehmen musste, dass weitere alkoholische Getränke angeboten würden, und er sich diesem Angebot gegenüber nicht ablehnend verhalten werde. Zum mindesten musste er spätestens dann darauf aufmerksam werden, dass man privat reichlich Alkohol geniessen werde, als der Champagner serviert wurde. Trotzdem genoss der Beschwerdeführer im Übermass Alkohol und versetzte sich in einen schweren Rauschzustand. Indem er nach einer ausgedehntenZecherei völlig betrunken seinen Wagen lenkte, setzte er die Sicherheit und das Leben anderer gewissenlos aufs Spiel. Die Vorinstanz geht davon aus, dass die Tat einen schweren Charakterfehler des Beschwerdeführers erkennen lässt. Sie wirft ihm zu Recht vor, dass er, ohne seinen Wagen zu benutzen, den privaten Anlass hätte besuchen und einen Taxi nehmen oder aber sich bei der privaten Einladung des Alkohols hätte enthalten können. Dazu kommt, dass er sich seines Zustandes durchaus bewusst war und demzufolge äusserst langsam nach Hause fuhr.
Hinsichtlich des Leumundes wirft die Vorinstanz dem Angeklagten vor, er habe einen geringfügigen Zusammenstoss
BGE 96 IV 102 S. 105
mit einem parkierten Wagen gehabt und bei dieser Gelegenheit den Geschädigten nicht benachrichtigt; überdies habe er sich später für eine wegen unerlaubten Parkierens ausgesprochene Busse betreiben lassen. Der Beschwerdeführer wendetzum ersten Vorwurf ein, die damals verhängte Busse sei in Rechtskraft erwachsen, weil er sich im Ausland aufgehalten und kein Rechtsmittel habe ergreifen können. Die ihm zur Last gelegte Tat habe er nicht begangen. Das Vorbringen des Beschwerdeführers richtet sich damit in erster Linie gegen die verbindliche tatsächliche Feststellung der Vorinstanz, er habe sich nicht korrekt verhalten. Gemäss
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
ist diese Rüge unzulässig. Es kann indessen dahingestellt bleiben, wie es sich damals verhalten haben mag, da jedenfalls daraus, dass der Beschwerdeführer sich weigerte, eine Busse zu bezahlen und die Behörde zwang, Betreibung einzuleiten, ebenfalls ein Charaktermangel abgeleitet werden muss. Wer weiss, dass er eine in Rechtskraft erwachsene Busse zu bezahlen hat, wird dies vernünftigerweise ohne weiteres tun, was in Anbetracht seiner günstigen finanziellen Verhältnisse auch dem Beschwerdeführer möglich gewesen wäre.
Wenn die Vorinstanz in Berücksichtigung aller dieser Umstände den bedingten Strafvollzug verweigerte, so überschritt sie das ihr zustehende Ermessen nicht. Die Tat des Beschwerdeführers hat einen schweren Charakterfehler offenbart; er wird durch dessen sonstiges Verhalten nicht entkräftet. Der Beschwerdeführer hat nicht unter Umständen gehandelt, die ihm zugute gehalten werden könnten. Es besteht deshalb kein Grund zur Annahme, es handle sich um eine einmalige Entgleisung. Eine solche hat der Kassationshof beispielsweise im Falle Gajek (unveröffentlichtes Urteil vom 15. April 1970) wegen des tadellosen Leumundes des Täters als wahrscheinlich erachtet und deshalb die Gewährung des bedingten Strafvollzuges durch den kantonalen Richter nicht als Ermessensüberschreitung beurteilt.
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,970 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2df12cb6-5a01-4b05-852f-8fa73d889cdc | Urteilskopf
113 II 130
24. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Februar 1987 i.S. Schmidhauser gegen Scherrer (Berufung) | Regeste
Art. 619 ff. ZGB
; Gewinnanteilsrecht der Miterben.
Der Gewinnanspruch im bäuerlichen Erbrecht steht dem einzelnen Erben und nicht etwa den Miterben zur gesamten Hand zu. | Sachverhalt
ab Seite 130
BGE 113 II 130 S. 130
A.-
Am 2. April 1966 verkaufte Johann Lichtensteiger seinem Sohn Hans sein aus mehreren Parzellen bestehendes landwirtschaftliches Gewerbe in Niederhelfenschwil zum Preise von Fr. 160'000.--. Das Inventar, das sich aus Vieh und landwirtschaftlichen Gerätschaften zusammensetzte, wurde für Fr. 59'000.-- mitveräussert. Unklar ist, ob im Kaufpreis von Fr. 160'000.-- auch das Inventar eingeschlossen war oder ob dieser Betrag sich nur auf das Gewerbe ohne Inventar bezog.
Im September 1973 starb Johann Lichtensteiger und hinterliess als Erben seine Ehefrau und vier Kinder, nämlich Hans Lichtensteiger, Werner Lichtensteiger, Adelheid Rosenast-Lichtensteiger und Marianne Schmidhauser-Lichtensteiger.
Mit Kaufvertrag vom 21. August 1980 verkaufte Hans Lichtensteiger von der von seinem Vater erworbenen Liegenschaft die Parzelle Nr. 613 mit dem bäuerlichen Wohnhaus und zwei Scheunen Clemens Scherrer zum Preise von Fr. 250'000.--. Im Kaufvertrag wurde festgehalten, dass ein Miterben-Gewinnanspruch bis zum 5. Mai 1991 im Grundbuch vorgemerkt sei.
BGE 113 II 130 S. 131
B.-
Marianne Schmidhauser-Lichtensteiger erhob am 9. April 1984 gegen Clemens Scherrer beim Bezirksgericht Wil Klage auf Ausrichtung eines Gewinnanteils im Sinne von
Art. 619 ZGB
. Sie machte geltend, dass die veräusserte Parzelle im Jahre 1966 einen Ertragswert von Fr. 43'400.-- aufgewiesen habe, so dass der Gewinnanteil der Erben Fr. 206'600.-- und die ihr zustehenden 3/16 davon Fr. 38'737.-- betragen würden. Hievon seien 28% oder Fr. 10'846.-- wegen der 14jährigen Dauer des Besitzes von Hans Lichtensteiger in Abzug zu bringen, so dass sich ihr Gewinnanteil auf Fr. 27'891.-- belaufe.
Das Bezirksgericht wies die Klage mit Urteil vom 29. November 1984 ab mit der Begründung, es sei nicht dargetan, dass Hans Lichtensteiger die Liegenschaft von seinem Vater zu einem unter dem Verkehrswert liegenden Preis übernommen habe, so dass ein Gewinnanspruch entfalle.
Gegen das bezirksgerichtliche Urteil gelangte die Klägerin mit einer Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen. Dieses wies die Berufung am 6. November 1985 ab. Es vertrat die Auffassung, dass der Anspruch auf Gewinnbeteiligung im Sinne von
Art. 619 ZGB
auf einem Gesamthandsverhältnis beruhe, weshalb die Klägerin zur selbständigen Geltendmachung ihres Anteils am Gewinn nicht berechtigt sei.
C.-
Die Klägerin führt beim Bundesgericht Berufung mit den Anträgen, das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 6. November 1985 sei aufzuheben und der Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin Fr. 38'737.-- zu bezahlen, vermindert um die durch das Gericht festzulegenden abzugsberechtigten Aufwendungen des Hans Lichtensteiger auf der Liegenschaft Parzelle Nr. 613 in Niederhelfenschwil und den 28%igen Abzug aufgrund der 14jährigen Zeitdauer, in welcher Hans Lichtensteiger die Parzelle besass, nebst Zins zu 5% seit der Veräusserung der Liegenschaft durch Hans Lichtensteiger an den Beklagten am 23. September 1980, eventuell 5% seit dem 24. November 1983.
Der Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Hat ein Erbe ein landwirtschaftliches Grundstück nicht zum Verkehrswert, sondern zu einem niedrigeren Übernahmepreis zugeteilt erhalten, so sind die Miterben gemäss
Art. 619 Abs. 1 ZGB
BGE 113 II 130 S. 132
berechtigt, bei der Veräusserung oder Enteignung des Grundstücks oder eines Teils desselben in den folgenden 25 Jahren ihren Anteil am Gewinn zu beanspruchen. Der Erwerber haftet mit dem Veräusserer solidarisch für die Ausrichtung des Gewinnanteils, wenn der Gewinnanspruch auf Anmeldung eines Berechtigten im Grundbuch vorgemerkt ist (
Art. 619quinquies ZGB
). Die Vorschriften über den Gewinnanspruch nach
Art. 619 ff. ZGB
finden auch Anwendung, wenn ein Verkäufer ein Grundstück zu seinen Lebzeiten auf einen Erben übertragen hat und dieses weiterveräussert oder enteignet wird (
Art. 218quinquies OR
).
Im vorliegenden Fall ist umstritten, ob die Klägerin berechtigt sei, ihren Anteil am Gewinn beim Verkauf der Parzelle Nr. 613 in Niederhelfenschwil selbständig geltend zu machen, oder ob der Gewinnanspruch den Mitgliedern der Erbengemeinschaft zur gesamten Hand zustehe.
a) Entsprechend dem vom Parlament letztlich beschlossenen Wortlaut von
Art. 619 ZGB
, wie er vor der Revision von 1965 in Geltung stand, waren die Miterben berechtigt, den Gewinnanteil zu beanspruchen. Von der herrschenden Lehre wurde gestützt auf diesen Gesetzeswortlaut die Fortdauer einer Gemeinschaft zur gesamten Hand unter den Miterben angenommen, deren Gegenstand nur noch der bedingte Anspruch auf Gewinnbeteiligung bildete. Dies hatte zur Folge, dass der spätere Gewinnüberschuss an die Gesamtheit der Miterben zu bezahlen war (ESCHER und TUOR/PICENONI, je N. 19 zu
Art. 619 ZGB
; dies im Gegensatz zu Piotet in ZSR 1960 I S. 407 f. Anm. 30). Auch die Rechtsprechung schien sich der herrschenden Lehre anzuschliessen, wenn in
BGE 87 II 80
darauf hingewiesen wurde, dass sich das Gewinnanteilsrecht als Teilungsanspruch mit Bezug auf einen Rest der Erbschaft auffassen lasse.
b) Anlässlich der Revision der Bestimmungen von
Art. 619 ff. ZGB
im Jahre 1965 wurde der Frage, wer den Gewinnanspruch geltend machen könne, ob nur die Gesamtheit der Miterben oder der einzelne Erbe, keine besondere Bedeutung beigemessen. Immerhin hielt der Bundesrat in seiner Botschaft unter Hinweis auf HOMBERGER, N. 69 zu
Art. 959 ZGB
, fest, durch die Vormerkung im Grundbuch erwachse dem Käufer des Grundstücks die Pflicht, den Kaufpreis statt an den Verkäufer allein an alle Erben zu gesamter Hand zu bezahlen (BBl 1963 I 1005).
Soweit sich die Lehre seit der Revision im Jahre 1965 mit der strittigen Frage befasst hat, ist sie weiterhin gespalten, indessen
BGE 113 II 130 S. 133
tritt nunmehr die überwiegende Lehre für einen Individualanspruch ein. Nach PIOTET, Erbrecht, in Schweiz. Privatrecht, Bd. IV/2, S. 973, ist - anders als noch in ZSR I 1960, 407 dargelegt - davon auszugehen, dass der Gewinnanspruch in
Art. 619 ZGB
in der Fassung vor 1965 eine mit einer allfälligen Nutzniessung belastete Gesamtforderung der Erben sei. Die neue Fassung 1965 von
Art. 619 ZGB
habe nun die Formulierung, die zu dieser Annahme berechtigte, wiederaufgenommen ("sind die Miterben berechtigt, [...] ihren Anteil am Gewinn zu beanspruchen"). Die Miterben seien somit berechtigt, die Ausrichtung des Gewinnanteils zu verlangen. Diese erfolge nach der französischen Fassung von
Art. 619quinquies ZGB
an alle Miterben. Darin erblickt Piotet ein ernsthaftes Indiz für eine Gesamtforderung, was durch die zitierte Stelle aus der Botschaft des Bundesrates (BBl 1963 I 1005) bestätigt werde.
GASSER (Le droit des cohéritiers à une part de gain, thèse Lausanne 1967, S. 76 ff.; Quelques questions controversées en matière de participation des héritiers au gain, ZBGR 53 (1972), S. 65 ff., insbes. S. 69), BECK (Das gesetzliche Gewinnanteilsrecht der Miterben, Diss. Zürich 1967, S. 123) und ESCHER (Ergänzungslieferung zum landwirtschaftlichen Erbrecht, N. 13 zu
Art. 619 ZGB
und N. 7 zu
Art. 619quinquies ZGB
) sind demgegenüber der Ansicht, dass jeder Erbe selbständig seinen Anteil am Gewinn beanspruchen könne. Gasser und Beck betrachten zudem den Fortbestand der Erbengemeinschaft mit dem einzigen Zweck, einen allfälligen Gewinnanspruch der Miterben zu realisieren, als sinnwidrig.
3.
Aus diesen Darlegungen ergibt sich, dass die Lehrmeinungen, welche sich nach der Revision von 1965 gegen die Annahme einer Gesamthandsforderung der Miterben aussprechen, überwiegen. Dabei wird mit Recht darauf hingewiesen, dass als Grundlage einer Forderung zur gesamten Hand eine Gemeinschaft der Berechtigten nachzuweisen wäre. Die einzige Gemeinschaft, die aber im Zusammenhang mit
Art. 619 ZGB
in Frage kommen kann, ist die Erbengemeinschaft. Indessen entsteht der Anspruch der Miterben auf einen Gewinnanteil erst, wenn das fragliche Grundstück aus der Erbmasse ausgeschieden und auf den Übernehmer übertragen wird, was bei der Erbteilung der Fall ist. Bei der Teilung wird jedoch die Erbengemeinschaft aufgelöst. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Erbengemeinschaft einzig mit dem Zweck, den Miterben einen Anspruch zu sichern, der gar nicht Bestandteil der
BGE 113 II 130 S. 134
Erbschaft bildete, fortgeführt werden sollte (GASSER, Le droit des cohéritiers à une part de gain, S. 76). Die Erbengemeinschaft wurde vom Gesetzgeber als Gesamthandsverhältnis ausgestaltet, um die Miterben gegen unzulässige und schädigende Eingriffe eines andern Miterben zu schützen (ESCHER, N. 13 zu
Art. 602 ZGB
). Verlangt aber einer der Miterben selbständig seinen gesetzlichen Anteil am Gewinn, so werden die Interessen der andern Miterben dadurch in keiner Weise verletzt; es steht ihnen vielmehr frei, dasselbe zu tun. Die Annahme einer fortgesetzten Erbengemeinschaft hätte zudem widersprüchliche Konsequenzen, indem nämlich gegenüber dem Übernehmer des Grundstücks jeder einzelne Erbe auf dem Wege der Teilungsklage seinen Anteil verlangen könnte, während dem Dritterwerber gegenüber nur die Erbengemeinschaft als solche auftreten könnte (ESCHER, Ergänzungslieferung, N. 7 zu
Art. 619quinquies ZGB
). Im übrigen weist ESCHER, a.a.O., mit Recht darauf hin, dass nach
Art. 619 Abs. 1 ZGB
die Miterben ihren Anteil am Gewinn geltend machen können, der Erbengemeinschaft jedoch kein Anteil zustehen würde. Auch aus
Art. 619quinquies ZGB
, wonach die Anmeldung des Gewinnanteilsrechts im Grundbuch durch einen einzelnen Erben allen Miterben zugute kommt, kann nicht auf eine Gesamthandsforderung geschlossen werden. Wenn der Anspruch nur der Erbengemeinschaft, nicht aber dem einzelnen Miterben zustehen würde, so wäre damit unvereinbar, dass die Anmeldung eines einzelnen Erben auch für die andern Miterben ohne deren Zustimmung wirksam wäre (GASSER, a.a.O., S. 76). In diesem Zusammenhang ist auch die Rechtsprechung zu beachten, wonach ein pflichtteilsgeschützter Erbe, der von der Erbschaft ausgeschlossen und somit nicht wirklicher Erbe wird, dennoch die Vormerkung des Gewinnanteilsrechts verlangen kann, das ihm durch die Vereinbarung mit dem Eigentümer gewährt worden ist (
BGE 104 II 85
).
Entgegen der Meinung der Vorinstanz, welche sich vor allem auf PIOTET, a.a.O., S. 973, und die Botschaft des Bundesrates, BBl 1963 I 1005, stützte, ist unter Berücksichtigung der angeführten Argumente ein Gesamthandsverhältnis der Miterben im Sinne einer fortgesetzten Erbengemeinschaft im Hinblick auf
Art. 619 ff. ZGB
zu verneinen. Es kann somit jeder einzelne Erbe selbständig seinen Anteil am Gewinn gemäss
Art. 619 Abs. 1 ZGB
geltend machen.
4.
Im vorliegenden Fall wird der Gewinnanteilsanspruch der Miterben nicht unmittelbar durch
Art. 619 ZGB
begründet, da
BGE 113 II 130 S. 135
der Eigentümer des landwirtschaftlichen Grundstücks, der Vater der Klägerin, dieses noch zu seinen Lebzeiten einem seiner Söhne verkauft hat. Der Gewinnanspruch richtet sich daher nach
Art. 218quinquies OR
. Nach der heute geltenden Fassung dieser Bestimmung, die am 15. Februar 1973 in Kraft trat, besitzt der Veräusserer, solange er lebt, bei der Weiterveräusserung des Grundstücks einen Gewinnanspruch. Ist er im Zeitpunkt der Veräusserung gestorben, so geht das Recht von Gesetzes wegen auf seine Erben über, die den Gewinnanteil nach den Vorschriften von
Art. 619 ff. ZGB
geltend machen können. Im geltenden Recht ist somit der Übergang des Anspruchs vom Veräusserer auf seine Erben gesichert.
Johann Lichtensteiger hat indessen sein landwirtschaftliches Gewerbe bereits im Jahre 1966 seinem Sohn verkauft, so dass auf dieses Rechtsgeschäft die frühere Fassung von
Art. 218quinquies OR
, die seit dem 19. März 1965 in Kraft stand, zur Anwendung gelangt (
BGE 94 II 245
; ESCHER, Ergänzungslieferung, S. 16 N. 12). Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung war nicht klar, wer Träger des Anspruchs am Gewinn sei, ob der Veräusserer oder seine Erben, sofern das Grundstück noch zu Lebzeiten des Verkäufers weiter veräussert wurde. In der Lehre wurde eher ein Gewinnbeteiligungsrecht der Erben angenommen (ESCHER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 218quinquies OR
; BECK, a.a.O., S. 134; GASSER, a.a.O., S. 79). Das hätte zur Folge, dass das Gewinnbeteiligungsrecht der Miterben von Gesetzes wegen entstehen würde, ohne dass der Anspruch zunächst in den Nachlass des ursprünglich berechtigten Veräusserers und damit in die Erbengemeinschaft fallen würde. Wäre jedoch anders zu entscheiden, dass primär der Veräusserer gewinnberechtigt wäre, dieser aber die Weiterveräusserung nicht mehr erlebt, so müsste auch dann ein Gewinnbeteiligungsrecht der Erben, wie es in der nachfolgenden, am 15. Februar 1973 in Kraft getretenen Regelung ausdrücklich vorgesehen wurde, bejaht werden. Das bedeutet aber, dass der Anspruch ebenfalls von Gesetzes wegen unter entsprechender Anwendung von
Art. 619 ff. ZGB
auf die Miterben übergeht. Gestützt auf
Art. 619 Abs. 1 ZGB
kann nach dem oben Dargelegten jeder Miterbe selbständig seinen Anteil am Gewinn verlangen. Das gilt somit auch für die Klägerin, die von der Vorinstanz zu Unrecht als nicht legitimiert betrachtet wurde, ein selbständiges Rechtsbegehren zu stellen. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zur
BGE 113 II 130 S. 136
materiellen Prüfung des Begehrens der Klägerin und zu neuer Entscheidung an das Kantonsgericht zurückzuweisen. | public_law | nan | de | 1,987 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2df20ad8-cc11-4030-a15f-e0fd7e0ca124 | Urteilskopf
114 III 23
7. Auszug aus dem Entscheid der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 8. Februar 1988 i.S. Hoff F. Lee (Rekurs) | Regeste
Frist zur Klage gemäss
Art. 242 Abs. 2 SchKG
.
Das Konkursamt hat bei der Fristansetzung zur Klage gemäss
Art. 242 Abs. 2 SchKG
vom rechtskräftig gewordenen Kollokationsplan auszugehen. | Sachverhalt
ab Seite 24
BGE 114 III 23 S. 24
A.-
Durch Verfügung des Konkursrichters Biel vom 11. Juni 1987 wurde der am 28. April 1987 eröffnete Konkurs der W. M. Enicar AG (Biel) mangels Aktiven eingestellt.
Aus dem Konkursinventar mit Datum des 15. Juli 1987 geht hervor, dass Hoff F. Lee - Gläubiger und zugleich Verwaltungsrat der Konkursitin - einen Drittanspruch geltend machte, welcher in französischer Sprache wörtlich wie folgt formuliert wurde: "c) revendications selon contrat de prêt du 3.10.86 (tous les actifs de la société sont revendiqués par ce contrat)". Ferner ist im Inventar das folgende Pfandrecht festgehalten: "GAGE DE M. HOFF L. LEE (se trouvant dans un local séparé et indépendant des locaux de la sté) - 4605 montres terminées à Fr. 5.--, 3116 mouvements à Fr. 2.--): sur place privée de M. W. Sch. 1 voiture BX 16 RS, BE 32358...".
Am 13. November 1987 setzte das Konkursamt Biel den Vertreter von Hoff F. Lee davon in Kenntnis, dass die Marken der W. M. Enicar AG (Inventar-Position Nr. 341) sowie das Lager und das Mobiliar (Inventar-Positionen Nr. 1 bis 187 und 200 bis 324) gemäss
Art. 260 SchKG
an fünf (von der Konkursverwaltung namentlich erwähnte) Gläubiger abgetreten worden seien. Das Konkursamt setzte Hoff F. Lee Frist zur Klage gemäss
Art. 242 Abs. 2 SchKG
und
Art. 52 KOV
an.
B.-
Gegen diese Fristansetzung vom 13. November 1987 beschwerte sich Hoff F. Lee bei der Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen für den Kanton Bern. Diese wies die Beschwerde mit Entscheid vom 5. Januar 1988 ab und wies das Konkursamt Biel an, Hoff F. Lee die Frist gemäss
Art. 242 Abs. 2 SchKG
neu anzusetzen.
C.-
Hoff F. Lee erhob gegen diesen Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde Rekurs bei der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts, indem er die Aufhebung des angefochtenen Entscheides wie auch der Verfügung des Konkursamtes Biel vom 13. November 1987 beantragte. Der Rekurrent behauptete, das Konkursamt sei bei der Fristansetzung offensichtlich wider besseres Wissen davon ausgegangen, dass er im Konkurs der W. M. Enicar AG das Eigentum an deren Marken, am Lager
BGE 114 III 23 S. 25
und am Mobiliar beanspruche. Von allem Anfang an habe er nämlich ein Pfandrecht an diesen Vermögenswerten geltend gemacht.
Der Rekurs wurde abgewiesen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Während die
Art. 106 und 109 SchKG
bezüglich der Betreibung auf Pfändung das Eigentum und das Pfandrecht eines Dritten ins Auge fassen, verfügt die Konkursverwaltung nach dem unmissverständlichen Text von
Art. 242 Abs. 1 SchKG
über die Herausgabe von Sachen, welche von einem Dritten als Eigentum angesprochen werden. Der Anspruch, für dessen Geltendmachung durch Klage die Konkursverwaltung nach
Art. 242 Abs. 2 SchKG
dem Dritten Frist anzusetzen hat, bezieht sich somit ausschliesslich auf das Eigentum (vgl. auch
Art. 641 Abs. 2 ZGB
und
Art. 45 KOV
) sowie auf Aussonderungsansprüche, welche von Gesetzes wegen ausdrücklich anerkannt werden (
Art. 201 und 203 SchKG
,
Art. 401 und 1053 OR
, Art. 17 des Bundesgesetzes über die Anlagefonds [SR 951.31]). Streitigkeiten, die sich auf beschränkte dingliche Rechte beziehen - so zum Beispiel den Umfang der Pfandhaft -, sind demgegenüber im Kollokationsverfahren gemäss
Art. 250 SchKG
auszutragen (
BGE 106 III 27
E. 2; GILLIERON, Poursuite pour dettes, faillite et concordat, Lausanne 1985, S. 266 ff., S. 308 f.; AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. Auflage Bern 1988, S. 320 ff.; S. 358 f.).
Die kantonale Aufsichtsbehörde hat zutreffend festgestellt, dass die Kollokation der Forderung (von Fr. 618'439.--) des Rekurrenten und der damit verbundenen Pfandhaft nicht angefochten und damit rechtskräftig geworden ist (
BGE 110 III 113
E. 1). Diese Kollokation entspricht den Erfordernissen von
Art. 60 Abs. 3 KOV
und ist unmissverständlich, heisst es doch: "Für diese Forderung haften 4605 Uhren und 3116 Werke sowie 1 PV BX 16 RS bzw. deren Erlös gem. Inventar-Nr. 342/343/344." Entgegen der Behauptung des Rekurrenten kann deshalb keine Rede davon sein, dass die Kollokation "in höchstem Masse unklar" gewesen wäre. Nur wenn der Kollokationsplan keinen unzweideutigen Entscheid über den Umfang eines geltend gemachten Pfandrechts enthält, kann dies nach Ablauf der Frist noch mit Beschwerde gerügt werden (
BGE 106 III 26
f. E. 2,
BGE 105 III 30
f. E. 3, mit Hinweisen); das ist hier nicht der Fall. | null | nan | de | 1,988 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2df52d25-1a3e-44f9-89bc-64cf2177a08c | Urteilskopf
108 Ia 228
42. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour de droit public du 14 mai 1982 dans la cause Pellaz contre Genève, Département de justice et police et Tribunal administratif (recours de droit public) | Regeste
Verweigerung der Bewilligung zur Vergrösserung eines Wirtschaftsbetriebes mit Alkoholausschank;
Art. 4 BV
.
1. Art des Wirtschaftsbetriebes, dem die Genfer Behörden bei der Anwendung der in Art. 5 lit. c des revidierten kantonalen Gesetzes über die Gasthäuser, Alkoholwirtschaften und ähnlichen Betrieben (vom 12. März 1892) verankerten Bedürfnisklausel Rechnung tragen (E. 3b).
2. Die Vergrösserung eines Gastwirtschaftsbetriebes kann, unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisklausel, der Eröffnung eines neuen Gasthauses gleichgestellt werden (E. 3c). | Sachverhalt
ab Seite 228
BGE 108 Ia 228 S. 228
Francis Pellaz exploite le "Café du Nord" au no 66 de la rue Ancienne à Carouge, soit dans le secteur no 3 du plan de quartiers de cette ville tracé pour l'application de la clause de besoin.
Le 18 juin 1980, il a sollicité l'autorisation d'augmenter la surface de son établissement (33 m2) par une arcade contiguë de 20 m2 environ, ce qui devait représenter un agrandissement de 61% de la partie réservée aux consommateurs.
Par décision du 8 janvier 1981, le Département genevois de justice et police (ci-après: le Département) a refusé l'autorisation sollicitée au motif que le nombre de débits d'alcool était suffisant dans le quartier no 3 de Carouge, essentiellement consacré à l'habitation et au petit commerce.
BGE 108 Ia 228 S. 229
Pellaz s'étant pourvu contre cette décision auprès du Tribunal administratif du canton de Genève, ce dernier confirma, le 12 août 1981, la décision du Département, en constatant que celui-ci n'avait pas outrepassé dans le cas particulier son pouvoir d'appréciation.
Pellaz a formé un recours de droit public, dans lequel il critique l'application faite, dans le cas d'espèce, de l'art. 5 lettre c de la loi cantonale revisée du 12 mars 1892 sur les auberges, débits de boissons et autres établissements analogues (ci-après LADB). Il qualifie notamment d'arbitraire l'interprétation que les autorités genevoises ont donnée in casu à la clause de besoin.
Le Tribunal fédéral a rejeté le recours.
Erwägungen
Extrait des considérants:
3.
...
b) Le recourant se plaint du fait que, dans son examen de la situation, l'autorité requise n'aurait pas suffisamment tenu compte du genre particulier de son établissement. Or, s'il est exact que la loi genevoise n'énumère pas elle-même les divers genres d'établissements, elle se réfère néanmoins expressément à cet égard à la notion "d'établissements du même genre" (art. 5 lettre c LADB), ce qui, dans la pratique à Genève, s'est toujours traduit jusqu'ici par la reconnaissance de deux sortes d'établissements, à savoir d'une part les cafés-restaurants et, d'autre part, les dancings. Or, dans le cas d'espèce, le recourant ne dit nulle part en quoi la situation de son établissement différerait fondamentalement de celle des autres cafés-restaurants, notamment de celle des autres établissements sis dans le quartier. Le fait, en particulier, que l'on y diffuse de la musique ayant "l'heur de plaire à de nombreux clients" ou que l'on y expose "des oeuvres de jeunes artistes inconnus" ne constitue certainement pas à lui seul un élément suffisant pour que cela justifie - sous l'angle de la clause de besoin - en faveur de l'établissement du recourant un traitement spécial, différent de celui réservé aux autres cafés-restaurants du quartier.
Sur ce plan, l'appréciation de l'autorité intimée ne saurait être qualifiée d'arbitraire ou encore de simplement abusive ou excessive.
c) Le recourant fait valoir en outre qu'il n'a sollicité in casu qu'un simple "agrandissement de son établissement pour une
BGE 108 Ia 228 S. 230
surface utile somme toute peu importante"; mais, à vrai dire, il ne conteste pas que cela puisse conduire à une consommation accrue d'alcool dans son établissement. Or, c'est précisément cet accroissement de la consommation d'alcool dans le quartier que la décision négative des autorités genevoises cherche à juguler dans la présente espèce et, de ce point de vue, c'est avec raison que le recourant ne met pas en cause la pratique du Département qui tend à assimiler l'agrandissement d'un établissement déjà existant à l'ouverture d'un nouveau café-restaurant de dimensions identiques. | public_law | nan | fr | 1,982 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2df6540f-3a34-46b7-b382-96ca888010f9 | Urteilskopf
137 III 369
54. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y. und Z. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_876/2010 vom 3. Juni 2011 | Regeste
Zuständigkeit (
Art. 87 Abs. 2 IPRG
); Klage auf Leistung einer Soulte aus einem Erbteilungsvertrag.
Die Klage auf Zahlung einer in einem Erbteilungsvertrag vereinbarten Ausgleichsleistung (Soulte) ist erbrechtlicher Natur. Für die Beurteilung der Klage ist deshalb das in erbrechtlichen Angelegenheiten vorgesehene Gericht zuständig (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 369
BGE 137 III 369 S. 369
A.
Am 12. Juni 1986 verstarb A., Witwe des Schriftstellers B. Sie hatte letzten Wohnsitz in Vaduz (Liechtenstein) und war in Basel heimatberechtigt. In einem Testamentsnachtrag hatte sie die Teilung ihres Nachlasses schweizerischem Recht unterstellt. Sie hinterliess drei Kinder, nämlich die beiden Töchter X. (Beschwerdeführerin) und C. (verstorben 1998; deutsche Staatsangehörige mit letztem Wohnsitz in Deutschland) sowie den Sohn D.
Nach längeren Auseinandersetzungen einigten sich die beiden Töchter mit Vertrag vom 15. August/18. September 1990 über die Erbteilung. Dabei ergab sich eine Ausgleichsforderung von X. gegen
BGE 137 III 369 S. 370
ihre Schwester C. in der Höhe von Fr. 49'095.-. Letztere beglich diese Forderung in der Folge nicht.
Am 8. Februar 1995 reichte X. am Zivilgericht Basel-Stadt Klage gegen ihre Schwester C., die Nachkommen ihres inzwischen verstorbenen Bruders D. sowie den Willensvollstrecker ein. Sie beantragte, den Nachlass von A. entsprechend dem Erbteilungsvertrag vom 15. August/18. September 1990 aufzuteilen, soweit dies noch nicht geschehen sei, und insbesondere C. zu verurteilen, ihr Fr. 49'095.- nebst Zinsen zu bezahlen. Am 3. Juli 1996 wurde das Verfahren infolge Klageanerkennung durch C. abgeschrieben.
C. verstarb am 6. Juni 1998. Sie hinterliess ihren Ehemann E., die Söhne F. (verstorben am 2. März 2000) und Y. (Beschwerdegegner 1) sowie die Tochter Z. (Beschwerdegegnerin 2).
B.
Am 3. Juli 2006 reichte X. am Zivilgericht Basel-Stadt gegen Y. und Z. Klage ein. Sie beantragte, in Ergänzung der Anerkennung der Teilungsklage von 1995 festzustellen, dass die Beklagten als Erben in die Verpflichtungen von C. gemäss Klageanerkennung und entsprechendem Abschreibungsbeschluss vom 3. Juli 1996 eingetreten seien. Die Beklagten seien demgemäss solidarisch zur Bezahlung der Ausgleichszahlung von Fr. 49'095.- zuzüglich 5 % Zins seit 18. September 1990 zu verurteilen.
Am 10. Juni 2008 beschränkte der Instruktionsrichter das Verfahren auf die Frage der örtlichen Zuständigkeit. Mit Urteil vom 15. Mai 2009 trat das Zivilgericht auf die Klage nicht ein.
C.
Gegen dieses Urteil hat X. am 29. Mai 2009 appelliert. Am 18. August 2010 wies das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die Appellation ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil.
D.
Am 10. Dezember 2010 hat X. gegen das Urteil des Appellationsgerichts Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Rückweisung der Sache zur Sachverhaltsfeststellung und zur materiellen Beurteilung der Klage. Eventualiter sei die Sache zur Beurteilung der Rechtskraft zurückzuweisen.
Das Appellationsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet, beantragt aber Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdegegner haben auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Zusammenfassung)
Erwägungen
BGE 137 III 369 S. 371
Aus den Erwägungen:
4.
Zu prüfen ist, ob die Basler Gerichte zur Beurteilung der Klage auf Zahlung der Soulte international und örtlich zuständig sind.
4.1
Die Beschwerdeführerin stützt die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts darauf ab, dass Basel-Stadt Heimatgerichtsstand von A. sei und dem geltend gemachten Anspruch auf Wertausgleich im Rahmen der Teilung des Nachlasses von A. erbrechtliche Natur zukomme.
4.2
A. ist 1986 verstorben. Das IPRG (SR 291) ist am 1. Januar 1989 in Kraft getreten. Seine Zuständigkeitsvorschriften kommen immer zur Anwendung, wenn die Klage nach dem 1. Januar 1989 eingereicht wurde (
BGE 116 II 209
E. 2b/bb S. 212; Urteil 4C.3/1994 vom 13. Juni 1994 E. 4, in: SJ 1994 S. 687, mit Hinweisen). Dies ist vorliegend der Fall. Gemäss Art. 87 Abs. 2 i.V.m.
Art. 86 Abs. 1 IPRG
sind die schweizerischen Gerichte oder Behörden für Nachlassverfahren und erbrechtliche Streitigkeiten zuständig, wenn ein Schweizer Bürger mit letztem Wohnsitz im Ausland sein in der Schweiz gelegenes Vermögen oder seinen gesamten Nachlass durch letztwillige Verfügung oder Erbvertrag der schweizerischen Zuständigkeit oder dem schweizerischen Recht unterstellt hat. Dies hat A. unstrittig getan. Es stellt sich aber die Frage, ob die vorliegende Streitigkeit überhaupt eine erbrechtliche im Sinne des IPRG ist.
4.3
Eine Klage ist erbrechtlicher Natur, wenn sich die Parteien auf einen erbrechtlichen Titel berufen, um einen Teil ihrer Erbschaft zu fordern und die Existenz ihrer Rechte feststellen zu lassen. Erbrechtliche Streitigkeiten betreffen demnach Klagen, mit denen Bestand oder Höhe erbrechtlicher Ansprüche geltend gemacht oder bestritten werden (
BGE 132 III 677
E. 3.3 S. 679 f.;
BGE 119 II 77
E. 3a S. 81; je mit Hinweisen). Ob die Klage auf Leistung aus einem Erbteilungsvertrag bzw. ob konkret die Einklagung einer in einem Erbteilungsvertrag vereinbarten Ausgleichszahlung (Soulte) eine erbrechtliche Angelegenheit darstellt, musste das Bundesgericht bisher nicht entscheiden.
Im Zusammenhang mit dem Vollzug von Erbteilungsverträgen sind zwei Entscheide zu erwähnen, in denen das Bundesgericht die erbrechtliche Zuständigkeit verneint hat. In
BGE 117 II 26
E. 2 S. 27 ff. hat es das Bundesgericht abgelehnt, eine Klage auf Errichtung einer Dienstbarkeit als erbrechtliche Klage zu behandeln. Die fragliche
BGE 137 III 369 S. 372
Verpflichtung war zwar anlässlich einer Erbteilung von einem Erben eingegangen worden, doch war die Durchführung der Teilung als solche nicht mehr streitig. Die strittige Verpflichtung stellte zudem einen Vertrag zugunsten einer am Nachlass nicht beteiligten Drittperson (
Art. 112 OR
) dar und hatte keinen direkten Bezug zur fraglichen Erbschaft. Mithin fehlte der enge Bezug zum Erbrecht, der zur Annahme einer erbrechtlichen Streitigkeit erforderlich ist (
BGE 117 II 26
E. 2a S. 28). Ebenso fehlte dieser Bezug im Urteil 5A_230/2007 vom 7. Juli 2008, wo es zwar ebenfalls um eine Streitigkeit im Nachgang zu einer Erbteilung ging und unter dem Titel der Soulte eine Ausgleichszahlung verlangt wurde. Die fragliche Forderung diente aber nicht dem Ausgleich in der Erbteilung, sondern war auf einen separaten Kaufvertrag über bereits vorher zugeteilte Gesellschaftsanteile aus dem Nachlass zurückzuführen, wobei geltend gemacht wurde, der Kaufpreis sei zu tief angesetzt worden (E. 4.2).
Anders als in diesen Fällen verhält es sich jedoch, wenn die in einem Erbteilungsvertrag festgelegte Ausgleichszahlung (Soulte) Streitgegenstand bildet. Eine solche Ausgleichsleistung ist eng verknüpft mit der Bildung und Zuteilung der Lose als Teil der Erbteilung. Sind sich die Erben einig, so sind sie frei, einen solchen Ausgleich bei der Erbteilung zu vereinbaren. Aber auch das Gesetz sieht in
Art. 608 Abs. 2 ZGB
einen entsprechenden Ausgleich ausdrücklich vor und
Art. 612 Abs. 1 ZGB
geht implizit von der Zulässigkeit einer Soulte aus. Die Soulte hat ihren Entstehungsgrund im Erbrecht und weist somit einen engen Bezug dazu auf. Dies gilt in der Folge auch für Streitigkeiten über die Soulte, namentlich für die Klage auf Vollzug eines abgeschlossenen Erbteilungsvertrags. Gültigkeit und Wirksamkeit des Erbteilungsvertrags sind Voraussetzung, damit die Klage gutgeheissen werden kann, und Mängel dieses Vertrages können einrede- oder einwendungsweise in den Prozess eingebracht werden. Schliesslich unterstehen nach der Rechtsprechung auch andere Klagen im Umfeld der Erbteilung dem Erbrechtsgerichtsstand. Dies gilt zunächst für die Erbteilungsklage (Urteil 5A_230/2007 vom 7. Juli 2008 E. 4.1), dann aber auch für die Anfechtung des Erbteilungsvertrags (
Art. 638 ZGB
;
BGE 117 II 26
E. 2a S. 28 mit Hinweis). Der enge erbrechtliche Bezug der Vollzugsklage besteht im Übrigen unabhängig davon, ob die Erbengemeinschaft bereits als aufgelöst zu gelten hat oder nicht (vgl. dazu Urteil 5D_133/2010 vom 12. Januar 2011 E. 4), so dass im Weiteren die offenbar
BGE 137 III 369 S. 373
umstrittene Frage, ob der literarische Nachlass von B. bereits geteilt sei, in diesem Zusammenhang unerheblich ist.
Bestätigt wird dieses Ergebnis durch einen Vergleich mit den Zuständigkeitsvorschriften im Binnenverhältnis. Im binnenrechtlichen Verhältnis wird die Klage auf Erfüllung des Erbteilungsvertrages von der überwiegenden Lehre ebenfalls als erbrechtliche Streitigkeit qualifiziert und
Art. 18 GestG
(in Kraft bis am 31. Dezember 2010; AS 2000 2358 f. und AS 2005 5707) bzw.
Art. 28 ZPO
(SR 272) unterstellt (HAROLD GRÜNINGER, in: Gerichtsstandsgesetz, Müller/Wirth [Hrsg.], 2001, N. 24 zu
Art. 18 GestG
; NICOLAS VON WERDT, in: Gerichtsstandsgesetz, Kellerhals und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2005, N. 14 zu
Art. 18 GestG
; BRÜCKNER/WEIBEL, Die erbrechtlichen Klagen, 2. Aufl. 2006, Rz. 232; CLAUDIA MARTIN-SPÜHLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, N. 4 zu
Art. 28 ZPO
; ALEXANDER ZÜRCHER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2010, N. 9 zu
Art. 28 ZPO
; BRUNO COCCHI, in: Commentario al Codice di diritto processuale civile svizzero, 2011, S. 49; vgl. zu aArt. 538 Abs. 2 ZGB als Vorgängernorm zu
Art. 18 GestG
GEORG LEUCH UND ANDERE, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5. Aufl. 2000, N. 2b zu
Art. 30 ZPO
/BE). Im Sinne einer systematischen, auf die Einheit der Rechtsordnung bedachten Rechtsprechung kann diese Doktrin zur Auslegung des IPRG beigezogen werden, zumal Gründe für eine unterschiedliche Behandlung der Klage auf Zahlung der Soulte im Binnen- und im internationalen Verhältnis nicht ersichtlich sind.
Schliesslich steht auch das Lugano-Übereinkommen (LugÜ; ehedem SR 0.275.11 [Fassung vom 16. September 1988; AS 1991 2436] und SR 0.275.12 [Fassung vom 30. Oktober 2007]) der Anwendung von Art. 86 Abs. 1 i.V.m.
Art. 87 Abs. 2 IPRG
nicht entgegen. Das Gebiet des Erbrechts ist von seinem Anwendungsbereich ausgeschlossen (Art. 1 Abs. 2 Ziff. 1 LugÜ 1988 bzw. Art. 1 Ziff. 2 lit. a LugÜ 2007). Der Begriff des Erbrechts im LugÜ braucht zwar nicht mit dem schweizerischen Verständnis dieses Begriffs identisch zu sein. Allerdings werden auch im Zusammenhang mit dem LugÜ Streitigkeiten über Teilungsverträge als erbrechtlich qualifiziert (FELIX DASSER, in: Kommentar zum Lugano-Übereinkommen [LugÜ], 2008, N. 74 zu
Art. 1 LugÜ
).
Daraus folgt, dass das Zivilgericht Basel-Stadt zur Behandlung der Klage der Beschwerdeführerin international und örtlich zuständig ist.
BGE 137 III 369 S. 374
4.4
Die soeben bestimmte Zuständigkeit gilt auch für die Vorfrage der Erbenstellung der Beschwerdegegner. Nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen hat der in der Hauptsache zuständige Richter auch über Vorfragen zu entscheiden (MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 81 und 101; vgl. auch DASSER, a.a.O., N. 52 f. zu
Art. 1 LugÜ
). Im vorliegenden internationalrechtlichen Zusammenhang ist keine abweichende Regelung ersichtlich. | null | nan | de | 2,011 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2dfcb183-c46f-4b2b-a5d5-619884288ff5 | Urteilskopf
115 Ia 56
9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Januar 1989 i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
; gerichtliche Haftprüfung bei Untersuchungshaft.
1. Die zürcherische Bezirks- und Staatsanwaltschaft stellen kein Gericht im Sinne von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
dar (E. 2b).
2.
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
ist verletzt, wenn während acht Tagen ein Zugang zu einem Gericht nicht möglich ist; das Haftfristerstreckungsverfahren vor dem Bezirksgerichtspräsidenten stellte überdies für sich allein kein
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
genügendes Haftprüfungsverfahren dar, weil im vorliegenden Fall dem von der EMRK geforderten Mass an kontradiktorischer Ausgestaltung desselben nicht Genüge getan wurde (E. 2c).
3. Die staatsrechtliche Beschwerde fällt im vorliegenden Fall als Mittel der gerichtlichen Haftprüfung ausser Betracht (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 57
BGE 115 Ia 56 S. 57
Die Bezirksanwaltschaft Zürich ordnete mit Verfügung vom 12. April 1988 an, X. der der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz dringend verdächtig sei, sei wegen Kollusionsgefahr in Untersuchungshaft zu versetzen. Der Beschuldigte liess die Möglichkeit, gegen diesen Entscheid bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Rekurs zu erheben, ungenutzt. Hingegen liess er am 19. April 1988 durch seinen inzwischen von ihm bevollmächtigten Rechtsvertreter bei der Bezirksanwaltschaft ein Haftentlassungsgesuch stellen. Im Gesuch wurde ausgeführt, gemäss
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
stehe jedermann, dem seine Freiheit durch Festnahme oder Haft entzogen werde, das Recht zu, ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft entschieden werde; da die Zürcher Strafprozessordnung keine richterliche Instanz zur Beurteilung von Haftentlassungsgesuchen vorsehe, werde das Gesuch der Praxis entsprechend an die Bezirksanwaltschaft gerichtet mit dem Ersuchen, es allenfalls einer richterlichen Instanz weiterzuleiten oder darüber - werde die Zuständigkeit der Bezirksanwaltschaft bejaht - selber zu entscheiden.
Mit Entscheid vom 20. April 1988 wies die Bezirksanwaltschaft Zürich das Haftentlassungsgesuch mit der Begründung ab, X. werde nach wie vor dringend verdächtigt, mit mehreren Kilogramm Haschisch gehandelt zu haben, und es bestehe massive Kollusionsgefahr. Der Beschuldigte erhob gegen diesen Entscheid am 22. April 1988 Rekurs an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, in dem er das Vorliegen eines Haftgrundes bestritt und die Begründung der Verhaftsverfügung beanstandete. Er machte zugleich erneut geltend, er habe Anspruch auf ein gerichtliches Haftprüfungsverfahren. Noch vor deren Entscheid, nämlich am 26. April 1988, erstreckte der Präsident des Bezirksgerichts Zürich in Anwendung von § 51 Abs. 1 des Gesetzes betreffend den Strafprozess des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO) die Haftfrist auf Antrag der Bezirksanwaltschaft um weitere 14 Tage bis und mit 10. Mai 1988. X. wurde am 9. Mai 1988 aus der Haft entlassen.
Die Staatsanwaltschaft wies den Rekurs am 2. Juni 1988 ab, soweit sie darauf eintrat. Sie erwog unter anderem, die zürcherische Strafprozessordnung kenne ein gerichtliches Haftprüfungsverfahren gemäss
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
in der allerersten Phase der Untersuchung nicht. Ein solches Verfahren sei indessen allein schon aus zeitlichen Gründen praktisch ausgeschlossen, da die Haftkompetenz des Bezirksanwalts nur für die Dauer von
BGE 115 Ia 56 S. 58
14 Tagen bestehe, worauf zwingend die Verlängerung durch den zuständigen Gerichtspräsidenten zu erfolgen habe. Wenn die EMRK vorschreibe, das Haftprüfungsverfahren habe "raschmöglichst" zu erfolgen, könne im übrigen wohl nur gemeint sein, sobald der Untersuchungsstand eine solche Prüfung auch zulasse.
Eine gegen diesen Entscheid von X. erhobene staatsrechtliche Beschwerde heisst das Bundesgericht im Sinne der Erwägungen gut, soweit es darauf eintritt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Gemäss
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
muss jede nach der Vorschrift des Absatzes 1c dieses Artikels festgenommene oder in Haft gehaltene Person unverzüglich einem Richter oder einem andern, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden. Ziff. 4 derselben Bestimmung schreibt vor, dass jedermann, dem seine Freiheit durch Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht hat, ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft entschieden wird und im Falle der Widerrechtlichkeit seine Entlassung angeordnet wird.
Unter den Parteien ist nicht streitig, dass das Zürcher Strafverfahren kein richterliches Haftbeschwerdeverfahren kennt, da gegen die Anordnung der Untersuchungshaft durch die Bezirksanwaltschaft lediglich der Rekurs an die Staatsanwaltschaft zur Verfügung steht (
§ 402 Ziff. 1 StPO
). Auch das Institut des Haftrichters ist im Zürcher Strafprozessrecht grundsätzlich nicht verankert: Nach den unbestrittenen Ausführungen des Beschwerdeführers im kantonalen Verfahren sind Haftentlassungsgesuche beim zuständigen Untersuchungsbeamten zu stellen. So ist denn auch im vorliegenden Fall das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers vom zuständigen Bezirksanwalt behandelt und abgewiesen worden. Hingegen besteht nach einer Haftdauer von 14 Tagen eine automatische richterliche Haftkontrolle in dem Sinne, dass gemäss
§ 51 Abs. 1 StPO
die Fortdauer der Haft vom Bezirksgerichtspräsidenten bzw. vom Präsidenten der Anklagekammer bewilligt werden muss. Gegen den entsprechenden Entscheid ist nach Abs. 2 dieser Vorschrift, wie bereits erwähnt, der Rekurs an die Anklagekammer des Obergerichts zulässig.
Der Beschwerdeführer beanstandet in erster Linie, die Behandlung seines Haftentlassungsgesuchs habe
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
BGE 115 Ia 56 S. 59
verletzt, weil über das Gesuch nie in einem gerichtlichen Verfahren entschieden worden sei. Darüber wird im folgenden zu befinden sein. Ob er darüber hinaus auch geltend machen will, der Bezirksanwalt sei kein im Sinne von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
zur Anordnung der Untersuchungshaft ermächtigtes Organ, lässt sich der Beschwerdeschrift nicht klar entnehmen. Wie die fraglichen Ausführungen in der Beschwerde zu verstehen sind, kann indessen offenbleiben, da es jedenfalls insoweit an einer rechtsgenügenden Rüge fehlen würde. Der Beschwerdeführer legt nämlich entgegen der Vorschrift von
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
nicht im einzelnen dar, inwiefern er
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
als verletzt ansieht (vgl. dazu
BGE 110 Ia 3
/4 E. 2a mit Hinweis).
Im folgenden wird zuerst zu prüfen sein, ob - wie dies die Bezirksanwaltschaft in ihrer dem Bundesgericht erstatteten Vernehmlassung geltend macht - das mit dem Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers auf bezirks- und staatsanwaltschaftlicher Ebene veranlasste Haftprüfungsverfahren den Anforderungen von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
zu genügen vermochte (E. 2b). Hernach wird zu beurteilen sein, ob das Haftfristerstreckungsverfahren vor dem Bezirksgerichtspräsidenten mit anschliessender Rekursmöglichkeit an die Anklagekammer des Obergerichts die von der Konvention gewährleisteten Garantien erfüllte (E. 2c).
b) Sowohl das Bundesgericht (
BGE 102 Ia 179
ff.) wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (Urteil i.S. Schiesser vom 4. Dezember 1979, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 34 = EuGRZ 1980 S. 202 ff.) haben erklärt, der zürcherische Bezirksanwalt sei im Verfahrensstadium der Untersuchung ein "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter" im Sinne von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
. Indessen hat der Gerichtshof im Urteil i.S. de Jong, Baljet und van den Brink vom 22. Mai 1984 (Serie A, Vol. 77, Ziff. 57 = EuGRZ 1985 S. 706/707) unter Hinweis auf frühere Urteile klargestellt, dass die beiden Garantien von
Art. 5 Ziff. 3 und Ziff. 4 EMRK
nebeneinander Anwendung finden, weil diejenige von Ziff. 4 von anderer Qualität als diejenige von Ziff. 3 ist. Aus dem Umstand allein, dass die Eigenschaft des Bezirksanwalts als "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter" anerkannt ist, lässt sich demnach noch nichts herleiten.
In
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
wird der "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigte Beamte" ausdrücklich als
BGE 115 Ia 56 S. 60
Alternative zum Richter genannt. Der Wortlaut bringt zum Ausdruck, dass auch administrative Organe, wie sie nach ihrer organisatorischen Stellung sowohl die Bezirks- wie die Staatsanwaltschaft darstellen (siehe dazu HAUSER/HAUSER, Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich, Zürich 1978, S. 259 ff.) mit der Konvention vereinbar sind, soweit sie richterliche Funktionen ausüben. Demgegenüber umschreibt
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
die zur Haftprüfung zuständige Behörde mit "Gericht". Auch wenn die Konvention für die gerichtliche Prüfung des Freiheitsentzuges nach dieser Vorschrift nicht notwendigerweise ein ordentliches Gericht klassischer Natur verlangt, das in die herkömmliche Justizorganisation integriert ist (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. Weeks vom 2. März 1987, Serie A, Vol. 114, Ziff. 61 = EuGRZ 1988 S. 318/319;
BGE 114 Ia 185
ff. E. 3b mit zahlreichen weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe), fallen unter den Begriff "Gericht" lediglich Organe, die die allgemeinen, wesentlichen Eigenschaften besitzen, die ein Gericht auszeichnen, und die ein justizförmiges Verfahren gewährleisten (FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl/Strassburg/Arlington 1985, N. 120 zu
Art. 5 EMRK
mit Hinweisen). Zu diesen Eigenschaften gehört nicht nur die funktionelle, sondern darüber hinaus auch die organisatorische und personelle Unabhängigkeit von den andern staatlichen Gewalten. Diese kommt indessen der Bezirks- und der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich nicht zu (vgl.
BGE 102 Ia 182
/183 E. 3a mit Hinweisen; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. Schiesser, a.a.O., Ziff. 29 ff.).
Da die Bezirks- und Staatsanwaltschaft nach dem Gesagten die Anforderungen von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
an das zuständige Organ nicht zu erfüllen vermögen, kann schon deshalb nicht davon ausgegangen werden, im vorliegenden Fall habe die Behandlung des Haftentlassungsgesuchs des Beschwerdeführers durch die Bezirksanwaltschaft und im anschliessenden Rekursverfahren vor der Staatsanwaltschaft ein konventionsmässiges Haftprüfungsverfahren dargestellt.
c) Der Beschwerdeführer räumt, wie bereits erwähnt, ein, dass er mittels Einlegen eines Rekurses gegen die Haftverlängerungsverfügung des Bezirksgerichtspräsidenten an die Anklagekammer des Obergerichts ein Haftprüfungsverfahren im Sinne von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
hätte beantragen können. Er vertritt aber die
BGE 115 Ia 56 S. 61
Auffassung, es sei dem in dieser Vorschrift enthaltenen Gebot, "raschmöglichst" über die Rechtmässigkeit der Haft zu entscheiden, nicht Genüge getan worden, weil ihm dieser Rechtsweg erst ab dem 18. Tag der Untersuchungshaft - d.h. nach Zustellung der Haftverlängerungsverfügung - offengestanden sei.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgehalten, dass die Frage, innerhalb welcher Frist nach
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
über ein Haftentlassungsgesuch entschieden werden muss, nicht abstrakt beurteilt werden kann; der Entscheid hängt vielmehr von der Würdigung der konkreten Umstände des einzelnen Falles ab (Urteil i.S. Sanchez-Reisse vom 21. Oktober 1986, Serie A, Vol. 107, Ziff. 55 = EuGRZ 1988 S. 526). In Anbetracht des Umstandes, dass es im dort zu beurteilenden Fall nach Ansicht des Gerichtshofes nicht um komplexe Probleme ging, welche vertiefte Abklärungen und eine eingehende Prüfung erfordert hätten, erachtete er einen Entscheid über ein Haftentlassungsbegehren nach 31 bzw. 46 Tagen als mit dem Anspruch des Inhaftierten auf einen vom Gericht innert kurzer Frist zu treffenden Entscheid unvereinbar (Ziff. 57-61). Gestützt auf diese Rechtsprechung hat in der Folge das Bundesgericht in einem Urteil vom 8. Juni 1988 eine Dauer von 41 Tagen von der Einreichung des Haftentlassungsgesuchs bis zum Entscheid als nicht vertretbar bezeichnet. Auch bei diesem Entscheid war von Bedeutung, dass die Frage der Haftentlassung keine besonderen Probleme aufgeworfen hatte, die ausgedehnte Abklärungen oder ein umfassendes Aktenstudium erfordert hätten (
BGE 114 Ia 92
E. 5c).
Der Beschwerdeführer ist der Meinung, der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft wäre in seinem Fall "kaum überbietbare Dringlichkeit" zugekommen, weil nach
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
seine Unschuld zu vermuten sei, er nicht vorbestraft sei und in seinem Umfeld als absolut unbescholtener Bürger gelte. Diesen Argumenten kommt kaum ein erhebliches Gewicht zu. Die Frage, innerhalb welcher Frist eine Entscheidung hinsichtlich der Prüfung der Untersuchungshaft ergehen muss, hängt nach der aufgeführten Rechtsprechung in erster Linie vom objektiven Zeitbedarf für die Beurteilung der jeweiligen Streitpunkte ab. Der dem Verhafteten mit
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
eingeräumte Anspruch auf einen "raschmöglichsten" Entscheid wird - ergeht dieser Entscheid nicht sofort - dann nicht verletzt, wenn der Behörde aufgrund der Umstände des Falles ein früherer Entscheid vernünftigerweise nicht möglich war.
BGE 115 Ia 56 S. 62
Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer am 12. April 1988 in Untersuchungshaft versetzt. Am 26. April 1988 ersuchte die Bezirksanwaltschaft den Präsidenten des Bezirksgerichts Zürich um Verlängerung der Haft. Der Bezirksgerichtspräsident entsprach diesem Gesuch mit Verfügung vom gleichen Tag. Dieser Entscheid wurde dem Beschwerdeführer persönlich am 27. April 1988 eröffnet und ging beim Verteidiger am 28. April 1988 ein. Ein Rekurs an die Anklagekammer des Obergerichts war demnach frühestens nach 15 Tagen Haft bzw. 8 Tage nach Einreichung des Haftentlassungsgesuchs möglich. Will man mit dem Beschwerdeführer dieses Rekurs- als Haftprüfungsverfahren im Sinne von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
betrachten, lässt sich unter dem Gesichtswinkel der oben dargestellten Grundsätze dieser Zeitraum, in dem - ohne dass sich hiefür in irgendeiner Weise ein objektiver Zeitbedarf namhaft machen liesse - kein Zugang zu einem Gericht möglich war, nicht rechtfertigen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat denn auch im bereits erwähnten und ähnlich gelagerten Urteil i.S. de Jong, Baljet und van den Brink entschieden, selbst bei Berücksichtigung der Besonderheiten des militärischen Lebens und der Militärgerichtsbarkeit werde
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
verletzt, wenn einer verhafteten Person während sieben bzw. elf bzw. sechs Tagen kein Rechtsbehelf und damit kein Zugang zu einem Gericht offenstehe (a.a.O., Ziff. 58).
Die vorstehenden Erwägungen zeigen, dass im vorliegenden Fall das Haftfristerstreckungsverfahren mit anschliessender Rekursmöglichkeit dem Beschwerdeführer schon aus zeitlichen Gründen kein
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
genügendes Haftprüfungsverfahren zu gewährleisten vermochte. Die in der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft an das Bundesgericht vertretene Auffassung, die Haftfristerstreckung durch den Bezirksgerichtspräsidenten habe für sich allein ein
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
genügendes Haftprüfungsverfahren dargestellt, kann aber auch deshalb nicht geteilt werden, weil die Haftverlängerungsverfügung vom 26. April 1988 - entsprechend den Bestimmungen von
§ 51 Abs. 1 StPO
- lediglich aufgrund eines Antrags des Untersuchungsbeamten und der Akten und insbesondere nicht direkt auf das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers vom 19. April 1988 hin erging. Auch wenn der Bezirksgerichtspräsident bei der Prüfung der Aktenlage vom Entlassungsgesuch Kenntnis erlangen konnte und es bei seinem Entscheid mitzuberücksichtigen hatte, wurde damit dem von der EMRK geforderten Mass an kontradiktorischer Ausgestaltung
BGE 115 Ia 56 S. 63
des Haftprüfungsverfahrens nicht Genüge getan. Die EMRK räumt dem Angeschuldigten bei Verfahren im Zusammenhang mit Haftentlassungsgesuchen namentlich ein weitergehendes Replikrecht ein, als ihm aufgrund von
Art. 4 BV
gewährt wird (
BGE 114 Ia 86
ff. E. 3 mit Hinweisen). Demgegenüber behaupten weder die kantonalen Behörden noch lässt sich den Akten entnehmen, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall überhaupt Gelegenheit gehabt hätte, im Haftverlängerungsverfahren in geeigneter Weise seine Argumente gegen die Fortdauer der Haft vorzubringen, d. h. zum Verlängerungsgesuch des Untersuchungsbeamten Stellung zu nehmen.
Nicht ersichtlich ist schliesslich auch, weshalb der jeweilige Untersuchungsstand einem Haftprüfungsverfahren entgegenstehen soll, wie dies die Staatsanwaltschaft im angefochtenen Entscheid - allerdings eher nebenbei und ohne weitere Begründung - geltend macht.
3.
Zusammenfassend ergibt sich, dass der Anspruch des Beschwerdeführers auf ein gerichtliches Haftprüfungsverfahren gemäss
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
im kantonalen Verfahren nicht gewährleistet worden ist. Fragen liesse sich unter diesen Umständen allenfalls noch, ob die gegen den Rekursentscheid der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehende staatsrechtliche Beschwerde als Mittel der gerichtlichen Haftprüfung betrachtet werden könnte. Dies fällt jedoch im vorliegenden Fall schon deshalb ausser Betracht, weil im angefochtenen Entscheid zur Frage der Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft nicht Stellung genommen wurde und diese Frage daher auch im bundesgerichtlichen Verfahren nicht zu beantworten war und denn auch vom Beschwerdeführer zu Recht nicht aufgeworfen wurde. Im übrigen dürfte es mit dem Anspruch der EMRK auf einen "raschmöglichsten" Entscheid kaum vereinbar sein, dass ein Beschwerdeführer zuerst das kantonale Rekursverfahren durchlaufen muss und erst dann - gegen den letztinstanzlichen Entscheid - eine gerichtliche Haftprüfung erwirken kann; jedenfalls dürfte diesfalls ein bundesgerichtlicher Entscheid in den meisten Fällen nicht binnen angemessener Frist ausgefällt werden können. Auch erscheint es - dies mag noch beigefügt werden - als fraglich, ob es mit dem Wesen eines Haftprüfungsverfahrens vereinbar sei, dass das Bundesgericht Sachverhaltsfragen stets nur auf Willkür hin prüft (
BGE 98 Ia 308
).
BGE 115 Ia 56 S. 64
Die vorstehenden Erwägungen führen zur Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde. Dass die zürcherische Strafprozessordnung ein gerichtliches Haftprüfungsverfahren im Sinne von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
grundsätzlich nicht vorsieht, ist ohne Belang. Es ist Sache der Zürcher Behörden, den Anforderungen der EMRK Nachachtung zu verschaffen. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass es nicht zum vornherein ausgeschlossen erscheint, in gewissen Fällen durch entsprechende Handhabung der Haftprüfung gemäss
§ 51 StPO
den Anforderungen der EMRK zu entsprechen. Darüber hinaus hat der Regierungsrat bereits seinen Willen bekundet, die Zürcher Strafprozessordnung den Anforderungen der EMRK anzupassen. Er hat dem Kantonsrat mit Antrag vom 7. Dezember 1988 eine Teilrevision der Strafprozessordnung unterbreitet, die in den §§ 63 ff. einen selbständigen Haftrichter vorsieht. Nach den vorgeschlagenen Bestimmungen wird der Angeschuldigte jederzeit ein Gesuch um Aufhebung der Untersuchungshaft stellen können, das, sofern der Untersuchungsbeamte dem Gesuch keine Folge geben will, unverzüglich dem Haftrichter zu unterbreiten ist.
Beim gegebenen Verfahrensausgang braucht die weitere Rüge des Beschwerdeführers, die Verletzung von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
habe zugleich eine solche der persönlichen Freiheit zur Folge gehabt, nicht geprüft zu werden. Da sich der Beschwerdeführer nicht mehr in Haft befindet, ist von einer Aufhebung des angefochtenen Entscheids abzusehen. | public_law | nan | de | 1,989 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2e015f72-e19e-429d-9760-c81b60cf4b48 | Urteilskopf
125 II 348
33. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. März 1999 i.S. Stockwerkeigentümergemeinschaft K. gegen Eidgenössische Steuerverwaltung und Eidgenössische Steuerrekurs-kommission (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Art. 24 Abs. 5 VStG
,
Art. 55 VStV
; Verrechnungssteuer; Rückerstattungsanspruch von Personenvereinigungen und Rechtsgemeinschaften ohne juristische Persönlichkeit.
Die Rückerstattung der Verrechnungssteuer auf Erträgen der Stockwerkeigentümergemeinschaft ist von den einzelnen Stockwerkeigentümern geltend zu machen. | Sachverhalt
ab Seite 348
BGE 125 II 348 S. 348
Mit Entscheid vom 4. Februar 1997 wies die Eidgenössische Steuerverwaltung den Antrag der Stockwerkeigentümergemeinschaft K. auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer, fällig geworden auf den Erträgen des Jahres 1995, ab. Sie begründete ihren Entscheid damit, dass der Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer nicht der Stockwerkeigentümergemeinschaft, sondern jedem einzelnen Stockwerkeigentümer entsprechend dem Verhältnis seines Anteils am Ertrag respektive Vermögen der Stockwerkeigentümergemeinschaft zustehe. Mit Einspracheentscheid vom 30. April 1998 bestätigte sie ihren Entscheid. Eine Beschwerde der Stockwerkeigentümergemeinschaft wies die Eidgenössische Steuerrekurskommission am 4. November 1998 ab.
Die Stockwerkeigentümergemeinschaft führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, dem Begehren auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer an die Stockwerkeigentümergemeinschaft sei stattzugeben.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab
BGE 125 II 348 S. 349
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine Stockwerkeigentümergemeinschaft im Sinne der sachenrechtlichen Regelung des Stockwerkeigentums (
Art. 712a ff. ZGB
). Einzig streitig und zu entscheiden ist die Frage, ob die Rückerstattung der auf den Erträgen 1995 erhobenen Verrechnungssteuer von der Stockwerkeigentümergemeinschaft selbst oder vom einzelnen Stockwerkeigentümer geltend zu machen ist.
a) Nach Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 13. Oktober 1965 über die Verrechnungssteuer (VStG; SR 642.21) wird die Verrechnungssteuer dem Empfänger der um die Steuer gekürzten Leistung nach Massgabe dieses Gesetzes vom Bund oder vom Kanton zu Lasten des Bundes zurückerstattet. Art. 21-33 des Gesetzes regeln die Rückerstattung der auf Kapitalerträgen und Lotteriegewinnen sowie Versicherungsleistungen erhobenen Verrechnungssteuer. Natürliche Personen haben die Rückerstattung der Verrechnungssteuer - mit Ausnahme derjenigen auf Versicherungsleistungen (
Art. 33 Abs. 2 VStG
) - beim Kanton, in dem sich der Wohnsitz befindet, zu beantragen (
Art. 30 Abs. 1 VStG
). Sie haben Anspruch auf Rückerstattung, wenn sie bei Fälligkeit der steuerbaren Leistung im Inland Wohnsitz hatten (
Art. 22 VStG
) und in diesem Zeitpunkt das Recht zur Nutzung des den steuerbaren Ertrag abwerfenden Vermögenswertes besassen (
Art. 21 Abs. 1 lit. a VStG
). Den Anspruch verwirkt, wer die mit der Verrechnungssteuer belasteten Einkünfte und entsprechenden Vermögenswerte entgegen den gesetzlichen Vorschriften den zuständigen Steuerbehörden nicht angibt (
Art. 23 VStG
). Juristische Personen sowie Handelsgesellschaften ohne juristische Persönlichkeit haben die Rückerstattung bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung zu beantragen (
Art. 30 Abs. 2 VStG
). Auch für sie besteht ein Rückerstattungsanspruch nur, wenn sie bei Fälligkeit der steuerbaren Leistung ihren Sitz im Inland hatten (
Art. 24 Abs. 2 VStG
), in diesem Zeitpunkt das Recht zur Nutzung des den steuerbaren Ertrag abwerfenden Vermögenswertes besassen (
Art. 21 Abs. 1 lit. a VStG
) und die mit der Verrechnungssteuer erfassten Einkünfte ordnungsgemäss als Ertrag verbucht haben (
Art. 25 Abs. 1 VStG
). Im Übrigen regelt die Verordnung den Rückerstattungsanspruch von Personenvereinigungen oder Vermögensmassen, die das Recht der Persönlichkeit nicht erlangt haben, aber über eine eigene Organisation verfügen und im Inland tätig sind oder verwaltet werden (
Art. 24 Abs. 5 VStG
).
BGE 125 II 348 S. 350
b) Gestützt auf diese Vorschrift hat der Bundesrat in
Art. 55 der Vollziehungsverordnung vom 19. Dezember 1966 zum Bundesgesetz über die Verrechnungssteuer (VStV; SR 642.211)
Folgendes festgelegt:
Gleich den juristischen Personen haben Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer:
a. Gemeinschaftsunternehmen (Baukonsortien u. dgl.), wenn die Verrechnungssteuer von Zinsen von Guthaben abgezogen wurde, die sie ausschliesslich für Zwecke des Gemeinschaftsunternehmens unterhalten, und sofern dem Rückerstattungsantrag ein Verzeichnis aller Teilhaber beigelegt wird;
b. Personenvereinigungen, die das Recht der Persönlichkeit nicht erlangt haben, aber über eine eigene Organisation verfügen und ausschliesslich oder vorwiegend im Inland tätig sind, wenn die Mitglieder für ihren Anteil am Einkommen und Vermögen der Vereinigung nicht steuerpflichtig sind und für ihren Anteil an den Einkünften der Vereinigung persönlich keinen Rückerstattungsanspruch geltend machen;
c. Im Inland verwaltete Vermögensmassen, die einem besonderen Zweck gewidmet sind, jedoch das Recht der Persönlichkeit nicht erlangt haben, wenn die Vermögenswerte und ihr Ertrag steuerlich nicht bestimmten Personen zugerechnet werden können.
2.
Stockwerkeigentum ist besonders ausgestaltetes Miteigentum an einem Grundstück, das dem Miteigentümer das Sonderrecht gibt, bestimmte Teile eines Gebäudes ausschliesslich zu benutzen und innen auszubauen (
Art. 712a Abs. 1 ZGB
). Die Stockwerkeigentümer bilden in ihrer Gesamtheit die Stockwerkeigentümergemeinschaft. Diese Rechtsgemeinschaft des Sachenrechts ist zwar zur Wahrung der Interessen der Stockwerkeigentümer aufgestellt (s. auch
BGE 111 II 330
E. 7 S. 338 f.), sie entsteht aber kraft gesetzlicher Anordnung und ist nicht zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes bestimmt. Darin unterscheidet sich die Stockwerkeigentümergemeinschaft von den Gesellschaften des Handelsrechts und namentlich der Kollektivgesellschaft (MEIER-HAYOZ/REY, Berner Kommentar, Vorbemerkungen zu den Art. 712a-712t, N. 50; WERNER VON STEIGER, Schweizerisches Privatrecht, Bd. VIII/1, S. 235, 332). Die Stockwerkeigentümergemeinschaft ist auch keine juristische Person. Sie weist zwar von Gesetzes wegen gewisse körperschaftliche Züge auf, die zudem im Bereich der gemeinschaftlichen Verwaltung durch eine beschränkte Vermögens- und Handlungsfähigkeit mit entsprechender Prozess- und Betreibungsfähigkeit ergänzt werden (vgl.
Art. 712l ZGB
;
BGE 119 II 404
E. 5 S. 408), sie erlangt deswegen jedoch noch keine Rechtspersönlichkeit. Die
BGE 125 II 348 S. 351
Funktion der Stockwerkeigentümergemeinschaft besteht darin, das gemeinsame Grundstück zu nutzen und zu verwalten und dessen Wert zu erhalten; darin erschöpft sie sich auch. Formell ist die Gemeinschaft in gewissen Bereichen rechtszuständig, die materielle Rechtszuständigkeit verbleibt indes, bedingt durch die sachenrechtliche Struktur des Stockwerkeigentums, beim einzelnen Miteigentümer. Diesem steht das ausschliessliche Recht zu, bestimmte Teile des Gebäudes zu nutzen und über seinen zum Grundstück ausgestalteten Miteigentumsanteil (
Art. 655 Abs. 2 Ziff. 4 ZGB
) zu verfügen (vgl. RENÉ BÖSCH, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Vorbemerkungen zu Art. 712a-t ZGB, Rz. 7; MEIER-HAYOZ/REY, a.a.O., N. 49, 51; HEINZ REY, Strukturen des Stockwerkeigentums, ZSR 99/1980 I S. 263 f.).
Gemäss dieser rechtlichen Qualifikation der Stockwerkeigentümergemeinschaft kommt aber als Grundlage für die Rückerstattung der Verrechnungssteuer
Art. 24 Abs. 2 VStG
nicht in Betracht. Bei der Stockwerkeigentümergemeinschaft handelt es sich weder um eine juristische Person noch um eine Handelsgesellschaft ohne juris- tische Persönlichkeit im Sinne dieser Vorschrift. Unter Handelsgesellschaften sind Kollektiv- und Kommanditgesellschaften zu verstehen. Einfache Gesellschaften und andere Personenvereinigungen oder Rechtsgemeinschaften wie die Stockwerkeigentümergemeinschaft fallen nicht darunter (vgl. PFUND/ZWAHLEN, Verrechnungssteuer, II. Teil Basel 1985, N. 4.1 zu
Art. 24 VStG
).
3.
Eine Rückerstattungsberechtigung der Stockwerkeigentümergemeinschaft kommt daher nur in Betracht, wenn der Bundesrat sie gestützt auf die Ermächtigungsnorm (
Art. 24 Abs. 5 VStG
) in
Art. 55 VStV
vorgesehen hat.
a) Die Rückerstattung gemäss lit. b oder c von
Art. 55 VStV
setzt voraus, dass die Mitglieder der Personenvereinigung für ihren Anteil am Einkommen und Vermögen der Vereinigung nicht steuerpflichtig sind (lit. b) bzw. dass die fraglichen Vermögenswerte und ihr Ertrag steuerlich nicht bestimmten Personen zugerechnet werden können (lit. c). Diese Voraussetzung erfüllen Stockwerkeigentümergemeinschaften nicht, da die einzelnen Stockwerkeigentümer steuerpflichtig sind und der Ertrag ihnen auch anteilmässig zugerechnet werden kann.
b) Fragen kann sich nur, ob
Art. 55 lit. a VStG
als Grundlage für die Rückerstattung der Verrechnungssteuer an die Stockwerkeigentümergemeinschaft herangezogen werden kann. Nach dieser Vorschrift haben Anspruch auf Rückerstattung: «Gemeinschaftsunternehmen
BGE 125 II 348 S. 352
(Baukonsortien u. dgl.), wenn die Verrechnungssteuer von Zinsen von Guthaben abgezogen wurde, die sie ausschliesslich für Zwecke des Gemeinschaftsunternehmens unterhalten, und sofern dem Rückerstattungsantrag ein Verzeichnis aller Teilhaber beigelegt wird». Was unter Gemeinschaftsunternehmen zu verstehen ist, wird deutlich aus dem vom Verordnungsgeber gemachten Hinweis auf «Baukonsortien u. dgl.». Der Begriff des Gemeinschaftsunternehmens ist offensichtlich restriktiv zu verstehen. Es soll kein Auffangtatbestand für alle Personenvereinigungen geschaffen werden, die aus irgendeinem Grund die Rechtspersönlichkeit nicht besitzen oder erlangt haben (so auch PFUND/ZWAHLEN, a.a.O., N. 8.5 zu
Art. 24 VStG
). Vielmehr trifft die Verrechnungssteuerverordnung eine sehr beschränkte Auswahl. Bei den Gemeinschaftsunternehmen nach der Art von Baukonsortien handelt es sich nach PFUND/ZWAHLEN (a.a.O., N. 5.17 zu
Art. 21 VStG
) um vertragliche Zusammenschlüsse einiger weniger Personen zur Verfolgung eines bestimmten wirtschaftlichen Zwecks (in der Regel zur Ausführung eines grösseren Werkes, wofür die Arbeitskapazität und der finanzielle Rückhalt des Einzelnen nicht ausreicht), zeitlich begrenzt bis dieser Zweck erreicht ist und betrieblich nur insoweit, als es der Zweck erheischt. Stockwerkeigentümergemeinschaften entsprechen dieser Umschreibung nicht. Sie sind nicht Gemeinschaftsunternehmen im Sinne eines vertraglichen Zusammenschlusses zur Erreichung eines bestimmten wirtschaftlichen Zwecks, und ebenso fehlt das Element der zeitlichen Begrenzung, wie es sich zwanglos aus dem Hinweis des Verordnungsgebers auf Baukonsortien und dergleichen ableiten lässt.
4.
Die Beschwerdeführerin macht geltend,
Art. 55 VStV
sei gesetzeskonform und rechtsgleich auszulegen. Daraus ergebe sich, dass sich die Sachlage bei Stockwerkeigentümergemeinschaften genau gleich darstelle wie bei den in
Art. 55 lit. a VStV
genannten Gemeinschaftsunternehmen.
Einzuräumen ist, dass ein Rückerstattungsanspruch für Stockwerkeigentümergemeinschaften den Rahmenbedingungen von
Art. 24 Abs. 5 VStG
entsprechen würde und der Bundesrat befugt wäre, in der Verordnung einen solchen vorzusehen. Gesetzlich verpflichtet ist er dazu aber nicht, und auch der Begriff des Gemeinschaftsunternehmens in lit. a der fraglichen Verordnungsbestimmung muss nicht ausdehnend interpretiert werden. Die Verrechnungssteuer dient in erster Linie - wenn auch nicht ausschliesslich - der Sicherung der Kantons- und Gemeindesteuern und soll die Steuerhinterziehung von im Inland domizilierten
BGE 125 II 348 S. 353
Steuerpflichtigen eindämmen (
BGE 118 Ib 317
E. 2 S. 322; PFUND, Verrechnungssteuer, I. Teil, Basel 1971, VStG Einl., N. 41). Der Entscheid, wie weit Personenvereinigungen berechtigt sein sollen, die Verrechnungssteuer selber zurückzuverlangen, darf auf den Sicherungszweck dieser Steuer ausgerichtet werden. Da die einzelnen Stockwerkeigentümer und nicht die Gemeinschaft ihren Anteil am Ertrag und Vermögen aus dem Erneuerungsfonds zu deklarieren und versteuern haben, entspricht es dem Sicherungszweck am besten, wenn die Verrechnungssteuerrückerstattung an diese Deklaration anknüpft. Die Eidgenössische Steuerverwaltung verweist denn auch darauf, dass die bisher - «auf Zusehen hin» - geübte Praxis, welche sowohl Rückerstattungsanträge der Gemeinschaft wie auch solche der einzelnen Stockwerkeigentümer zuliess, mit erheblichem administrativem Aufwand verbunden war und die Gefahr doppelter Rückerstattungen - sowohl durch die Eidgenössische Steuerverwaltung als auch die kantonalen Steuerbehörden - mit sich brachte. Zudem kann der einzelne Steuerpflichtige die Deklaration leicht vergessen, wenn er die Rückerstattung nicht selber beantragen muss, was dem Sicherungszweck zuwiderläuft. Bei Gemeinschaftsunternehmen wird dementsprechend nur zurückhaltend ein Rückerstattungsanspruch bejaht. Es geht dort im Wesentlichen darum, dass Zinsen auf Bankkonti, über die der gemeinschaftliche Zahlungsverkehr für die Erfüllung eines Werkvertrags oder Auftrags (Lieferanten, Löhne, Abschlagszahlungen des Werkherrn) abgewickelt wird, vom Gemeinschaftsunternehmen als solchem zurückgefordert werden können, dies unter der Voraussetzung, dass die verrechnungssteuerbelasteten Zinsen brutto in der Gemeinschaftsrechnung verbucht werden (PFUND/ZWAHLEN, a.a.O., N. 5.17 zu
Art. 21 VStG
). Für ein solches Verfahren mögen verfahrensökonomische Gründe sprechen, die bei Stockwerkeigentümergemeinschaften nicht gegeben sind.
5.
Die Beschwerdeführerin wendet gegen die Rückerstattung der Verrechnungssteuer an die einzelnen Stockwerkeigentümer ein, dass die Nutzung des sich aus der Verwaltung der Stockwerkeigentümergemeinschaft ergebenden Vermögens der Gemeinschaft zustehe. Das wirft zwei Fragen auf: Zunächst, ob der einzelne Stockwerkeigentümer das «Recht zur Nutzung des den steuerbaren Ertrag abwerfenden Vermögenswertes» besitzt; nur unter dieser Voraussetzung besteht nach
Art. 21 Abs. 1 lit. a VStG
ein Anspruch des Stockwerkeigentümers auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer. Sodann ist zu fragen, ob die Rückerstattung an die einzelnen Stockwerkeigentümer der zivilrechtlichen Regelung zuwiderläuft.
BGE 125 II 348 S. 354
a)
Art. 21 Abs. 1 lit. a VStG
muss im Lichte des hauptsächlichen Zwecks der Verrechnungssteuer - Sicherung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden auf den Einkünften der Steuerpflichtigen aus beweglichem Kapitalvermögen, aus Lotteriegewinnen und Versicherungen, sowie auf den Vermögenswerten, woraus solche Einkünfte fliessen - gesehen werden. Aus dieser Sicht steht aber das «Recht zur Nutzung» derjenigen Person zu, welcher der den steuerbaren Ertrag abwerfende Vermögenswert steuerrechtlich zuzurechnen ist und die gegebenenfalls auch einkommenssteuerpflichtig ist (vgl. PFUND/ZWAHLEN, a.a.O., N. 2.20 zu
Art. 21 VStG
). Das sind die einzelnen Stockwerkeigentümer, nicht die Gemeinschaft.
Art. 712h Abs. 2 Ziff. 3 ZGB
bringt zwar zum Ausdruck, dass Steuern auch den Stockwerkeigentümern gemeinschaftlich auferlegt werden können, doch bestimmt das kantonale Steuerrecht, ob der Miteigentumsanteil als solcher oder die ganze Liegenschaft besteuert werden soll (HANS-PETER FRIEDRICH, Das Stockwerkeigentum, 2. Aufl. 1972, § 17 Rz. 11; MEIER-HAYOZ/REY, a.a.O., N. 59 zu
Art. 712h ZGB
). Miteigentumsanteile an Grundstücken und deren Ertrag werden denn auch bei den direkten Steuern vom Einkommen und Vermögen regelmässig bei den einzelnen Stockwerkeigentümern besteuert. Diesen steht daher das Recht zur Nutzung im Sinne von
Art. 21 Abs. 1 lit. a VStG
zu.
b) Mit der zivilrechtlichen Regelung des Stockwerkeigentums steht dies nicht im Widerspruch.
Art. 712l Abs. 1 ZGB
erklärt die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer im Bereich der gemeinschaftlichen Verwaltung für befähigt, das anfallende Vermögen und insbesondere die Mittel des Erneuerungsfonds unter eigenem Namen zu erwerben. Das bedeutet, dass die mit der Verrechnungssteuer belasteten Leistungen, wie namentlich die Erträge auf dem Erneuerungsfonds, der Gemeinschaft unter eigenem Namen zustehen. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung der Stockwerkeigentümergemeinschaft beschränkte Vermögens- und Handlungsfähigkeit verliehen, um sie als geschlossene Einheit am Rechtsverkehr teilnehmen zu lassen. Diese Ordnung wird aber dadurch, dass der Rückerstattungsanspruch für die Verrechnungssteuer den einzelnen Stockwerkeigentümern und nicht der Gemeinschaft zuerkannt wird, nicht in Frage gestellt.
6.
Die Beschwerdeführerin wirft der Eidgenössischen Steuerverwaltung vor, sie habe ihre bisherige Praxis unzulässigerweise geändert. Tatsächlich hat die Eidgenössische Steuerverwaltung bisher Anträge auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer von Stockwerkeigentümergemeinschaften
BGE 125 II 348 S. 355
«auf Zusehen hin» (vgl. PFUND/ZWAHLEN, a.a.O., N. 5.18 zu
Art. 21 VStG
) entgegengenommen. Sie hat aber die Änderung in einem Kreisschreiben vom 16. Januar 1995 angekündigt. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts verlangt von einer Praxisänderung, dass sie sich auf ernsthafte, sachliche Gründe zu stützen vermag (
BGE 111 II 308
E. 2). Solche sind vorliegend gegeben. Die Eidgenössische Steuerverwaltung verweist zu Recht darauf, dass die bisherige Praxis uneinheitlich war, indem sowohl die Stockwerkeigentümer selber als auch die Gemeinschaft ein Begehren stellen konnte, was zu praktischen Schwierigkeiten führte. Zudem vermochte sich die bisherige Praxis nicht auf die Regelung in der Verordnung zu stützen. Ein hinreichender Grund für die Änderung der Verwaltungspraxis ist damit gegeben. | public_law | nan | de | 1,999 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e01e271-6d23-44c1-8a00-440f5eb227b2 | Urteilskopf
140 V 113
17. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Q. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_757/2013 vom 15. April 2014 | Regeste
Art. 42 und 42
quater
IVG
;
Art. 26 UVG
; Anspruch auf einen Assistenzbeitrag.
Die Bezügerin einer Hilflosenentschädigung der obligatorischen Unfallversicherung hat keinen Anspruch auf einen Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung (E. 5-7). | Sachverhalt
ab Seite 113
BGE 140 V 113 S. 113
A.
Q. war als Abteilungsleiterin in der Firma G. GmbH tätig. Am 17. Mai 2009 stürzte sie beim Start eines Gleitschirmfluges. Sie erlitt dabei eine sensomotorisch komplette Tetraplegie unterhalb des vierten Halswirbelkörpers. Am 9. Oktober 2009 meldete sich Q. bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle) sprach ihr verschiedene Hilfsmittel zu. Mit Verfügung vom 29. Dezember 2011 anerkannte sie auch den Anspruch auf eine ganze Rente ab 1. Mai 2010 (Invaliditätsgrad von 100 %). Am 9. Februar 2012 beantragte Q. eine Hilflosenentschädigung. Mit Verfügung vom 12. Juni 2012
BGE 140 V 113 S. 114
verneinte die IV-Stelle einen Anspruch, weil die Swica Versicherungen AG eine Hilflosenentschädigung der obligatorischen Unfallversicherung ausrichte, was unangefochten blieb. Wegen des fehlenden Bezugs einer Hilflosenentschädigung der IV verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 21. Mai 2012 den Anspruch auf einen Assistenzbeitrag.
B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die gegen die Verfügung vom 21. Mai 2012 erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 20. August 2013 ab.
C.
Q. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Die IV-Stelle sei zu verpflichten, Assistenzbeiträge der Invalidenversicherung auszurichten.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anspruch auf einen Assistenzbeitrag haben Versicherte, wenn ihnen eine Hilflosenentschädigung der IV nach Artikel 42 Absätze 1-4 ausgerichtet wird und sie zu Hause leben und volljährig sind (
Art. 42
quater
Abs. 1 IVG
). Der Beitrag wird gewährt für Hilfeleistungen, die von der versicherten Person benötigt und regelmässig von einer natürlichen Person (Assistenzperson) erbracht werden, die von der versicherten Person oder ihrer gesetzlichen Vertretung im Rahmen eines Arbeitsvertrages angestellt wird (
Art. 42
quinquies
lit. a IVG
).
4.
Der Wortlaut der gesetzlichen Regelung ist klar. Ihr Sinn und Zweck ergibt sich aus der Botschaft vom 24. Februar 2010 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket; BBl 2010 1817). Gleichzeitig zur finanziellen Konsolidierung der IV erfolgt ein kostenneutraler Umbau des Leistungssystems im Bereich der Hilflosenentschädigung. Zur Förderung einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung soll eine neue Leistung - der Assistenzbeitrag - eingeführt werden. Menschen mit einer Behinderung, welche für die Hilfe zur Alltagsbewältigung Drittpersonen anstellen, erhalten dazu einen Assistenzbeitrag von 30 Franken pro Stunde. Mit dieser Massnahme werden die Voraussetzungen verbessert, trotz einer Behinderung zu Hause wohnen zu können und pflegende
BGE 140 V 113 S. 115
Angehörige zu entlasten. Gleichzeitig mit der Einführung des Assistenzbeitrags werden die Ansätze der Hilflosenentschädigung im Heim halbiert (BBl 2010 1820).
Dabei drängt sich nach der Aussage des Bundesrates angesichts des zwischen Invaliden- und Unfallversicherung unterschiedlichen Leistungsniveaus die Einführung eines Assistenzbeitrags im UVG nicht auf. Die Leistungen bei einem UVG-versicherten Unfall sind beträchtlich umfangreicher als in der Invalidenversicherung. So wird eine zur Rente der IV komplementäre UVG-Rente (insgesamt maximal 9'450 Fr.), die ergänzende Rente der beruflichen Vorsorge und die UVG-Hilflosenentschädigung (maximal 2'076 Fr.) geleistet. Darüber hinaus übernimmt die Unfallversicherung die Kosten der medizinisch notwendigen Pflege sowie eventuell Hauspflegebeiträge. In Ausnahmefällen bezahlt auch die Krankenversicherung einzelne Massnahmen der Grundpflege (BBl 2010 1866 Ziff. 1.3.4).
Im Ständerat wurde vonseiten der Kommission bekräftigt, dass ein Assistenzbeitrag ausschliesslich an Bezügerinnen und Bezüger einer Hilflosenentschädigung der IV ausgerichtet werde (AB 2010 S 659). Im Nationalrat passierte die Anpassung ohne Diskussion.
5.
Die Rüge, das kantonale Gericht lege
Art. 42
quater
IVG
nicht verfassungs- und EMRK-konform aus, übersieht, dass der klare Rechtssinn einer bundesgesetzlichen Norm nicht durch eine verfassungs- oder konventionskonforme Auslegung beiseite geschoben werden kann (statt vieler:
BGE 119 V 121
E. 5b S. 130, bestätigt z.B. im Urteil 8C_713/2010 vom 23. März 2011 E. 3, nicht publ. in:
BGE 137 V 121
, aber in: SVR 2011 FZ Nr. 2 S. 7). Ferner sollte mit der Neuregelung der
kostenneutrale
Umbau des Leistungssystems im Bereich der Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung vollzogen werden. Gleichzeitig mit der Einführung des Assistenzbeitrags wurden deshalb die Ansätze der Hilflosenentschädigung im Heim halbiert (
Art. 42
ter
Abs. 2 IVG
). Wenn nun ein IV-Assistenzbeitrag zur Hilflosenentschädigung der UV gefordert wird, würden aus der Invalidenversicherung Mittel abgeführt, die nach der legislatorischen Absicht im System verbleiben müssen. Bei der UV-Versicherung handelt es sich um eine eigenständige Versicherung mit eigenen Regelungen und einem klar abgegrenzten Leistungsbereich. Dass dort keine Anpassungen vorzunehmen sind, hat der Bundesrat damit begründet, dass die Leistungen bei einem UVG-versicherten Unfall beträchtlich umfangreicher sind als aus der IV. Wenn die Beschwerdeführerin anregt, dass bei der Ermittlung des Assistenzbudgets auch
BGE 140 V 113 S. 116
die vom UVG übernommenen Leistungen für die medizinische Pflege abzuziehen wären, ist ihr entgegenzuhalten, dass solches im Gesetz keine Stütze findet (Art. 42
quater
Abs. 1 lit. a und
Art. 42
sexies
Abs. 1 lit. a-c IVG
).
6.
Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung von
Art. 8 Abs. 2 BV
. Sie werde diskriminiert, wenn sie als UVG-versicherte schwer Hilflose von Leistungen ausgeschlossen werde, die andere Behinderte in vergleichbarer Situation erhielten. Die Rüge ist haltlos, da die Beschwerdeführerin als UVG-Versicherte weit bessergestellt ist als die Bezügerin einer IV-Hilflosenentschädigung, welcher Assistenzbeiträge zustehen.
7.
Was die Rüge einer Verletzung von Art. 8 i.V.m.
Art. 14 EMRK
betrifft, geht es nicht um den Ausschluss von Leistungen gegenüber einer bestimmten Gruppe von Behinderten. Wie in der Botschaft festgehalten wurde, sind die Leistungen bei einem UVG-versicherten Unfall beträchtlich umfangreicher als in der IV. Die Beschwerdeführerin erhält mehr, als wenn sie nur den Assistenzbeitrag ausgerichtet erhielte. Denn dann müssten bei der Ermittlung des Assistenzbudgets auch die von der Unfallversicherung oder der Krankenkasse übernommenen Pflegeleistungen und ebenso die höhere Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung abgezogen werden. Es kann also keine Rede davon sein, dass der staatliche UVG-Versicherungszwang dazu führt, dass die Beschwerdeführerin nun wesentlich weniger Leistungen erhalten soll, als eine Nicht-UVG-Versicherte. | null | nan | de | 2,014 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2e07ef2d-c4f1-46ad-8275-9a2eb9c299df | Urteilskopf
137 III 243
40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. Corp. gegen A. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_562/2010 vom 3. Mai 2011 | Regeste
Art. 40a ff., 67 und 127 OR
; Rückabwicklung eines widerrufenen Haustürgeschäfts; Verjährungsfrist.
Der Anspruch auf Rückerstattung bereits empfangener Leistungen nach
Art. 40f Abs. 1 OR
ist bereicherungsrechtlicher Natur und unterliegt entsprechend der Verjährungsfrist nach
Art. 67 OR
, in Anlehnung an die Praxis zur Rückabwicklung von Verträgen, die mit Willens- oder Formmängeln behaftet sind, bzw. von suspensiv bedingten Verträgen nach Ausfall der Bedingung (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 244
BGE 137 III 243 S. 244
A.
A. (Beschwerdegegnerin) nahm am 29. August 2007 an einer Informationsveranstaltung der Beschwerdeführerin (X. Corp. mit Sitz in Y.) teil. Einen Tag später, am 30. August 2007, besuchte sie eine zweite Informationsveranstaltung. An diesem Tag unterzeichneten die Parteien u.a. einen Vertrag über Weiterbildungsunterlagen und sechs Seminartage zum Preis von Fr. 6'800.-. Die Vertreter der Beschwerdeführerin offerierten der Beschwerdegegnerin eine Reduktion des Kaufpreises auf Fr. 5'970.-, falls sie diesen Betrag sofort bezahle. Gestützt darauf leistete die Beschwerdegegnerin eine Anzahlung von Fr. 4'000.-.
Am 31. August 2007 teilte die Beschwerdegegnerin dem Vertreter der Beschwerdeführerin den Widerruf des Vertrags bzw. der beiden Verträge telefonisch und schriftlich mit und verlangte die Rückerstattung der geleisteten Anzahlung.
B.
Mit Klage vom 13. November 2009 beantragte die Beschwerdegegnerin dem Amtsgericht Sursee, die Beschwerdeführerin sei zu verpflichten, ihr Fr. 4'000.- zuzüglich Zins zu 5 % seit 7. Oktober 2007 zu bezahlen. Die delegierte Richterin des Amtsgerichtspräsidenten I hiess die Klage mit Urteil vom 22. April 2010 gut. Sie verwarf insbesondere die von der Beschwerdeführerin erhobene Einrede der Verjährung; der Anspruch auf Rückerstattung der geleisteten Anzahlung sei vertraglicher und nicht bereicherungsrechtlicher Natur; entsprechend sei die zehnjährige Verjährungsfrist nach
Art. 127 OR
anwendbar.
BGE 137 III 243 S. 245
Am 18. August 2010 wies das Obergericht des Kantons Luzern eine von der Beschwerdeführerin dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde ab, wobei es sich auf eine Willkürprüfung beschränkte.
C.
Die Beschwerdeführerin erhob dagegen Beschwerde in Zivilsachen mit den Anträgen, den Entscheid der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen, eventuell die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Am 3. Mai 2011 führte das Bundesgericht eine öffentliche Urteilsberatung durch. Es heisst die Beschwerde gut, hebt das angefochtene Urteil auf und weist die Klage ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
(Zusammenfassung: Bejahung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von
Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG
.)
(...)
3.
Im bundesgerichtlichen Verfahren ist nicht mehr bestritten, dass die Beschwerdegegnerin mit ihrer Klage Ansprüche im Zusammenhang mit einem Konsumentenvertrag (
Art. 40a und 40f OR
) geltend macht, für deren Beurteilung die schweizerischen Gerichte zuständig sind (
Art. 114 IPRG
[SR 291]) und auf die Schweizer Recht anwendbar ist (
Art. 120 IPRG
). Ebenso ist vorliegend nicht mehr kontrovers, dass die Beschwerdegegnerin den zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag vom 30. August 2007 am 31. August 2007 befugtermassen und gültig widerrufen hat (
Art. 40a ff. OR
). Der Streit dreht sich einzig um die Frage, ob auf die Pflicht zur Rückerstattung des von der Beschwerdegegnerin geleisteten Geldbetrages nach
Art. 40f OR
die allgemeine Verjährungsfrist nach
Art. 127 OR
oder die bereicherungsrechtliche Verjährungsfrist gemäss
Art. 67 OR
anzuwenden ist.
4.
Nach
Art. 40f Abs. 1 OR
hat der Widerruf des Vertrages durch den Kunden zur Folge, dass die Parteien bereits empfangene Leistungen zurückerstatten müssen. Nach welchen Grundsätzen die Rückerstattung zu erfolgen hat und, namentlich, welcher Verjährungsfrist die Rückerstattungsansprüche unterliegen, ist dem Wortlaut der Bestimmung nicht zu entnehmen.
4.1
Welche Verjährungsfrist auf Rückabwicklungsansprüche anzuwenden ist, richtet sich nach der Rechtsnatur der entsprechenden Ansprüche (
BGE 129 III 264
E. 4.1 S. 269; STEPHAN HARTMANN,
BGE 137 III 243 S. 246
Konsumentenschutzrechtliche Widerrufsrechte im schweizerischen Recht, ZSR 127/2008 I S. 323 f. [im Folgenden: Widerrufsrechte];
derselbe
[allerdings kritisch dazu], Die Rückabwicklung von Schuldverträgen, 2005, S. 21 f. Rz. 42 [im Folgenden: Rückabwicklung]). Es würde insbesondere einen unauflösbaren Widerspruch bedeuten, eine Klage aus ungerechtfertigter Bereicherung den Verjährungsbestimmungen für vertragliche Ansprüche zu unterstellen (
BGE 129 III 264
E. 4.1; vgl. dazu auch
BGE 130 III 504
E. 8.1). In
BGE 114 II 152
E. 2c/aa und bb S. 157 f. wurde denn auch eine in
BGE 60 II 27
begründete Rechtsprechung aufgegeben, gemäss der der Ersatzanspruch bei einem Vertragsrücktritt nach
Art. 109 OR
bereicherungsrechtlicher Natur sei, aber dennoch der Verjährung nach
Art. 127 OR
unterliege, weil er auf einer Verletzung vertraglicher Pflichten beruhe (vgl. dazu auch
BGE 126 III 119
E. 3c; vgl. dazu auch GILLES PETITPIERRE, in: Commentaire Romand, Code des obligations, Bd. I, 2003, N. 2 zu
Art. 67 OR
).
Zunächst ist demnach die Rechtsnatur der Rückerstattungsansprüche nach
Art. 40f Abs. 1 OR
zu klären.
4.2
In der bundesrätlichen Botschaft vom 7. Mai 1986 zu einem Bundesgesetz über die Förderung der Konsumenteninformation und zu einem Bundesgesetz über die Änderung des Obligationenrechts (BBl 1986 II 354 ff., Nr. 86.030) wird ausgeführt, der Widerruf lasse den Vertrag nach dem in
Art. 40f Abs. 1 OR
(bzw. Art. 40e Abs. 1 Entwurf) enthaltenen Grundsatz als von Anfang an nicht zustande gekommen dahinfallen; bereits erbrachte Leistungen müssten danach gemäss den Bestimmungen über die ungerechtfertigte Bereicherung (
Art. 62 ff. OR
) zurückerstattet werden. Die Absätze 2, 3 und 4 des genannten Artikels enthielten (im vorliegenden Fall nicht zur Diskussion stehende, spezielle Ansprüche begründende) Sonderbestimmungen. Im Übrigen sei Bereicherungsrecht ergänzend anwendbar, was namentlich bezüglich der Verjährung (
Art. 67 OR
) gelte (BBl 1986 II 394 Ziff. 222.6).
In der parlamentarischen Beratung des Gesetzesentwurfs wurde die Frage, nach welchen Modalitäten die Rückerstattung zu erfolgen hat, nicht diskutiert; im Vordergrund der Debatten standen nach der Eintretensfrage der Anwendungsbereich der Bestimmungen von
Art. 40a ff. OR
und die Voraussetzungen des Widerrufsrechts des Konsumenten. Immerhin geht aus einem Votum von Nationalrat Grassi hervor, dass im Parlament die Vorstellung herrschte, die Rückabwicklung erfolge nach Bereicherungsrecht (AB 1990 N 575).
BGE 137 III 243 S. 247
4.3
Ein Teil der Lehre spricht sich in Übereinstimmung mit der bundesrätlichen Botschaft dafür aus, dass eine Rückerstattung nach
Art. 40f Abs. 1 OR
gemäss Bereicherungsrecht zu erfolgen habe (INGEBORG SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2009, Rz. 28.73; ALFRED KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2009, § 7 Rz. 83 [nachfolgend: OR AT]; HARTMANN, Rückabwicklung, a.a.O., S. 332 f. Rz. 823 [vgl. auch die Übersicht über die Literaturmeinungen auf S. 11 f., Fn. 33]; JÜRG SCHMID, Die Geschäftsführung ohne Auftrag, 1992, Rz. 1808 S. 572; PIERRE ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, 2. Aufl. 1997, S. 313; so wohl auch RAINER GONZENBACH, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 2 zu
Art. 40f OR
; MARTIN A. KESSLER, in: OR, Art. 1-529, Kurzkommentar, 2008, N. 2 zu
Art. 40f OR
). Verschiedene Autoren vertreten demgegenüber die Auffassung, es handle sich bei sämtlichen Rückerstattungsansprüchen um solche vertraglicher Natur, da der Vertrag durch den Widerruf in ein vertragliches Rückabwicklungsverhältnis umgewandelt werde (ROGER DORNIER, Zürcher Kommentar, 2010, N. 133 zu
Art. 40f OR
; STAUDER, Commentaire romand, Droit de la consommation, 2004, N. 3 zu
Art. 40f OR
; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/EMMENEGGER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 9. Aufl. 2008, Rz. 477a; CLAIRE HUGUENIN, Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2008, S. 40 Rz. 254).
4.4
Das Bundesgericht hat sich zur Frage der Rechtsnatur der Rückerstattungsansprüche nach
Art. 40f Abs. 1 OR
und der auf dieselben anwendbaren Verjährungsbestimmungen noch nicht geäussert. Im Hinblick auf deren Beantwortung erscheint es angezeigt, einen Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu verschiedenen Rückerstattungsansprüchen im Zusammenhang mit gescheiterten Vertragsverhältnissen zu werfen (vgl. auch die Übersicht bei ALFRED KOLLER, Die Verjährung bei der Rückabwicklung von Verträgen, BR 2006 S. 4 ff. [nachfolgend: Verjährung]).
4.4.1
Rückerstattungsansprüche können nach der allgemeinen Unterscheidung des Gesetzes wie andere Forderungen aus Vertrag, aus unerlaubter Handlung oder aus ungerechtfertigter Bereicherung entstehen und unterliegen je nach ihrem Entstehungsgrund verschiedenen Verjährungsfristen (
BGE 133 III 356
E. 3.2.1 S. 359;
BGE 130 III 504
E. 6.1;
BGE 127 III 421
E. 3 S. 424;
BGE 114 II 152
E. 2c/aa S. 156). Ein vertraglicher Anspruch schliesst einen Bereicherungsanspruch aus.
BGE 137 III 243 S. 248
Wird eine vertraglich geschuldete Leistung erbracht, so stellt der gültige Vertrag den Rechtsgrund dar, weshalb der Leistungsempfänger nicht ungerechtfertigt, d.h. rechtsgrundlos bereichert sein kann (
BGE 133 III 356
E. 3.2.1 S. 358;
BGE 127 III 421
E. 3 S. 424;
BGE 126 III 119
E. 3b S. 121). Das Bundesgericht hat verschiedentlich auf eine Tendenz in der neueren Rechtsprechung und Lehre hingewiesen, den Anwendungsbereich des Bereicherungsrechts einzuschränken und Rückerstattungsansprüche als vertragliche zu behandeln (
BGE 130 III 504
E. 6.1;
BGE 126 III 119
E. 3c). Andererseits hat es aber auch klargestellt, dass nicht sämtliche Leistungen, die im Umfeld eines Vertrages erbracht werden, einen vertraglichen Entstehungsgrund haben müssen, der zu vertraglichen Rückerstattungsansprüchen führt (
BGE 133 III 356
E. 3.2.1 und 3.3.1 S. 359 f.).
4.4.2
In
BGE 114 II 152
erkannte das Bundesgericht (in Abweichung von
BGE 60 II 27
[vgl. vorne Erwägung 4.1]), bei einem Vertragsrücktritt gemäss
Art. 109 OR
, d.h. bei einem gesetzlichen Rücktrittsrecht, das seinen Grund in einer Vertragsverletzung bzw. in einem Erfüllungsmangel hat, werde das Vertragsverhältnis in ein Liquidationsverhältnis umgewandelt (Umwandlungstheorie), so dass namentlich die Rückleistungspflichten gemäss
Art. 109 Abs. 1 OR
als vertragliche zu qualifizieren seien und den vertraglichen Verjährungsfristen unterstünden. Diese Präzisierung der Rechtsprechung bzw. dogmatische Neubegründung der Unterstellung solcher Forderungen unter
Art. 127 OR
wurde in der Lehre mehrheitlich begrüsst (
BGE 133 III 356
E. 3.2.1 S. 358;
BGE 126 III 119
E. 3c S. 122; vgl. zum aktuellen Meinungsstand die Hinweise bei HARTMANN, Rückabwicklung, a.a.O., S. 11 Fn. 31).
4.4.3
Wird ein Vertrag wegen Willensmängeln erfolgreich angefochten, ist er von Anfang an - ex tunc - ungültig. Bereits erbrachte Leistungen sind zurückzuerstatten. In Bezug auf Sachleistungen sind nach herkömmlicher Ansicht die Grundsätze der Vindikation, im Übrigen die Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung anwendbar (
BGE 134 III 438
E. 2.4 S. 443;
BGE 132 III 242
E. 4.1 S. 244;
BGE 129 III 320
E. 7.1.1 S. 327;
BGE 114 II 131
E. 3b S. 142 f.). Dies entspricht auch der heute herrschenden Lehre (KOLLER, Verjährung, a.a.O., S. 4 Fn. 3;
derselbe
, OR AT, a.a.O., S. 316 Rz. 303 f.; HARTMANN, Rückabwicklung, a.a.O., S. 7 Rz. 12, S. 11 Rz. 18, S. 320 Rz. 794; BRUNO HUWILER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 6 f. zu
Art. 67 OR
; ENGEL, a.a.O., S. 343 und 597; GAUCH/
BGE 137 III 243 S. 249
SCHLUEP/SCHMID/EMMENEGGER, a.a.O., Rz. 912; KARL SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd. I, 1975, S. 717; GUHL/KOLLER/SCHNYDER/DRUEY, Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl. 2000, § 16 Rz. 27 f.; SCHWENZER, a.a.O., Rz. 39.27; EUGEN BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1988, S. 661).
Einzelne Autoren sprechen sich im Anschluss an
BGE 114 II 131
und 152 dafür aus, auch die Rückabwicklung irrtumsbehafteter Verträge nach vertraglichen Grundsätzen vorzunehmen, indem ein vertragliches Rückabwicklungsverhältnis angenommen wird (WOLFGANG WIEGAND, Zur Rückabwicklung gescheiterter Verträge, in: Gauchs Welt, Tercier und andere [Hrsg.], 2004, S. 707, 717 ff. [im Folgenden: Rückabwicklung]; BRUNO SCHMIDLIN, Berner Kommentar, 1995, N. 86 ff., 97 ff. zu
Art. 31 OR
; vgl. dazu auch HARTMANN, Rückabwicklung, a.a.O., S. 12 f. Rz. 19). Dem ist das Bundesgericht aber nicht gefolgt (
BGE 133 III 356
E. 3.2.1 S. 358 f.). Vielmehr hielt es insoweit an der herkömmlichen Ansicht fest und lehnte es klar ab, einzig aus der Tatsache des formellen Schlusses eines ungültigen, da irrtumsbehafteten Vertrages ein vertragliches Liquidationsverhältnis abzuleiten (
BGE 129 III 264
E. 4.1 S. 271; vgl. auch den kurz nach
BGE 114 II 152
ergangenen Entscheid
BGE 114 II 131
E. 3). Immerhin räumte es in einem kurz vor
BGE 129 III 264
ergangenen Entscheid im Zusammenhang mit der Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses wegen eines Willensmangels (vgl. zu den bei Dauerschuldverhältnissen geltenden Regeln die nachfolgende E. 4.4.4) noch ein, dass in der Lehre mit guten Gründen die Auffassung vertreten werde, nicht nur im Falle des verzugsbedingten Rücktritts vom Vertrag (
Art. 109 OR
), sondern auch bei dessen Unverbindlichkeit wegen Willensmängeln sei von einem vertraglichen Rückabwicklungsverhältnis auszugehen, das auf dem ursprünglichen formalen Konsens gründe (
BGE 129 III 320
E. 7.1.1). Der mit einem Willensmangel behaftete Vertrag ist indessen richtig betrachtet nicht zustande gekommen und bildet daher für die erbrachten Leistungen keinen gültigen Rechtsgrund. Er kann daher auch nicht mit geändertem Inhalt Bestand haben und kommt als vertragliche Rechtsgrundlage eines Rückgabeanspruchs nicht in Betracht, der somit seine Grundlage nur im Bereicherungs- oder Vindikationsrecht finden kann (
BGE 133 III 356
E. 3.2.1 S. 358 f.;
BGE 129 III 264
E. 4.1 S. 271). Der Tatsache, dass ein - wenn auch irrtumsbehafteter - Vertrag geschlossen wurde, trägt die Rechtsprechung teilweise
BGE 137 III 243 S. 250
insofern Rechnung, als die Parteien bei synallagmatischen Verträgen sowohl bei Unverbindlichkeit wegen Willensmangels als auch bei Nichtigkeit nur Zug um Zug gegen Erbringung der Gegenleistung zur Rückleistung verpflichtet sind (
BGE 132 III 242
E. 4.1 S. 244 f.;
BGE 129 III 320
E. 7.1.1 S. 327 f.;
BGE 111 II 195
E. 3 S. 197;
BGE 83 II 18
E. 7 S. 25 unten).
Für die Rückabwicklung von irrtumsbehafteten Verträgen nach Bereicherungs- und Vindikationsrecht entsprechend der langjährigen Praxis und der herrschenden Doktrin werden auch in der neueren Lehre beachtliche Gründe angeführt. So weist HARTMANN überzeugend nach, dass Wortlaut und Entstehungsgeschichte von
Art. 62 Abs. 2 OR
für die Rückabwicklung eines nichtigen oder wegen Willensmängeln einseitig unverbindlichen Vertrages nach Bereicherungsrecht (und Vindikationsrecht) sprechen; gegenüber der Umwandlung des Vertrages in ein vertragliches Liquidationsverhältnis mit bloss obligatorischen gegenseitigen Rückerstattungsansprüchen führe dies zum rechtspolitisch erwünschten Ergebnis, dass derjenige, der unter dem Einfluss eines Willensmangels einen Vertrag abgeschlossen und in der Folge eine Sache geleistet habe, diese nach einer erfolgreichen Vertragsanfechtung im Konkurs der Gegenpartei aussondern könne (vgl. HARTMANN, Rückabwicklung, a.a.O., S. 327 ff. Rz. 809 ff., vgl. aber auch seine Kritik de lege ferenda und der Hinweis auf Wertungswidersprüche zur Rechtslage bei der Rückabwicklung von Dauerschuldverhältnissen und der Rückabwicklung nach einem Rücktritt gemäss
Art. 109 OR
: S. 333 Rz. 824 ff.).
4.4.4
Speziell berücksichtigt hat die Rechtsprechung den Umstand, dass die Rückabwicklung von Dauerschuldverhältnissen an Grenzen stösst, wenn beispielsweise in vollständiger oder teilweiser Erfüllung des Vertrages Dienste erbracht oder Unterlassungspflichten beachtet wurden, die in natura nicht zurückerstattet werden können. In solchen Fällen misst daher die Rechtsprechung der erfolgreichen Irrtumsanfechtung aus Praktibilitätsgründen nur die Bedeutung einer Kündigung des Vertragsverhältnisses ex nunc zu. Dabei bleibt die Konstellation vorbehalten, dass sich der Willensmangel im Synallagma selbst auswirkte, d.h. für das Leistungsversprechen des Irrenden in quantitativer Hinsicht bestimmend war. Hier werden bei der Rückabwicklung die Leistungen in gerichtlicher Vertragsanpassung in Anwendung von
Art. 20 Abs. 2 OR
modifiziert (grundlegend:
BGE 129 III 320
E. 7.1; vgl. auch
BGE 134 III 438
E. 2.4;
BGE 132 III 242
E. 4.2).
BGE 137 III 243 S. 251
4.4.5
Dieselben Grundsätze wie bei der Irrtumsanfechtung bringt das Bundesgericht zur Anwendung, wenn im Hinblick auf einen erst zu schliessenden, aber nie zustande gekommenen Vertrag Leistungen erbracht wurden (
BGE 119 II 20
E. 2a) und ebenso bei einem suspensiv bedingten, aber teilweise erfüllten Vertrag, wenn die Bedingung ausgefallen ist (
BGE 129 III 264
E. 3.2.2 S. 268 und E. 4.1 S. 271; a.M. KOLLER, Verjährung, a.a.O., S. 5 Ziff. 3/4). Es führte dazu im letztzitierten Entscheid u.a. aus, es erschiene gekünstelt, aus einem Vertrag, der nie zustande gekommen ist, ein vertragliches Rückabwicklungsverhältnis zu konstruieren. Dazu brachte es einen - wohl für ähnliche Fälle allgemein geltenden - Vorbehalt an, dass die Parteien die Rückerstattung einer geleisteten Anzahlung im bedingten Vertrag selber geregelt hätten (
BGE 129 III 264
E. 4.1 S. 269 f.; vgl. dazu KOLLER, Verjährung, a.a.O., S. 4 Ziff. 1, 2. Lemma und S. 4 f. Ziff. 2).
4.4.6
Zu erwähnen ist schliesslich der Fall von Mängeln in der Beurkundung von Grundstückkaufverträgen (
Art. 216 Abs. 1 OR
), die u.a. dem Schutz vor übereilten Vertragsschlüssen dient (
BGE 112 II 330
E. 3 S. 335). Die Rechtsprechung nimmt auch hier Nichtigkeit (mithin Ungültigkeit des Vertrages ex tunc) an (vgl.
BGE 112 II 330
E. 1b und 2b;
BGE 104 II 99
E. 3c S. 103 f.), die hinsichtlich erbrachter Geldleistungen zur Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht führt (
BGE 115 II 28
E. 1;
BGE 106 II 36
E. 4; vgl. auch
BGE 129 III 264
E. 3.2.2).
4.4.7
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Rückabwicklungsansprüche ihre Grundlage im Bereicherungs- und Vindikationsrecht haben, wenn Leistungen im Zusammenhang mit einem Vertrag erbracht wurden, der wegen Mängeln bei der Vertragsentstehung (Wilensmängel oder Formmängel) nicht gültig zustande gekommen ist. Dasselbe gilt, wenn Leistungen im Hinblick auf einen erst zu schliessenden, in der Folge aber nie geschlossenen Vertrag erbracht wurden oder im Hinblick auf einen suspensiv bedingten Vertrag, bei dem die Bedingung ausfiel und der folglich nie entstand.
Scheitert dagegen ein zunächst gültig zustande gekommener und nicht bestrittener Vertrag aus nachträglich eingetretenen Gründen, so kommt eine Rückabwicklung nach vertraglichen Regeln in Betracht, nachdem der Vertrag in ein vertragliches Rückabwicklungsverhältnis umgewandelt wurde. Ein solches Rückabwicklungsverhältnis nimmt die Rechtsprechung bei einem Dahinfallen des Vertrages
BGE 137 III 243 S. 252
infolge eines Rücktritts wegen Erfüllungsmängeln an (E. 4.4.2 vorne). Gemäss einer älteren, dazu in einem gewissen Widerspruch stehenden Rechtsprechung unterstehen Rückabwicklungsansprüche dem Bereicherungsrecht, wenn ein gültig zustande gekommener Vertrag wegen der (nachträglich) eingetretenen Zahlungsunfähigkeit einer Partei aufgelöst wurde (
BGE 64 II 264
E. 1). Ob daran festgehalten werden kann, ist vorliegend allerdings nicht zu entscheiden. Ferner bestimmt
Art. 119 Abs. 2 OR
seinem klaren Wortlaut nach, dass der Schuldner, der im Rahmen eines (gültig geschlossenen) zweiseitigen Vertrags durch unverschuldete nachträgliche Unmöglichkeit von seiner Leistungspflicht befreit wird, für die bereits empfangene Gegenleistung aus ungerechtfertigter Bereicherung haftet (vgl. dazu
BGE 114 II 152
E. 2d S. 158 f.). Der Erlass dieser Regelung, der ein beachtlicher Teil der Lehre kritisch gegenübersteht (vgl. dazu WOLFGANG WIEGAND, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 18 zu
Art. 119 OR
; LUC THÉVONOZ, in: Commentaire Romand, Code des obligations, Bd. I, 2003, N. 24 f. zu
Art. 119 OR
), erfolgte allerdings lange vor der verbreiteten Anerkennung der Umwandlungstheorie in der schweizerischen Lehre und Praxis (vgl. WIEGAND, Rückabwicklung, a.a.O., S. 720; HARTMANN, Rückabwicklung, a.a.O., Rz. 19).
4.5
Die Autoren, die die Ansicht vertreten, mit dem Widerruf nach
Art. 40a ff. OR
entstehe ein vertragliches Rückabwicklungsverhältnis, begründen dies damit, es liege ein Fall vor, der analog der Rückabwicklung nach einem Rücktritt gestützt auf
Art. 109 OR
zu behandeln sei (so DORNIER, a.a.O., N. 133 zu
Art. 40f OR
; HUGUENIN, a.a.O., S. 40 Rz. 25; die übrigen vorstehend [E. 4.3] aufgeführten Autoren begründen ihre Ansicht nicht). Dem kann nicht gefolgt werden. Der Widerruf nach
Art. 40a ff. OR
ist seinem Zweck nach vielmehr mit einer Vertragsanfechtung wegen Willensmängeln oder mit einer Vertragsnichtigkeit wegen Nichtbeachtung von Formvorschriften, d.h. wegen Mängeln bei der Vertragsentstehung, zu vergleichen, die vor einem übereilten oder irrtumsbehafteten Vertragsschluss schützen (vgl. HARTMANN, Rückabwicklung, a.a.O., S. 18 Rz. 33, S. 22 Rz. 43 f.;
derselbe
, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 324). Der Widerruf bei Haustürgeschäften und ähnlichen Verträgen gemäss
Art. 40a ff. OR
ist die Ausübung eines Gestaltungsrechts, mit der - je nach zeitlicher Abfolge - der Antrag oder die Annahmeerklärung zurückgezogen, mithin vernichtet wird (vgl.
Art. 40b OR
; HARTMANN, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 311; GUHL/KOLLER/SCHNYDER/DRUEY, a.a.O., § 13
BGE 137 III 243 S. 253
Rz. 36 ff.). Das Widerrufsrecht bezweckt den Schutz des Konsumenten als unerfahrener Vertragspartei vor nachteiligen Vertragsschlüssen infolge Überrumpelung oder sonstiger Herbeiführung des Vertragsschlusses mit unredlichen Mitteln. Es soll ihm eine freie Willensbildung erlauben und ihm ermöglichen, einen Vertrag in Kenntnis aller Umstände nach reiflicher Überlegung abzuschliessen (BBl 1986 II 386 f.; Urteil 4C.120/1999 vom 25. April 2000 E. 2b/bb). Der Grund für das Widerrufsrecht liegt damit in den Umständen des Vertragsschlusses bzw. in der Art der Vertragsanbahnung (
Art. 40b OR
), unter denen eine besondere Gefahr einer erheblichen Beeinflussung oder gar von Missbräuchen besteht, und nicht in einem Mangel in der Vertragserfüllung wie beim Verzug, der zum Rücktrittsrecht des Vertragsgläubigers nach
Art. 109 OR
führen kann. Der Gesetzgeber verstand die Regeln über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Verträgen denn auch als Sonderregeln für die Entstehung von Obligationen durch Vertrag und verglich sie mit den Regeln über die Willensmängel (BBl 1986 II 389 Ziff. 222.1; vgl. dazu auch STAUDER, a.a.O., N. 3f. Intro.
Art. 40a-40f OR
; DORNIER, a.a.O., N. 67 ff. zu
Art. 40b OR
; GONZENBACH, a.a.O., N. 3 und 6 vor
Art. 40a-40f OR
, N. 1 zu
Art. 40b OR
; HARTMANN, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 310; HUGUENIN, a.a.O., S. 40 Rz. 252; ENGEL, a.a.O., S. 309/311; KOLLER, OR AT, a.a.O., § 7 Rz. 70 f.; SCHWENZER, a.a.O., Rz. 28.67; KESSLER, a.a.O., N. 1 zu
Art. 40b OR
; KUT/SCHNYDER, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 2007, N. 10 zu
Art. 40a-g OR
). Dies kommt denn auch mit der systematischen Einordnung der
Art. 40a ff. OR
im Abschnitt des Gesetzes über die Entstehung der Obligationen durch Vertrag deutlich zum Ausdruck. Demzufolge bleibt der Vertrag während der siebentägigen Widerrufsfrist nach
Art. 40e OR
in der Schwebe bzw. unter der Suspensivbedingung, dass das Widerrufsrecht nicht ausgeübt wird (vgl. zum entsprechenden Schwebezustand eines unter Willensmängeln geschlossenen Vertrags:
BGE 133 III 43
E. 3.5.3 S. 52;
BGE 114 II 131
E. 3b S. 142 f.), und es ist bei Ausübung des Widerrufsrechts nicht von einem gültig geschlossenen Vertrag auszugehen.
Entsprechend ist die Frage, nach welchen Regeln die Vertragsrückabwicklung in Folge eines solchen Widerrufs erfolgt, in Anlehnung an die Praxis zur Rückabwicklung von mit Entstehungsmängeln (Willensmängel, Formmängel) behafteten Verträgen zu entscheiden bzw. von suspensiv bedingten Verträgen nach Ausfall der Bedingung, fürdie im Interesse der Rechtssicherheit und Kohärenz eine möglichst
BGE 137 III 243 S. 254
einheitliche Regelung anzustreben ist. Nach dem vorstehend (E. 4.1, 4.4.3 und 4.4.5-4.4.7) Ausgeführten sind auf die strittige Forderung auf Rückerstattung des geleisteten Geldbetrags die Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung anzuwenden, so dass die einjährige Verjährungsfrist nach
Art. 67 OR
zum Zug kommt. Dieses Ergebnis harmoniert denn auch mit den einschlägigen Ausführungen in der bundesrätlichen Botschaft und den Vorstellungen, die im Parlament zu dieser Frage geherrscht haben dürften (vgl. E. 4.2 vorne; so auch HARTMANN, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 323 f.;
derselbe
, Rückabwicklung, a.a.O., S. 333 Fn. 142, vgl. auch S. 83 Rz. 194), ungeachtet des Umstands, dass in der Botschaft an anderer Stelle (S. 389) auch von einem vertragsauflösenden Recht bzw. von der Auflösung bereits abgeschlossener Verträge die Rede ist.
Der abweichenden Auffassung der Vorinstanzen kann insbesondere nicht gefolgt werden, soweit sie die Anwendung der Zehnjahresfrist nach
Art. 127 OR
damit begründen, eine Verjährungsfrist von bloss einem Jahr würde dem Schutzzweck der Bestimmungen von
Art. 40a ff. OR
entgegenstehen. Denn die
Art. 40a ff. OR
wollen dem Konsumenten ermöglichen, einer vertraglichen Bindung zu entgehen, die unter bestimmten, für eine fehlerfreie Willensbildung ungünstigen Umständen angebahnt wurde. Dass ihm auch bei der Geltendmachung einer Rückerstattungsforderung ein besonderer Schutz durch eine zehnjährige Verjährungsfrist gewährt werden soll, kann daraus nicht abgeleitet werden. Ein solcher drängt sich nach einem Widerruf nach
Art. 40a ff. OR
denn auch nicht auf. So ist die Partei, die ihre Widerrufserklärung abgibt, im entsprechenden Zeitpunkt ohne weiteres über die Bereicherung der Gegenpartei im Bild. Damit ist es ihr erforderlichenfalls möglich und zumutbar, die Rückforderung auf dem Rechtsweg innerhalb eines Jahres einzuleiten. Demgegenüber rechtfertigt es sich im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nicht, die Gegenpartei während einer langen Dauer von zehn Jahren darüber im Ungewissen zu lassen, ob sie mit Ansprüchen konfrontiert wird oder nicht (vgl.
BGE 137 III 16
E. 2.1). | null | nan | de | 2,011 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e11d95e-4e01-4894-ac7d-7332555e441c | Urteilskopf
134 III 354
60. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen A. und Y. Arbeitslosenkasse (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_47/2008 vom 29. April 2008 | Regeste a
Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung;
Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG
.
Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage ist zu bejahen, wenn sie vom Bundesgericht unterschiedlich beantwortet wurde und unklar ist, welche Rechtsprechung massgebend ist (E. 1.3-1.5).
Regeste b
Arbeitsvertrag; Verlängerung des Arbeitsverhältnisses bei Schwangerschaft nach der Kündigung; Berechnung der Kündigungsfrist nach
Art. 336c Abs. 2 OR
.
Bestätigung der Rechtsprechung, wonach die Kündigungsfrist gemäss
Art. 336c Abs. 2 OR
durch Rückrechnung vom Endtermin aus zu bestimmen ist (E. 2 und 3). | Sachverhalt
ab Seite 354
BGE 134 III 354 S. 354
A.
A. (Arbeitnehmerin) war seit dem 5. Oktober 1992 bei der X. (Arbeitgeberin) als Verkäuferin angestellt. Seit dem 1. Januar 2006 betrug ihr Monatslohn, ausgehend von 16 Arbeitsstunden pro Woche, Fr. 1'645.- netto. Mit Schreiben vom 2. August 2006 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis aus wirtschaftlichen Gründen auf den 31. Dezember 2006. Mitte Dezember 2006 erfuhr die
BGE 134 III 354 S. 355
Arbeitnehmerin, dass sie schwanger war, und teilte dies der Arbeitgeberin umgehend mit. Zur Klärung der Sach- und Rechtslage wurde das Arbeitsverhältnis vorsorglich fortgesetzt. Die Arbeitnehmerin unterzeichnete einen Vertrag als Ferienaushilfe und wurde vom 1. Januar 2007 bis 24. Januar 2007 weiterhin beschäftigt, wofür sie Fr. 1'323.70 erhielt. Gemäss Arztzeugnis vom 12. Januar 2007 war ihre Schwangerschaft bereits vor Ende November 2006 eingetreten.
Am 23. Januar 2007 teilte die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin mündlich mit, das Arbeitsverhältnis werde nicht weitergeführt. Nach dem 24. Januar 2007 arbeitete die Arbeitnehmerin nicht mehr für die Arbeitgeberin. Mit Schreiben vom 25. Januar 2007 gab die Arbeitgeberin gegenüber der Arbeitnehmerin an, der Beginn der Schwangerschaft könne auf den 10. November 2006 festgelegt werden. Die dreimonatige Kündigungsfrist sei somit bereits vor dem Beginn der Sperrfrist abgelaufen gewesen, weshalb am Kündigungstermin festgehalten werde. Die bis zum 24. Januar 2007 erbrachten Arbeitsstunden würden als Ferienaushilfe vergütet. Mit Schreiben vom 26. Januar 2007 gab die Arbeitnehmerin - vertreten durch die Y. Arbeitslosenkasse - an, die Kündigungsfrist sei in die Sperrfrist gefallen, welche noch bis 16 Wochen nach der Geburt laufe. Das Arbeitsverhältnis dauere somit noch an, weshalb die Arbeitnehmerin ihre Arbeitskraft weiter anbiete. Auf dieses Schreiben reagierte die Arbeitgeberin nicht. Mit anwaltlichem Schreiben vom 9. März 2007 machte die Arbeitnehmerin erneut geltend, die Kündigungsfrist habe nach der Methode der Rückwärtsrechnung in der Sperrfrist gelegen, weshalb die Arbeitnehmerin bei der Arbeitgeberin weiter beschäftigt werden solle. Am 2. August 2007 gebar die Arbeitnehmerin ein Mädchen.
B.
Mit Klage vom 29. Mai 2007 belangte die Arbeitnehmerin (Klägerin 1) die Arbeitgeberin (Beklagte) beim Arbeitsgericht St. Gallen auf Zahlung von Fr. 6'992.30 brutto samt 5 % Zins seit dem 29. Mai 2007. Zur Begründung führte die Klägerin 1 aus, die Kündigung sei zur Unzeit erfolgt, weshalb sich das Arbeitsverhältnis bis Ende Mai 2007 verlängere. Für diese Zeit verlangte sie Lohn abzüglich des für den Januar 2007 erhaltenen Bruttolohns von Fr. 1'232.70.
Mit Schreiben vom 7. Juni 2007 beantragte die Y. Arbeitslosenkasse (Klägerin 2), im Prozess zwischen der Klägerin 1 und der Beklagten als Nebenklägerin zugelassen zu werden. In der Folge verlangte die Klägerin 2 von der Beklagten aus gesetzlicher Subrogation
BGE 134 III 354 S. 356
für an die Klägerin 1 ausbezahlte Arbeitslosentaggelder für die Monate Januar bis Mai 2007 Fr. 5'312.25 netto.
Mit Entscheid vom 27. September 2007 stellte das Arbeitsgericht St. Gallen fest, die Beklagte schulde aus dem Arbeitsverhältnis mit der Klägerin 1 Fr. 6'992.30 brutto nebst Zins zu 5 % seit dem 29. Mai 2007 und verpflichtete die Beklagte, vom sich daraus ergebenden Nettolohn Fr. 5'312.25 an die Klägerin 2 und den Rest an die Klägerin 1 zu bezahlen.
Zur Begründung führte das Arbeitsgericht zusammengefasst aus, bei der Hemmung der Kündigungsfrist gemäss
Art. 336c Abs. 2 OR
sei gemäss der Rechtsprechung von der Methode der Rückrechnung auszugehen. Dass das Bundesgericht mit dem abweichenden
BGE 131 III 467
eine Praxisänderung gewollt habe, sei nicht anzunehmen, da eine solche nicht begründet worden und auch nicht gerechtfertigt sei. Demnach dauere die Kündigungsfrist vom 1. Oktober 2006 bis zum 31. Dezember 2006. Der Beginn der Schwangerschaft am 10. November 2006 falle somit in die Kündigungsfrist und hemme diese gemäss
Art. 336c Abs. 2 OR
bis zum Ablauf der Sperrfrist gemäss
Art. 336c Abs. 1 lit. c OR
. Die Kündigungsfrist habe damit ab dem 10. November 2006 bis 16 Wochen nach der Geburt am 2. August 2006, d.h. bis zum 22. November 2007, stillgestanden. Die fehlenden 52 Tage der Kündigungsfrist bis zum 31. Dezember 2006 seien daran anzuhängen, so dass sich das Datum vom 13. Januar 2008 ergebe. Da gemäss Ziff. 15.1 lit. b des Landes-Gesamtarbeitsvertrages (L-GAV) für die X.-Gruppe die Kündigungsfrist jeweils auf das Ende eines Monats falle, ende das Arbeitsverhältnis gemäss
Art. 336c Abs. 3 OR
am 31. Januar 2008.
C.
Die Beklagte (Beschwerdeführerin) erhebt Beschwerde in Zivilsachen mit den Anträgen, der Entscheid des Arbeitsgerichts vom 27. September 2007 sei aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin 1 (Beschwerdegegnerin 1) schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Klägerin 2 (Beschwerdegegnerin 2) und das Arbeitsgericht liessen sich nicht vernehmen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.3
Die Beschwerde in Zivilsachen ist bei vermögensrechtlichen Angelegenheiten in arbeitsrechtlichen Fällen grundsätzlich nur
BGE 134 III 354 S. 357
zulässig, wenn der Streitwert mindestens Fr. 15'000.- beträgt (
Art. 74 Abs. 1 lit. a BGG
). Wird dieser Streitwert nicht erreicht, ist die Beschwerde ausnahmsweise dennoch zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt (
Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG
). Das ist der Fall, wenn ein allgemeines Interesse besteht, dass eine umstrittene Frage höchstrichterlich geklärt wird, um eine einheitliche Anwendung und Auslegung des Bundesrechts herbeizuführen und damit Rechtssicherheit herzustellen (vgl.
BGE 133 III 645
E. 2.4). Eine vom Bundesgericht bereits entschiedene Rechtsfrage kann von grundsätzlicher Bedeutung sein, wenn sich die erneute Überprüfung aufdrängt. Dies kann zutreffen, wenn die Rechtsprechung nicht einheitlich oder in der massgebenden Lehre auf erhebliche Kritik gestossen ist (vgl. Urteil 4A_216/2007 vom 13. September 2007, E. 1.3; BEAT RUDIN, Basler Kommentar, N. 51 zu
Art. 74 BGG
; KARIN MÜLLER, Einige Gedanken zum Begriff der "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" bei der Beschwerde in Zivilsachen nach dem neuen Bundesgerichtsgesetz, in: Isaak Meier et al. [Hrsg.], Wege zum Bundesgericht in Zivilsachen nach dem Bundesgerichtsgesetz, Zürich/St. Gallen 2007, S. 113 ff., 126). Ist eine Beschwerde nur unter der Voraussetzung zulässig, dass sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, so ist in der Beschwerdeschrift auszuführen, warum diese Voraussetzung erfüllt ist (
Art. 42 Abs. 2 BGG
).
1.4
Die Beschwerdeführerin bringt vor, es stelle sich die Frage, wie die Kündigungsfrist gemäss
Art. 336c Abs. 2 OR
zu bestimmen sei. In
BGE 131 III 467
E. 2.1 habe das Bundesgericht entgegen seiner früheren Praxis angenommen, die Kündigungsfrist beginne mit der Zustellung der Kündigung zu laufen, ohne von einer Praxisänderung zu sprechen. Im Entscheid 4C.230/2005 vom 1. September 2005, E. 1 kehre das Bundesgericht zu seiner bisherigen Praxis zurück, ohne auf den davon abweichenden
BGE 131 III 467
einzugehen. Im Rechtsalltag werde daher darüber spekuliert, welcher dieser Entscheide der "Ausreisser" sei. Es sei wünschbar, dass das Bundesgericht diese Frage beantworte, zumal die uneinheitliche Praxis auf kantonaler Ebene zu unterschiedlichen Entscheiden geführt habe. Die Beschwerdegegnerin stellt die grundsätzliche Bedeutung der zur Diskussion stehenden materiellen Rechtsfrage nicht in Abrede.
1.5
In der Lehre wird
BGE 131 III 467
kritisiert und die Meinung vertreten, das Bundesgericht habe damit wohl keine Änderung der Rechtsprechung vornehmen wollen (GABRIEL AUBERT, Calcul du
BGE 134 III 354 S. 358
délai de congé: revirement de jurisprudence?, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht und Arbeitslosenversicherung [ARV] 2005 S. 173 ff., 175; PORTMANN, Basler Kommentar, 4. Aufl. 2007, N. 12 zu
Art. 336c OR
). Das Bundesgericht ging im Urteil 4C.230/2005, E. 1 nicht auf den abweichenden
BGE 131 III 467
ein, weshalb nicht geklärt ist, ob mit diesem Entscheid eine Praxisänderung gewollt war. Damit besteht insoweit eine Rechtsunsicherheit, deren Beseitigung im allgemeinen Interesse liegt (JEAN-PHILIPPE DUNAND, Entre flexibilisation et protection: le droit du travail en évolution [2005-2007], in: Aktuelle Anwaltspraxis 2007 S. 315 ff., 324; vgl. auch WOLFGANG PORTMANN/JEAN-FRITZ STÖCKLI, Schweizerisches Arbeitsrecht, 2. Aufl., Zürich/Basel/Bern 2007, S. 202 Rz. 718, die angeben, die zukünftige Entwicklung sei ungewiss). Demnach ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu bejahen und auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde in Zivilsachen einzutreten.
2.
2.1
Art. 336c OR
mit der Marginalie "Kündigung zur Unzeit durch den Arbeitgeber" bestimmt:
"
1
Nach Ablauf der Probezeit darf der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis nicht kündigen:
a. während die andere Partei schweizerischen obligatorischen Militär- oder Schutzdienst oder schweizerischen Zivildienst leistet, sowie, sofern die Dienstleistung mehr als elf Tage dauert, während vier Wochen vorher und nachher;
b. während der Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden durch Krankheit oder durch Unfall ganz oder teilweise an der Arbeitsleistung verhindert ist, und zwar im ersten Dienstjahr während 30 Tagen, ab zweitem bis und mit fünftem Dienstjahr während 90 Tagen und ab sechstem Dienstjahr während 180 Tagen;
c. während der Schwangerschaft und in den 16 Wochen nach der Niederkunft einer Arbeitnehmerin;
d. während der Arbeitnehmer mit Zustimmung des Arbeitgebers an einer von der zuständigen Bundesbehörde angeordneten Dienstleistung für eine Hilfsaktion im Ausland teilnimmt.
2
Die Kündigung, die während einer der in Absatz 1 festgesetzten Sperrfristen erklärt wird, ist nichtig; ist dagegen die Kündigung vor Beginn einer solchen Frist erfolgt, aber die Kündigungsfrist bis dahin noch nicht abgelaufen, so wird deren Ablauf unterbrochen und erst nach Beendigung der Sperrfrist fortgesetzt.
3
Gilt für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Endtermin, wie das Ende eines Monats oder einer Arbeitswoche, und fällt dieser nicht mit dem Ende der fortgesetzten Kündigungsfrist zusammen, so verlängert sich diese bis zum nächstfolgenden Endtermin."
BGE 134 III 354 S. 359
2.2
In einem Entscheid aus dem Jahr 1989 ging das Eidgenössische Versicherungsgericht davon aus, der Beginn der Kündigungsfrist gemäss
Art. 336c Abs. 2 OR
sei durch Rückrechnung vom Endtermin aus zu bestimmen. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Zweck von
Art. 336c Abs. 2 OR
bestehe darin, dem gekündigten Arbeitnehmer trotz zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit eine ungekürzte Kündigungsfrist zu garantieren, damit er in der Lage ist, sich nach einer neuen Stelle umzusehen. Der Arbeitnehmer sei aber gerade gegen Ende seines gekündigten Arbeitsverhältnisses darauf angewiesen, dass eine allfällige Krankheit ihn beim Suchen einer Stelle möglichst nicht behindert. Dies treffe insbesondere dann zu, wenn Stellen in seiner Branche regelmässig kurzfristig besetzt werden. Der Zweck von
Art. 336c Abs. 2 OR
lasse sich demzufolge in befriedigender Weise nur verwirklichen, wenn die Möglichkeit der Stellensuche während der Schlussphase des bisherigen Arbeitsverhältnisses gewährleistet werde (
BGE 115 V 437
E. 3b S. 441). Das Bundesgericht hat diesen Entscheid später in konstanter Rechtsprechung bestätigt (Urteil 4C.383/1991 vom 23. Oktober 1992, E. 2, publ. in: SJ 1993 S. 366;
BGE 119 II 449
E. 2a; Urteil 4C.66/1994 vom 20. Juli 1994, E. 3a, publ. in: SJ 1995 S. 801;
BGE 121 III 107
E. 2a; Urteil 4C.331/2001 vom 12. Februar 2002, E. 3d). Davon abweichend nahm das Bundesgericht in einem publizierten Entscheid vom 14. April 2005 an, beim zeitlichen Kündigungsschutz beginne die Kündigungsfrist stets mit der Zustellung der Kündigung bzw. am darauf folgenden Tag zu laufen (
BGE 131 III 467
E. 2.1). Mit diesem Entscheid wurde jedoch keine Änderung der bisherigen Rechtsprechung beabsichtigt, da nicht darauf Bezug genommen und die Abweichung nicht begründet wurde. Dies wird dadurch bestätigt, dass das Bundesgericht in einem Urteil vom 1. September 2005 wieder gemäss früherer Praxis entschied (Urteil 4C.230/2005, E. 1). Demnach ist klarzustellen, dass diese Rechtsprechung nach wie vor massgebend ist.
3.
3.1
Die Beschwerdeführerin rügt, entgegen der Meinung des Arbeitsgerichts sei die vom Bundesgericht in
BGE 131 III 467
vorgesehene Lösung richtig.
Art. 336c Abs. 2 OR
bezwecke, dem Arbeitnehmer zur Suche nach einer neuen Stelle die volle Kündigungsfrist zu gewährleisten. Habe aber diese Frist zur Verfügung gestanden, gebe es gemäss
BGE 124 III 474
keinen Grund für eine nochmalige Verlängerung der Kündigungsfrist. Zudem sei verfehlt anzunehmen, der Arbeitnehmer brauche besonders gegen Ende des
BGE 134 III 354 S. 360
Arbeitsverhältnisses mehr Schutz. Nicht selten würden Arbeitnehmer nach der Mitteilung der Kündigung, z.B. aus Schock oder Verzweiflung darüber, vorübergehend arbeitsunfähig. In diesen Konstellationen verdiene der Arbeitnehmer ebenso Schutz wie in jenen, in denen er gegen Ende des Arbeitsverhältnisses krank werde. Dazu komme, dass die Bemühungen, eine neue Stelle zu finden, im Regelfall sofort nach Erhalt der Kündigung an die Hand genommen werden. Finde der Arbeitnehmer bald eine neue Stelle, so werde er sich im Regelfall auch nicht auf
Art. 336c Abs. 2 und 3 OR
berufen, wenn er gegen Ende des alten Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig werde. Habe indessen der Arbeitnehmer auch kurz vor Ende des Arbeitsverhältnisses noch keine neue Stelle gefunden, werde die nahtlose Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ungeachtet einer möglichen Arbeitsunfähigkeit immer unwahrscheinlicher. Daher sei die Beeinträchtigung bei der Stellensuche durch eine Krankheit in der Endphase des Arbeitsverhältnisses nicht mehr so belastend.
3.2
Mit diesen Vorbringen verlangt die Beschwerdeführerin eine Änderung der Rechtsprechung. Eine solche ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Gerichten ist es nicht verwehrt, eine bisher geübte Praxis zu ändern, wenn sie zur Einsicht gelangen, dass eine andere Rechtsanwendung dem Sinn des Gesetzes oder veränderten Verhältnissen besser entspricht. Eine Praxisänderung muss sich jedoch auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die umso gewichtiger sein müssen, je länger die als nicht mehr richtig erkannte bisherige Praxis befolgt wurde (
BGE 133 III 335
E. 2.3 mit Hinweisen). Ob die Voraussetzungen für eine Änderung der Rechtsprechung gegeben sind, ist im Folgenden zu prüfen.
3.3
Soweit sich die Beschwerdeführerin auf
BGE 124 III 474
beruft, lässt sie ausser Acht, dass dieser Entscheid bloss die Frage betrifft, ob eine Arbeitsunfähigkeit während der Fristverlängerung gemäss
Art. 366c Abs. 3 OR
ebenfalls zu einer Hemmung der Kündigung führe. Dies hat das Bundesgericht verneint, da diese Fristverlängerung nur bezwecke, beiden Parteien den Übergang des Arbeitsverhältnisses und den Ersatz des entlassenen Arbeitnehmers zu erleichtern (
BGE 124 III 474
E. 2b/aa S. 477). Die Annahme des Bundesgerichts, dass der Arbeitnehmer in der Regel speziell gegen Ende des Arbeitsverhältnisses darauf angewiesen ist, während der vollen Kündigungsfrist eine neue Stelle suchen zu können, vermag die Beschwerdeführerin nicht zu widerlegen. Sie bestreitet nicht, dass es Stellen gibt, welche kurzfristig besetzt werden.
BGE 134 III 354 S. 361
Zudem wird nach der allgemeinen Lebenserfahrung die Stellensuche - wenn sie nicht bereits vorher zum Erfolg geführt hat - gegen das Ende des Arbeitsverhältnisses intensiviert. Weiter kann entgegen der Annahme der Beschwerdeführerin nicht gesagt werden, dass nach der Wahrnehmung eines "Durchschnittsmenschen" die Kündigung den Lauf der Kündigungsfrist auslöse. Vielmehr ist diese Frist ausgehend vom Ende des Arbeitsverhältnisses zu bestimmen, wobei die Kündigung - anders als bei einer Rechtsmittelfrist - nicht innerhalb, sondern vor Beginn der Kündigungsfrist auszusprechen ist. Zudem trifft es nicht zu, dass bei der Anwendung der Methode der Rückwärtsrechnung die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers im Zeitpunkt der Kündigung unbeachtlich wäre, wenn er während der Kündigungsfrist wieder arbeitsfähig ist. Damit vermag die Beschwerdeführerin für eine Praxisänderung keine hinreichenden Gründe anzuführen. Solche sind auch nicht ersichtlich, zumal die neuere Lehre der bisherigen Rechtsprechung zustimmt (PORTMANN, a.a.O., N. 12 zu
Art. 336c OR
; PORTMANN/STÖCKLI, a.a.O., S. 202 Rz. 718; STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, 6. Aufl., Zürich 2006, N. 3 zu
Art. 336c OR
; BRUNNER/BÜHLER/WAEBER/BRUCHEZ, Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht, 3. Aufl., Basel 2005, N. 12 zu
Art. 336c OR
; AUBERT, Commentaire romand, N. 3 zu
Art. 336c-d OR
; HANS-PETER EGLI, in: Kren Kostkiewicz/Bertschinger/Breitschmied/Schwander [Hrsg.], Handkommentar OR, Zürich 2002, N. 14 zu Art. 336c in Verbindung mit N. 1 zu
Art. 335a OR
; offengelassen: AUBERT, Calcul du délai de congé, a.a.O., ARV 2005 S. 175 f.). An dieser Rechtsprechung ist daher festzuhalten. | null | nan | de | 2,008 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e18535d-21b3-4d86-a7e3-9413847a5424 | Urteilskopf
90 II 154
19. Arrêt de la Ie Cour civile du 19 mai 1964 dans la cause Roh contre Blanchard. | Regeste
Grundstückkauf;
Art. 216 OR
, 657 ZGB;
Art. 2 ZGB
.
Der Vertrag ist nichtig, wenn in der öffentlichen Urkunde nicht der wirkliche Kaufpreis angegeben wird (Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 1).
Rechtsmissbräuchliche Berufung auf den Formmangel? Zur Beantwortung dieser Frage hat der Richter alle Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen. Bejahung der Frage für den vorliegenden Fall (Erw. 2 und 3). | Sachverhalt
ab Seite 154
BGE 90 II 154 S. 154
A.-
Par acte authentique du 28 février 1959, Victor Roh a vendu à Louis Blanchard une villa pour le prix de 190 000 fr. payé à la signature du contrat. Sur cette somme, 5000 fr. sont restés bloqués chez le notaire, d'entente entre les parties, pour garantir les travaux de finition.
En réalité, le prix convenu était 220 000 fr. Roh a reçu de Blanchard un "dessous de table" de 30 000 fr.
Après que l'acheteur fut entré en possession de la villa, il se produisit une inondation due à la défectuosité d'un raccord d'amenée d'eau dans la salle de bains. En outre,
BGE 90 II 154 S. 155
la poutraison soutenant la dalle bétonnée du premier étage provenait de matériaux de démolition. Blanchard formula une prétention de ces deux chefs. Les parties envisagèrent un arrangement selon lequel Roh rachèterait la villa pour 250 000 fr., moins les 5000 fr. bloqués en main du notaire. Leurs conseils se mirent ensuite d'accord pour requérir un jugement prononçant la nullité de la vente.
Mais Blanchard changea d'avis et consulta un autre avocat. Le 8 janvier 1960, il revendit la villa à un tiers pour le prix de 265 000 fr.
B.-
Par exploit du 3 mai 1960, Blanchard assigna Roh en paiement de dommages-intérêts pour dégâts d'eau, malfaçons, retard de l'entrée en jouissance et moins-value de la poutraison.
Roh contesta les défectuosités alléguées par le demandeur. Il invoqua la nullité du contrat de vente et réclama, reconventionnellement, la somme de 50 000 fr. représentant la différence entre le prix de revente au tiers, 265 000 fr. et la somme qu'il avait reçue, 215 000 fr.; il précisait que Blanchard pourrait reprendre les 5000 fr. bloqués chez le notaire.
Statuant en seconde instance le 28 janvier 1964, la Deuxième Chambre de la Cour de justice du canton de Genève condamna Roh à payer à Blanchard 1663 fr. 85 à titre de dommages-intérêts pour malfaçons; elle confirma pour le surplus le jugement du Tribunal de première instance qui avait alloué à Roh la somme de 5000 fr. bloquée chez le notaire et rejeté toutes les autres conclusions des parties.
Dans les motifs de son arrêt, la Cour cantonale admet que la vente était nulle, vu l'inexactitude du prix indiqué dans l'acte authentique; toutefois, Roh abuse de son droit en se prévalant de la nullité uniquement pour résister à une réclamation fondée sur les malfaçons et les défauts des matériaux de construction de la villa, après l'échec de l'accord envisagé pour vider le litige à l'amiable; la vente ayant été exécutée, Roh ne saurait se prévaloir de
BGE 90 II 154 S. 156
sa propre faute, qui lui a permis de recevoir un "dessous de table" illégal, pour en faire constater la nullité.
C.-
Contre cet arrêt, Roh recourt en réforme en concluant au paiement de 50 000 fr. sous déduction des 5000 fr. bloqués chez le notaire. Il réclame ainsi la différence entre le prix d'achat réel et le prix de la revente par Blanchard. Il ne conteste plus l'indemnité de 1663 fr. 85 mise à sa charge.
L'intimé Blanchard conclut au rejet du recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Selon la jurisprudence, le contrat de vente immobilière conclu en la forme authentique doit mentionner, en particulier, le prix exact que l'acheteur s'engage à payer; si l'indication figurant dans l'acte ne correspond pas à la réalité, le contrat est nul (RO 86 II 36, 231, 260, 400;
87 II 30
). Il est vrai que la solution jurisprudentielle a été critiquée récemment par KARL SPIRO (Die unrichtige Beurkundung des Preises bei Grundstückskauf, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 70, 1964). Mais cet auteur part d'une prémisse erronée. Il affirme en effet que la loi n'exige la forme authentique que pour l'aliénation des immeubles, soit l'obligation du vendeur (op. cit., p. 16). Or son assertion est contraire au texte légal (art. 216 CO et 657 CC), à la jurisprudence constante et à la doctrine, qui soumet à la forme authentique tous les éléments essentiels du contrat (OSER/SCHÖNENBERGGER, n. 5 ad art. 216 CO; BECKER, n. 4 ibidem; HAAB, n. 15 ad art. 657 CC; MEIER-HAYOZ, n. 84 ss. ibidem). La critique développée sur cette base ne justifie donc pas un nouvel examen de la question.
2.
Le Tribunal fédéral a jugé à plusieurs reprises que le fait d'invoquer la nullité du contrat constitue un abus de droit s'il apparaît manifestement contraire aux règles de la bonne foi; pour dire s'il en est ainsi, le juge apprécie librement toutes les circonstances particulières de chaque
BGE 90 II 154 S. 157
espèce, sans être lié à des principes rigides (RO 78 II 227;
84 II 375
;
86 II 232
, 262, 400/401;
87 II 31
).
a) Si l'exécution volontaire du contrat par les deux parties n'empêche pas nécessairement d'en constater la nullité, elle représente néanmoins un élément très important à prendre en considération (RO 87 II 34 et références citées). En l'espèce, la vente a été complètement exécutée. L'acquéreur a été inscrit comme propriétaire au registre foncier. Il a payé le prix intégral en main du notaire. Peu importe que l'officier public ait conservé un montant de 5000 fr., conformément à la convention des parties, en garantie des défauts éventuels. Il a reçu cette somme pour le compte du vendeur.
b) Les parties ont discuté d'un accord selon lequel Roh aurait racheté la villa à Blanchard pour le prix de 245 000 fr. Elles n'ont pas envisagé de la sorte une annulation de la vente, qui eût entraîné la restitution de l'immeuble, d'une part, et du prix payé, 220 000 fr., d'autre part. Le recourant avait proposé, au contraire, un rachat à un prix plus élevé. Il est indifférent que les avocats des parties aient prévu de donner à ce rachat la forme d'un jugement prononçant la nullité de la vente. Ce qui est décisif, c'est que le recourant a consenti à ce que l'acquéreur disposât de l'immeuble en sa faveur, moyennant un prix supérieur à celui de la vente. Lors de ces tractations, les deux parties étaient conscientes, selon l'arrêt déféré, de l'invalidité du contrat qu'elles avaient conclu. Or le fait que le vendeur a racheté l'immeuble ne lui permet pas, en vertu des règles de la bonne foi, de se prévaloir de la nullité de la vente (RO 86 II 233).
c) Le recourant a bénéficié d'un "dessous de table" illégal. Une telle fraude procure des avantages aux deux parties qui y consentent. Non seulement elle permet d'éluder les droits de mutation, mais encore elle donne au vendeur la possibilité de dissimuler au fisc un gain en capital.
d) La juridiction cantonale constate en fait que le
BGE 90 II 154 S. 158
recourant a proposé le rachat de l'immeuble, puis, sa proposition rejetée, invoqué la nullité de la vente dans le seul dessein de se soustraire aux conséquences d'une réclamation de l'intimé fondée sur la moins-value et les malfaçons. Une pareille attitude est propre à constituer un élément de l'abus de droit (RO 78 II 229;
86 II 403
).
3.
Ayant exécuté délibérément la vente, proposé de racheter l'immeuble alors qu'il connaissait la nullité du contrat, profité de la fraude à laquelle il avait consenti et invoqué le vice à la seule fin de parer à une réclamation tirée de la garantie à raison des défauts de la chose vendue, le recourant a manifestement abusé de son droit (art. 2 al. 2 CC). En effet, il a cherché à détourner les art. 657 CC et 216 CO de leur but essentiel, qui est de protéger les parties contre une décision irréfléchie et de procurer l'assurance que leur volonté s'est exprimée clairement, correctement et complètement. C'est donc avec raison que la Cour cantonale a opposé l'abus de droit à la prétention du recourant.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral
Rejette le recours et confirme l'arrêt rendu le 28 janvier 1964 par la Deuxième Chambre de la Cour de justice du canton de Genève. | public_law | nan | fr | 1,964 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e2070b8-edd7-494f-8dd0-18b76902d308 | Urteilskopf
119 II 391
78. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. September 1993 i.S. Galerie X. gegen T. Inc. (Berufung) | Regeste
Internationales Privatrecht; örtliche Zuständigkeit, Gerichtsstandsvereinbarung.
1. Berufungsfähigkeit gemäss
Art. 49 OG
(E. 1).
2. Anwendbarkeit des Lugano-Übereinkommens (LU) in zeitlicher Hinsicht (Art. 54 Abs. 1 LU, Art. 17 Abs. 1 LU; E. 2).
3. Bedeutung des Formerfordernisses gemäss
Art. 5 Abs. 1 IPRG
(E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 391
BGE 119 II 391 S. 391
Die T. Inc. hat anlässlich einer von der Galerie X. am 22. Juni 1990 in Bern durchgeführten Auktion unter anderem die Pablo Picasso zugeschriebene graphische Arbeit "La Minotauromachie" für Fr. 2'150'000.-- zuzüglich 10% Kommission ersteigert. Aufgrund der langjährigen Geschäftsbeziehungen zwischen den Parteien wurde der Käuferin das Blatt ohne vorherigen Eingang der Zahlung zugestellt. Diese hat bis heute lediglich einen Teilbetrag des Kaufpreises bezahlt; offen sind anscheinend noch Fr. 1'814'755.--. Als Grund für die Nichtbezahlung macht die Käuferin geltend, der Druck trage entgegen den klägerischen Zusicherungen nicht die Unterschrift von Picasso.
Im Oktober/November 1991 erhob die T. Inc. gegen die Galerie X. eine Klage beim Bundeszivilgericht des südlichen Bezirks von New York.
BGE 119 II 391 S. 392
Streitgegenstand im amerikanischen Verfahren ist grundsätzlich auch der Auktionskauf vom 22. Juni 1990. Die Galerie X. klagte ihrerseits gegen die T. Inc. am 27. November 1991 beim Handelsgericht des Kantons Bern auf Zahlung eines Betrages von Fr. 1'887'975.-- nebst Zins. Auf Antrag der Beklagten beschränkte der Berner Instruktionsrichter das Verfahren auf die Fragen der Rechtshängigkeit der Streitsache und der örtlichen Zuständigkeit. Mit Urteil vom 14. Dezember 1992 wies das Handelsgericht die Klage mangels örtlicher Zuständigkeit zurück.
Gegen dieses Urteil führt die Galerie X. erfolglos Berufung beim Bundesgericht.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen selbständigen Entscheid eines oberen kantonalen Gerichts über die Zuständigkeit, der gemäss
Art. 49 Abs. 1 OG
wegen Verletzung bundesrechtlicher Zuständigkeitsvorschriften mit Berufung angefochten werden kann (vgl. auch GERHARD WALTER, Zum Zusammenhang von "Berufungsfähigkeit" und anwendbarem Recht, AJP/PJA 1993 S. 943 ff.). Die Verletzung zivilprozessualer Bestimmungen in Staatsverträgen ist ebenfalls mit Berufung zu rügen (
BGE 117 Ia 83
). Die Klägerin sieht eine Verletzung bundesrechtlicher Vorschriften über die internationale und die örtliche Zuständigkeit darin, dass das Handelsgericht
Art. 5 IPRG
nicht richtig und
Art. 113 IPRG
überhaupt nicht angewendet habe. Weiter beanstandet sie, dass die Vorinstanz die Gültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung nicht aufgrund von Art. 17 Abs. 1 des Lugano-Übereinkommens vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (LU) geprüft und bejaht habe. Die Berufung erweist sich somit grundsätzlich als zulässig.
2.
Die Klägerin richtet ihre Berufung vorab gegen die Nichtanwendung von Art. 17 Abs. 1 LU durch das Handelsgericht. Dieser Einwand stützt sich entgegen der Meinung der Beklagten auf eine Sachbehauptung, die bereits im kantonalen Verfahren aufgestellt worden ist, nämlich auf die Frage, ob eine gültige Gerichtsstandsvereinbarung vorliege. Der Einwand ist daher zulässig und vorweg zu prüfen, da die Zuständigkeitsregeln des Lugano-Übereinkommens gegenüber nationalen Zuständigkeitsvorschriften Vorrang haben und damit auch jene des IPRG verdrängen.
BGE 119 II 391 S. 393
Die Beklagte bestreitet, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 17 Abs. 1 LU im vorliegenden Fall in persönlich-räumlicher sowie in zeitlicher Hinsicht erfüllt sind. Sie wendet ein, die Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens seien für sie nicht massgebend, da sie ihren Sitz in den USA und damit nicht in einem Vertragsstaat habe. Ob für die Anwendbarkeit von Art. 17 des LU der Zuständigkeitsbezug zu einem Vertragsstaat ausreicht, kann hier offenbleiben, da das Übereinkommen bereits in zeitlicher Hinsicht keine Anwendung finden kann. Art. 54 Abs. 1 LU enthält den Grundgedanken der Nichtrückwirkung, der grundsätzlich für alle Bestimmungen gilt, also auch für Klagen, die sich auf eine Gerichtsstandsvereinbarung stützen. Für Klagen kommen die Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens nur dann zum Zuge, wenn diese im Zeitpunkt der Klageerhebung im betreffenden Staat Gültigkeit hatten (
BGE 119 II 72
und 79; Botschaft des Bundesrates zum Lugano-Übereinkommen vom 21. Februar 1990, BBl 1990 II 329; IVO SCHWANDER, Zeitlich gestaffelte Anwendbarkeit des Lugano-Übereinkommens, AJP/PJA 1992 S. 1145; MONIQUE JAMETTI GREINER, Überblick zum Lugano-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ZBJV 128/1992 S. 49; MADELEINE HOFSTETTER SCHNELLMANN, Die Gerichtsstandsvereinbarung nach dem Lugano-Übereinkommen, Diss. Basel 1992, S. 21 f. mit weiteren Hinweisen). Dies war vorliegend nicht der Fall, hat die Klägerin den Prozess doch mit Klage vom 27. November 1991 anhängig gemacht, d.h. vor dem 1. Januar 1992, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Lugano-Übereinkommens für die Schweiz. Entgegen der Auffassung der Klägerin vermag die Zuständigkeitsordnung des Übereinkommens bei Prozessen, die am 1. Januar 1992 bereits hängig waren, keine Änderung zu bewirken. Massgebend ist allein die Rechtslage bei Klageerhebung (IVO SCHWANDER, a.a.O., S. 1147; MADELEINE HOFSTETTER SCHNELLMANN, a.a.O., S. 23 mit Hinweisen).
3.
Für den Fall der Nichtanwendbarkeit von Art. 17 LU macht die Klägerin geltend, die zwischen den Parteien abgeschlossene Gerichtsstandsvereinbarung sei anhand von
Art. 5 IPRG
zu beurteilen und als gültig zu betrachten. Sie bringt insbesondere vor, das Handelsgericht gehe zu Unrecht davon aus, die Sachnorm von
Art. 5 IPRG
für die Form von Gerichtsstandsvereinbarungen im internationalen Privatrecht verlange die beidseitige Schriftlichkeit. Dass jede oder zumindest die sich verpflichtende Partei ihre Willenserklärung schriftlich abgeben müsse, sei nicht erforderlich. Wesentlich
BGE 119 II 391 S. 394
sei allein, dass die vereinbarte Gerichtsstandsklausel zu Beweiszwecken in Textform vorliege. Eine Gerichtsstandsvereinbarung könne durch Verwendung von Formularverträgen zustande kommen, die eine entsprechende Klausel enthielten; je nach Gewandtheit und Geschäftskundigkeit der Parteien seien verschieden strenge Massstäbe anzulegen. Mit den schriftlichen, in jedem Auktionskatalog enthaltenen Auktionsbedingungen könne der vereinbarte Gerichtsstand zweifelsfrei belegt werden. Die Anforderungen des Gesetzes seien damit erfüllt.
a)
Art. 5 Abs. 1 IPRG
lautet wie folgt:
"Gerichtsstandsvereinbarung
Für einen bestehenden oder für einen zukünftigen Rechtsstreit über vermögensrechtliche Ansprüche aus einem bestimmten Rechtsverhältnis können die Parteien einen Gerichtsstand vereinbaren. Die Vereinbarung kann schriftlich, durch Telegramm, Telex, Telefax oder in einer andern Form der Übermittlung, die den Nachweis der Vereinbarung durch Text ermöglicht, erfolgen. Geht aus der Vereinbarung nichts anderes hervor, so ist das vereinbarte Gericht ausschliesslich zuständig."
In formeller Hinsicht ist die Gerichtsstandsvereinbarung nach
Art. 5 IPRG
ein Vertrag sui generis. Sie bedarf der einfachen Schriftlichkeit. Nicht erforderlich ist, dass die Vereinbarung in einem gegenseitig unterzeichneten Vertragsdokument enthalten ist (Botschaft des Bundesrates zum IPRG-Gesetz vom 10. November 1982, BBl 1983 I 300). Dem Formerfordernis entspricht auch ein Briefwechsel, im Unterschied zu
Art. 13 OR
ebenso ein Schriftwechsel unter Verwendung moderner Kommunikationstechniken, soweit die Einigung der Parteien über eine Gerichtsstandsvereinbarung dadurch deutlich zum Ausdruck kommt. Notwendig ist, dass jede Partei ihre Willenserklärung schriftlich oder in einer der erwähnten andern Kommunikationsformen abgibt (HANS REISER, Gerichtsstandsvereinbarungen nach dem IPR-Gesetz, Diss. Zürich 1989, S. 124 f.; PAUL VOLKEN, Conflits de juridictions, entraide judiciaire, reconnaissance et exécution des jugements étrangers, in: Le nouveau droit international privé suisse, Lausanne 1988, S. 242; GABRIELLE KAUFMANN-KOHLER, La clause d'élection de for dans les contrats internationaux, Diss. Basel 1980, S. 99). Während sich das IPR-Gesetz gegenüber technischen Neuerungen im Bereich der Kommunikationstechnik aufgeschlossen zeigt und sich mit einer in ihrer Substanz aufs äusserste reduzierten Schriftform begnügt, die Schriftlichkeit an sich aber nicht in Frage stellt, haben das Europäische Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung in Zivil- und
BGE 119 II 391 S. 395
Handelssachen (GVÜ) sowie das Lugano-Übereinkommen gegenüber den im Handelsverkehr gebräuchlichen Formen des Vertragsschlusses eine Öffnung vollzogen und die Bedeutung der Schriftlichkeit im Handelsverkehr insofern relativiert, als u.U. der Nachweis durch Text entfallen kann. In bezug auf den letzteren Punkt sind die formellen Voraussetzungen der Gerichtsstandsvereinbarung im IPR-Gesetz folglich enger gesetzt als in den beiden Europäischen Übereinkommen (HANS REISER, a.a.O., S. 127; FRANK VISCHER, Das internationale Vertragsrecht nach dem neuen Schweizerischen IPR-Gesetz, BJM 1989 S. 185; ALFRED E. VON OVERBECK, Les élections de for selon la loi fédérale sur le droit international privé du 18 décembre 1987, in FS Max Keller, Zürich 1989, S. 618). Der klägerische Hinweis auf die bundesrätliche Botschaft, wonach von Kaufleuten angenommen werden dürfe, dass sie mit Handelsgebräuchen vertraut seien und deshalb mit Gerichtsstandsklauseln in Formularverträgen rechnen müssten (BBl 1983 I 301), bezieht sich auf den in Abs. 2 von
Art. 5 IPRG
ausgedrückten Schutzgedanken und ändert nichts daran, dass die Formvorschriften gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung auch von Kaufleuten einzuhalten sind.
b) Im Lichte dieser Ausführungen geht die Klägerin fehl mit ihrem Einwand, nach
Art. 5 IPRG
sei die beidseitige Schriftlichkeit nicht erforderlich. Die in den klägerischen Auktionsbedingungen enthaltene Gerichtsstandsklausel hätte die Beklagte vielmehr in einer der genannten Formen schriftlich annehmen müssen, um der Formvorschrift von
Art. 5 Abs. 1 IPRG
zu genügen. Wie von der Vorinstanz für das Bundesgericht im Berufungsverfahren verbindlich festgestellt und von der Klägerin zudem nicht in Abrede gestellt, mangelt es an einer solchen Annahme seitens der Beklagten. Die Klägerin geht lediglich davon aus, die Beklagte habe die in den Auktionsbedingungen enthaltene Gerichtsstandsklausel gekannt. Dies reicht zur Verbindlichkeit der Klausel nicht aus, da damit der angestrebte Schutzzweck der Formvorschrift von
Art. 5 Abs. 1 IPRG
, d.h. die nötige Sicherheit in bezug auf die Annahme einer Prorogation, nicht erreicht wird. Der vom Handelsgericht gezogene Schluss, die im vorliegenden Fall einseitig festgelegte Gerichtsstandsklausel sei ungültig und komme demzufolge zwischen den Parteien nicht zum Tragen, lässt sich daher nicht beanstanden. | public_law | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e208907-dd9a-4752-acc9-4b747f2eca98 | Urteilskopf
102 Ib 110
20. Arrêt de la Ire Cour civile du 4 mai 1976 dans la cause Consult Overseas Limited contre Office fédéral du registre du commerce | Regeste
Geschäftsfirmen.
Art. 952 OR
. Anwendung dieser Bestimmung auf die schweizerische Zweigniederlassung eines ausländischen Unternehmens. (Erw. 2, 4d).
Art. 944 Abs. 2 OR
, 45 und 46 HRegV. Begriff der territorialen Bezeichnung. Das Wort "overseas" ist keine solche Bezeichnung (Erw. 3).
Art. 944 Abs. 1 OR
, 44 Abs. 1 HRegV. Zulässigkeit der Firma "Consult Overseas limited, Vaduz, succursale de Genève" für die Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die ihre Tätigkeit vor allem ausserhalb Europas entfaltet (Erw. 4). | Sachverhalt
ab Seite 110
BGE 102 Ib 110 S. 110
A.-
La société Consult Overseas Limited, qui a son siège à Vaduz (Liechtenstein), a fait inscrire au registre du commerce de Genève sa succursale de ce lieu, sous la raison sociale "Consult Overseas Limited, Vaduz, succursale de Genève".
Par décision du 23 janvier 1976, l'Office fédéral du registre du commerce a informé le préposé au registre du commerce de Genève qu'il ne pouvait admettre cette inscription, la désignation "Overseas"
BGE 102 Ib 110 S. 111
tombant sous le coup de l'art. 46 ORC et aucune demande d'autorisation selon cette disposition n'ayant été présentée. L'Office relevait encore qu'il manquait à la raison l'élément d'individualisation exigé par la jurisprudence du Tribunal fédéral.
Le 28 janvier 1976, le préposé au registre du commerce de Genève a informé la société de cette décision.
B.-
Consult Overseas Limited forme devant le Tribunal fédéral un recours de droit administratif concluant à l'annulation de la décision du 23 janvier 1976, le préposé au registre du commerce de Genève étant invité à procéder à l'inscription de la société "Consult Overseas Limited, Vaduz, succursale de Genève".
L'Office intimé propose le rejet du recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
La décision attaquée, soit la lettre du 23 janvier 1976 par laquelle l'Office a invité le préposé au registre du commerce de Genève à refuser la raison sociale inscrite, constitue un refus d'approuver une inscription au sens de l'art. 117 ORC. Le recours de droit administratif est ouvert contre une telle décision, même si le refus s'est manifesté sous la forme d'instructions internes adressées au préposé (RO 91 I 361 consid. 1 et les citations).
2.
La succursale suisse d'une entreprise dont le siège principal est à l'étranger est soumise, comme celle d'une maison suisse, à l'art. 952 al. 1 CO (RO 90 II 200 consid. 4, 93 I 563): elle doit avoir la même raison que l'établissement principal, avec la faculté d'y apporter une adjonction spéciale, qui ne s'adapte qu'à elle. L'art. 952 al. 2 prescrit en outre l'indication du siège de l'établissement principal et de la succursale et la désignation de celle-ci avec sa qualité. L'entreprise étrangère qui veut installer une succursale en Suisse doit se conformer à la législation de ce pays; la succursale suisse ne peut être inscrite au registre du commerce que si sa raison est conforme aux prescriptions impératives du droit public suisse relatives à la formation des raisons de commerce (RO 91 I 563, 102 Ib 16).
3.
L'Office considère le mot "Overseas" comme une désignation territoriale au sens des art. 944 al. 2 CO et 46 ORC;
BGE 102 Ib 110 S. 112
il s'agit en effet, dit-il, d'une "référence à des territoires et singulièrement... aux territoires coloniaux", qui vise à désigner, pour les Européens, les terres situées hors du continent européen et au-delà des mers.
La recourante conteste que le mot "Overseas" constitue une désignation territoriale, celle-ci supposant l'indication d'un certain espace géographique.
a) Par désignation territoriale au sens des art. 944 al. 2 CO et 46 ORC, la jurisprudence entend non seulement le territoire d'un Etat ou d'une partie administrativement déterminée de celui-ci, comme les cantons, districts et communes, mais aussi toute région géographique (RO 86 I 247 s., 96 I 611). Il faut comprendre par là la désignation d'un territoire défini, même s'il ne constitue pas une circonscription politique ou administrative, tel qu'un continent, une région, une province, une île, etc. Echappent en revanche à la réglementation des art. 45-46 ORC des désignations indéterminées concernant le monde, la terre, l'océan, la mer, etc.
b) En l'espèce, le mot anglais "Overseas" correspond exactement à la locution adverbiale française "outre-mer". Il qualifie ce qui se trouve au-delà de la mer (cf. les dictionnaires français Larousse, Littré, Robert et, sous le mot "overseas", Harrap's Dictionary). Il n'évoque pas un territoire précis, défini par des frontières géographiques, et s'apparente à la désignation "international" dont le Tribunal fédéral a nié le caractère territorial au sens des art. 944 al. 2 CO et 46 ORC (RO 87 I 306 s. consid. 1, 93 I 564 consid. 3, 95 I 279 consid. 2). Peu importe qu'en France, l'expression "outremer" désigne aussi certains départements et territoires déterminés, par opposition à la France métropolitaine.
c) L'Office fait valoir qu'il a régulièrement considéré le terme "overseas" comme une désignation territoriale ou "quasi territoriale". Cette dernière notion est toutefois étrangère à la législation sur la formation des raisons de commerce et elle ne saurait être introduite pour étendre la notion de désignation territoriale, telle qu'on vient de la définir.
d) Le mot "Overseas" ne constituant pas une désignation territoriale, la raison sociale litigieuse n'est pas soumise à la procédure d'autorisation des art. 45 et 46 ORC, et elle doit être admise si elle répond aux exigences ordinaires de la loi.
BGE 102 Ib 110 S. 113
4.
La raison de commerce qui vise à individualiser l'entreprise peut contenir des indications sur la nature de celle-ci, pourvu qu'elle soit conforme à la vérité, ne puisse induire en erreur et ne lèse aucun intérêt public (art. 944 al. 1 CO). Elle ne doit pas renfermer de désignations servant uniquement de réclame (art. 44 al. 1 ORC).
a) Selon l'art. 3 des statuts de la recourante, dont les administrateurs sont domiciliés à Vaduz, au Sierra Leone et au Liban, le but de la société consiste dans des conseils pour la promotion, le financement et la réalisation de projets commerciaux, immobiliers et industriels, des activités d'entrepreneur, transactions commerciales, participations, etc. "im In- Oser Ausland". Il ressort d'une lettre-circulaire du 17 mars 1969 que la société offre ses services à des entreprises internationales désirant pénétrer dans les marchés du Moyen-Orient et d'Afrique orientale et occidentale. Les termes "Consult Overseas", que la recourante se propose d'employer dans la raison de sa succursale de Genève, sont conformes au but ainsi défini, et répondent dès lors à l'exigence de la véracité.
b) Considérant que "c'est une vérité première pour les sociétés de conseils que d'étendre leur rayon d'action vers les pays d'outre-mer" et que "cela n'est donc pas un caractère spécifique de la recourante", l'Office est d'avis que la désignation "Overseas" aboutirait à conférer à celle-ci, par rapport à ses concurrents, une "prééminence, ou en tout cas une importance particulière" que rien ne justifierait; la recourante apparaîtrait comme "la société de conseils pour les pays d'outremer", ce qui tromperait le public et avantagerait indûment la titulaire d'une raison aussi prestigieuse.
Cette argumentation méconnaît que la raison litigieuse se borne à indiquer la nature et le caractère intercontinental des services offerts par la recourante. Ces indications, conformes à la réalité, ne renferment pas d'appréciation sur la qualité desdits services ni sur l'importance de l'entreprise; contrairement à ce que déclare l'Office, elles n'opèrent donc pas une distinction qualitative entre la recourante et ses concurrents. La désignation "Overseas" n'apparaît pas non plus motivée seulement par le souci de la réclame et ne contrevient dès lors pas à l'art. 44 al. 1 ORC. Rien ne s'oppose à ce qu'une société choisisse une raison attrayante, pourvu qu'elle soit conforme à la vérité et ne puisse induire en erreur.
BGE 102 Ib 110 S. 114
c) L'Office considère à tort que la raison litigieuse est assimilable à celle de "Inkasso AG", récemment refusée par le Tribunal fédéral (RO 101 Ib 362). Dans cet arrêt, le Tribunal fédéral laisse ouverte la question de savoir si, pour le lecteur moyen, une désignation aussi générale que "Inkasso AG" suscite l'impression que l'entreprise en question occupe une position dominante sur le marché et si elle doit être considérée comme trompeuse et servant uniquement de réclame (consid. 5b). Relevant que l'art. 944 al. 1 CO n'autorise des indications sur la nature de l'entreprise que "outre les éléments essentiels prescrits par la loi" et que la raison de commerce a pour but d'individualiser une entreprise et de la distinguer des autres, la cour de céans a admis qu'il n'était pas contraire à cette disposition de refuser une raison formée uniquement d'une désignation générique parce qu'elle en assurerait le monopole à son titulaire (consid. 5d). Ces considérations ne s'appliquent pas en l'espèce. Conformément à l'art. 952 al. 2 CO, la raison litigieuse indique le siège de l'établissement principal de la recourante et celui de la succursale, la qualité de celle-ci étant expressément mentionnée. Compte tenu de tous ces éléments, elle ne saurait être comparée à une raison formée d'une seule désignation générique, et elle est propre à distinguer l'entreprise titulaire tant de la société mère que des maisons concurrentes.
d) Selon l'art. 952 CO, la raison de commerce des succursales doit être la même que celle de l'établissement principal (al. 1), avec les adjonctions prescrites par la loi pour les succursales d'entreprises étrangères. En l'espèce, la Suisse et le Liechtenstein sont parties à la Convention de Paris pour la protection de la propriété industrielle, dans sa teneur de Stockholm du 14 juillet 1967, dont l'art. 8 prévoit la protection du nom commercial dans tous les pays de l'Union. Bien que la succursale suisse d'une entreprise étrangère doive se conformer au droit suisse, pour la formation de sa raison sociale (cf. consid. 2 ci-dessus), il convient d'observer une certaine réserve dans l'appréciation des raisons de commerce d'entreprises établies dans les pays parties à l'Union pour la protection de la propriété industrielle, dans la mesure où elles ne sont pas contraires à l'ordre public suisse. Or tel n'est manifestement pas le cas en l'occurrence.
BGE 102 Ib 110 S. 115
5.
La raison de commerce "Consult Overseas Limited, Vaduz, succursale de Genève" étant conforme aux prescriptions légales, l'inscription de cette raison au registre du commerce de Genève est valable et la décision du 23 janvier 1976 refusant de l'approuver doit être annulée.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral:
Admet le recours et annule la décision de l'Office fédéral du registre du commerce du 23 janvier 1976. | public_law | nan | fr | 1,976 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2e215c74-a70a-4e4c-a03d-3d454b0d2bd9 | Urteilskopf
116 Ia 78
14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. Februar 1990 i.S. L. gegen Gemeinde Arosa und Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 86 Abs. 2 OG
;
Art. 33 RPG
(Ortsplanungsrevision).
Zu den Rechtsmitteln, die zur Erschöpfung des Instanzenzugs gemäss
Art. 86 Abs. 2 OG
ergriffen werden müssen, gehören auch die Einsprachen oder Beschwerden gegen die Zonenpläne der Gemeinden im kantonalen Genehmigungsverfahren. | Sachverhalt
ab Seite 78
BGE 116 Ia 78 S. 78
A.-
Die Stimmberechtigten der Gemeinde Arosa hiessen an der Gemeindeabstimmung vom 4. Dezember 1988 eine Totalrevision der Ortsplanung gut. Das Ergebnis der Urnenabstimmung wurde am 9. Dezember 1988 öffentlich bekanntgemacht.
B.-
Nach Ablauf der Beschwerdefrist von 20 Tagen ersuchte der Gemeinderat Arosa mit Schreiben vom 5. Januar 1989 die Regierung des Kantons Graubünden um Genehmigung der revidierten Ortsplanung. Am 9. Januar 1989 gelangte auch L. an die Regierung, um darauf hinzuweisen, dass die neue Ortsplanung sie in ihren verfassungsmässigen Rechten verletze. Mit Beschluss vom 18. September 1989 genehmigte die Regierung die Ortsplanung, wobei sie verschiedene, für das vorliegende Verfahren jedoch nicht
BGE 116 Ia 78 S. 79
wesentliche Vorbehalte anbrachte. Aus dem Beschluss ergibt sich auch, dass die Eingabe von L. nicht als Beschwerde entgegengenommen und behandelt wurde.
C.-
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 26. Oktober 1989 gelangt L. an das Bundesgericht, wobei sie geltend macht, die genehmigte Ortsplanung verletze die Eigentumsgarantie. Auf einen Schriftenwechsel wurde verzichtet (
Art. 93 OG
).
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten ist (
BGE 114 Ia 308
E. 1a).
a) Die Beschwerdeführerin geht davon aus, dass die neue Ortsplanung erst mit Genehmigung durch die Regierung in Kraft trete (Art. 37 Abs. 3 des Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden vom 20. Mai 1973; KRG). Soweit Erlasse von Gemeinden zu ihrer Verbindlichkeit der Genehmigung durch die Regierung bedürften, könne der Genehmigungsbeschluss angefochten werden. Dabei könne sie geltend machen, die Ortsplanung verletze ihre verfassungsmässigen Rechte, selbst wenn sie die Gemeindeabstimmung über die Bau- und Zonenordnung nicht angefochten habe.
b) Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger sind - abgesehen von hier nicht vorliegenden Ausnahmen - erst zulässig, nachdem von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht worden ist (
Art. 86 Abs. 2 OG
). Dass ein Gemeindeerlass erst mit Genehmigung durch die Regierung in Kraft tritt, ändert daran nichts. Wesentlich ist allein, ob gegen den Beschluss über den Erlass kantonale Rechtsmittel zur Verfügung stehen, die zu dessen Aufhebung führen können (vgl.
BGE 103 Ia 363
).
Das bündnerische Recht sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, gegen Gemeindeabstimmungen über die Bau- und Zonenordnung innert 20 Tagen seit der öffentlichen Bekanntgabe bei der Regierung Beschwerde zu führen (
Art. 37a KRG
). Soweit es um Nutzungspläne geht, zu denen auch die kommunalen Zonenpläne zählen, ist ein solches kantonales Rechtsmittel bereits durch das Bundesrecht vorgeschrieben (
Art. 33 RPG
). Danach sind Nutzungspläne öffentlich aufzulegen, und das kantonale Recht hat wenigstens ein Rechtsmittel gegen Nutzungspläne vorzusehen, das
BGE 116 Ia 78 S. 80
die Legitimation im gleichen Umfange wie für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht und die volle Überprüfung durch wenigstens eine Beschwerdebehörde gewährleistet. Als Rechtsmittelinstanz kann die Regierung, welche auch Genehmigungsbehörde ist, bezeichnet werden (
BGE 114 Ia 235
E. 2b). Dieser Regelung entspricht das angeführte Bündner Recht.
Mit der Beschwerde an die Regierung gegen den Gemeindebeschluss können u.a. sämtliche Rügen vorgebracht werden, welche auch in einer staatsrechtlichen Beschwerde erhoben werden können (
Art. 37a Abs. 2 KRG
). Auch kann die Regierung, wenn sie die Beschwerde ganz oder teilweise gutheisst, die dem Beschwerdeführer zugefügten Nachteile beseitigen (
Art. 37a Abs. 3 KRG
). Somit hätte die Beschwerdeführerin die Möglichkeit gehabt, ein kantonales Rechtsmittel gegen die Ortsplanung zu ergreifen, mit welchem die behauptete Verletzung von
Art. 22ter BV
hätte behoben werden können; hiezu gehören auch Einsprachen oder Beschwerden gegen Zonenpläne der Gemeinden (
BGE 112 Ia 183
E. 1c;
BGE 106 Ia 57
E. 1a; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1984, S. 281). Da die Beschwerdeführerin es unterlassen hat, eine solche Beschwerde bei der Regierung zu erheben, liegt kein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid über ihre Einwendungen vor (
Art. 86 Abs. 2 OG
). Somit darf auf ihre staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden. | public_law | nan | de | 1,990 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2e28bb62-9941-44bc-a304-df3e01aef6b0 | Urteilskopf
85 III 81
19. Entscheid vom 3. März 1959 i.S. Wäspe. | Regeste
1. Miteigentumsanteil an einem Grundstück. Verwertung:
a) Für das Verwertungsbegehren gilt die Frist, wie sie
Art. 116 SchKG
für das Begehren um Verwertung einer gepfändeten Liegenschaft vorsieht (Erw. 1).
b) Voraussetzungen der Anordnung einer öffentlichen Versteigerung der ganzen Liegenschaft nach
Art. 73, b VZG
(Erw. 2).
2. Den vom Gläubiger zu leistenden Kostenvorschuss (
Art. 68 SchKG
) darf das Betreibungsamt erhöhen, wenn sich der zuerst verlangte Betrag bei neuer Prüfung des zu erwartenden Aufwandes, namentlich bei genauerer Bestimmung der zu treffenden Massnahmen (hier: für eine Liegenschaftsverwertung) als ungenügend erweist (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 82
BGE 85 III 81 S. 82
A.-
In der von Wäspe gegen Frau Kunz angehobenen Betreibung pfändete das Betreibungsamt Altstätten am 15. März 1958 den Miteigentumsanteil der Schuldnerin an einer Liegenschaft und bemerkte in der Pfändungsurkunde, das Verwertungsbegehren könne vom 15. April 1958 bis 14. März 1959 gestellt werden. Der Gläubiger verlangte die Verwertung am 15. April 1958 und zahlte am 23. April den vom Betreibungsamt verlangten Kostenvorschuss von Fr. 80.- ein. Infolge eines Verwertungsaufschubs erhielt er diesen Vorschuss am 7. August zurück. Da die Schuldnerin aber die Bedingungen des Aufschubes nicht einhielt, leistete der Gläubiger jenen Vorschuss im November nochmals, um die Verwertung zu erwirken. Als hierauf die vom Betreibungsamt um die Bestimmung des Verfahrens angegangene Aufsichtsbehörde die Versteigerung der ganzen Liegenschaft anordnete, sah sich das Betreibungsamt veranlasst, den Vorschuss höher zu bemessen. Es bestimmte ihn auf Fr. 400.-- und benachrichtigte den Gläubiger zugleich von der durch die Aufsichtsbehörde getroffenen Anordnung.
B.-
Der Gläubiger kam dieser Vorschussverfügung nicht nach, sondern focht sie durch Beschwerde an. Den
BGE 85 III 81 S. 83
diese abweisenden Entscheid der untern Aufsichtsbehörde zog er weiter "wegen Nichtdurchführung der Verwertung und Überforderung des Kostenvorschusses", was eine Rechtsverweigerung bedeute. Zur Begründung führte er aus, die Kosten der Verwertung seien seit dem Verwertungsbegehren keineswegs um das Fünffache gestiegen. Da das Betreibungsamt seinerzeit einen Vorschuss von Fr. 80- als angemessen erachtet habe, sei es verpflichtet, die Verwertung nun infolge dieser Vorschussleistung durchzuführen. Die obere Aufsichtsbehörde bestätigte jedoch am 30. Januar 1959 den erstinstanzlichen Beschwerdeentscheid.
C.-
Mit vorliegendem Rekurs an das Bundesgericht beharrt Wäspe darauf, dass "die Verwertung gemäss geleistetem Vorschuss von Fr. 80.- durchzuführen" sei. Er erneuert die früher vorgebrachte Begründung und fügt bei: "Wenn das Betreibungsamt und die Aufsichtsbehörde behaupten wollen, es sei die ganze Liegenschaft zu versteigern, ist mir das unverständlich, da ein nicht gepfändeter Gegenstand meines Erachtens nicht versteigert werden darf."
Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 116 SchKG
kann die Verwertung einer gepfändeten Liegenschaft frühestens sechs Monate und spätestens zwei Jahre nach der Pfändung verlangt werden. Was für die Liegenschaft als solche, gilt auch für einen Miteigentumsanteil daran, wie denn die Vorschriften der Verordnung über die Zwangsverwertung von Grundstücken ausdrücklich als auch auf Miteigentumsanteile an Grundstücken anwendbar erklärt worden sind (
Art. 1 Abs. 1 VZG
), im Unterschied zu Anteilen an Gemeinschaftsvermögen (Gesamteigentum), gleichgültig ob dieses Grundstücke mitumfasst oder sogar ausschliesslich aus einem oder mehreren Grundstücken besteht (
Art. 1 Abs. 2 VZG
). Dem entspricht es, dass zur Pfändung und Verwaltung des Miteigentumsanteils an einem Grundstück stets das
BGE 85 III 81 S. 84
Betreibungsamt der gelegenen Sache zuständig ist (
Art. 23 und 24 VZG
), während der Anteil an einem im Gesamteigentum stehenden Grundstück, gleichgültig wo dieses liegt, am Wohnort des Schuldners zu pfänden ist (
Art. 2 VVAG
). Infolgedessen untersteht die Verwertung eines Miteigentumsanteils an einem Grundstück namentlich auch dem eingangs erwähnten
Art. 116 SchKG
, wobei dann für den Verwertungsvollzug die besonderen Vorschriften des
Art. 73 VZG
und der Ziffern 31 ff. der Anleitung zur VZG zu beachten sind. Im vorliegenden Fall hätte die Verwertung also frühestens am 15. September 1958 verlangt werden dürfen, und hierauf hätte die Schuldnerin unter den Voraussetzungen der Art. 123/133 SchKG und 32 VZG einen Aufschub erlangen können, wie er ihr mit Rücksicht auf das vom Betreibungsamt nicht zurückgewiesene verfrühte Verwertungsbegehren bereits im Mai 1958 für vier Monate bewilligt wurde. Nun mag zwar das über den 15. September 1958 hinaus aufrecht erhaltene Verwertungsbegehren als an diesem Tag erneuert gelten. Da aber die seinerzeit erfolgte Befristung der Abzahlungsraten nach dem Gesagten der rechtlichen Grundlage entbehrte, bleibt der Schuldnerin vorbehalten, die Rechtswohltat des
Art. 123 SchKG
neuerdings in Anspruch zu nehmen, sofern sie deren Bedingungen zu erfüllen bereit ist.
2.
Erst im Rekurs an das Bundesgericht wendet sich der Gläubiger gegen die "Behauptung" von Betreibungsamt und Aufsichtsbehörde, es sei die ganze Liegenschaft zu versteigern. Er erklärt, es wäre gesetzwidrig und willkürlich, etwas zu versteigern, was nicht gepfändet wurde. Zunächst ist fraglich, ob dieser neue Beschwerdepunkt noch in Betracht zu ziehen sei (
Art. 79 Abs. 1 Satz 2 OG
). Abgesehen davon indessen, dass ein von Amtes wegen zu beachtender Nichtigkeitsgrund in Frage steht, hat der Gläubiger erst aus dem Entscheid der obern kantonalen Aufsichtsbehörde deutlich ersehen können, dass die Liegenschaft als Ganzes, nicht bloss der einzig gepfändete Miteigentumsanteil der Schuldnerin zur Versteigerung kommen solle.
BGE 85 III 81 S. 85
Weder der Hinweis auf die von der untern Aufsichtsbehörde angeordnete Art des Verfahrens in der Aufforderung des Betreibungsamtes vom 24. Dezember 1958 zur Einsendung eines Vorschusses, noch die Ausführungen des erstinstanzlichen Beschwerdeentscheides hatten dies klar und eindeutig ausgesprochen. Die vom Gläubiger wegen der Verwertungsart erhobene Rüge ist jedoch unbegründet. Aus den vom Bundesgericht gemäss
Art. 81 OG
beigezogenen weitern amtlichen Akten ergibt sich, dass die Liegenschaft im alleinigen Miteigentum der Schuldnerin und ihres Ehemannes steht, dass gegen beide Miteigentümer Betreibungen laufen und beide Miteigentumsanteile gepfändet sind, und dass die Liegenschaft verpfändet ist. Unter diesen Umständen hat das Betreibungsamt mit Recht nach
Art. 132 SchKG
und
Art. 73, b VZG
die Aufsichtsbehörde um Bestimmung des Verfahrens angegangen. Freilich schreibt
Art. 73,b VZG
vor, die Aufsichtsbehörde solle zunächst eine Verständigung unter den andern Miteigentümern und den Pfandgläubigern über die Auflösung des Miteigentumsverhältnisses herbeizuführen suchen (vgl.
BGE 65 III 84
). Wenn die Aufsichtsbehörde im vorliegenden Falle davon absah, hat sie jedoch, da die Anteile beider Miteigentümer gepfändet sind, das ihr nach Art. 132 Sch KG zustehende Ermessen nicht überschritten (vgl.
BGE 68 III 181
ff.). Bei der gegebenen Sachlage kommt auch eine körperliche Teilung der Liegenschaft nicht in Frage, die aus einem Wohnhaus mit einem Platz von 62 m2 Fläche besteht. Somit bleibt nach
Art. 73,b VZG
nur die Versteigerung der ganzen Liegenschaft übrig, und zwar die öffentliche Versteigerung, da eine solche unter den Miteigentümern eine Mehrzahl von Beteiligten ausser dem Schuldner voraussetzen würde (
BGE 51 III 110
,
BGE 79 III 28
am Ende von Nr. 7).
3.
Was die Bemessung des Kostenvorschusses betrifft, handelt es sich um eine vom Bundesgericht nicht nachzuprüfende Frage der Angemessenheit (Art. 19 im Gegensatz zu den für die kantonalen Beschwerdeinstanzen geltenden
BGE 85 III 81 S. 86
Art. 17 und 18 SchKG
). Nur Missbrauch oder offensichtliche Überschreitung des Ermessens wäre als Gesetzwidrigkeit zu bezeichnen. Von einem solchen Verstosse kann jedoch bei der vorliegenden Vorschussbemessung nicht gesprochen werden. Die Abrechnung über die wirklichen Kosten bleibt ohnehin vorbehalten. Zu Unrecht beruft sich der Gläubiger auf die früher erfolgte Bemessung auf Fr. 80.-, die er bei gleichgebliebenem Kostenstand für unabänderlich hält. Die Vorschusspflicht nach
Art. 68 SchKG
bezieht sich auf die wirklichen (oder, wenn nicht genau bestimmbar, vermutlich zu erwartenden) Kosten der auszuführenden Amtshandlungen. Die Bemessung des Vorschusses unterliegt daher der Berichtigung, wenn sie sich bei neuer Prüfung, zumal bei genauerer Festlegung des einzuzahlenden Vorgehens, als zur Deckung des bevorstehenden Aufwandes ungenügend erweist.
Dispositiv
Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:
Der Rekurs wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,959 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e2b22c8-c2f8-470c-9c3b-1d1dc30f2b6e | Urteilskopf
98 V 95
26. Auszug aus dem Urteil vom 19. Januar 1972 i.S. Friedli gegen Ausgleichskasse VATI und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | Regeste
Art. 12 IVG
und 2 IVV.
- Physiotherapie in Lähmungsfällen: Bestätigung und Präzisierung der Praxis.
- Alleinige Kompetenz des Bundesrates, Teilgebiete im Bereich der medizmischen Massnahmen gesondert zu ordnen. | Sachverhalt
ab Seite 95
BGE 98 V 95 S. 95
A.-
Bei der 1942 geborenen Johanna Friedli, die im Jahre 1961 an Poliomyelitis erkrankt war, bestehen noch mehrere Restlähmungen. Die Invalidenversicherung gewährte ihr zahlreiche Eingliederungsmassnahmen. Mit Verfügung vom 13. Februar 1969 sprach ihr die Ausgleichskasse VATI bis 31. März 1973 erneut medizinische Massnahmen zu. Im Sommer 1970 hob sie jene Verfügung jedoch mit sofortiger Wirkung wieder auf, weil nach der neuern Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts die Physiotherapie, insbesondere die Badekuren, in Lähmungsfällen gegen sekundäres pathologisches Geschehen gerichtet sei. In diesem Sinn verfügte die Kasse am 28. Juli 1970.
B.-
Auf Beschwerde hin verpflichtete das Verwaltungs gericht des Kantons Bern die Invalidenversicherung, die Kosten
BGE 98 V 95 S. 96
der Badekur, die Johanna Friedli bei Erlass der Verfügung vom Februar 1969 bereits begonnen hatte, noch zu übernehmen. Im übrigen wies es die Beschwerde mit Entscheid vom 21. Dezember 1970 ab.
C.-
Die Versicherte liess gegen diesen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde einreichen und beantragen, "es seien die Kosten für die notwendige Therapie, einschliesslich der jährlichen Badekuren, als medizinische Eingliederungsmassnahmen weiterhin von der Invalidenversicherung zu übernehmen"...
Die Ausgleichskasse trägt auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an...
Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt in einer grundsätzlichen Vernehmlassung die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde... Es erblickt zwischen den vom Eidg. Versicherungsgericht aufgestellten Grundsätzen zu
Art. 12 IVG
und dem Willen des Gesetzgebers, auch Massnahmen zur Bewahrung der Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung als Invalidenversicherungsleistungen vorzusehen, "eine gewisse Unvereinbarkeit". Medizinische Massnahmen, die bezwecken, die Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren, seien nämlich ihrer Art nach stabilisierende Vorkehren, die in der Regel gegen das Fortschreiten labilen pathologischen Geschehens gerichtet seien. Aus den Vorarbeiten zur Revision des Invalidenversicherungsgesetzes von 1968 gehe deutlich hervor, dass mit dem Verzicht auf die bisher in
Art. 2 IVV
enthaltene zeitliche Beschränkung eine wiederholte Gewährung von Badekuren zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit namentlich in Lähmungsfällen ermöglicht werden sollte. Nach Auffassung des Bundesamtes ist daher den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen. Auch eine etwas weitergehende Praxis lasse sich mit den geltenden gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere auch mit dem Erfordernis der Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges, woran nicht allzu hohe Anforderungen zu stellen seien, noch vereinbaren. Deshalb seien wiederholt notwendige Badekuren in Lähmungsfällen auch dann zu übernehmen, "wenn sie einzig der Bewahrung der Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung dienen, unter der Voraussetzung, dass die Erhaltung der Erwerbsfähigkeit im Vordergrund steht und das
BGE 98 V 95 S. 97
labile pathologische Geschehen hinsichtlich seiner Bedeutung eindeutig sekundär ist". Dies treffe in der Regel dann zu, wenn die Physiotherapie nur dazu diene, die Folgen der lähmungsbedingten Inaktivität, denen nicht eigentlicher Krankheitscharakter zukomme, zu beheben und damit die Erwerbsfähigkeit zu erhalten. - Bei Johanna Friedli beständen keine Anhaltspunkte für ein wesentliches sekundäres labiles pathologisches Geschehen, weshalb ihr die zur Bewahrung der Erwerbsfähigkeit wiederholt notwendigen physiotherapeutischen Massnahmen zu gewähren seien...
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
(
BGE 97 V 45
Erw. 1).
Gestützt auf
Art. 12 Abs. 2 IVG
steht es dem Bundesrat allerdings zu, nicht nur den Leistungsbeginn, sondern auch die Leistungsdauer bei Lähmungen und andern motorischen Funktionsausfällen vorzuschreiben, was hinsichtlich der medizinischen Massnahmen zur Bewahrung der Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung gegebenenfalls zur Preisgabe des Grundsatzes führen würde, dass die für die Stabilisierung oder Verhütung labilen Gesundheitsschadens notwendige Therapie zur Behandlung des Leidens an sich gehört. Solange eine derartige positivrechtliche Norm fehlt, besteht für das Eidg. Versicherungsgericht auch heute keine Veranlassung, abweichend von der bisherigen Praxis dauernd stabilisierende medizinische Vorkehren, wie sie beispielsweise infolge von Lähmungen indiziert sein können, zu gewähren.
Aus diesen prinzipiellen, vom Gesamtgericht genehmigten Überlegungen kann der vom Bundesamt geäusserten Auffassung, "auch eine etwas weitergehende Praxis lasse sich mit den geltenden gesetzlichen Bestimmungen ... noch vereinbaren", nicht beigepflichtet werden. Im übrigen ist den Darlegungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und in der bundesamtlichen Vernehmlassung, welche fortdauernde stabilisierende Massnahmen im Hinblick auf die Bewahrung der Erwerbsfähigkeit in Lähmungsfällen befürworten, generell entgegenzuhalten, dass der Richter nicht befugt ist, Sonderlösungen für Lähmungsfälle zu treffen, soweit dies im Gesetz oder in der Verordnung selber nicht geschieht; denn die Lähmungen sind nur ein Teil im gesamten Komplex der durch
BGE 98 V 95 S. 98
Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall bedingten motorischen Funktionsausfälle.
2.
... Der medizinische Gutachter, welcher die Auffassung vertritt, "dass feststellbare Verbesserungen der Muskelfunktion sich noch nach vielen Jahren einstellen" können, zweifelt nicht daran, dass sich der Zustand der Beschwerdeführerin durch weitere gezielte physiotherapeutische Behandlung noch verbessern lässt, wenn auch die Geschwindigkeit des Besserungsvorganges nicht voraussehbar ist. Das Vorliegen eines sekundären Krankheitsprozesses wird vom Experten verneint. Daraus ergibt sich, dass das Optimum an physischer Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin noch nicht erreicht ist. Deshalb rechtfertigt sich die weitere Zusprechung physiotherapeutischer Massnahmen bis zur Herstellung dieses als dauerhaft vorauszusetzenden Zustandes. In diesem Sinne ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21. Dezember 1970, soweit mit ihm Badekuren verweigert werden, aufgehoben und die Invalidenversicherung verpflichtet, der Beschwerdeführerin entsprechend der Kassenverfügung vom 13. Februar 1969 im Sinne der Erwägungen weiterhin physiotherapeutische Massnahmen zu gewähren. | null | nan | de | 1,972 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2e2ec38a-fc19-44a8-aeb2-d2d413280b29 | Urteilskopf
122 I 153
24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19. Juni 1996 i.S. M. gegen Psychiatrische Klinik Schlössli Oetwil a.S. und Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 4 BV
, Einsicht in Psychiatrie-Krankengeschichte, Datenschutz.
Das Patientenverhältnis in der Psychiatrischen Klinik Schlössli ist in bezug auf den Datenschutz öffentlichrechtlicher Natur. Es findet nicht das eidgenössische Datenschutzgesetz, sondern das kantonale Recht Anwendung (E. 2).
Es sind keine Anzeichen für eine Unvollständigkeit der Krankengeschichte ersichtlich (E. 4).
Das Abdecken der Informationen in der Krankengeschichte, die von Personen ausserhalb der Klinik stammen, hält vor dem kantonalen Recht stand (E. 5).
Der nach
Art. 4 BV
garantierte Anspruch auf Einsicht in die Akten eines abgeschlossenen Verfahrens hängt von einem schutzwürdigen Interesse und von einer umfassenden Abwägung der entgegenstehenden öffentlichen und privaten Interessen ab (E. 6a). In Würdigung aller Umstände überwiegt im vorliegenden Fall das Interesse am Abdecken der Informationen von nicht zur Klinik stammenden Personen (E. 6b-6d). | Sachverhalt
ab Seite 154
BGE 122 I 153 S. 154
M. war vom Dezember 1981 bis März 1982 und im August/September 1982 in der Privaten Psychiatrischen Klinik Schlössli Oetwil a.S. (ZH) hospitalisiert.
Im November 1993 verlangte M. von der Klinik die Herausgabe der vollständigen, auf seinen Namen angelegten Krankengeschichte. Diese kam dem Ersuchen nur teilweise nach. Auf Rekurs hin stellte die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich M. die Laborbefunde und Krankenblätter zur Verfügung und gewährte schliesslich unter Zustellung entsprechender Kopien Einsicht in sämtliche Schriftstücke. Auf diesen blieben indessen in drei Dokumenten insgesamt sieben Stellen mit Auskünften von privaten Drittpersonen abgedeckt; den Kopien können weder die Namen der Auskunftspersonen noch deren Aussagen entnommen werden.
M. gelangte darauf an den Regierungsrat des Kantons Zürich und verlangte sinngemäss Einsicht in die vollständigen Unterlagen. Der Regierungsrat wies den Rekurs ab. Er stellte aufgrund der Originale der Krankengeschichte fest, dass keine weitern Unterlagen vorhanden sind, welche dem Rekurrenten vorenthalten worden wären. Gestützt auf die kantonale Patientenrechtverordnung, welche die Einsichtnahme in Angaben von nicht zum Krankenhaus gehörenden Personen ausschliesst, verweigerte er die vollständige Einsicht.
Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates hat M. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben, dessen Aufhebung verlangt und um vollständige Einsicht in sämtliche Unterlagen seiner Krankengeschichte ersucht. Zur Begründung beruft er sich auf
Art. 4 BV
und allgemeine datenschutzrechtliche Überlegungen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
BGE 122 I 153 S. 155
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Es ist zu prüfen, mit welchem Rechtsmittel die Rüge, die Akteneinsicht sei nur in unzureichender Weise gewährt worden, beim Bundesgericht vorzutragen ist. Diese Frage ist von der in der Sache selber anwendbaren Rechtsgrundlage abhängig: In Betracht fallen die vom Regierungsrat diskussionslos angewandte Zürcher Verordnung über die Rechte und Pflichten der Patienten in staatlichen und vom Staat unterstützten Krankenhäusern (Patientenrechtverordnung, PatR-VO, Zürcher Gesetzessammlung 813.13) oder aber das Bundesgesetz über den Datenschutz vom 19. Juni 1992 (Datenschutzgesetz, DSG, SR 235.1), dessen Verletzung für den privatrechtlichen Teil mit Berufung zu rügen wäre; zusätzlich wird das Zürcher Gesetz über den Schutz von Personendaten (DSG/ZH, Zürcher Gesetzessammlung 236.1) in die Betrachtung einzubeziehen sein. Von der Anwendbarkeit der einen oder andern Norm wird das zulässige Rechtsmittel an das Bundesgericht abhängen.
b) Der Beschwerdeführer verlangt Einsicht in seine an der Psychiatrischen Klinik Schlössli anlässlich seiner Aufenthalte geführte Krankengeschichte. Diese stellt eine Sammlung von Personendaten im Sinne der Datenschutzgesetzgebung dar (vgl.
Art. 3 DSG
,
§ 2 DSG
/ZH; LUKAS BRÜHWILER-FRÉSEY, Medizinischer Behandlungsvertrag und Datenrecht, Zürich 1996, S. 169). Die Datenschutzgesetzgebung bezweckt allgemein den Schutz von Personendaten und ordnet als Kernbereich die Frage der Akteneinsicht (vgl.
BGE 113 Ia 1
,
BGE 113 Ia 257
;
Art. 8-10 DSG
; ALEXANDER DUBACH, in: Kommentar zum schweizerischen Datenschutzgesetz, Basel und Frankfurt 1995, Rz. 3 zu Art. 8).
c) Das eidgenössische Datenschutzgesetz ist anwendbar auf die Datenbearbeitung durch private Personen und Bundesorgane (
Art. 2 Abs. 1 DSG
). Es kommt daher nicht zur Anwendung, soweit die Datenbearbeitung im Rahmen der öffentlichen kantonalen Tätigkeit erfolgt; hier greift - unter Vorbehalt von
Art. 37 DSG
- das kantonale Datenschutzrecht ein, welches für das Bearbeiten von Personendaten durch öffentliche kantonale Organe gilt (
§ 3 DSG
/ZH; vgl. BEAT RUDIN, in: Kommentar zum schweizerischen Datenschutzgesetz, Basel und Frankfurt 1995, Rz. 1 ff. zu Art. 37). Für die Beurteilung der Anwendbarkeit des eidgenössischen Datenschutzrechts ist daher in doppelter Weise die Abgrenzung privatrechtlich - öffentlichrechtlich und Bundesorgane - kantonale Organe vorzunehmen. Dabei ist auf die Natur des zugrundeliegenden Verhältnisses abzustellen; in einer
BGE 122 I 153 S. 156
gesamthaften Betrachtung ist die Beziehung zwischen dem Datenbearbeiter und dem Betroffenen zu prüfen (vgl. MARC BUNTSCHU, in: Kommentar zum schweizerischen Datenschutzgesetz, Basel und Frankfurt 1995, Rz. 22 und 25 zu Art. 2).
d) Die Psychiatrische Klinik Schlössli ist von ihrer Stellung her kein Bundesorgan im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 lit. b DSG
. Die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung stellt eine kantonale, nicht eine Bundesaufgabe dar. Selbst wenn die Klinik im Rahmen eines fürsorgerischen Freiheitsentzuges (
Art. 397a ff. ZGB
) handelte, würde sie nicht zu einem Bundesorgan. Denn die Erfüllung von Bundesaufgaben und der Vollzug von Bundesrecht allein machen das handelnde Organ nicht zu einem solchen des Bundes (vgl. RAINER J. SCHWEIZER, Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen beim Datenschutz im öffentlichen Bereich, in: RAINER J. SCHWEIZER (Hrsg.), Das neue Datenschutzgesetz des Bundes, Zürich 1993, S. 32; BUNTSCHU, a.a.O., Rz. 25 zu Art. 2).
e) Die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Natur von Spitälern und Kliniken fällt nicht leicht und hängt von der Fragestellung ab. Da hierfür kaum typisierte Merkmale bestehen, ist die Frage nach der Natur der Tätigkeit der Psychiatrischen Klinik Schlössli anhand der konkreten Umstände zu beurteilen.
Im allgemeinen sind die Kantone frei, das Gesundheitswesen zu regeln und diesem mehr öffentlich- oder mehr privatrechtlichen Charakter zu verleihen. Die Trägerschaft der Klinik allein ist für das anwendbare Recht nicht ausschlaggebend. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient untersteht auch bei der Behandlung von sog. Privatpatienten in öffentlichen Spitälern in bezug auf die Haftung dem kantonalen öffentlichen Verantwortlichkeitsrecht (vgl.
BGE 115 Ib 175
E. 2 S. 179, 111 II 149 E. 3a S. 151; MORITZ KUHN, Die rechtliche Beziehung zwischen Arzt und Patient, in: Heinrich Honsell (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, Zürich 1994, S. 50 ff.).
Die Psychiatrische Klinik Schlössli (PKS) bezeichnet sich selber als private Klinik. Sie wird von einer privaten Aktiengesellschaft getragen. Nach ihren eigenen Angaben nimmt sie einerseits private und andererseits - gestützt auf einen Vertrag mit der kantonalen Gesundheitsdirektion - sog. kantonale Patienten auf. Aus dieser - regelmässig wieder erneuerten - Vereinbarung zwischen der Aktiengesellschaft und der Gesundheitsdirektion ergeben sich u.a. die folgenden Anhaltspunkte: Das Schlössli ist eine beauftragte Regionalklinik. Als solche hat sie die
BGE 122 I 153 S. 157
hospitalisierungsbedürftigen psychisch Kranken aus dem Gebiet Zürcher Oberland und Pfannenstiel sowie ihr zugewiesene Patienten zu kantonalen Taxen aufzunehmen. Sie erstattet der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) über alle kantonalen Patienten Bericht. Die Gesundheitsdirektion übt die Aufsicht über die Klinik aus. Die aufgrund dieses Vertrages aufgenommenen Patienten gelten als kantonal und im Auftrag des Kantons hospitalisiert. Ausdrücklich richtet sich das Verhältnis zwischen den Patienten und der Klinik und deren Personal nach dem kantonalen Gesundheitsgesetz. Die Abrechnung erfolgt ausschliesslich über die kantonale Psychiatrische Universitätsklinik. Diese Vereinbarung mit einem öffentlichen Leistungsauftrag, öffentlich festgelegten Taxen und einer öffentlichen Aufsicht weist somit klar auf ein öffentlichrechtliches Patientenverhältnis hin.
Die zürcherische Gesundheitsgesetzgebung ist ebenfalls öffentlichrechtlich ausgerichtet: Nach § 1 des Gesetzes über das Gesundheitswesen (GesG, 810.1) fällt es dem Gemeinwesen ganz allgemein zu, die Gesundheit des Volkes zu fördern und ihre Gefährdung zu verhindern. Die Krankenhäuser sind zur Aufnahme von behandlungsbedürftigen Personen verpflichtet (§ 41 GesG). § 42a GesG hält den Regierungsrat an, die Rechte und Pflichten der Patienten unabhängig von der öffentlichen oder privaten Trägerschaft der Spitäler in den staatlich und vom Staat unterstützten Krankenhäusern zu ordnen. Danach richtet sich auch der Anwendungsbereich der Patientenrechtverordnung.
Es kann auch nicht gesagt werden, diese Ausgestaltung des Patientenverhältnisses stehe mit dem Vorrang des Bundesrechts im Widerspruch und entziehe die Privatklinik Schlössli in verfassungswidriger Weise dem Anwendungsbereich des privatrechtlichen Teils des eidgenössischen Datenschutzrechtes (Art. 2 ÜbBest. BV; vgl.
BGE 122 I 18
E. 2b/aa S. 20, 120 Ia 286 E. 2c S. 290, mit Hinweisen). Das Gesundheitswesen und ganz allgemein die Gesundheitsfürsorge, Krankheitsbekämpfung und Krankenbetreuung fallen traditionsgemäss in die Kompetenz der Kantone. Diese sind befugt, das Gesundheitswesen mit öffentlichrechtlichen Vorschriften umfassend zu ordnen. Da sich in der Sachmaterie des Gesundheitswesens mannigfache persönlichkeitsrelevante Fragen stellen, liegt es auf der Hand, dass die Aspekte des Datenschutzes mitgeregelt werden. Angesichts der Besonderheit des Bundesdatenschutzrechts als Querschnittsmaterie kann nicht leichthin gesagt werden, kantonale öffentlichrechtliche Normen verstiessen gegen Sinn und Geist des eidgenössischen Datenschutzrechts. Der Kanton handelt insofern im Rahmen
BGE 122 I 153 S. 158
seiner angestammten Kompetenz, sodass die konkrete Ausgestaltung der Klinik- und Patientenverhältnisse in der Patientenrechtverordnung als im Einklang mit dem Bundesrecht zu bezeichnen ist.
f) Daraus ist die abschliessende Folgerung zu ziehen, dass das Patientenverhältnis in der Klinik Schlössli in bezug auf den Beschwerdeführer kantonal öffentlichrechtlicher Natur ist und das Bundesdatenschutzgesetz daher keine Anwendung findet. Anwendbar ist vielmehr das kantonale (Datenschutz-)Recht. Der Regierungsrat hat sich daher im angefochtenen Entscheid zurecht sowohl in materieller als auch in formeller Hinsicht auf das kantonale Recht gestützt. Bei dieser Rechtslage ist die staatsrechtliche Beschwerde das zulässige Rechtsmittel. Auf die vorliegende Beschwerde kann daher - unter den genannten Vorbehalten - eingetreten werden.
3.
Der Regierungsrat gewährte dem Beschwerdeführer mit dem angefochtenen Entscheid zwar Einsicht in seine Krankengeschichte über seinen Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Schlössli, deckte indessen an verschiedenen Stellen Informationen von Drittpersonen ab. Mit der vorliegenden Beschwerde verlangt der Beschwerdeführer, dass er auch in diese abgedeckten Stellen sowie in weitere ihm vorenthaltene Unterlagen Einsicht nehmen kann.
Das Recht auf Akteneinsicht ist Teil des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Es wird in erster Linie durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben. Die Anwendung dieser kantonalen Rechtssätze prüft das Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde hin grundsätzlich lediglich unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Unabhängig davon greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV
folgenden bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung des Akteneinsichtsrechts Platz. Ob der unmittelbar aus
Art. 4 BV
fliessende Anspruch auf Akteneinsicht verletzt ist, prüft das Bundesgericht als Verfassungsfrage mit freier Kognition (
BGE 113 Ia 1
E. 2 S. 3, ZBl 93/1992 S. 363 E. 2,
BGE 118 Ib 277
E. 4a S. 281, mit Hinweisen).
Im folgenden ist vorerst die Rüge zu behandeln, die dem Beschwerdeführer zugestellten Akten seien - abgesehen von den Abdeckungen - nicht vollständig. Hernach ist zu beurteilen, ob die Abdeckungen in Anwendung des kantonalen Rechts vor der Verfassung standhalten. Schliesslich ist zu prüfen, wie es sich mit dem Begehren um vollständige Einsicht in die Psychiatriekrankengeschichte unter dem Gesichtswinkel der bundesverfassungsrechtlichen Garantie nach
Art. 4 BV
verhält. Hierfür zieht das Bundesgericht bisweilen die Akten, in die Einsicht verlangt wird, bei
BGE 122 I 153 S. 159
(
BGE 113 Ia 1
S. 5, ZBl 93/1992 S. 364,
BGE 112 Ia 97
E. 6 S. 102,
BGE 95 I 109
E. b, mit Hinweisen); im vorliegenden Fall verfügt das Bundesgericht über die vollständigen Akten mit den abgedeckten Angaben.
4.
Der Beschwerdeführer rügt als Verletzung von
Art. 4 BV
, dass ihm gewisse Unterlagen vorenthalten worden seien; insbesondere seien Aktenstücke mit sog. Kardex-Angaben nicht offengelegt worden. Der Regierungsrat hat zu diesem bereits im kantonalen Verfahren vorgebrachten Vorwurf ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass Aufzeichnungen irgendwelcher Art aus der Krankengeschichte entfernt worden seien.
Die Durchsicht der dem Bundesgericht vorgelegten Originalakten ergibt, dass in der Tat keine Anhaltspunkte dafür gefunden werden können, die auf eine Beseitigung von Unterlagen hindeuten würden. Die Akten erwecken durchaus den Eindruck der Vollständigkeit. Die vorhandene Krankengeschichte enthält zahlreiche Angaben über den Zustand des Beschwerdeführers während seiner Klinikaufenthalte, über die Verordnung von Medikamenten sowie über deren Auswirkungen. Es kann kaum angenommen werden, dass noch weitere Unterlagen geführt worden sind, die beseitigt worden wären. In Anbetracht all dieser Umstände hält der Schluss des Regierungsrates, die Akten seien vollständig, vor
Art. 4 BV
stand. In diesem Punkte erweist sich die Beschwerde daher als unbegründet.
5.
a) Der Regierungsrat stützte den angefochtenen Entscheid auf die Patientenrechtverordnung. Im Zeitpunkt seines Entscheides war das kantonale Datenschutzgesetz noch nicht in Kraft. Daher ist im vorliegenden Fall - auf kantonaler Ebene - einzig auf die Patientenrechtverordnung abzustellen. Es braucht nicht geprüft zu werden, in welchem Verhältnis die Patientenrechtverordnung zum kantonalen Datenschutzgesetz steht und ob gestützt auf dieses kantonale Datenschutzgesetz die Patientenrechtverordnung einer Anpassung bedürfte.
b) Die Patientenrechtverordnung umschreibt den Anspruch des Patienten auf Einsicht in die Krankengeschichte wie folgt:
§ 13 - Krankengeschichte
1 Über jeden Patienten wird eine Krankengeschichte geführt. Sie bleibt Eigentum des Krankenhauses und wird während mindestens 10 Jahren aufbewahrt.
2...
§ 14 - Einsichtsrechte
1 Der Patient kann Einsicht in die zur Krankengeschichte gehörenden Unterlagen oder Kopien davon verlangen wie ...
BGE 122 I 153 S. 160
2Keine Einsicht hat der Patient in
a) Angaben von nicht zum Krankenhaus gehörenden Drittpersonen;
b) persönliche Notizen der Ärzte und des Pflegepersonals.
3 In Streitfällen entscheidet die Direktion des Gesundheitswesens. Ihr ist die vollständige Krankengeschichte mit allen Beilagen herauszugeben.
c) Im angefochtenen Entscheid führte der Regierungsrat aus, in Anbetracht der Beschränkung der Aufbewahrung von Krankengeschichten auf zehn Jahre (§ 13 Abs. 1 PatR-VO) sei auch das Einsichtsrecht auf zehn Jahre begrenzt. Diese Folgerung erweckt Bedenken. Zum einen sah die Patientenrechtverordnung in der ursprünglichen Fassung eine Aufbewahrungsdauer von zwanzig Jahren vor, sodass übergangsrechtliche Erwägungen erforderlich wären. Zum andern wird lediglich eine minimale Aufbewahrungsdauer festgelegt. Werden Krankengeschichten über diese Zeit hinaus tatsächlich aufbewahrt, erfordern
Art. 4 BV
und die Grundsätze des Datenschutzes, dass vom Einsichtsrecht effektiv immer noch Gebrauch gemacht werden kann. Dem Beschwerdeführer ist denn auch trotz des Umstandes, dass seine Klinikaufenthalte mehr als zehn Jahre zurückliegen, die Einsicht grundsätzlich gewährt worden.
d) Der Wortlaut von § 14 Abs. 2 lit. a PatR-VO erscheint weitgehend klar. Die Vorschrift schliesst die Einsicht in Angaben von nicht zum Krankenhaus gehörenden Personen ohne Vorbehalt und - anders als die Rechtsprechung zu
Art. 4 BV
(unten E. 6) und
Art. 9 DSG
- ohne Interessenabwägung im Einzelfall aus. Der Regierungsrat und die Gesundheitsdirektion wenden sie auf Informationen an, welche dem Krankenhaus von Aussenstehenden im Vertrauen auf die ärztliche Schweigepflicht gemacht werden und damit dem Berufsgeheimnis unterliegen. Nicht dazu gezählt werden allerdings Einweisungszeugnisse, Berichte auswärtiger Labors und dergleichen, in die der Betroffene grundsätzlich Einsicht nehmen kann.
Diese Auslegung der Patientenrechtverordnung ist - bei der dem Bundesgericht zukommenden Kognition - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie nimmt zum einen Rücksicht auf die besondere Stellung von Aussenstehenden - wie etwa Verwandten, Freunden oder Bekannten aus dem sozialen Umfeld -, welche dem behandelnden Arzt Beobachtungen und Informationen mitteilen und auf dessen Schweigepflicht zählen (mögen). Auf der andern Seite entzieht sie nicht jegliche Information von aussen der Akteneinsicht; diese soll insbesondere auch dann gewährt werden, wenn
BGE 122 I 153 S. 161
medizinische Befunde und andere Unterlagen von aussen beschafft werden. Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was diese Auslegung der Patientenrechtverordnung als willkürlich erscheinen lassen könnte.
Im vorliegenden Fall betreffen die dem Beschwerdeführer gegenüber abgedeckten Stellen Informationen von Aussenstehenden. Die Einsicht durfte demnach in Anwendung der Patientenrechtverordnung ohne Willkür verweigert werden. Insoweit erweist sich die vorliegende Beschwerde als unbegründet.
6.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts wird aus
Art. 4 BV
direkt ein Anspruch auf Akteneinsicht als Teil des rechtlichen Gehörs abgeleitet. Dieser verfassungsmässige Anspruch gilt zum einen während eines hängigen Verfahrens im Hinblick auf den Erlass einer Verfügung. Zum andern hat die Rechtsprechung anerkannt, dass dieser Anspruch auch ausserhalb eines hängigen Verfahrens geltend gemacht werden kann. Eine umfassende Wahrung der Rechte kann es gebieten, dass der Betroffene oder ein Dritter etwa Akten eines abgeschlossenen Verfahrens einsehe. Allerdings ist dieser verfassungsmässige Anspruch - im Gegensatz zu demjenigen eines Beteiligten auf Einsicht in die Akten eines hängigen Verfahrens und anders als nach
Art. 8 DSG
(vgl. DUBACH, a.a.O., Rz. 15 zu Art. 8) - davon abhängig, dass der Rechtssuchende ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft machen kann. Das Akteneinsichtsrecht findet zudem seine Grenzen am öffentlichen Interesse des Staates oder an berechtigten Geheimhaltungsinteressen Dritter (
BGE 113 Ia 1
E. 4a S. 4,
BGE 113 Ia 257
E. 4a S. 261,
BGE 121 I 225
E. 2a S. 227, ZBl 93/1992 S. 364 E. 3, mit Hinweisen).
Die einander entgegenstehenden Interessen an der Akteneinsicht auf der einen Seite und an deren Verweigerung auf der andern sind im Einzelfall sorgfältig gegeneinander abzuwägen (
BGE 113 Ia 1
E. 4a S. 4 f.,
BGE 113 Ia 257
E. 4a S. 262, ZBl 93/1992 S. 364 E. 3, mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat dabei eine Reihe von Kriterien berücksichtigt, aufgrund derer das schutzwürdige Interesse an der Akteneinsicht beurteilt und die Geheimhaltungsinteressen gemessen werden (
BGE 113 Ia 1
E. 4a S. 4 f., ZBl 93/1992 S. 364 E. 3, mit Hinweisen). Auf diese Interessenabwägung ist im folgenden näher einzugehen.
Nach der Rechtsprechung besteht aufgrund von
Art. 4 BV
kein Anspruch auf Einsicht in verwaltungsinterne Akten wie Auskünfte und Notizen, Mitberichte und Mitteilungen, verwaltungsinterne Gutachten und ähnliches. Mit dieser Einschränkung des Akteneinsichtsrechts soll verhindert werden, dass die
BGE 122 I 153 S. 162
ganze Meinungsbildung der Verwaltung über die entscheidenden Aktenstücke und die getroffenen, begründeten Verfügungen hinaus vollständig vor der Öffentlichkeit ausgebreitet wird (
BGE 113 Ia 1
E. 4c/cc S. 9,
BGE 115 V 297
E. 2 g/aa S. 303,
BGE 117 Ia 90
E. 5b S. 96, mit weiteren Hinweisen auf Judikatur und Literatur; vgl. kritisch GEORG MÜLLER, BV-Kommentar, Rz. 109 zu Art. 4; JÖRG PAUL MÜLLER, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, 2. Aufl. 1991, S. 282). Der Beschwerdeführer anerkennt diese Rechtsprechung ausdrücklich und verlangt nicht Einsicht in derartige Unterlagen.
b) aa) Der Beschwerdeführer belegt sein Interesse an der vollständigen Offenlegung der Krankengeschichte unter Einschluss der von ausserhalb der Klinik stammenden Informationen mit allgemeinen datenschutzrechtlichen Überlegungen. Die nicht offengelegte Aufbewahrung von Personendaten in einer Datensammlung kann als Unbehagen oder als Beeinträchtigung und Bedrohung der Privatsphäre empfunden werden. Sie ruft für sich allein schon nach einer Einsichtsmöglichkeit. Der Betroffene hat ein Interesse daran, sich über den Wahrheitsgehalt der Eintragung zu vergewissern. Eine Richtigstellung oder Korrektur ist überhaupt erst nach Kenntnisnahme der Eintragung möglich. Diese Anliegen sind heute in den neueren Datenschutzgesetzen weitgehend konkretisiert und kodifiziert (vgl.
Art. 5 DSG
zum Grundsatz der Richtigkeit von Daten und zur Möglichkeit der Berichtigung sowie
Art. 8 DSG
zum Auskunftsrecht im allgemeinen). Das Einsichtsrecht ist Teil des sog. informationellen Selbstbestimmungsrechts, wie es in der Lehre und der Rechtsprechung anerkannt wird (vgl.
BGE 120 II 118
E. 3a S. 121; Botschaft zum DSG, BBl 1988 II 417f.; BVerfGE 65 Nr. 1 S. 41 E. 1a = EuGRZ 1993 S. 577 [588]). Diese Anliegen stellen legitime Interessen dar und sind bei der verfassungsrechtlichen Interessenabwägung im Rahmen der Anwendung von
Art. 4 BV
mitzuberücksichtigen.
bb) Die Frage der Akteneinsicht weist einen engen Bezug zur persönlichen Freiheit auf (vgl.
BGE 113 Ia 1
E. 4b/bb S. 5,
BGE 112 Ia 97
E. 5 S. 100). Dieses ungeschriebene Verfassungsrecht schützt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als zentrales Freiheitsrecht und verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz nicht nur die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung bilden. Indessen rechtfertigt nicht jeder beliebige Eingriff in den persönlichen Bereich des Bürgers die Berufung auf die persönliche Freiheit; diese hat nicht die Funktion einer allgemeinen Handlungsfreiheit, auf die sich der einzelne gegenüber jedem
BGE 122 I 153 S. 163
staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt, berufen kann (
BGE 120 Ia 126
E. 7a S. 145,
BGE 120 Ia 147
E. 2a S. 149, mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung stellen die Erhebung erkennungsdienstlicher Daten sowie deren Aufbewahrung und Bearbeitung einen Eingriff in die persönliche Freiheit dar (
BGE 120 Ia 147
E. 2a S. 149 f., mit Hinweisen). Ähnliches gilt für psychiatrische Krankengeschichten, welche naturgemäss sehr persönliche und intime Angaben enthalten. Gerade weil sich der Gesundheitszustand verändern kann, ist es von Bedeutung, dass die Angaben in der Krankengeschichte zutreffen und daher durch die Einsichtnahme überprüft werden können; es gilt zu vermeiden, dass eine Person durch unrichtige Angaben "festgeschrieben" wird (vgl.
BGE 113 Ia 1
E. 4d S. 10 f., mit Hinweisen). Auch in dieser Hinsicht kann dem Beschwerdeführer daher ein legitimes Interesse an der vollständigen Einsichtnahme in seine Krankengeschichte nicht abgesprochen werden.
cc) Die Aufbewahrung von Daten und die Verweigerung der Einsicht stehen weiter in einem engen Zusammenhang mit
Art. 8 EMRK
. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte betrifft das Sammeln, Aufbewahren und Bearbeiten sowie die Weitergabe von persönlichen Daten ohne Berichtigungsmöglichkeit des Betroffenen den Schutzbereich von
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
(vgl. Urteil Leander, Série A vol. 116, Ziff. 48;
BGE 118 Ib 277
E. 4a S. 281; vgl. VELU/ERGEC, La Convention européenne des droits de l'homme, Bruxelles 1990, Rz. 665). Die Verweigerung der vollständigen Einsicht in vormundschaftliche Akten mit zahlreichen Angaben über die Jugendzeit bei Pflegeeltern ist wegen des unmittelbaren Bezuges zur persönlichen Identität des Betroffenen als Eingriff in
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
bezeichnet worden; das Interesse, die notwendigen Informationen zu erhalten, um die Jugend- und Schulzeit zu kennen und zu verstehen, wird vom Schutzbereich der Konvention miterfasst (Urteil Gaskin, Série A vol. 160, Ziff. 34-37 und 49). Der Gerichtshof liess allerdings ausdrücklich offen, ob jede Einsichtsverweigerung dem Schutzbereich von
Art. 8 EMRK
zugerechnet werden könne (Urteil Gaskin, a.a.O., Ziff. 38; VELU/ERGEC, a.a.O., Rz. 666). In einem neueren Urteil stand eine Fremdplazierung eines vor der Eheschliessung geborenen Kindes in Frage; die unvollständige Akteneinsicht in diesem Verfahren ist aufgrund der besondern Verhältnisse unter dem Gesichtswinkel von
Art. 8 EMRK
(sowie von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
) geprüft worden (Urteil McMichael, Série A vol. 307, Ziff. 85 ff.; vgl. FRANK SCHÜRMANN, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Chronik der
BGE 122 I 153 S. 164
Rechtsprechung [1.1. - 30.6.1995], AJP 1995 S. 1363 f. und 1366 f.; vgl. allgemein zum Datenschutz unter dem Gesichtswinkel von
Art. 8 EMRK
LUZIUS WILDHABER, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1992, Rz. 323 ff. und 336 f. zu Art. 8). Im Rahmen der Abwägung nach
Art. 4 BV
sind auch diese Aspekte von
Art. 8 EMRK
einzubeziehen. Ein legitimes Interesse am vollständigen Einblick in die Psychiatrie-Krankengeschichte kann auch für den vorliegenden Fall bejaht werden, da es dem Beschwerdeführer - ähnlich wie im Fall Gaskin - darum geht, sich über die Periode seiner beiden Klinikaufenthalte Klarheit zu verschaffen.
dd) Das Interesse an einer vollständigen Einsicht in die Krankengeschichte wird auf der andern Seite durch eine Reihe von Umständen abgeschwächt. Es wurde dem Beschwerdeführer nur ein sehr kleiner Teil von Angaben vorenthalten, die von untergeordneter Bedeutung sind. Gesamthaft kann sich der Beschwerdeführer trotz der Abdeckungen ein umfassendes Bild von der Zeit seiner Klinikaufenthalte machen. Die abgedeckten Stellen betreffen Umstände, die weit zurückliegen und um die sich der Beschwerdeführer bisher nicht bemüht hatte. Eine eigentliche Korrektur oder gar die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der Klinik, den Ärzten oder Auskunftspersonen fallen nicht mehr ernsthaft in Betracht. Schliesslich ist ein Bezug zur Ausübung anderer verfassungsmässiger Rechte wie etwa der Meinungsäusserungsfreiheit oder der Glaubens- und Gewissensfreiheit ebensowenig ersichtlich wie ein Einfluss auf die Ausübung der politischen Rechte oder der Petitionsfreiheit (vgl. hierzu
BGE 113 Ia 1
S. 7; Botschaft zum DSG, BBl 1988 II 418). Auf der andern Seite kann dem Beschwerdeführer immerhin in keiner Weise vorgeworfen werden, sein Einsichtsgesuch treuwidrig oder gar rechtsmissbräuchlich gestellt zu haben (vgl. hierzu DUBACH, a.a.O., Rz. 23 zu Art. 8).
ee) Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zusammenfassend, dass im Rahmen der nach
Art. 4 BV
vorzunehmenden Abwägung verschiedene (Teil-)Aspekte, welche sich überschneiden und ergänzen, für ein erhebliches schutzwürdiges Interesse an einer vollständigen Einsicht in die Krankengeschichte sprechen. Dieses wird durch gewisse Umstände nur leicht vermindert. Das legitime Interesse des Beschwerdeführers an einer umfassenden Einsicht ist daher zu bejahen.
c) Diesen Anliegen des Beschwerdeführers sind die öffentlichen Interessen sowie die privaten Interessen von Informationspersonen gegenüberzustellen.
BGE 122 I 153 S. 165
aa) Ein öffentliches Interesse an der Geheimhaltung von Angaben von nicht zum Krankenhaus gehörenden Drittpersonen kann entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht zum vornherein verneint werden. Der Arzt in einer psychiatrischen Klinik wird für die Anamnese oft auf Angaben von Verwandten, Freunden oder Bekannten aus dem sozialen Umfeld des Patienten angewiesen sein; solche Informationen dürften für die Diagnose und die Anordnung der Therapie in vielen Fällen wertvoll sein. Es muss für den Arzt die Gewähr bestehen, dass sie richtig sind, insbesondere auch in bezug auf Informationen, die Schwächen des Patienten aufzeigen und ihn in einem wenig vorteilhaften Licht erscheinen lassen oder ihn gar kränken könnten. Solche Informationen sind gerade für den Bereich der Psychiatrie von Bedeutung. Sie könnten indessen oft nicht mehr eingeholt werden, wenn zum vornherein damit gerechnet werden müsste, dass die Angaben und die Identität des Informanten dem Patienten bekanntgegeben würden. Ganz allgemein hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung dem Schutz von Gewährspersonen (vgl.
BGE 103 Ia 490
S. 493,
BGE 100 Ia 97
S. 102,
BGE 95 I 103
E. 3 S. 109,
BGE 95 I 439
S. 445 f. sowie ZBl 93/1992 S. 366) und von Drittpersonen (vgl.
BGE 112 Ia 97
E. 6 S. 102) Gewicht beigemessen. Der Europäische Gerichtshof hat im Zusammenhang mit einem Vormundschaftsdossier darauf hingewiesen, dass der vertrauliche Charakter öffentlicher Register im Hinblick auf den Erhalt zuverlässiger Angaben und den Schutz von Dritten von Bedeutung sei (Urteil Gaskin, a.a.O., Ziff. 49). In dieser Hinsicht besteht demnach ein legitimes öffentliches Interesse, Angaben von ausserhalb der Klinik und die Namen von Auskunftspersonen dem Patienten vorzuenthalten.
bb) Aus der Sicht der Auskunftspersonen können ebenfalls Interessen an der Geheimhaltung geltend gemacht werden. Diese brauchen nicht ohne weiteres und in allen Fällen damit zu rechnen, dass Auskünfte, die sie dem behandelnden (Spital-)Arzt erteilen, Eingang in die Krankengeschichte finden, dem Patienten offengelegt werden und ihnen in der einen oder andern Form einstmals vorgehalten werden (vgl. anderer Auffassung BRÜHWILER-FRÉSEY, a.a.O., S. 185). Die Informationen werden nicht aus persönlich übelwollenden Motiven erteilt, auch wenn im Einzelfall Unangenehmes berichtet wird. Die Initiative für eine Auskunftserteilung dürfte oft vom Arzt und nicht von den Drittpersonen ausgehen. Keinen Schutz allerdings verdienen bewusste Denunziation und sachfremde Motive, welche für den Bereich der Psychiatrie denkbar sind, wenn eine Person "abgeschoben" oder
BGE 122 I 153 S. 166
"versorgt" werden soll (vgl. zu den Interessen von Auskunftspersonen im allgemeinen ZBl 93/1992 S. 366 E. c). Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den abgedeckten Stellen, dass die wenigen Auskünfte nicht aus übelwollenden und sachfremden Motiven, sondern aus durchaus positiven und fürsorgenden Gründen und mindest zum Teil auf ärztliche Initiative hin erteilt worden sind. Ein gewisses Interesse an der Geheimhaltung darf demnach durchaus bejaht werden.
cc) Schliesslich hat die Rechtsprechung nicht ausgeschlossen, dass die Akteneinsicht im Interesse des Betroffenen selbst beschränkt werden dürfe (sog. therapeutisches Privileg;
BGE 113 Ia 1
E. 4a S. 4,
BGE 100 Ia 97
S. 102). Dies kann Informationen über bestimmte Ereignisse oder Personen betreffen, welche eine Therapie gefährden oder beim Betroffenen alte Wunden aufreissen und ihn dadurch schwer belasten könnten. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat ausgeführt, eine derart begründete Verweigerung der Einsicht könne bei der Ausnahmesituation vorliegen, wenn Krankengeschichten und psychiatrische Gutachten einen Gesundheitszustand offenbaren, von dessen Schwere der Betroffene nichts ahnt; ein solcher Fall liege aber nicht schon dann vor, wenn der Gesuchsteller durch Kenntnis von medizinischen Akten beunruhigt werden könnte oder wenn sich Ärzte aus Furcht vor drohenden gerichtlichen Schritten gegen die Einsicht wenden (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. G. vom 12. Februar 1992; vgl. auch Plädoyer 9/1991 H.6 S. 68 im allgemeinen und
BGE 105 II 284
S. 287 f. zur Frage der Beschränkung der medizinischen Aufklärung). Das Datenschutzgesetz sieht für medizinische Daten eine besondere Form der Mitteilung durch einen Arzt vor, wenn ein sog. Aufklärungsschaden droht, verpflichtet indessen auch für diesen Fall grundsätzlich zu einer vollständigen Auskunftserteilung (vgl. Art. 8 Abs. 3 in Verbindung mit
Art. 9 DSG
). Die Verweigerung der Einsichtnahme aus fürsorgerischen Gründen für den Betroffenen selbst, wird in der Doktrin als paternalistisch kritisiert (vgl. OLIVIER GUILLOD, Le consentement éclairé du patient, Diss. Neuenburg 1986, S. 192 ff.; DUBACH, a.a.O., Rz. 29 zu Art. 8; BRÜHWILER-FRÉSEY, a.a.O., S. 188 mit weitern Hinweisen auf die Literatur; kritisch auch THOMAS COTTIER, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, in: recht 2/1984 S. 125 f.; FISCHLI, Die Akteneinsicht im Verwaltungsprozess, in: Mélanges Henri Zwahlen, 1977, S. 289; Plädoyer 9/1991 H.6 S. 68). Das deutsche Bundesverwaltungsgericht hat es als mit dem Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt, einem ehemaligen Klinikpatienten
BGE 122 I 153 S. 167
ausschliesslich unter Hinweis auf die angebliche Selbstgefährdung die Einsicht in die Unterlagen der psychiatrischen Klinik zu verweigern (NJW 1989 S. 2960; vgl. CHRISTIAN HILLGRUBER, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, München 1992, S. 72 ff.). - Wie es sich mit solchen Gründen im allgemeinen und speziell in bezug auf verschiedene Konstellationen (freiwilliger Klinikaufenthalt, fürsorgerische Freiheitsentziehung) und den Zeitpunkt verhält, braucht nicht abschliessend beurteilt zu werden. Im vorliegenden Fall wird die Verweigerung der vollständigen Einsicht in die Krankengeschichte weder von der Klinik noch von den Behörden mit dem Schutz des Beschwerdeführers begründet; gewisse Anhaltspunkte lassen immerhin vermuten, dass im allgemeinen und im vorliegenden Fall auch solche Gründe mitspielen könnten.
d) Bei einer gesamthaften Abwägung der einander entgegenstehenden Interessen darf davon ausgegangen werden, dass die Abdeckungen nur einen minimalen und wenig bedeutenden Teil der im übrigen offengelegten Unterlagen betreffen. Auch ohne diese Angaben vermag sich der Beschwerdeführer ein umfassendes Bild über jene weit zurückliegende Lebensperiode zu verschaffen. Eine eigentliche Korrektur oder Geltendmachung von Ansprüchen kommt kaum mehr in Frage. Hingegen besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, dass der Arzt im Hinblick auf die Therapie des Patienten von Drittpersonen unter Wahrung des Geheimnisses zuverlässige Angaben erhält. Die Auskünfte sind im vorliegenden Fall in guten Treuen erteilt worden. Eine Ersatzmassnahme im Sinne einer kurzen Inhaltsangabe kommt kaum in Frage, da der Inhalt und die Person des Informanten eng zusammenhängen dürften (vgl.
Art. 28 VwVG
und zu dessen verfassungsrechtlicher Bedeutung
BGE 115 Ia 293
E. 5c S. 304,
BGE 100 Ia 97
S. 104,
BGE 98 Ib 167
S. 169); es kann den Behörden auch nicht der Vorwurf gemacht werden, die Auskunftspersonen nicht angefragt und nicht um deren Einverständnis für eine Bekanntgabe ersucht zu haben (vgl. das Vorgehen im Fichen-Fall ZBl 93/1992 S. 362).
Bei dieser Sachlage hat der Regierungsrat das aus
Art. 4 BV
abgeleitete Einsichtsrecht nicht verletzt, wenn er die abgedeckten Stellen in der Krankengeschichte dem Beschwerdeführer nicht offenlegte. Die vorliegende Beschwerde erweist sich daher in diesem Punkte als unbegründet und ist demnach abzuweisen. | public_law | nan | de | 1,996 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2e30a629-9931-4cde-bebb-bf303fe30346 | Urteilskopf
114 Ib 214
33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 15. September 1988 i.S. Toggebburger AG gegen Einwohnergemeinde Bassersdorf und Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Umweltschutzgesetzgebung des Bundes (Lärmschutz- Verordnung und Luftreinhalte-Verordnung) und kantonales bzw. kommunales Baurecht.
1. Rechtsmittel: Ein Baubewilligungsentscheid kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden, soweit eine Verletzung der bundesrechtlichen Bestimmungen über den Umweltschutz gerügt wird; die staatsrechtliche Beschwerde ist zulässig zur Rüge der Verletzung von selbständigem kantonalem bzw. kommunalem Baurecht (E. 1).
2. Immissionen sind in erster Linie nach der Lärmschutz-Verordnung und der Luftreinhalte-Verordnung zu beurteilen. Die Lärmschutz-Verordnung verlangt die Festlegung von Empfindlichkeitsstufen (Art. 43 f. LSV). Die Anwendung von kantonalem bzw. kommunalem Umweltschutzrecht anstelle des massgeblichen eidgenössischen Umweltschutzrechtes verletzt Bundesrecht (E. 4a).
3. Vorgehen bei der Festlegung der Empfindlichkeitsstufen und der Prüfung des streitigen Projekts auf die Lärmschutz-Verordnung hin (E. 4b).
4. Bedeutung des kantonalen bzw. kommunalen Baurechts neben den eidgenössischen Umweltschutzbestimmungen (E. 5). | Sachverhalt
ab Seite 215
BGE 114 Ib 214 S. 215
Die Firma Toggenburger AG ist Eigentümerin einer Parzelle in Bassersdorf, welche nach Bauordnung und Zonenplan der Gemeinde in der Gewerbezone G liegt; in dieser Zone sind "mässig störende Betriebe und Anlagen sowie Handels- und Dienstleistungsgewerbe" zulässig. Der Gemeinderat von Bassersdorf erteilte der Toggenburger AG unter Bedingungen und Auflagen die Bewilligung für die Erstellung einer Betonaufbereitungsanlage mit Garderobegebäude. Auf Rekurs eines Nachbarn hin hoben die Rekurskommission und das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich die Baubewilligung auf. Das Verwaltungsgericht begründete die Verweigerung der Baubewilligung im wesentlichen damit, die Betonanlage verursache starke Sekundärimmissionen und stelle daher kein mässig störender Betrieb im Sinne des Planungs- und Baugesetzes des Kantons Zürich (PBG) und der Bauordnung dar.
Gegen diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts reichte die Toggenburger AG beim Bundesgericht sowohl Verwaltungsgerichtsbeschwerde als auch staatsrechtliche Beschwerde ein. Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und weist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das
BGE 114 Ib 214 S. 216
Verwaltungsgericht zurück; die staatsrechtliche Beschwerde schreibt es als gegenstandslos geworden ab.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beschwerdeführerin hat gegen den Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichtes sowohl Verwaltungsgerichtsbeschwerde wie auch staatsrechtliche Beschwerde eingereicht. Welches Rechtsmittel zulässig ist und ob im vorliegenden Fall beide Rechtsmittel ergriffen werden können, hat das Bundesgericht von Amtes wegen zu prüfen (vgl.
BGE 113 Ia 112
,
BGE 112 V 83
E. 1, mit Hinweisen).
a) Das angefochtene Urteil stützt sich auf Art. 26 der Bauordnung der Gemeinde Bassersdorf vom 23. Oktober 1981 (BauO) sowie auf das Gesetz über die Raumplanung und das öffentliche Baurecht des Kantons Zürich vom 7. September 1975 (PBG). Es geht von der letzten kantonalen Instanz aus. In dieser Hinsicht erweisen sich sowohl die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als auch die staatsrechtliche Beschwerde als zulässig.
b) Gemäss
Art. 97 OG
in Verbindung mit
Art. 5 VwVG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig gegen Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen oder hätten stützen sollen (
BGE 112 Ib 165
E. 1, 237 E. 2a), sofern diese von den in
Art. 98 OG
genannten Vorinstanzen erlassen worden sind und keiner der in
Art. 99-102 OG
oder in der Spezialgesetzgebung vorgesehenen Ausschlussgründe gegeben ist. Dies gilt auch für Verfügungen, die sowohl auf kantonalem bzw. kommunalem wie auch auf Bundesrecht beruhen, falls und soweit die Verletzung von unmittelbar anwendbarem Bundesrecht in Frage steht (
BGE 112 Ib 237
ff.,
BGE 108 Ib 74
ff.,
BGE 105 Ib 107
E. 1b und c; siehe auch
BGE 112 Ib 321
). Die Beschwerdeführerin rügt u.a. als Bundesrechtsverletzung, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht kantonales (bzw. kommunales) Recht statt des bundesrechtlichen Umweltschutzgesetzes angewendet. In dieser Hinsicht ist der vorinstanzliche Entscheid demnach zu Recht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten worden; das eidgenössische Umweltschutzgesetz verweist selbst auf die allgemeinen Rechtsmittelbestimmungen des OG und des VwVG (
Art. 54 Abs. 1 USG
).
Es ist im vorliegenden Fall keiner der Ausschlussgründe von
Art. 99-102 OG
gegeben. Insbesondere geht es nicht um eine Bau- oder Betriebsbewilligung für technische Anlagen im Sinne von
BGE 114 Ib 214 S. 217
Art. 99 lit. e OG
, weil das Verwaltungsgericht nicht über das technische Genügen der Betriebsanlagen der Beschwerdeführerin befunden hat (
BGE 113 Ib 397
; unveröffentlichtes Urteil i.S. Baumann vom 17. Mai 1988, E. 1a; vgl. BGE
BGE 104 Ib 124
f.,
BGE 103 Ib 153
E. 2). An der Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ändert auch der Umstand nichts, dass der angefochtene Entscheid im Rahmen eines Baubewilligungsverfahrens ergangen ist. Raumplanerische Entscheide sind nach
Art. 34 Abs. 3 RPG
zwar im Grundsatz der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung durch das Bundesgericht entzogen. Diese Vorschrift gilt indessen nur für die richterliche Überprüfung und Anwendung der raumplanerischen kantonal- und bundesrechtlichen Normen selbst, dagegen nicht für andere unmittelbar anwendbare Bundesrechtsbestimmungen (
BGE 113 Ib 397
; unveröffentlichtes Urteil i.S. Baumann vom 17. Mai 1988, E. 1a; vgl.
BGE 113 Ib 384
E. 4c, in deutscher Übersetzung in: ZBl 89/1988 S. 267 ff.).
c) Der angefochtene Entscheid stützt sich auf das kantonale Baurecht, insbesondere auf Art. 26 BauO und die Bestimmungen des PBG zum Begriff des mässig störenden Betriebes. Soweit diesen Bestimmungen neben dem bundesrechtlichen Umweltschutzrecht selbständige Bedeutung zukommt, kann demnach der angefochtene Entscheid gemäss
Art. 34 RPG
und
Art. 84 Abs. 1 lit. a OG
mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden. Wie unten auszuführen ist (E. 5), kann den angewendeten kantonalen Bestimmungen zum Begriff des mässig störenden Betriebes auch selbständige Bedeutung zukommen. In dieser Hinsicht erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich als zulässig.
d) Die von der Beschwerdeführerin eingereichten Rechtsmittel sind somit beide zulässig. In der Tat ist hier von einer Gabelung des Rechtsmittelweges auszugehen: Soweit die Streitsache dem Bundesverwaltungsrecht untersteht, sind Bundesrechtsverletzungen - mit der erwähnten Ausnahme hinsichtlich des Raumplanungsrechtes - mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend zu machen; insofern dagegen die Anwendung selbständigen kantonalen Rechts beanstandet wird, muss staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte erhoben werden (vgl.
BGE 105 Ib 108
f., 222 f. E. 2a). Im vorliegenden Fall sind die beiden Beschwerden im Rahmen einer einzigen Eingabe erhoben worden. Das ist zulässig (
BGE 113 Ia 389
,
BGE 112 Ib 165
, mit Hinweisen).
BGE 114 Ib 214 S. 218
e) Die Beschwerdeführerin ist als Bauherrin des Betonwerkes im Sinne sowohl von
Art. 103 lit. a OG
als auch von
Art. 88 OG
zur Beschwerdeführung legitimiert. (...)
2.
Die Beschwerdeführerin will die streitige Betonanlage in der Gewerbezone G der Gemeinde Bassersdorf errichten. In dieser Zone sind nach Art. 26 BauO "mässig störende Betriebe und Anlagen sowie Handels- und Dienstleistungsgewerbe zulässig". Das Verwaltungsgericht führte im angefochtenen Entscheid aus, das PBG enthalte für die immissionsmässige Qualifizierung von Betrieben die Bezeichnungen "nicht störend", "mässig störend" und "stark störend" (vgl.
§ 52 und
§ 294 PBG
), umschreibe diese Begriffe indessen nicht näher. Es handle sich aber um Begriffe des kantonalen Rechts, an welche die Gemeinden vorbehältlich abweichender Umschreibungen im Rahmen von
§ 294 PBG
gebunden seien. Diese Immissionskategorien gäben indessen nur einen groben Raster ab; es müsse der konkreten Ausgestaltung des Betriebes in einem gewissen Umfang Rechnung getragen werden. Dabei sei nicht nur auf die bei der Bewilligungserteilung konkret erkennbaren Einwirkungen, sondern auf das auf längere Sicht vorhandene Störpotential abzustellen. Dazu gehörten auch sogenannte Sekundärimmissionen, d.h. Immissionen, die nicht auf dem Betriebsgrundstück selber, sondern durch den Betrieb in der näheren Umgebung etwa durch Zubringerverkehr, Parkiermanöver und dergleichen verursacht werden. Das Störpotential sei an der von der Nutzungsordnung angestrebten Immissionsempfindlichkeit bzw. -toleranz des betreffenden Gebietes zu messen, die sich wiederum nach Art und Intensität der zulässigen (Wohn-)Überbauung richte.
In bezug auf das umstrittene Bauvorhaben führte das Verwaltungsgericht aus, dieses werde täglich 80 Lastwagenbewegungen mit sich bringen. Es sei offenkundig, dass ein derartiger, von einem einzelnen Betrieb ausgelöster Schwerverkehr sich nicht mit der neben mässig störenden Betrieben möglichen Wohnnutzung vertrage. Zu denken sei dabei nicht nur an die Lärm-, Staub- und Geruchsimmissionen, sondern auch an die direkte Gefährdung der Quartierbewohner durch einen derart massiven Lastwagenverkehr. Sodann könne die Zulassung eines einzelnen solchen Betriebes weitere ähnliche Gesuche nach sich ziehen, wodurch das Wohnen in einem solchen Quartier vollends verunmöglicht würde. Wenn die Beschwerdeführerin gegen eine solche Betrachtungsweise einwende, es gehe hier nicht um ein Wohnquartier, sondern um
BGE 114 Ib 214 S. 219
eine Gewerbezone, in der Wohnungen nur ausnahmsweise zulässig seien, so verkenne sie, dass der Begriff des mässig störenden Betriebes mindestens in seinem Kern durch das kantonale Recht umschrieben ist und nicht je nach Bauordnung oder Zone einen anderen Gehalt haben kann. Würde der hier zu beurteilende Betrieb als mässig störend qualifiziert, bedeutete dies, dass vergleichbare Betriebe auch in zahlreichen Quartieren mit gemischter Wohn- und Gewerbenutzung zugelassen werden müssten. Da die Betonaufbereitungsanlage schon aus diesen Gründen nicht als mässig störender Betrieb gewürdigt werden könne, könne offen bleiben, welche Immissionen vom Betonwerk selber ausgingen.
In bezug auf das Umweltschutzrecht des Bundes ist das Verwaltungsgericht zur Auffassung gelangt, dessen Inkrafttreten, insbesondere das Inkrafttreten der eidgenössischen Lärmschutz- Verordnung vom 15. Dezember 1986 (LSV; SR 814.331) habe an der eben geschilderten Rechtslage nichts geändert. Zwar ordne
Art. 43 LSV
die Lärmempfindlichkeit der Nutzungszonen im Sinne des Raumplanungsgesetzes, doch gelte diese Regelung nicht direkt. Gemäss
Art. 44 LSV
sei die Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen bei der Ausscheidung oder Änderung der Nutzungszonen oder bei der Änderung der "Baureglemente", spätestens 10 Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung vorzunehmen.
3.
Die Beschwerdeführerin rügt zunächst, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt hinsichtlich der Lärmimmissionen der geplanten Betonaufbereitungsanlage mangelhaft abgeklärt. Das Verwaltungsgericht hat die Verweigerung der Baubewilligung indessen nicht mit Immissionen der geplanten Anlage selbst, sondern mit den Sekundärimmissionen und insbesondere mit der massiven Zunahme des Schwerverkehrs begründet. Das ist grundsätzlich nicht zu beanstanden; Sekundärimmissionen sind bei der Überprüfung eines Projektes auf die Vereinbarkeit mit dem Umweltschutzrecht des Bundes zu beachten (
BGE 113 Ib 232
und 235, vgl.
BGE 112 Ib 37
f., 122 E. b) und können bei der Anwendung kantonalrechtlicher Bestimmungen von Bedeutung sein. Bei dieser Sachlage erweist sich die Rüge der Beschwerdeführerin, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt deshalb ungenügend abgeklärt, weil es die Immissionen des geplanten Betriebes nicht näher geprüft und keinen Augenschein bei ähnlichen Betrieben vorgenommen hat, zum vornherein als unbegründet.
4.
Zur Hauptsache beanstandet die Beschwerdeführerin, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht statt des Umweltschutzrechtes
BGE 114 Ib 214 S. 220
des Bundes die kantonalrechtlichen Begriffe des mässig störenden Betriebes und damit kantonales Umweltschutzrecht angewendet.
a) Das Verwaltungsgericht begründet die Unzulässigkeit der geplanten Betonaufbereitungsanlage der Beschwerdeführerin wie erwähnt mit den von dieser verursachten Sekundärimmissionen wie beispielsweise Zubringerverkehr, Parkiermanöver und dergleichen. Diese vertrügen sich nicht mit der neben mässig störenden Betrieben grundsätzlich möglichen Wohnnutzung. Es gelangte daher zum Schluss, die geplante Betonaufbereitungsanlage stelle keinen mässig störenden, sondern einen in der Gewerbezone G unzulässigen stark störenden Betrieb im Sinne des kantonalen und kommunalen Rechts dar.
Das Bundesgericht hat schon verschiedentlich festgestellt, dass das Bundesgesetz über den Umweltschutz sowie die Lärmschutz- Verordnung und die Luftreinhalte-Verordnung vom 16. Dezember 1985 (LRV; SR 814.318.142.1) mit Rücksicht auf die öffentlichen Interessen, die diese Normen wahren, auf alle Verfahren, die im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens noch nicht abgeschlossen sind, grundsätzlich unmittelbar anwendbar sind (
BGE 113 Ib 62
, 382, 399,
BGE 112 Ib 42
f.). Soweit sich der materielle Gehalt der kantonalrechtlichen Vorschriften über den Umweltschutz mit dem Bundesrecht deckt oder weniger weit geht als dieses, verliert das kantonale Recht seine selbständige Bedeutung; es behält sie dort, wo es die bundesrechtlichen Bestimmungen ergänzt oder - soweit erlaubt (
Art. 65 Abs. 2 USG
) verschärft (
BGE 113 Ib 399
, mit Hinweisen; HAEFELIN/HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 117 f.). Von Bedeutung ist im vorliegenden Fall insbesondere
Art. 65 Abs. 2 USG
, wonach die Kantone keine neuen Immissionsgrenzwerte, Alarmwerte oder Planungswerte festlegen und keine neuen Bestimmungen über Typenprüfungen und umweltgefährdende Stoffe erlassen dürfen. Bestehende kantonale Vorschriften gelten lediglich bis zum Inkrafttreten entsprechender Vorschriften des Bundesrates (
Art. 65 Abs. 2 USG
).
In bezug auf die für den vorliegenden Fall interessierende Begrenzung der Umweltbelastung durch Luftverunreinigungen und Lärm hat nun der Bundesrat in der Luftreinhalte-Verordnung und in der Lärmschutz-Verordnung bundesrechtliche Grundsätze aufgestellt. Insbesondere hat er in der Lärmschutz-Verordnung Immissionsgrenzwerte, Alarmwerte und Planungswerte festgelegt. Immissionen sind demnach grundsätzlich nach diesen Vorschriften
BGE 114 Ib 214 S. 221
zu beurteilen. Hinsichtlich Lärmimmissionen gelten danach unterschiedliche Werte für die einzelnen Empfindlichkeitsstufen, welche nach
Art. 43 LSV
für Nutzungszonen im Sinne von
Art. 14 ff. RPG
massgebend sind. Diese Empfindlichkeitsstufen werden im Rahmen der kommunalen Nutzungsordnung und spätestens innert zehn Jahren zugeordnet (
Art. 44 Abs. 2 LSV
). Bis zu dieser Zuordnung bestimmen die Kantone die Empfindlichkeitsstufen im Einzelfall (
Art. 44 Abs. 3 LSV
; vgl. auch
Art. 34 LSV
). Insoweit gilt daher das frühere kantonale Recht nicht mehr, und es sind anstelle desselben die neuen bundesrechtlichen Vorschriften anzuwenden.
Das Verwaltungsgericht hat sich mit den Anforderungen des eidgenössischen Umweltschutzrechtes an die Zulässigkeit der Umweltbelastung durch Luftverunreinigung und Lärm nicht auseinandergesetzt und dessen Bestimmungen nicht angewendet. Es hat mangels Zuordnung zu einer Empfindlichkeitsstufe auch die Voraussetzungen für die Anwendung der Lärmschutz-Verordnung nicht geschaffen. Angesichts von
Art. 44 Abs. 3 LSV
, wonach die Kantone die Empfindlichkeitsstufe im Einzelfall zuordnen, geht es nicht an, bis zur Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen im Rahmen der Nutzungsordnung zuzuwarten. Indem das Verwaltungsgericht die Umweltbelastung und damit die Zulässigkeit des Projektes der Beschwerdeführerin allein gestützt auf das kantonale Recht anstatt nach dem massgeblichen eidgenössischen Recht beurteilte, hat es demnach Bundesrecht im Sinne von
Art. 104 lit. a OG
verletzt. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich daher in dieser Hinsicht als begründet.
b) Die Beschwerdeführerin geht davon aus, ihr Grundstück und sinngemäss wohl auch das vom erwähnten zusätzlichen Schwerverkehr berührte Gebiet müssten der Empfindlichkeitsstufe IV im Sinne von
Art. 43 Abs. 1 lit. d LSV
zugeordnet werden, weil in der Gewerbezone der Gemeinde Bassersdorf abgesehen von standortgebundenen Wohnungen Wohnbauten verboten seien. Gemäss
Art. 43 Abs. 1 lit. c LSV
ist die Empfindlichkeitsstufe III für Zonen vorgesehen, in denen mässig störende Betriebe zugelassen sind, namentlich in Wohn- und Gewerbezonen (Mischzonen) sowie Landwirtschaftszonen. Bei der Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen zu den Nutzungszonen ist einzig die in den planungsrechtlichen Nutzungsvorschriften festgelegte Störungsintensität massgebend. Bei deren Festlegung steht den zuständigen Instanzen ein grosser Ermessensspielraum zu. Angesichts der Weite dieses Spielraumes kann es im vorliegenden Fall nicht die Aufgabe des
BGE 114 Ib 214 S. 222
Bundesgerichts sein, dem betroffenen Gebiet eine Empfindlichkeitsstufe im Sinne von
Art. 43 LSV
zuzuordnen und als erste Instanz den geplanten Betrieb der Beschwerdeführerin auf die direkten und sekundären Auswirkungen hin zu beurteilen. Die Sache ist vielmehr unter Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Verwaltungsgericht zu neuer Beurteilung zurückzuweisen (
Art. 114 Abs. 2 OG
).
In der Folge wird eine Empfindlichkeitsstufe zuzuordnen und dann unter Berücksichtigung der zu erwartenden Primär- und Sekundärimmissionen zu beurteilen sein, ob der Betrieb der Beschwerdeführerin als mässig störend oder stark störend im Sinne von
Art. 43 Abs. 1 lit. c und d LSV
zu betrachten ist. Dies ist nicht mehr in Anwendung von kantonalem Recht, sondern ausschliesslich in Anwendung der Lärmschutz-Verordnung zu beurteilen, die in den Anhängen 3-7 Planungswerte, Immissionsgrenzwerte und Alarmwerte festgesetzt hat. Sind etwa die für die Empfindlichkeitsstufe III gültigen Werte anwendbar und werden sie nicht überschritten, liegt ein mässig störender Betrieb im Sinne von
Art. 43 Abs. 1 lit. c LSV
vor. Er darf dann nicht mit der Begründung für unzulässig erklärt werden, er verursache zuviel Lärm. Indessen hat sich auch ein solcher Betrieb an die in
Art. 11 Abs. 2 USG
enthaltene Regel zu halten, wonach Emissionen unabhängig von der bestehenden Umweltbelastung im Rahmen der Vorsorge so weit zu begrenzen sind, als dies technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich tragbar ist (
BGE 113 Ib 401
f.; unveröffentlichtes Urteil i.S. Baumann vom 17. Mai 1988). Zu beachten bleibt allerdings das Verhältnis zum nachfolgend erörterten kantonalen Recht.
5.
Das Verwaltungsgericht hat den projektierten Betrieb nicht nur aus vom Umweltschutzrecht des Bundes erfassten Gründen als übermässig störend und damit in der Gewerbezone von Bassersdorf unzulässig erachtet. Es hat vielmehr noch weitere gegen diesen Betrieb sprechende Gründe angeführt und ist hierauf zum Schluss gelangt, alle Gründe zusammengenommen führten zum Schluss, der projektierte Betrieb sei nicht mehr nur mässig, sondern stark störend.
Es ist nicht auszuschliessen, dass der kantonal- und kommunalrechtliche Begriff des mässig störenden Betriebes trotz des erwähnten Inkrafttretens des Umweltschutzrechtes des Bundes noch eine selbständige Bedeutung behalten hat. So bezieht sich das Umweltschutzrecht des Bundes nicht auf besondere städtebauliche Aspekte,
BGE 114 Ib 214 S. 223
wie sie gemäss den Zonenvorschriften für den Charakter einer Quartierbebauung massgebend sein können. Auch erfasst es nicht alle denkbaren Auswirkungen, die insbesondere ein Betrieb mit grossem Verkehrsaufkommen mit sich bringen kann (Parkierungsproblem, Gefährdung der Fussgänger usw.). Ein Teil der vom Verwaltungsgericht erwähnten Sekundärimmissionen fällt unter diese letztere, nicht vom Umweltschutzrecht des Bundes erfasste Störungskategorie. Es ist daher grundsätzlich nach wie vor denkbar, einen Betrieb als unzulässig zu bezeichnen mit der Begründung, er falle nicht mehr in die kantonalrechtliche Gruppe der mässig störenden, sondern in diejenige der stark störenden Betriebe, weil er nicht vom Umweltschutzrecht des Bundes erfasste starke Störungen bewirke. In einem solchen Fall kann ein Baugesuch allein gestützt auf diese Begründung abgewiesen werden, ohne dass gestützt auf
Art. 44 Abs. 3 LSV
Empfindlichkeitsstufen im Einzelfall festgelegt werden und ein Bauvorhaben aufgrund etwa der im Anhang 6 zur Lärmschutz-Verordnung festgesetzten Belastungsgrenzwert beurteilt wird. Wird von einer letzten kantonalen Instanz in einem konkreten Fall so argumentiert, so ist ihr Entscheid insoweit mit staatsrechtlicher Beschwerde anzufechten, da es dann ausschliesslich um die Anwendung von neben dem Umweltschutzrecht des Bundes weiterhin bestehendem selbständigem kantonalem Recht geht.
Die Frage, ob der Begriff des nicht störenden Betriebes im Sinne des Planungs- und Baugesetzes des Kantons Zürich und der Bauordnung der Gemeinde Bassersdorf neben dem Umweltschutzrecht des Bundes noch eine selbständige Bedeutung hat, welchen Inhalt dieser gegebenenfalls aufweist und ob aufgrund des kantonalen Rechts das Baugesuch der Beschwerdeführerin abgewiesen werden konnte, braucht im vorliegenden Fall nicht näher abgeklärt zu werden, da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach der vorstehenden Erwägung gutzuheissen ist und die Sache zu neuer Beurteilung an das Verwaltungsgericht zurückgewiesen wird. | public_law | nan | de | 1,988 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2e35a6b4-e25f-4ea2-87a5-9986f62a2688 | Urteilskopf
117 IV 14
5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. März 1991 i.S. R. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 126 Abs. 1 StGB
; Begriff der Tätlichkeit, Züchtigungsrecht des Lehrers.
Eine Tätlichkeit ist anzunehmen bei einer das allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Mass überschreitenden physischen Einwirkung auf einen Menschen, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge hat. Eine solche Einwirkung kann auch gegeben sein, wenn sie keine körperlichen Schmerzen verursacht (E. 2a; Änderung der Rechtsprechung).
Schliesst das Bundesrecht ein Züchtigungsrecht des Lehrers aus? Enthält insbesondere das Verbot der Körperstrafe gemäss
Art. 65 Abs. 2 BV
auch ein solches der körperlichen Züchtigung von Schülern durch den Lehrer? Fragen offengelassen, da ein Züchtigungsrecht des Lehrers jedenfalls eine formelle gesetzliche Grundlage voraussetzt und diese im hier massgeblichen kantonalen Recht nicht besteht (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 15
BGE 117 IV 14 S. 15
A.-
R. ist Psychologe mit Hochschulabschluss und führt eine Praxis für Lebensberatung. In seiner Freizeit betreibt er, ausgezeichnet mit dem schwarzen Gurt, Karatesport.
Vom 3. bis zum 15. Oktober 1988 beteiligte er sich als Hilfsleiter an einem von der Stadt Solothurn organisierten Ferienlager für Schulkinder in Vignogn (GR). Dort kam es am 10. Oktober 1988 zwischen ihm und dem damals sechzehnjährigen D. zu einer Auseinandersetzung. In deren Verlauf versetzte R. dem D. je einen Stoss ("Puff") im Bereich des Hüftansatzes und auf den Arm.
B.-
Mit Urteil vom 11. Juli 1990 sprach der Kreisgerichtsausschuss Lugnez R. schuldig der Tätlichkeit gemäss
Art. 126 StGB
und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 90.--.
C.-
Eine von R. dagegen eingereichte Berufung wies der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden am 18. September 1990 ab.
D.-
R. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer bringt im weiteren vor, der objektive Tatbestand einer Tätlichkeit sei nicht erfüllt.
a) aa) Gemäss Art. 126 Abs. 1 neue Fassung (gleichlautend wie Art. 126 alte Fassung) StGB wird mit Haft oder Busse bestraft, wer gegen jemanden Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben. Was unter dem
BGE 117 IV 14 S. 16
Begriff der Tätlichkeiten zu verstehen ist, sagt das Gesetz nicht. Insbesondere schweigt es sich darüber aus, welches Mindestmass ein Eingriff in die körperliche Integrität eines Menschen erreichen muss, um nach
Art. 126 StGB
strafbar zu sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Tätlichkeit erst gegeben bei einer Handlung, die den Betroffenen physisch schmerzt ("fait quelque mal", vgl.
BGE 107 IV 42
;
BGE 89 IV 73
;
BGE 69 IV 4
; ebenso SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Besonderer Teil, 1. Band,
Art. 126 N 1
). Die Lehre lehnt dieses Erfordernis der Schmerzzufügung dagegen überwiegend als zu eng ab; sie hält dafür, der objektive Tatbestand des
Art. 126 Abs. 1 StGB
sei bereits erfüllt, wenn der Angriff beim Opfer zu einer Störung des Wohlbefindens bzw. einem deutlichen Missbehagen führt (vgl. NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 47; REHBERG, Strafrecht III, 5. Aufl., S. 36/7; TRECHSEL, Kurzkommentar zum Schweizerischen Strafgesetzbuch,
Art. 126 N 2
). Soweit sie am Erfordernis der Schmerzeinwirkung festhält, räumt sie ein, dass auf dieses bei Substanzeingriffen wie Haareschneiden zu verzichten sei (vgl. SCHUBARTH, a.a.O.,
Art. 126 N 2
).
bb)
Art. 126 StGB
schützt, wie sich aus seiner Einordnung bei den strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben (
Art. 111 ff. StGB
) ergibt, die körperliche Integrität des Menschen. Seine Anwendung setzt somit einen Angriff auf dieses Rechtsgut voraus; die Beeinträchtigung allein der seelischen Unversehrtheit ist allenfalls als Ehrverletzung strafbar (vgl. TRECHSEL, a.a.O.,
Art. 126 N 1
). Führt der Angriff beim Betroffenen zu einer Schädigung des Körpers oder der Gesundheit, ist gemäss
Art. 126 Abs. 1 StGB
keine Tätlichkeit mehr gegeben; hier greifen bereits die Körperverletzungstatbestände ein. Als Tätlichkeiten erfasst das Gesetz demnach nur die unbedeutendsten Angriffe auf den Körper des Menschen (
BGE 103 IV 69
;
BGE 68 IV 85
).
Der Strafschutz würde indes überdehnt, wenn selbst bei den geringfügigsten und alltäglichsten Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit eine Tätlichkeit angenommen würde. Nicht jede Berührung kann strafbar sein. Strafwürdig sind nur Eingriffe, die über das allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Mass hinausgehen; eine damit zusammenhängende Beeinträchtigung der seelischen Integrität ist mitzuberücksichtigen. Mit der Sozialordnung in Widerspruch steht eine körperliche Einwirkung in jedem Fall dann, wenn sie dem Betroffenen physische Schmerzen bereitet; hier ist (mindestens) eine Tätlichkeit deshalb stets zu
BGE 117 IV 14 S. 17
bejahen. Die Grenze des gemeinhin Üblichen kann aber auch bei einem Angriff überschritten sein, der keine körperlichen Schmerzen verursacht. So verhält es sich beispielsweise, wenn der Täter sein Opfer zu Boden wirft, sich dieses aber nicht wehtut, weil es sich mit den Händen auffangen oder abrollen und einen brüsken Aufprall damit verhindern kann. In solchen Fällen erweist sich die bisherige Auffassung des Kassationshofs, wonach eine Tätlichkeit erst gegeben sei, wenn das Opfer körperliche Schmerzen verspürt, als zu eng. In Änderung der Rechtsprechung ist eine Tätlichkeit gemäss
Art. 126 StGB
vielmehr anzunehmen bei einer das allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Mass überschreitenden physischen Einwirkung auf einen Menschen, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge hat (vgl. STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 3. Aufl.,
§ 3 N 55
).
Nicht entscheidend sein kann, ob der Angriff beim Betroffenen zu einer Störung des Wohlbefindens oder einem deutlichen Missbehagen führt; denn sonst hinge die Strafbarkeit des Täters von der Empfindlichkeit des Opfers ab. Wenn allerdings ein Eingriff in die körperliche Integrität geeignet ist, bei einem durchschnittlich widerstandsfähigen Menschen eine Störung des Wohlbefindens hervorzurufen, ist dies ein gewichtiges Indiz dafür, dass er über das allgemein übliche und geduldete Mass hinausgeht.
cc) Ob ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als alltägliches und gesellschaftlich toleriertes Verhalten anzusehen ist, ist im Einzelfall unter Berücksichtigung der Tatumstände zu entscheiden. Sofern dadurch nicht bereits eine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit bewirkt wird, ist eine Tätlichkeit im allgemeinen jedoch anzunehmen bei Ohrfeigen, Faustschlägen, Fusstritten und heftigen, insbesondere mit den Händen und Ellbogen geführten Stössen, ferner beim Anwerfen fester Gegenstände von einigem Gewicht, beim Begiessen des Opfers mit einer Flüssigkeit und bei der Zerzausung einer kunstvollen Frisur. Harmlose Schubse, wie sie namentlich im Gedränge, etwa in Warteschlangen vor Skiliften, vorkommen können, sind dagegen keine Tätlichkeiten.
b) Nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
) hat der Beschwerdeführer dem D. gezielt zwei Stösse ("Püffe") versetzt und dadurch bei diesem eine vorübergehende, wenn auch nur harmlose Störung des Wohlbefindens herbeigeführt.
Dieser Angriff ist nicht mehr als allgemein übliches und gebilligtes Verhalten zu betrachten. Der im Karatesport erfahrene
BGE 117 IV 14 S. 18
Beschwerdeführer wollte ein Exempel statuieren, und er attackierte D. in einer Weise, die er selbst als gewagt einstufte. Die Stösse konnten im übrigen nicht völlig harmlos gewesen sein; denn sie waren immerhin geeignet, das Wohlbefinden eines sechzehnjährigen Burschen zu stören.
Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz den objektiven Tatbestand der Tätlichkeit gemäss
Art. 126 StGB
zu Recht bejaht.
4.
Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, zur Züchtigung des D. berechtigt gewesen zu sein.
a) Das Bundesgericht hatte sich bisher nicht zur Frage auszusprechen, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein Lehrer zur Rechtfertigung einer Tätlichkeit gegenüber einem Schüler auf ein Züchtigungsrecht berufen könne. Allerdings wurde in
BGE 89 IV 73
angenommen, eine leichte Züchtigung (Ohrfeige), die ein Hausverwalter in Ausübung seiner Pflichten einem Kinde zufügt und die innerhalb vernünftiger Grenzen bleibt, stelle keine Tätlichkeit dar. In dieser Entscheidung kommt die Tendenz zum Ausdruck, die Züchtigung wegen des Erziehungszwecks als gar nicht tatbestandsmässig anzusehen (ebenso Corte di cassazione Ticino, Rep 110 (1977), S. 248 ff.).
An dieser Rechtsprechung kann nicht festgehalten werden. Eine Ohrfeige erfüllt den objektiven Tatbestand einer Tätlichkeit (oben E. 2). Dies gilt auch dann, wenn der Täter aus einem erzieherischen Beweggrund gehandelt hat (vgl. TRECHSEL, a.a.O.,
Art. 126 N 7
; SCHULTZ, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1963, ZBJV 101 (1965), S. 19 ff.; SCHUBARTH, a.a.O.,
Art. 126 N 20
); fragen kann man sich diesfalls nur, ob die Tätlichkeit durch ein Züchtigungsrecht gerechtfertigt ist.
b) Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat der Gesetzgeber des Kantons Graubünden ein Züchtigungsrecht des Lehrers durch qualifiziertes Schweigen ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer stellt dies nicht in Frage. Auf eine entsprechende Rüge könnte auch nicht eingetreten werden, da Ausführungen über die Verletzung kantonalen Rechts im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde unzulässig sind (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
). Es ist somit davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer aufgrund des bündnerischen Rechts ein Züchtigungsrecht nicht zustand.
c) aa) Die Vorinstanz hat überdies geprüft, ob sich ein Züchtigungsrecht aus dem solothurnischen Recht ergebe. Sie geht offenbar davon aus, dass sich das Züchtigungsrecht bei einem von einer
BGE 117 IV 14 S. 19
Solothurner Schule mit Solothurner Schülern in Graubünden durchgeführten Ferienlager nicht oder jedenfalls nicht ausschliesslich nach dem bündnerischen Recht beurteile und das solothurnische zumindest auch beachtlich sei. Ob diese Auffassung zutrifft, kann offenbleiben, wenn ein Züchtigungsrecht nach solothurnischem Recht nicht besteht.
bb) Die Vorinstanz hält fest, dass im Kanton Solothurn das Züchtigungsrecht des Lehrers gesetzlich nicht geregelt ist. Damit stellt sich die Frage, ob es gewohnheitsrechtlich begründet sein könnte.
cc) Die körperliche Züchtigung eines Schülers beeinträchtigt einerseits das Recht der Eltern, über die Art der Erziehung ihres Kindes zu entscheiden und insbesondere jede physische Massregelung desselben abzulehnen (vgl. SCHUBARTH, a.a.O.,
Art. 126 N 14
, und TRECHSEL, a.a.O.,
Art. 126 N 7
, mit Hinweisen) und andererseits das Grundrecht der persönlichen Freiheit und Menschenwürde des Betroffenen selbst. Als Eingriff in die persönliche Freiheit bedarf sie einer formellen gesetzlichen Grundlage (
BGE 89 I 100
; HALLER, Kommentar BV, Persönliche Freiheit, N 119; COTTIER, Die Verfassung und das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage, Diss. Bern 1983, S. 53 ff.). Auf Gewohnheitsrecht lässt sich das Züchtigungsrecht des Lehrers somit nicht stützen (ebenso SCHUBARTH, a.a.O.; TRECHSEL, a.a.O.; kritisch auch HAFTER, Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Bern 1946, S. 163; LOGOZ/SANDOZ, Commentaire du Code Pénal Suisse, Partie générale,
Art. 32 N 2
c; anderer Ansicht HAEFLIGER, ZStrR 80 (1964), S. 36 f.; WALDER, ZStrR 81 (1965), S. 43/4; PLOTKE, Schweizerisches Schulrecht, Bern 1979, S. 312).
dd) Auch nach dem Recht des Kantons Solothurn ist also ein Züchtigungsrecht des Lehrers zu verneinen. Ausdrücklich ist ein solches nicht vorgesehen, und gewohnheitsrechtlich ist es unzulässig. Im übrigen würde Gewohnheitsrecht eine langdauernde, ununterbrochene und einheitliche Übung voraussetzen, die der allgemeinen Rechtsüberzeugung entspricht (vgl. HÄFELIN/HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl., S. 5). Von einer solchen Überzeugung kann beim Züchtigungsrecht des Lehrers angesichts dessen zunehmender Ablehnung im Schrifttum und dessen ausdrücklichen Ausschlusses in mehreren Kantonen (vgl. dazu die Hinweise bei SCHUBARTH, a.a.O.,
Art. 126 N 29
, und DINKELMANN, Die Rechtsstellung des Schülers im Schülerdisziplinarrecht,
BGE 117 IV 14 S. 20
Diss. Zürich 1985, S. 75 ff. und 132) jedoch nicht mehr gesprochen werden.
d) Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob ein Züchtigungsrecht des Lehrers überdies aus anderen Gründen abzulehnen ist, etwa deshalb, weil es den Kantonen nicht nach Belieben offensteht, Rechtfertigungsgründe in ihrem öffentlichen Recht zu schaffen, sondern nur im Rahmen der Wertungen, die durch das Bundesrecht vorgezeichnet sind (vgl. SCHUBARTH, a.a.O.,
Art. 126 N 15
, mit Nachweisen), oder weil nach neuerer Auffassung aus dem Verbot der Körperstrafe nach
Art. 65 Abs. 2 BV
auch ein Verbot der körperlichen Züchtigung von Schülern durch den Lehrer herzuleiten ist (so DICKE, Kommentar BV,
Art. 65 N 25
, mit Hinweisen). Offengelassen werden kann auch, ob eine Rechtfertigung mit der zusätzlichen Begründung zu verneinen wäre, der Beschwerdeführer habe nicht innerhalb der Grenzen eines allfälligen Züchtigungsrechts gehandelt.
e) Anzumerken bleibt, dass körperliche Massnahmen gegenüber einem Schüler dem Lehrer auch dann nicht in jedem Fall untersagt sind, wenn ihm ein Züchtigungsrecht nicht zusteht. Unter den Voraussetzungen der Notwehr ist er berechtigt, Angriffe eines Schülers gegen ihn selbst, gegen einen Klassengefährten oder gegen das öffentliche Eigentum, soweit erforderlich, durch einen körperlichen Zugriff abzuwehren (vgl. JESCHECK, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl., Berlin 1988, S. 356; SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, Kommentar, 23. Aufl.,
§ 223 N 20
). | null | nan | de | 1,991 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2e382a3d-7b55-4da6-8c9c-762a17a205e6 | Urteilskopf
111 Ia 12
5. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour de droit public du 13 mars 1985 dans la cause Beyeler Machines S.A. contre Alipoor et Vaud, Chambre des exequatur du Tribunal cantonal (recours de droit public) | Regeste
Art. 4 BV
; willkürliche Anwendung kantonalen Rechts im Verfahren betreffend Vollstreckung eines ausländischen Urteils.
Es ist willkürlich, die rechtmässige Zustellung eines Urteils im Ausland unter Verzicht auf Beibringung des Beweises zu vermuten, wenn insbesondere von diesem die Beachtung des vom kantonalen Recht ausdrücklich vorbehaltenen schweizerischen ordre public abhängt. | Sachverhalt
ab Seite 13
BGE 111 Ia 12 S. 13
Par jugement du 17 décembre 1978, la 27e Chambre du Tribunal de Grande Instance de Téhéran a condamné Beyeler Machines S.A., à Crisser, à livrer à Ali Askar Alipoor, à Téhéran, un appareil de coupe hydraulique neuf et à lui payer certaines sommes d'argent. Les créances d'Alipoor se fondaient sur une lettre que le représentant de la maison suisse en Iran lui avait adressée le 5 février 1978, en modification d'une vente intervenue le 3 octobre 1977. Le montant principal consistait en une indemnité pour retard dans la livraison.
Le Président de la 16e Chambre du Tribunal public de Téhéran a attesté, le 31 décembre 1982, que le jugement précité était définitif et jouissait de l'autorité de la chose jugée. Le Conseil supérieur judiciaire a confirmé, par la suite, la compétence de ce magistrat pour délivrer l'attestation.
Le 8 décembre 1983, Alipoor a demandé l'exequatur du jugement dans le canton de Vaud. Beyeler Machines S.A. s'y est opposée en faisant valoir que rien n'établissait la notification régulière de la décision en cause et que, partant, elle n'avait pas pu porter le litige en appel; pour ce motif, l'ordre public suisse interdisait l'exécution.
Le 25 octobre 1983, la Chambre des exequatur du Tribunal cantonal vaudois a admis la demande d'Alipoor, en application de l'art. 507 du Code de procédure civile vaudois (ci-après: CPC).
Saisi d'un recours de droit public de Beyeler Machines S.A., le Tribunal fédéral a annulé ce prononcé cantonal.
BGE 111 Ia 12 S. 14
Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
Quand bien même elle reconnaît avoir été citée régulièrement et avoir comparu à l'audience par le ministère d'un avocat, la recourante prétend - et c'est là son grief essentiel - n'avoir pas "pu faire valoir ses droits" (art. 507 al. 2 lettre c CPC); le jugement ne lui ayant pas été notifié, elle n'a pu former le recours prévu par la loi iranienne, dans les dix jours dès réception de l'avis de jugement, devant le Tribunal d'appel de Téhéran. Cette carence de procédure violerait aussi l'art. 507 al. 2 lettre d, qui empêche l'exequatur "si l'exécution ... est ... contraire à l'ordre public". L'autorité intimée aurait appliqué arbitrairement ces deux dispositions en accueillant la requête d'Alipoor.
a) Selon la jurisprudence, l'ordre public suisse est violé par la reconnaissance et l'exécution d'un jugement étranger lorsque celui-ci porte atteinte au sentiment suisse de la justice d'une manière intolérable, en méconnaissant des dispositions fondamentales de l'ordre juridique suisse (
ATF 107 Ia 199
,
ATF 103 Ia 532
et les arrêts cités), en raison soit de la procédure suivie à l'étranger, soit du contenu du jugement (
ATF 107 Ia 199
,
ATF 105 Ib 47
et les arrêts cités). La recourante ne prétend pas que l'
art. 507 CPC
consacrerait une autre notion de l'ordre public.
L'ordre public suisse exige le respect d'une règle fondamentale de la procédure civile, garanti par l'
art. 4 Cst.
, à savoir la nécessité de la communication écrite ou de la prononciation en audience des jugements, du moins lorsque les parties peuvent exercer des recours prévus par la loi, c'est-à-dire faire valoir un de leurs droits essentiels (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3e éd., p. 247, ch. V; KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 3e éd., p. 175/176; HAUSER/HAUSER, Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich, 3e éd., n. 1 I et II ad § 198; LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3e éd., n. 4 ad art. 204). Cette nécessité est tellement évidente que si les lois de procédure la mentionnent (cf. notamment les
art. 31a et 301 al. 3 CPC
vaud.), elle est rarement rappelée explicitement dans la jurisprudence (cf. par exemple SJ 1975 p. 606, cité in JAAC 1979 No 16), ainsi que dans les conventions internationales (par exemple art. 16 al. 1 ch. 2 de la Convention du 15 juin 1869 entre la Suisse et la France sur la compétence judiciaire et l'exécution des jugements en matière civile). La nécessité d'une communication du jugement a cependant déjà été reconnue dans une affaire où
BGE 111 Ia 12 S. 15
l'exequatur ne dépendait pas d'une convention internationale (arrêt rendu le 19 décembre 1979 dans la cause United Financial Group. Inc. c. Warmbrunn, consid. 2). La jurisprudence publiée aux
ATF 102 Ia 308
ss n'est d'aucun secours à l'intimé qui s'y réfère, car elle suppose la nécessité de communiquer régulièrement le jugement aux parties, selon le droit du pays où il a été rendu. L'intimé ne prétend pas que le jugement de Téhéran constituerait formellement une chose jugée même s'il n'avait pas été communiqué, parce qu'exceptionnellement, selon le droit iranien, cette opération aurait été remplacée à juste titre par une publication officielle, voire n'aurait pas été nécessaire en l'espèce (cf. l'arrêt rendu le 19 décembre 1979 dans la cause Warmbrunn c. Geddes: défaut sans excuses, consid. 4b; cf. aussi l'
art. 29 al. 4 OJ
).
Quant à la preuve d'une notification régulière à l'étranger, le fardeau en incombe naturellement à celui qui entend s'en prévaloir en Suisse, en l'occurrence le requérant à l'exequatur; sinon, ce serait exiger du défendeur à cette procédure qu'il établisse un fait négatif (absence de notification régulière), ce qui lui est fort difficile.
b) En l'espèce, l'intimé Alipoor a présenté à l'autorité d'exequatur une traduction où il est constaté, in fine, que le jugement est "contradictoire". Celle que la recourante a produite dit qu'il "a été prononcé en présence des deux parties" et qu'il peut être attaqué dans un délai de 10 jours "dès réception de l'avis de jugement". Ces formules ne sauraient se référer à la prononciation en séance publique - personne ne le prétend d'ailleurs -, d'autant qu'une communication écrite est mentionnée, qui fait partir le délai d'appel. Au reste, dans la mesure où la copie contient un procès-verbal des opérations, les deux traductions - qui ne concordent pas exactement - n'indiquent pas la présence des parties et/ou de leurs avocats à l'audience de jugement.
Certes, l'intimé a produit d'autres documents en première instance. Le "titre exécutoire" (qui se borne à reproduire le dispositif du jugement, désigné à tort comme émanant de la 16e Chambre), l'attestation du président de ladite chambre et celle du Conseil supérieur judiciaire (qui ne fait que confirmer la compétence du président) permettent de penser que le jugement dont l'exécution est demandée est à première vue définitif et jouit de l'autorité de la chose jugée. Mais on ne voit pas la portée de "l'ordonnance de rejet émise par le greffe de la 7e Chambre du
BGE 111 Ia 12 S. 16
tribunal public de Téhéran", ni de "l'attestation du greffe de la Cour de cassation". S'il y avait eu recours, l'intimé eût sans doute présenté l'arrêt de dernière instance. Or, précisément, la recourante soutient que, faute de notification du jugement, elle n'a pu exercer un recours, c'est-à-dire faire valoir un de ses droits essentiels.
Elle ne prétend pas fermement, il est vrai, que le procès aurait été conduit par un représentant sans pouvoirs (
ATF 85 I 49
consid. 4c). Elle n'allègue pas davantage que le jugement aurait été communiqué à son avocat alors qu'elle aurait signifié au tribunal la révocation du mandat (arrêt rendu le 19 janvier 1979 dans la cause Aebi c. Vaud, Cour des poursuites et faillites). Elle doit donc se laisser imputer d'éventuelles incorrections de son avocat et de son employé, l'un de ses responsables à Téhéran, avec signature collective à deux (cf. le procès-verbal de son conseil d'administration du 21 juin 1977). Mais le "titre exécutoire" mentionne l'avocat du demandeur, pas celui de la défenderesse. De plus, le siège de Crissier est seul indiqué; or les nouveaux organes de la recourante - qui avait entre-temps sollicité et obtenu un concordat - n'auraient pas trouvé trace du jugement dans les dossiers de la société. Enfin, il est pour le moins curieux que l'acheteur iranien qui a besoin dans l'exercice de sa profession d'une machine suisse spécialisée ait attendu six ans pour en exiger la livraison, alors qu'il a obtenu un jugement de condamnation quelques mois seulement après l'échéance fixée au 5 mars 1978. Il était dès lors normal que l'intimée à la requête d'exequatur exigeât que fût établie la notification régulière au regard du droit iranien, non par elle mais par le requérant, mieux à même d'en obtenir la preuve dans son propre pays que la maison suisse d'établir le fait négatif de l'absence de communication.
3.
Dans ces circonstances, il n'était pas soutenable (
ATF 109 Ia 22
et arrêts cités) de la part de la Chambre des exequatur de présumer la communication régulière en Iran, sans en exiger la preuve. De cette preuve dépendait le respect tant de l'ordre public suisse, réservé par le droit vaudois, que de l'art. 507 al. 2 lettre c CPC, selon lequel la partie condamnée non seulement doit avoir été régulièrement citée, mais encore doit avoir pu faire valoir pleinement ses droits essentiels, en l'occurrence exercer un recours prévu par le droit iranien. | public_law | nan | fr | 1,985 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2e3c916f-9f20-4a65-a0ea-6809a31e9032 | Urteilskopf
85 I 115
19. Urteil vom 15. Mai 1959 i.S. X. gegen Wehrsteuer-Rekurskommission des Kantons Zürich. | Regeste
Wehrsteuer:
1. Der Bezug von Gratisaktien unterliegt der Wehrsteuer für Einkommen (Bestätigung der Rechtsprechung).
2. Wem ist dieses Einkommen zuzurechnen, wenn die Aktien in Nutzniessung stehen oder Gegenstand eines nach angelsächsischem Recht begründeten Treuhandverhältnisses (Trust) sind? Auslegung von Art. 21 Abs. 5 WStB. | Sachverhalt
ab Seite 115
BGE 85 I 115 S. 115
A.-
Y. errichtete in England im Jahre 1936, kurz vor seinem Tode, durch Testament einen Trust zugunsten seines Bruders Z. und seiner in der Schweiz lebenden Schwester, der Beschwerdeführerin X., sowie der Nachkommen dieser beiden. Die Beschwerdeführerin hat Anspruch
BGE 85 I 115 S. 116
auf den Ertrag der Hälfte des Trustvermögens, während die andere Hälfte den Nachkommen des im Jahre 1952 verstorbenen Bruders Z. verhaftet ist. Nach dem Tode der Beschwerdeführerin wird der ihr zustehende Ertragsanteil ihren Kindern zukommen.
Zu der für den Stamm der Beschwerdeführerin bestimmten Hälfte des Trustkapitals gehörten Aktien einer englischen Gesellschaft, welche im Jahre 1954 Gratisaktien abwarfen. Die neuen Aktien wurden dem von den Trustees in England verwalteten Wertschriftenportefeuille einverleibt.
B.-
Bei der Einschätzung der Beschwerdeführerin für die 8. Wehrsteuerperiode sind diese Gratisaktien als Kapitalertrag der Einkommenssteuer unterworfen worden. Die kantonale Rekurskommission hat diese Veranlagung bestätigt. Sie nimmt an, die in Frage stehenden Gratisaktien gehörten zum Ertrag aus dem Trustvermögen, auf den die Beschwerdeführerin Anspruch habe. Sie seien gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. c und Abs. 5 WStB in die Berechnung des steuerbaren Einkommens der Beschwerdeführerin einzubeziehen, da das Einkommen aus dem Trust sich mit demjenigen aus Nutzniessung im Sinne des schweizerischen Rechts (
Art. 745 ff. ZGB
) vergleichen lasse.
C.-
Gegen den Entscheid der Rekurskommission richtet sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Es wird geltend gemacht, die erwähnten Gratisaktien fielen nicht in die Berechnung der von der Beschwerdeführerin geschuldeten Wehrsteuer für Einkommen. Sie seien nicht der Beschwerdeführerin, sondern dem Trust zugekommen. Es gehe auch nicht an, den Benefizianten eines Trusts einem Nutzniesser gleichzustellen. Übrigens sei nach der gesetzlichen Ordnung der Bezug von Gratisaktien der Wehrsteuer vom Einkommen überhaupt nicht unterworfen.
D.-
Die kantonalen Behörden beantragen Abweisung, die eidgenössische Steuerverwaltung Gutheissung der Beschwerde.- Das Bundesgericht schützt die Beschwerde
BGE 85 I 115 S. 117
Erwägungen
in Erwägung:
1.
- Nach Art. 21 Abs. 1 lit. c WStB fällt in die Steuerberechnung jedes Einkommen aus beweglichem Vermögen, mit Einschluss der Gewinnanteile aus Beteiligungen. Als solche Anteile gelten alle nicht eine Rückzahlung bestehender Kapitalanteile darstellenden geldwerten Leistungen einer Gesellschaft an die Inhaber gesellschaftlicher Beteiligungsrechte. Dazu gehört nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts die Zuteilung von Gratisaktien an die Aktionäre (
BGE 70 I 319
,
BGE 80 I 40
; Urteil G. vom 8. März 1957, wiedergegeben im Archiv für schweiz. Abgaberecht Bd. S. 492, und heutiges Urteil K.).
Gewinnanteile aus Beteiligungen sind bei demjenigen als Einkommen zu erfassen, der sie empfängt. In der Regel ist dies der Inhaber des Beteiligungsrechts im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. c WStB, also der Aktionär im Falle, wo die Gewinnanteile von einer Aktiengesellschaft ausgerichtet werden. Vorbehalten bleibt Art. 21 Abs. 5 WStB, wonach "Einkommen aus Vermögen (Abs. 1, lit. b und c), an dem eine Nutzniessung bestellt ist", dem Nutzniesser zugerechnet wird - wie er nach Art. 27 Abs. 2 WStB auch die Steuer für dieses Vermögen zu entrichten hat.
2.
- Nach dem Zivilgesetzbuch gehören dem Nutzniesser ausser den natürlichen Früchten (Art. 756) "Zinsen von Nutzniessungskapitalien und andere periodische Leistungen" (Art. 757). Nicht periodische Leistungen fallen dem Eigentümer des in Nutzniessung stehenden Vermögens zu. Als solche Leistung gilt auch die Ausgabe von Gratisaktien. Zum Bezug dieser Aktien ist der Eigentümer der alten Aktien berechtigt; die neuen Titel werden Bestandteil des Nutzniessungskapitals, und der Nutzniesser erhält lediglich den periodischen Ertrag, den sie abwerfen (
BGE 46 II 475
).
Dem Nutzungsrecht des Nutzniessers steht seine Verpflichtung gegenüber, gewisse Lasten auf sich zu
BGE 85 I 115 S. 118
nehmen (
Art. 764-767 ZGB
). Die Ordnung der Lastentragung geht von der Erwägung aus, dass der Nutzniesser nur auf den Nettoertrag der Sache Anspruch hat. Er hat demgemäss nicht für sämtliche Lasten der Sache aufzukommen, sondern nur für diejenigen, die dem Vorteil der Nutzungen entsprechen (LEEMANN, Kommentar zu
Art. 764 ZGB
, N. 1). So hat er die Steuern zu tragen, wenn sie periodisch sind (
Art. 765 ZGB
) und als Last, welche aus den ihm zukommenden Erträgnissen zu bestreiten ist, anzusehen sind (LEEMANN, N. 12 zu
Art. 765 ZGB
). Zu dieser Kategorie gehören die Liegenschaftensteuern und ähnliche periodische Abgaben, selbst wenn sie auf dem Vermögen erhoben werden, und erst recht Einkommenssteuern, welchen unmittelbar die dem Nutzniesser zufallenden, zu seiner Verfügung stehenden Erträgnisse der Sache unterliegen.
Die Steuer, die gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. c WStB auf die Verteilung von Gratisaktien (und des das einbezahlte Grundkapital übersteigenden Ergebnisses der Liquidation der Aktiengesellschaft) gelegt ist, belastet einen einmaligen, ausserordentlichen Vorgang, einen Zuwachs, den das Vermögen des Aktieneigentümers erfährt, und ist insofern nicht periodisch. Sie ist daher nach dem Zivilgesetz vom Aktieneigentümer zu tragen, nicht vom Nutzniesser, der nicht die Verfügung über den neuen Vermögensbestandteil hat, sondern nur den periodischen Ertrag daraus erhält.
3.
- Die Ordnung der Wehrsteuer und, im Zusammenhang damit, des neuen Wehropfers entspricht der im Zivilgesetzbuch vorgesehenen Verteilung der Steuerlasten zwischen Eigentümer und Nutzniesser. Sie beruht auf dem Gedanken, dass jeder der beiden Beteiligten dem Staate diejenigen Steuern zu entrichten hat, die er gemäss Zivilrecht im Verhältnis zum anderen Beteiligten zu tragen verpflichtet ist, und nur diese. Daher wird für das - einmal erhobene - neue Wehropfer das Nutzniessungsvermögen dem Eigentümer zugerechnet (Art 5 Abs. 4 WOB II), während die - periodische - Wehrsteuer
BGE 85 I 115 S. 119
für dieses Vermögen und dessen periodische Erträgnisse beim Nutzniesser erhoben wird (Art. 27 Abs. 2, Art. 21 Abs. 5 WStB). Zwar unterscheidet Art. 21 Abs. 5 WStB nicht zwischen den wiederkehrenden Erträgnissen, die dem Nutzniesser zufliessen, und den ausserordentlichen Erträgen (Gratisaktien und dgl.), die dem Nutzniessungsvermögen zuwachsen; die Bestimmung rechnet schlechthin das "Einkommen aus Vermögen (Abs. 1, lit. b und c), an dem eine Nutzniessung bestellt ist", dem Nutzniesser zu. Daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, die Zuteilung von Gratisaktien sei im Hinblick darauf, dass sie nach Art. 21 Abs. 1 lit. c WStB ebenfalls als Einkommen gilt, beim Nutzniesser und nicht beim Eigentümer zu besteuern. Die abweichende Auffassung der zürcherischen Behörden ist nicht vereinbar mit dem System des Art. 21 WStB, nämlich mit dem Grundsatz, dass die Einkommenssteuer von der Person geschuldet ist, die das Einkommen erzielt. Dieser Grundsatz muss auch für das Nutzniessungsverhältnis gelten. Art. 21 Abs. 5 WStB kann keinen anderen Sinn haben. Die Bestimmung ist insofern zu weit gefasst, als sie ohne Einschränkung auf Abs. 1 lit. b und c verweist; richtigerweise hätte für Leistungen, die nicht dem Nutzniesser, sondern dem Eigentümer zukommen, eine Ausnahme gemacht werden sollen. Art. 21 Abs. 5 weist eine Lücke auf, die vom Richter auszufüllen ist. Daher muss angenommen werden, dass die Wehrsteuer für das durch Ausgabe von Gratisaktien begründete Einkommen auch im Falle der Nutzniessung beim Aktieneigentümer und nicht beim Nutzniesser zu erheben ist.
4.
- Die Beschwerdeführerin ist im Treuhandverhältnis (Trust), welches ihr Bruder Y. nach englischem Recht begründet hat, lediglich Begünstigte (Beneficiary). Als solche hat sie bis zu ihrem Ableben Anspruch auf die periodischen Erträgnisse der ihrem Stamm verhafteten Hälfte des Trustvermögens. Dagegen kann sie über dieses Vermögen nicht wie ein Eigentümer (im Sinne der kontinentalen Rechtsauffassung) verfügen. Es ist in der Hand der Trustees gewissermassen verselbständigt. Sie verwalten
BGE 85 I 115 S. 120
es treuhänderisch zum Nutzen der begünstigten Personen, solange der Trust besteht (vgl. Referate GUBLER und REYMOND an der Jahresversammlung 1954 des Schweizerischen Juristenvereins, ZSR n.F. 73 S. 121 a ff., 215 a ff.). Der Trust wird auf jeden Fall über den Zeitpunkt des Ablebens der Beschwerdeführerin hinaus dauern. Wegen der Anwartschaft ihrer Kinder und wegen der Rechte der Nachkommen des Bruders Z. wird die Beschwerdeführerin nicht erwirken können, dass der Trust vorzeitig aufgelöst und ihr die Hälfte des Treugutes zu freier Verfügung herausgegeben wird.
Angesichts dieser Rechtslage kann die Beschwerdeführerin nicht als Eigentümerin der ihrem Stamm zugewiesenen Hälfte des Trustkapitals angesehen werden. Insbesondere sind die streitigen Gratisaktien nicht in ihr Eigentum übergegangen, sondern wie die alten Aktien, auf die sie entfallen sind, Bestandteil des Trustvermögens geworden. Hat die Beschwerdeführerin also diese neuen Aktien nicht erhalten, so kann deren Zuteilung nicht bei ihr der Wehrsteuer für Einkommen unterworfen werden, auch dann nicht, wenn es zutrifft, dass das Institut der angelsächsischen Treuhand gewisse Merkmale der Nutzniessung des schweizerischen Rechts aufweist (vgl. ZSR n.F. 73, S. 157 a, 438 a, 527 a; Urteil der staatsrechtlichen Kammer vom 11. Mai 1942, ZR 41 S. 127). Die angefochtene Besteuerung ist mit Art. 21 WStB nicht vereinbar; sie lässt sich insbesondere nicht auf Abs. 5 dieses Artikels stützen.
Die Zuteilung der streitigen Gratisaktien könnte nur dann dem steuerbaren Einkommen der Beschwerdeführerin zugerechnet werden, wenn angenommen werden müsste, der Trust sei zum Zwecke der Steuerumgehung errichtet worden. Dafür, dass es sich so verhält, bestehen jedoch keine Anhaltspunkte, so dass das Bestehen des Trusts vom Gesichtspunkte des Steuerrechts aus nicht ignoriert werden kann. | public_law | nan | de | 1,959 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2e3e7965-5ceb-4e32-9ccf-275d15a84630 | Urteilskopf
115 Ib 335
44. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4. Juli 1989 i.S. 1. WWF Schweiz und 2. WWF Sektion Oberwallis gegen Konsortium Schali, Gemeinde Randa, Staatsrat und Verwaltungsgericht des Kantons Wallis (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Art. 9 und 55 USG
, 12 NHG; Legitimation gesamtschweizerischer Umweltschutzorganisationen zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde; Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPV).
1. Umweltschutzorganisationen sind befugt, mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu rügen, ihre aus
Art. 55 USG
und
Art. 12 NHG
hergeleitete Legitimation sei durch die Vorinstanzen missachtet worden (E. 1 und 2).
2. Eine Ferienhaussiedlung von 150 Chalets mit Dienstleistungsbetrieben und Hotelbauten unterliegt nicht der Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung, weshalb eine gesamtschweizerische Umweltschutzorganisation deren Bewilligung nicht unter Berufung auf
Art. 55 USG
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechten kann (E. 3).
3. Kann eine kantonale Baubewilligung nur mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden, so kann sich eine gesamtschweizerische Vereinigung nicht auf das Beschwerderecht gemäss
Art. 12 NHG
berufen (E. 4a).
4. Materielle Einwendungen gegen einen rechtskräftigen Quartierplan im nachträglichen Baubewilligungsverfahren sind unzulässig (E. 4c). | Sachverhalt
ab Seite 336
BGE 115 Ib 335 S. 336
Mit Verfügung vom 16. Dezember 1986 erteilte der Gemeinderat Randa und am 2. und 3. September 1987 die kantonale Baukommission dem Konsortium Schali die Baubewilligungen für die Erstellung von 150 Chalets mit je einer Wohnung, und zwar wurde eine Bewilligung für 149 Chalets sowie eine zweite Bewilligung für ein Chalet ausgestellt. Mit einer separaten weiteren Verfügung wurde auch der Bau eines Dienstleistungsgebäudes, eines Sportzentrums und eines Parkhauses mit Luftschutzraum bewilligt.
Gegen die Bewilligungen für den Bau der 150 Ferienchalets gelangten der Schweizerische Bund für Naturschutz, der Walliser Bund für Naturschutz sowie der World Wildlife Fund (WWF) Schweiz mit Beteiligung der Regionalgruppe Oberwallis des WWF mit Beschwerde an den Staatsrat. Die beschwerdeführenden Vereinigungen leiteten ihre Beschwerdelegitimation aus
Art. 55 USG
und aus
Art. 12 Abs. 1 NHG
ab. Mit Entscheid vom 9. März 1988 verneinte jedoch der Staatsrat die Beschwerdelegitimation der Vereinigungen und trat demgemäss auf die Beschwerden nicht ein.
Die gegen den Nichteintretensentscheid des Staatsrates beim kantonalen Verwaltungsgericht eingereichte Beschwerde hatte keinen Erfolg. Auf die Beschwerde der als Beschwerdeführerin speziell
BGE 115 Ib 335 S. 337
aufgeführten Regionalgruppe Oberwallis des WWF trat das Gericht nicht ein, weil der Stattsrat keinen Beschwerdeentscheid gegenüber dieser Beschwerdeführerin getroffen, sondern sie als Vertreterin des WWF Schweiz bezeichnet hatte. Die Beschwerden des Schweizerischen und des Walliser Bundes für Naturschutz sowie des WWF Schweiz lehnte das Verwaltungsgericht ab, soweit es darauf eintrat.
In den Erwägungen seines Entscheides stellt das Verwaltungsgericht zunächst fest, dass einzig die Baubewilligungen für 150 Ferienchalets Beschwerdegegenstand seien, da die Beschwerde an den Staatsrat sich nur gegen diese Bewilligungen gerichtet habe. In bezug auf die Frage der Beschwerdelegitimation folgte das Gericht der Auffassung des Staatsrates. Es hielt fest, die Legitimation sei zu verneinen, soweit die beschwerdeführenden Vereinigungen nicht zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht berechtigt seien (
Art. 33 Abs. 3 RPG
). Hierfür könne einzig die Legitimation nach
Art. 103 lit. c OG
in Frage kommen. Gegen die Erteilung einer Baubewilligung im ordentlichen Baubewilligungsverfahren könne jedoch nicht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht ergriffen werden (
Art. 34 RPG
). Die Beschwerdeführer könnten sich auch nicht auf
Art. 12 NHG
berufen, da die Erteilung einer Baubewilligung keine Bundesaufgabe im Sinne von
Art. 2 NHG
darstelle. Auch die Legitimation nach
Art. 55 USG
sei nicht gegeben, da für die Erstellung von 150 Chalets keine Umweltverträglichkeitsprüfung nötig sei.
Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 7. September 1988 gelangten der WWF Schweiz und die Regionalgruppe Oberwallis des WWF am 13. Oktober 1988 mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht. Sie verweisen zunächst auf eine beim Bundesrat am 7. Oktober 1987 eingereichte Aufsichtsbeschwerde. Sie kritisieren sodann den rechtskräftigen Quartierplan aus dem Jahre 1980 mit Änderungen von 1985 und beanstanden, dass weder das Verwaltungsgericht noch der Staatsrat auf ihre Beweis- und Aktenergänzungsanträge eingetreten sei. Sie werfen den Vorinstanzen überspitzten Formalismus vor, weil zwischen den verschiedenen Baubewilligungen unterschieden worden sei, obschon klar ersichtlich sei, dass das Gesamtprojekt Gegenstand der Verfahren bilde. Hierin erblicken die Beschwerdeführer einen Verstoss gegen
Art. 4 BV
sowie gegen Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV. Jeder Bürger und somit a fortiori eine beschwerdebefugte Umweltorganisation habe
BGE 115 Ib 335 S. 338
Anspruch darauf, dass eine Behörde das Bundesrecht von Amtes wegen anwende.
Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die beschwerdeführenden Vereinigungen werfen den Vorinstanzen vor, sie hätten zu Unrecht ihre Beschwerdelegitimation, die sie aus
Art. 55 USG
und
Art. 12 NHG
herleiten, verneint. Diese Rüge können sie mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vortragen, würden doch die genannten Vorschriften des Bundesverwaltungsrechts über die Beschwerdelegitimation ideeller Vereinigungen verletzt, falls das Beschwerderecht zu Unrecht nicht anerkannt worden wäre. Soweit der WWF Oberwallis, in eigenem Namen Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhebt, kann auf seine Beschwerde jedoch nicht eingetreten werden, weil der Staatsrat dieser Organisation gegenüber gar keinen Entscheid gefällt hat. Die diesbezüglichen Darlegungen des Verwaltungsgerichts sind zutreffend und es liegt keine den WWF Oberwallis betreffende letztinstanzliche kantonale Verfügung vor. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird dies nicht in Abrede gestellt, und mit der entsprechenden Feststellung des Verwaltungsgerichts setzen sich die Beschwerdeführer nicht näher auseinander.
2.
Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Dazu zählt auch das Bundesverfassungsrecht, soweit die Rüge eine Angelegenheit betrifft, die in die Sachzuständigkeit der eidgenössischen Verwaltungsrechtspflegeinstanz fällt (
BGE 108 Ib 74
E. 1a). In der vorliegenden Sache ist die Legitimation des WWF Schweiz gemäss
Art. 55 USG
und
Art. 12 NHG
umstritten. Es ist in Anwendung dieser Vorschriften zu beurteilen, ob diesem Beschwerdeführer die Legitimation zukommt. Würde sie zu Unrecht verneint, so käme dies mittelbar einer gegen
Art. 4 BV
verstossenden formellen Rechtsverweigerung gleich.
Nicht einzutreten ist hingegen auf die Rüge, zufolge der Unterlassung der materiellen Prüfung der Beschwerdevorbringen werde der Grundsatz des Vorranges des Bundesrechts verletzt. Ob in der vorliegenden Sache der WWF Schweiz zur Beschwerde legitimiert ist, beurteilt sich einzig nach den angerufenen Vorschriften des Bundesverwaltungsrechts. Ist die Legitimation zu Recht verneint
BGE 115 Ib 335 S. 339
worden, so kann der WWF Schweiz weder aus
Art. 4 BV
noch aus Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV ein verfassungsmässiges Recht auf materielle Prüfung seiner Einwendungen herleiten.
3.
Gemäss
Art. 55 USG
steht einer gesamtschweizerischen Umweltschutzorganisation, welche mindestens zehn Jahre vor Einreichung der Beschwerde gegründet wurde, das Beschwerderecht gegen Verfügungen über die Planung, Errichtung oder Änderung von ortsfesten Anlagen zu, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung nach
Art. 9 USG
erforderlich ist. Der Bundesrat hat diese Anlagen zu bezeichnen (
Art. 9 Abs. 1 USG
). Die entsprechende Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPV; SR 814.011) erging erst am 19. Oktober 1988 (Inkrafttreten am 1. Januar 1989), somit während der Hängigkeit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Zutreffend weist der WWF Schweiz darauf hin, dass bereits vor Inkrafttreten dieser Verordnung gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts bei Anlagen, welche die Umwelt erheblich belasten, verlangt wurde, dass zwar nicht in formeller, wohl aber in materieller Hinsicht dem Gebot der Umweltverträglichkeitsprüfung nachgekommen werden müsse (
BGE 113 Ib 231
E. 3b mit Hinweisen). Er anerkennt jedoch, dass sich aus den Materialien zum Umweltschutzgesetz und zur Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung nicht ergibt, dass Ferienhaussiedlungen als Anlagen zu betrachten sind, welche die Umwelt erheblich belasten können.
Nachdem nun die Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung am 1. Januar 1989 in Kraft getreten ist, ist sie für die Beurteilung der Frage der Prüfungspflicht heranzuziehen. Gemäss
Art. 1 UVPV
unterliegen Anlagen, die im Anhang der Verordnung aufgeführt sind, der Umweltverträglichkeitsprüfung. Aus dem Anhang ergibt sich, dass Ferienhaussiedlungen einschliesslich der dazu gehörenden Dienstleistungsbetriebe sowie allfälliger Hotelbauten in dem gemäss dem Quartierplan Schali vorgesehenen Ausmass keiner Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen. Das Verwaltungsgericht hat daher zu Recht die Beschwerde gegen den Entscheid des Staatsrates, welcher das Beschwerderecht nach
Art. 55 USG
verneinte, abgelehnt. Die während der Hängigkeit des bundesgerichtlichen Verfahrens in Kraft getretene Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung bestätigt die von den Vorinstanzen anhand der Materialien bereits gezogene Folgerung, dass keine Anlage vorliegt, welche der Pflicht zur
BGE 115 Ib 335 S. 340
Umweltverträglichkeitsprüfung untersteht. Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet, soweit sich der WWF Schweiz auf
Art. 55 USG
beruft.
Wenn der WWF Schweiz die Meinung äussert, das Beschwerderecht einer Umweltschutzorganisation sei allgemein zu anerkennen, wenn das Umweltschutzgesetz zur Anwendung gelange, kann ihm nicht gefolgt werden. Das Beschwerderecht der gesamtschweizerischen Umweltschutzorganisationen wurde in
Art. 55 USG
ausdrücklich auf Verfügungen über Anlagen beschränkt, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist.
4.
a) Gemäss
Art. 12 NHG
steht den Vereinigungen für Natur- und Heimatschutz das Beschwerderecht gegen kantonale Verfügungen oder Erlasse oder gegen Verfügungen von Bundesbehörden zu, soweit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig ist. Der WWF Schweiz anerkennt, dass die umstrittenen Baubewilligungen für die Ferienhaussiedlung aufgrund des Quartierplanes Schali gemäss dem kantonalen öffentlichen Baurecht in Übereinstimmung mit
Art. 22 RPG
erteilt wurden. Gegen die Erteilung einer solchen Baubewilligung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht nicht zulässig. Dementsprechend kann sich der WWF Schweiz für die Begründung seiner Legitimation auch nicht auf
Art. 12 NHG
berufen.
b) Entgegen der Auffassung des Bundesamtes für Raumplanung kann auch nicht angenommen werden, der WWF Schweiz mache eine Verletzung von
Art. 24 RPG
geltend. Auch wenn an die Begründung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde keine strengen Anforderungen zu stellen sind, so muss aus dem Begehren doch hervorgehen, in welchen Punkten und weshalb der angefochtene Entscheid beanstandet wird (
BGE 113 Ib 287
f. E. 1 mit Hinweisen). Dabei müsste eine Rüge wie die Behauptung,
Art. 24 RPG
werde verletzt, bereits im kantonalen Verfahren vorgetragen werden. Mangels einer entsprechenden Rüge hatten sich die Vorinstanzen hierüber nicht auszusprechen, weshalb diesbezüglich auch kein Entscheid vorliegt. Die Rüge der Verletzung von
Art. 24 RPG
wäre im übrigen klarerweise unbegründet, da sich die angefochtene Bewilligung auf den rechtskräftigen Quartierplan Schali stützt, der als Nutzungsplan im Sinne des Raumplanungsgesetzes gilt (
BGE 111 Ib 12
E. 3; 14 E. 3b, je mit Hinweisen); eine Abweichung von
Art. 22 Abs. 2 lit. a RPG
liegt daher nicht vor.
BGE 115 Ib 335 S. 341
c) Der WWF Schweiz wendet sich in Wirklichkeit gegen den Quartierplan Schali. Er bezeichnet diesen als bundesrechtswidrig. Es ist jedoch zu beachten, dass der Planentwurf sowohl im Jahre 1979 als auch bei der Planänderung im Jahre 1985 ordnungsgemäss aufgelegt wurde. Seine Genehmigung durch den Staatsrat erfolgte unter der Herrschaft des Raumplanungsgesetzes, und der Planerlass entspricht der Verfahrensvorschrift von
Art. 33 RPG
. Materielle Einwendungen gegen die Rechtmässigkeit des Planes hätten im Auflageverfahren vorgetragen werden müssen. Im nachträglichen Baubewilligungsverfahren ist aus Gründen der Rechtssicherheit eine Anfechtung grundsätzlich ausgeschlossen (
BGE 107 Ia 334
f. E. 1c,
BGE 106 Ia 386
ff. E. 3b und c).
Eine Überprüfung und Anpassung eines Nutzungsplanes hat allerdings dann zu erfolgen, wenn sich die Verhältnisse erheblich geändert haben (
Art. 21 Abs. 2 RPG
). Der WWF Schweiz macht indessen keine wesentliche Veränderung der Verhältnisse geltend, sondern ist vielmehr der Meinung, der Plan sei von Anfang an bundesrechtswidrig gewesen. Zur Erhebung dieser Rüge im Baubewilligungsverfahren sowie im anschliessenden Rechtsmittelverfahren steht ihm jedoch kein Beschwerderecht zu. Allenfalls ist es Sache des Bundesrates als Aufsichtsbehörde, in dem bei ihm hängigen aufsichtsrechtlichen Beschwerdeverfahren einzugreifen, wenn er eine Bundesrechtsverletzung feststellen sollte. Auch die vom Bundesamt für Raumplanung erwähnte Möglichkeit, dass die Gemeinde Randa zu grosse Bauzonen festzusetzen beabsichtige, kann nicht dazu führen, dass im Baubewilligungsverfahren sowie im anschliessenden Rechtsmittelverfahren der unter der Herrschaft des Raumplanungsgesetzes rechtskräftig genehmigte Nutzungsplan (Quartierplan Schali) in Frage gestellt wird. Wie aus der Antwort der Gemeinde Randa hervorgeht, befindet sich der Zonennutzungsplan der Gemeinde erst im Vorprüfungsverfahren. Es ist Sache der kantonalen Aufsichtsbehörden zu prüfen, ob der vorliegende Planentwurf, in welchem das Quartierplangebiet Schali als "Bauzone nach Quartierplan" eingetragen ist, den Anforderungen des Bundesrechts entspricht. Zu diesen Anforderungen zählt auch das Gebot der Sicherung ausreichender Fruchtfolgeflächen. Sowohl das kantonale Verwaltungsgericht als auch das Bundesgericht würden sich Kompetenzen der Aufsichtsbehörden anmassen, wenn sie einem rechtskräftig genehmigten Nutzungsplan die Geltung absprechen wollten.
BGE 115 Ib 335 S. 342
Dass es sich bei der Festsetzung und Genehmigung des Quartierplanes Schali in den Jahren 1980 und 1985 um geradezu nichtige Staatsakte handelt, die von Amtes wegen nicht zu beachten wären, wird nicht geltend gemacht. Eine solche Einwendung wäre auch klarerweise unbegründet, ist doch der Plan in einem den formellen Anforderungen des Raumplanungsgesetzes entsprechenden Verfahren erlassen worden. Im übrigen vermöchte auch eine solche Einwendung das fehlende Beschwerderecht nicht zu ersetzen. Dieses fehlt - wie dargelegt - nicht nur im ordentlichen Baubewilligungsverfahren, sondern es würde dem Beschwerdeführer 1 als gesamtschweizerische ideelle Organisation auch bezüglich Planfestsetzungen nicht zustehen, welche nur mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar sind (
Art. 34 RPG
,
BGE 107 Ib 113
ff. E. 2a, ZBl 82/1981 S. 552 f. E. 1c). | public_law | nan | de | 1,989 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2e3ec0f7-e27c-48d6-8990-f9af4bcb2910 | Urteilskopf
98 II 73
11. Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. April 1972 i.S. Kienast und Mitbeteiligte gegen Gubler und Mitbeteiligte. | Regeste
Eigenhändige letztwillige Verfügung. Einrede der Ungültigkeit wegen mangelhaften Willens und wegen Formmangels.
1. Ungültigkeit wegen mangelhaften Willens (Nötigung) des Erblassers? (
Art. 469 Abs. 1 und 2 ZGB
; Erw. 2).
2. Ungültigkeit mangels eigenhändiger Niederschrift der ganzen Verfügung im Sinne von
Art. 505 ZGB
? Wieweit darf dem Erblasser bei der Niederschrift der Verfügung körperliche Hilfe geleistet werden? (Erw. 3 a). Welchen Einfluss haben von fremder Hand eingefügte Stellen auf den übrigen Inhalt der Verfügung? (Erw. 3b).
3. Tatsächliche Feststellungen über die Art der Niederschrift der Verfügung. Verletzung von
Art. 8 ZGB
durch falsche Verteilung der Beweislast oder durch Nichtabnahme angebotener Beweise? (Erw. 4).
4. Formgültigkeit der streitigen Verfügung (Erw. 5). | Sachverhalt
ab Seite 74
BGE 98 II 73 S. 74
A.-
Die im Jahre 1893 geborene Frieda Götz hielt sich nach ihrem 20. Altersjahr wegen psychischer Abartigkeiten wiederholt für längere Zeit in der psychiatrischen Klinik Breitenau (Schaffhausen) auf und wurde Mitte der Dreissigerjahre auf eigenes Begehren gemäss
Art. 394 ZGB
verbeiständet. Seit 1955 lebte sie in Diessenhofen bei der Familie von Marie Gubler-Keller, deren Mutter viele Jahre lang Hausangestellte der Eltern Götz gewesen war. Sie führte hier ein zurückgezogenes Leben, ging nur selten aus und fühlte sich meistens krank. Korrespondenzen liess sie durch andere Personen erledigen; sie selbst schrieb praktisch nicht mehr. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie fast ausschliesslich im Bett, wobei sie sich von Frau Gubler in jeder Hinsicht bedienen liess. Die Eheleute Gubler erhielten für Logis, Kost und Betreuung eine Pauschalentschädigung, die zuletzt monatlich Fr. 540.-- betrug.
Am 17. Dezember 1967 starb Frieda Götz. Sie hinterliess ein Vermögen von rund Fr. 250'000.--. Ihre gesetzlichen Erben sind die beiden Vettern Johann und Ernst Kienast und die Cousine Seline Gysel-Kienast.
BGE 98 II 73 S. 75
B.-
Am 11. Januar 1968 eröffnete der Notar von Diessenhofen eine ihm am 17. November 1966 verschlossen zur Aufbewahrung überbrachte handschriftliche, mit dem Datum "Diesshofen am 15. Oktober 1963" und mit der Unterschrift "Frieda Götz" versehene letztwillige Verfügung, durch welche Fr. 3'000.-- für den Grabstein und den Grabunterhalt bestimmt und verschiedenen Personen, Körperschaften und Anstalten Geldbeträge von insgesamt Fr. 117'000.-- vermacht wurden, unter anderm (Zeilen 20-23)
"...
8) Der Frau Marie Gubler-Keller für gute Krankenpflege: Fr. 10'000.--
9) deren Sohn Rolf Gubler: Fr. 5'000.--
10) der Tochter Margrit Gubler: Fr. 5'000.--
...".
Dem Testament lag ein ärztliches Zeugnis vom 6. Januar 1964 bei, worin Dr. Klingenfuss bestätigte, dass sich Frieda Götz seit September 1961 in seiner ärztlichen Kontrolle befunden habe und "während dieser Zeit und insbesondere während der letzten Monate voll zurechnungsfähig" gewesen sei.
C.-
Die gesetzlichen Erben bezweifelten, dass die Erblasserin die ihnen eröffnete Verfügung selbst geschrieben habe. Der von ihnen beigezogene Schriftsachverständige W. Hofmann, Chef der kriminaltechnischen Dienste der Kantonspolizei Zürich, führte in der Zusammenfassung seines Gutachtens vom 15. Januar 1969 u.a. aus, es liege keine Totalfälschung vor, sondern der überwiegende Teil des Testaments stamme von der Hand der Erblasserin; dieser sei mit Sicherheit Schreibhilfe geleistet worden; diese Hilfe habe stellenweise die Handstützung überschritten und sei in Handführung übergegangen; es sei aber auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass einzelne Schriftfragmente von der die Schreibhilfe leistenden Person frei beigefügt bzw. eingesetzt worden seien.
Am 5. Februar 1969 erstatteten die gesetzlichen Erben beim Verhöramt des Kantons Thurgau Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Urkundenfälschung und Nötigung. Im Strafverfahren ergab sich, dass Marie Gubler-Keller an der Vorbereitung und Niederschrift der letztwilligen Verfügung nicht beteiligt war, sondern dass Ida Hanhart-Hübscher der Erblasserin dabei
BGE 98 II 73 S. 76
geholfen hatte. Diese (im Testament nicht bedachte, ebenfalls in Diessenhofen wohnende) Frau führte bei ihrer Vernehmung im wesentlichen aus, die Erblasserin, die ihres Wissens "ganz von sich aus" ein Testament habe errichten wollen, habe sich mit ihr in den beiden letzten Jahren vor dem Errichtungstage manchmal beraten; bei Besprechung der Vermächtnisse habe die Erblasserin der mit den grossen Opfern von Frau Gubler begründeten Anregung einer Zuwendung an diese Frau zugestimmt und erklärt, sie wolle auch den beiden Kindern etwas vermachen; den Notar kommen zu lassen, habe sie abgelehnt; dagegen habe sie den Vorschlag angenommen, den ihr von Jugend auf bekannten ehemaligen Stadtschreiber von Stein am Rhein, Kaspar Störchlin, aufzusuchen; dieser habe nach den Angaben der Erblasserin einen Entwurf für ein eigenhändiges Testament aufgesetzt; da die Erblasserin den Beizug eines Notars weiterhin abgelehnt habe und das Testament auch nicht im Hause Gubler habe schreiben wollen, habe Frau Hanhart sie schliesslich zu sich geholt und ihr die Verfügung nach dem Entwurf Störchlin diktiert; nach Besprechung mit Frau Hanhart habe die Erblasserin die im Entwurf offen gelassenen Beträge der Vermächtnisse für Frau Gubler und deren Kinder eingesetzt. Auf den Vorhalt, das Testament sei nach der Meinung der Erben nicht vollständig von der Erblasserin geschrieben worden, antwortete Frau Hanhart nach Betrachtung einer Photokopie des Testaments, es sei möglich und wahrscheinlich, dass sie auf Zeile 36 die Wörter "bestimme ich" mit Ausnahme der vier ersten Buchstaben geschrieben habe, und es sei auch möglich, dass sie einige andere Buchstaben oder Wortteile selbst hineingeschrieben habe, aber alles nach dem Willen und in Anwesenheit der Erblasserin. Sie bezeichnete den Wortteil "gemeinde" (in "Kirchgemeinde", Zeile 9) und die Wörter "als Fonds" (Zeile 10) als von ihr geschrieben. Bei einer spätern Vernehmlassung erklärte sie, sie glaube nicht, auch Zahlen zur Bezifferung der Vermächtnisse selbst geschrieben zu haben; denn sie habe gewusst, dass die Zahlen der wesentliche Teil des Testaments seien.
In seinem Ergänzungsbericht vom 25. März 1970 kam der Schriftexperte zum Schluss, Frau Hanhart habe nach seiner Überzeugung nicht bloss in ihrer persönlichen und gewohnten Handschrift Wort- und Textteile hinzugefügt, sondern sich auch
BGE 98 II 73 S. 77
teilweise an den Schriftcharakter der Erblasserin angepasst; sie habe möglicherweise "einzelne Ziffern der inkriminierten Zahlenbeträge der Legate geschrieben"; das vorliegende Material (zu dem zwei Schriftproben von Frau Hanhart, darunter eine Abschrift des Testaments, gehören) reiche aber für einen mehr oder weniger gesicherten Nachweis nicht aus.
Am 25. August 1970 stellte die Anklagekammer des Kantons Thurgau die Strafuntersuchung ein. Sie nahm an, es könne nicht nachgewiesen werden, dass Frau Hanhart wider den Willen der Erblasserin und in der Absicht gehandelt habe, jemanden am Vermögen oder andern Rechten zu schädigen oder sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen.
D.-
Am 25. Februar 1971 leiteten Marie Gubler-Keller und ihre beiden Kinder Margrit und Rudolf Gubler gegen die gesetzlichen Erben der Frieda Götz Klage auf Auszahlung der ihnen zugedachten Vermächtnisse ein.
Das Bezirksgericht Diessenhofen wies die Klage am 17. Juli 1971 ab, weil das Testament wegen Willens- und Formmangels ungültig sei.
Das Obergericht des Kantons Thurgau, an das die Kläger appellierten, hat die Klage mit Urteil vom 11. November 1971 geschützt.
E.-
Gegen das Urteil des Obergerichts haben die Beklagten die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag auf Abweisung der Klage, eventuell Rückweisung der Sache an die Vorinstanz.
Die staatsrechtliche Beschwerde der Beklagten gegen dieses Urteil ist am 17. März 1972 abgewiesen worden.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Vorinstanz schliesst aus dem ärztlichen Zeugnis von Dr. Klingenfuss und aus Zeugenaussagen, die Erblasserin sei trotz ihres sonderbaren Wesens, ihrer Verbeiständung und ihrer frühern Klinikaufenthalte bei Errichtung ihrer letztwilligen Verfügung urteilsfähig gewesen. Gegen diese Annahme wenden die Beklagten nichts ein.
2.
Die Vorinstanz stellt fest, die Erblasserin habe aus eigenem Antrieb ein Testament errichten wollen; auch mit Bezug auf dessen Inhalt habe sie selbständige Vorstellungen
BGE 98 II 73 S. 78
und Absichten gehabt; Störchlin habe seinen Entwurf auf Grund der von ihr geäusserten Wünsche verfasst; auch hinsichtlich der streitigen Vermächtnisse, die erst während der Niederschrift des Testaments beziffert wurden, sei die Erblasserin nicht einfach einem fremden Willen gefolgt, sondern habe ihre eigenen Absichten geltend gemacht; sie habe ihre Entscheidungsfreiheit gewahrt und sich von niemandem unter Druck setzen lassen; Frau Hanhart habe nur eine beratende Rolle, keine unzulässige Willensbeeinflussung ausgeübt; die Erblasserin sei bei ihrer schwankenden Art offenbar froh gewesen, dass Frau Hanhart sie dazu bewogen habe, nun endlich einmal mit dem beabsichtigten Testament Ernst zu machen; dass ihr beim Schreiben geholfen werden musste, beruhe lediglich darauf, dass sie Schwierigkeiten hatte, richtig zu schreiben; ihre spätere Äusserung gegenüber Frau Gysel, sie habe ein Testament machen müssen, "es isch gfürchtig, wenn d'Lüt nie gnueg überchämed, wehred i au", lasse sich damit erklären, dass ihr die von ihr vorgenommene Zurücksetzung der gesetzlichen Erben zeitweise peinlich gewesen sei; sie habe aber trotz vorhandener Gelegenheit weder gegenüber Frau Gysel noch gegenüber andern Besuchern die Absicht geäussert, das Testament zu widerrufen, sondern dieses im Gegenteil nachträglich noch ergänzt; auch für die Zeit nach Errichtung des Testaments sei keinerlei physischer oder psychischer Zwang oder eine Hörigkeit nachgewiesen; ihre Unsicherheit, ihre Unentschlossenheit und ihr Misstrauen hätten sie zwar bis zum Lebensende beherrscht; das ändere aber nichts daran, dass sie bei Niederschrift des Testaments dessen Inhalt tatsächlich gewollt habe; ihre Weigerung, einen Notar kommen zu lassen, und die Berichte des Beistandes über ihren Geisteszustand und ihre Einstellung zu ihrem Pflegeort sprächen nicht gegen, sondern für ihren eigenen Willen.
Diese Feststellungen haben auch insoweit, als sie das Denken und Wollen der Erblasserin betreffen, tatsächliche Verhältnisse zum Gegenstand (
BGE 95 II 146
mit Hinweisen und 452). Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten nicht bloss um "Schlussfolgerungen aus allgemeiner Lebenserfahrung", die das Bundesgericht im Berufungsverfahren überprüfen könnte. Vielmehr sind diese Feststellungen das Ergebnis einer sehr einlässlichen Würdigung der gesamten Akten, besonders der Aussagen Störchlins und der Frau Hanhart, die nach der
BGE 98 II 73 S. 79
Überzeugung der Vorinstanz "ehrlich und spontan die Geschehnisse geschildert hat". Diese Beweiswürdigung verstösst nicht gegen bundesrechtliche Beweisvorschriften, insbesondere nicht etwa gegen
Art. 8 ZGB
; denn diese Bestimmung sagt nichts darüber, wie die erhobenen Beweise zu würdigen sind (
BGE 95 II 452
mit Hinweisen). Dass die Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich auf Versehen beruhen, behaupten die Beklagten mit Recht nicht. Die erwähnten Feststellungen sind daher gemäss
Art. 63 Abs. 2 OG
für das Bundesgericht verbindlich.
Beruht die letztwillige Verfügung auf dem unverfälschten eigenen Willen der Erblasserin, so hat die Vorinstanz die Einrede der Beklagten, diese Verfügung sei wegen eines Willensmangels im Sinne von
Art. 469 Abs. 1 ZGB
ungültig, mit Recht verworfen. Selbst wenn aber ursprünglich ein solcher Mangel bestanden hätte, so könnte er heute nach
Art. 469 Abs. 2 ZGB
nicht mehr geltend gemacht werden, weil die Erblasserin ihre Verfügung bestehen liess und sogar noch ergänzte, obwohl sie nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz in den auf die Errichtung folgenden Jahren alle Gelegenheit hatte und durch keinerlei Zwang davon abgehalten wurde, die ihr angeblich in unzulässiger Weise abgenötigte Verfügung aufzuheben.
3.
Die eigenhändige letztwillige Verfügung ist nach
Art. 505 Abs. 1 ZGB
vom Erblasser von Anfang bis zu Ende mit Einschluss der Angabe von Ort, Jahr, Monat und Tag der Errichtung von Hand niederzuschreiben, sowie mit seiner Unterschrift zu versehen (vgl. auch § 2247 des deutschen BGB in der seit 1. Januar 1970 geltenden Fassung und § 2231 BGB alter Fassung; Art. 970 des französischen Code civil; Art. 602 des italienischen Codice civile; § 578 des österreichischen ABGB). Die eigenhändige Niederschrift wird vom Gesetz vor allem deshalb verlangt, weil sich auf Grund eines handgeschriebenen Textes in der Regel zuverlässig ermitteln lässt, ob die Verfügung wirklich vom Erblasser stammt, d.h. echt ist, und weil die eigenhändige Niederschrift normalerweise Gewähr dafür bietet, dass die Verfügung seinem Willen entspricht.
a) Wird das Erfordernis der eigenhändigen Niederschrift im Lichte dieses Grundgedankens ausgelegt, so schadet die körperliche Hilfe, die einem des Schreibens kundigen, aber aus physischen Gründen oder mangels Übung in seiner Schreibfähigkeit beeinträchtigten Testator beim Schreiben geleistet wird, der Gültigkeit der Verfügung nicht, sofern die Individualität
BGE 98 II 73 S. 80
der Schriftzüge des Testators erhalten und dem Testator die Möglichkeit gewahrt bleibt, seinen Willen zur Geltung zu bringen.
Das Gültigkeitserfordernis der eigenhändigen Niederschrift kann dagegen nicht mehr als erfüllt gelten, wenn die Mitwirkung des Dritten so weit geht, dass nicht mehr der Testator, sondern der Dritte das Schriftbild bestimmt, m.a.W. wenn der Testator beim Schreiben nicht mehr aktiv mitmacht, sondern wenn der Dritte die Hand des Testators als Werkzeug benützt, um die Verfügung selbst zu schreiben (vgl. TUOR, 2. Aufl. 1952, N. 11, und ESCHER, 3. Aufl. 1959, N. 10 zu
Art. 505 ZGB
; STAUDINGER, 11./12. Aufl., V. Band 2. Teil 1960, N. 14/15 zu § 2247 BGB, KIPP/COING, Erbrecht, 12. Bearb. 1965, S. 134, und das Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs vom 3. Februar 1967 i.S. Schw., BGHZ 47 S. 71; GIANNATTASIO, Delle successioni, Successioni testamentarie, in Commentario del Codice civile, Buch II Band 2 1961, S. 111 mit Hinweisen; KLANG, 2. Aufl., 3. Band 1952, N. III A b 7 zu § 578 ABGB, S. 304/305). Das muss, wenn die eigenhändige Niederschrift die Beurteilung der Echtheit der Verfügung ermöglichen soll, auch dann gelten, wenn der Dritte dem Testator mit dessen Willen in dieser Weise die Hand führt. (In Frankreich ist demgegenüber in neuerer Zeit die Auffassung vertreten worden, eine Verfügung, deren Bestimmungen nachweisbar vollständig dem Willen des Testators entsprechen, sei selbst dann gültig, wenn dessen Hand stark geführt - "guidée fortement" - worden ist; Urteil der Cour de Cassation von 16. Juli 1956 i.S. Duffau c. Duchène, in Recueil Dalloz et Sirey 1956 S. 661; DALLOZ, Nouveau répertoire de droit, 2. Aufl., Band IV 1965, Artikel Testament, N. 15 S. 740; kritisch zu dieser Praxis: J.-P. H. COTTIER, Le testament olographe en droit suisse, Diss. Lausanne 1960, S. 50/51 mit Anm. 56).
Benützt der Dritte die Hand des Erblassers gegen oder ohne dessen Willen, so liegt überhaupt keine Verfügung des Erblassers vor (
BGE 72 II 157
; TUOR, N. 27, ESCHER, N. 5 zu
Art.469 ZGB
).
b) Wurden einzelne Stellen des Textes einer Testamentsurkunde ohne jede körperliche Beteiligung des Erblassers von einem Dritten geschrieben, so sind diese Stellen schon mangels eigenhändiger Niederschrift durch den Erblasser ungültig. Fragen kann sich nur, wie sich das Vorhandensein solcher Stellen
BGE 98 II 73 S. 81
auf den übrigen Inhalt der Urkunde auswirkt. Dabei ist zu unterscheiden, ob die Einfügung mit oder ohne Zustimmung des Erblassers erfolgte.
Stellen, die ohne Wissen und Willen des Erblassers in das Testament eingefügt wurden, gelten als ungeschrieben und vermögen die Gültigkeit der vom Erblasser selbst geschriebenen Anordnungen nicht zu beeinträchtigen (TUOR N. 8, ESCHER N. 12 zu
Art. 505 ZGB
; STAUDINGER, N. 17 zu § 2247 BGB; PLANIOL ET RIPERT, Traité pratique de droit civil français, 2. Aufl., Band V 1957, N. 534 S. 675/676; GIANNATTASIO, a.a.O. S. 112; KLANG, a.a.O. N. III A a S. 302 f.).
Anders kann es sich dagegen verhalten, wenn der Dritte den Text des Testaments auf Weisung oder doch mit Zustimmung des Erblassers ergänzt hat (wie es im vorliegenden Falle für die von Frau Hanhart geschriebenen Stellen anzunehmen ist).
aa) Nach einer namentlich in Frankreich und Italien vertretenen Auffassung ist das Testament in einem solchen Falle ungültig, selbst wenn der Dritte nur ein einziges Wort oder wenige Wörter geschrieben hat (vgl. PLANIOL ET RIPERT, a.a.O. S. 675: "toute intrusion d'un tiers, manifestée par l'écriture d'une personne étrangère, entraîne la nullité du testament"; weitere Hinweise auf die französische Lehre und Rechtsprechung bei COTTIER, a.a.O. S. 52 ff.; GIANNATTASIO, a.a.O. S. 111/112).
bb) Eine mildere Auffassung betrachtet die Verfügung im Falle, dass einzelne Stellen mit Wissen und Willen des Erblassers von einem Dritten geschrieben wurden, nur dann als ungültig, wenn es sich dabei um wesentliche Bestandteile der Verfügung handelt oder wenn das vom Erblasser Geschriebene für sich allein "keinen klaren Sinn und Zusammenhang" gibt oder anzunehmen ist, der Erblasser hätte die von ihm selbst niedergeschriebenen Anordnungen ohne das von fremder Hand Eingefügte nicht getroffen (TUOR, N. 8, und ESCHER, N. 12 zu
Art. 505 ZGB
).
Die deutsche Lehre und Rechtsprechung, auf welche die eben genannten Kommentatoren sich berufen, beurteilt die Auswirkungen von mit dem Willen des Erblassers durch Dritte geschriebenen Textstellen auf den vom Erblasser geschriebenen Text im Falle, dass der Dritte eine (oder einzelne) von mehrern Anordnungen geschrieben hat, auf Grund von § 2085 BGB, wonach die Unwirksamkeit einer von mehrern in einem Testament enthaltenen Verfügungen die Unwirksamkeit der übrigen Verfügungen
BGE 98 II 73 S. 82
nur zur Folge hat, wenn anzunehmen ist, dass der Erblasser diese ohne die unwirksame Verfügung nicht getroffen hätte. Ist einer von mehrern Bestandteilen einer und derselben Anordnung (z.B. die Bezeichnung einer von mehreren mit einem Vermächtnis oder einer Auflage beschwerten Personen) infolge Einfügung von fremder Hand oder aus einem andern Grunde unwirksam, so ist nach vorherrschender Auffassung die Sondervorschrift von § 2085 BGB nicht anwendbar, sondern greift § 139 BGB ein, der die Beweislast in entgegengesetztem Sinne regelt, indem er bestimmt: "Ist ein Teil eines Rechtsgeschäfts nichtig, so ist das ganze Rechtsgeschäft nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen sein würde" (vgl. zu alledem STAUDINGER, a.a.O. N. 17 und V. Band, 1. Teil 1954, N. 1 zu § 2085 BGB; KIPP/COING, a.a.O. S. 138 und S. 105; PALANDT, 30. Aufl. 1971, N. 2 a aa zu § 2247 und N. 1 zu § 2085 BGB). Mehrere Autoren sind jedoch der Ansicht, auch in einem solchen Falle müsse § 2085 BGB gelten (KIPP/COING S. 105/106 und die Hinweise bei PALANDT, N. 1 zu § 2085).
Für das österreichische Recht nimmt KLANG (a.a.O. S. 303) an, Randbemerkungen und Zusätze, die mit Willen des Erblassers von fremder Hand gemacht wurden (Angaben tatsächlicher Natur über den Vermögensstand, den Wohnsitz eines Bedachten, Korrektur von Undeutlichkeiten u. dgl.) seien nicht Testamentsinhalt, könnten aber als Auslegungsbehelf dienen. Von fremder Hand in den Text der Urkunde eingeschobene Sätze oder Worte (z.B. Namen oder Bezeichnung bedachter Personen, Geldsummen, vermachte Gegenstände oder ganze Anordnungen) seien als ungültig auszuschalten, auch wenn sie vom Erblasser gewollte Ergänzungen darstellen; der übriggebliebene, vom Testator selbst geschriebene Teil sei nur soweit gültig, "als er sich als eine vollständige und verständliche Erklärung seines Willens erweist".
Der Auffassung, dass mit Zustimmung des Erblassers erfolgte Einfügungen von fremder Hand nicht notwendigerweise die ganze Verfügung ungültig machen, werden im übrigen auch in Frankreich und Italien Zugeständnisse gemacht (vgl. Encyclopédie DALLOZ, Répertoire de droit civil, Band V 1955, Art. Testament, N. 42 S. 341, wo zur Frage, ob eine mit Wissen und Willen des Erblassers von einem Dritten vorgenommene Einschiebung das Testament ungültig mache, unter Hinweis auf
BGE 98 II 73 S. 83
alte Präjudizien bemerkt wird: "Il semble qu'elle doit se résoudre par une interprétation des intentions du testateur faite à la lumière des circonstances de la cause", und DALLOZ, Nouveau répertoire de droit, 2. Aufl., Band IV 1965, Art. Testament, N. 17 S. 740, wo auf die Feststellung, dass bei Errichtung der Verfügung mit dem Willen des Erblassers angebrachte Streichungen,Überschreibungen und Einschiebungen das Testament ungültig machen, die Bemerkung folgt: "Cependant, à cet égard, le testament peut n'être pas indivisible, et celles de ses dispositions où la main du tiers n'est pas intervenue peuvent subsister"; für Italien vgl. die von GIANNATTASIO auf S. 112 in Anm. 8 angeführten, von seiner eigenen Auffassung abweichenden Zitate, u.a. das in Foro italiano, Repertorio, 1948, Art. Testamento, N. 46 S. 1358 zusammengefasste Urteil des Appellationshofs von Turin vom 25. Februar 1948, wonach der Umstand, dass in den Text eines eigenhändigen Testaments ein Wort von fremder Hand eingefügt wurde, im Falle der materiellen Bedeutungslosigkeit dieses Wortes die Gültigkeit des Testaments nicht beeinträchtigt, auch wenn er offenbart, dass dem Erblasser bei der Testamentserrichtung von einer andern Person geholfen wurde).
cc) Der Wortlaut von
Art. 505 ZGB
(namentlich die Wendung "von Anfang bis zu Ende") scheint zunächst für die strengere Auffassung zu sprechen. Er lässt aber, wie TUOR und ESCHER (N. 8 bzw. 12 zu
Art. 505 ZGB
) mit Recht annehmen, auch die mildere Auffassung zu, die dem Grundsatz des favor testamenti besser entspricht. Dass der Erblasser die "Verfügung" im Sinne des
Art. 505 ZGB
von Anfang bis zu Ende selbst geschrieben habe, lässt sich auch dann sagen, wenn er nicht schlechthin alles, was mit seinem Willen in der Testamentsurkunde steht, aber ausser der nach Art. 505 erforderlichen Orts- und Zeitangabe und der Unterschrift doch wenigstens den Text selbst geschrieben hat, der den wesentlichen Inhalt der von ihm gewollten Anordnungen zum Ausdruck bringt. Die Zwecke, denen die eigenhändige Niederschrift nach dem Grundgedanken von
Art. 505 ZGB
zu dienen hat, werden auch in diesem Falle erreicht. Wenn ein Dritter bei Errichtung des Testaments mit Zustimmung des Erblassers nebensächliche oder unnötige Einfügungen vornimmt, z.B. über eine vom Erblasser selbst bereits genügend bezeichnete Person oder Sache nähere Angaben macht, die Erbeinsetzungen oder Vermächtnisse
BGE 98 II 73 S. 84
numeriert oder vom Erblasser versehentlich ausgelassene Buchstaben einfügt, die der Leser, wenn sie nicht vorhanden wären, von sich aus ergänzen würde, so wird dadurch die Beurteilung der Echtheit des Testaments auf Grund der Handschrift, die durch die eigenhändige Niederschrift ermöglicht werden soll, keineswegs ausgeschlossen. Ebensowenig werden dadurch erhebliche Zweifel daran begründet, dass die im Testament enthaltenen Anordnungen dem Willen des Erblassers entsprechen. Wenn jedoch das Testament ohne die Einfügungen von fremder Hand keine dem
Art. 505 ZGB
genügende Orts- und Zeitangabe oder Unterschrift enthält oder wenn wesentliche Angaben über die testamentarischen Anordnungen von einem Dritten stammen, so kann das Formerfordernis von
Art. 505 ZGB
, soll diese Vorschrift ihren Sinn behalten, unter einem noch zu erwähnenden Vorbehalte (vgl. den nächstfolgenden Absatz) nicht mehr als erfüllt gelten. Welche inhaltlichen Angaben wesentlich sind, beurteilt sich nach den Umständen des einzelnen Falles. In der Regel sind die Angaben, die zur Bezeichnung der bedachten (oder beschwerten) Personen sowie des Gegenstands und der Höhe der Zuwendungen notwendig sind, als wesentlich zu betrachten.
Sind einzelne von mehrern testamentarischen Anordnungen oder wesentliche Bestandteile einer einzelnen Anordnung mit Zustimmung des Erblassers von fremder Hand geschrieben worden, so zieht das nach der mildern Auffassung, die den Vorzug verdient, nicht ohne weiteres die Ungültigkeit des ganzen Testaments nach sich. Diese Folge tritt vielmehr nur ein, wenn der von der Hand des Erblassers stammende Text für sich allein keinen Sinn hat oder wenn anzunehmen ist, der Erblasser hätte die von ihm selbst handschriftlich niedergelegten Anordnungen ohne das von fremder Hand Eingefügte nicht getroffen. Das ZGB enthält zwar keine dem § 2085 BGB entsprechende Sondervorschrift. Der favor testamenti (vgl. § 2084 BGB), auf dem § 2085 BGB beruht (STAUDINGER, N. 1 Abs. 2 zu § 2085; KIPP/COING, S. 105/106; PALANDT, N. 1 zu § 2085 BGB), ist jedoch auch im schweizerischen Recht anerkannt (TUOR, Vorbem. zum 3. Abschnitt, N. 16 S. 202; ESCHER, Einleitung zum 14. Titel, N. 16 S. 109). Die Auffassung, dass bei Formungültigkeit einzelner Teile eines Testaments nur diese Teile ungültig sind, ausser wenn anzunehmen ist, der Erblasser hätte das Testament ohne diese Teile nicht errichtet, kann sich zudem
BGE 98 II 73 S. 85
auf eine analoge Anwendung von
Art. 20 Abs. 2 OR
stützen, wie sie im Sinne von
Art. 7 ZGB
liegt (so zutreffend COTTIER, a.a.O. S. 56). Da die Vermutung nach
Art. 20 Abs. 2 OR
wie nach § 2085 BGB und anders als nach § 139 BGB für die blosse Teilnichtigkeit spricht, treten die Schwierigkeiten, die sich im deutschen Recht aus dem Unterschied zwischen § 2085 und § 139 BGB ergeben (vgl. lit. bb Abs. 2 hievor), im schweizerischen Recht nicht ein.
Ob eine von fremder Hand stammende und daher auf jeden Fall ungültige Textstelle mit oder ohne Zustimmung des Erblassers eingefügt wurde, kann als unerheblich dahingestellt bleiben, wenn sie im angegebenen Sinne unwesentlich ist oder wenn das vom Erblasser selbst Geschriebene nach den dargelegten Grundsätzen selbst dann, wenn der Dritte mit Zustimmung des Erblassers gehandelt haben sollte, für sich allein Bestand haben kann.
4.
Die Vorinstanz hat auf Grund der Gutachten Hofmann und der übrigen Akten festgestellt, die Erblasserin habe das streitige Testament unter Diktier- und Schreibhilfe von Frau Hanhart grösstenteils selbst geschrieben; insbesondere seien die Orts- und Zeitangabe und die Unterschrift als eigenhändig zu betrachten; Frau Hanhart habe der Erblasserin an den "prozesswesentlichen Stellen" (nämlich bei der Niederschrift der eben erwähnten Angabe, der Unterschrift und der Anordnungen über die streitigen Vermächtnisse) nicht in der Weise die Hand geführt, dass die Individualität ihrer Schriftzüge aufgehoben oder erheblich beeinträchtigt worden wäre; die Randziffern 8-10 (die Nummern der drei streitigen Vermächtnisse) und der Buchstabe "f" in "Krankenpflege", die der Schriftexperte als nicht eigenhändig erkläre, seien "für die Sinnausle.. gung bezüglich dieser drei Vergabungen" ganz unwesentlich; da auch das Ergänzungsgutachten "bei den Zahlen dieser drei Vergabungen" (d.h. hinsichtlich der diese Vermächtnisse beziffernden Zahlen) keine Zweifel an der Eigenhändigkeit dartue, habe das Gericht keinen Anlass zur Aktenergänzung durch eine neue Schriftexpertise oder nochmalige Befragung von Frau Hanhart (wie die Beklagten sie beantragt hatten); Hofmann erkläre im Ergänzungsgutachten, das vorliegende Material reiche nicht aus, um einen mehr oder weniger gesicherten Nachweis für das Schreiben "einzelner Zahlenbeträge der Legate" durch Frau Hanhart zu führen, obwohl er mit dieser
BGE 98 II 73 S. 86
Möglichkeit rechne; da die Beweislast die Beklagten treffe, sei im Zweifel Eigenhändigkeit und Gültigkeit auch dieser Zahlenbeträge anzunehmen.
Die Feststellungen der Vorinstanz über die Art, wie das streitige Testament geschrieben wurde, haben wie die Feststellungen, die sich auf den Testierwillen der Erblasserin und die Frage ihrer Beeinflussung beziehen (Erw. 2 hievor), tatsächliche Verhältnisse zum Gegenstand.
Die Rüge der Beklagten, die Vorinstanz sei bei Ermittlung des Tatbestandes, der für die Beurteilung der Einrede der Formungültigkeit massgebend ist, von einer unrichtigen Verteilung der Beweislast ausgegangen, ist unbegründet. Für den Beweis der Echtheit des streitigen Testaments, den gemäss
Art. 8 ZGB
die durch das Testament begünstigten Kläger zu leisten haben, genügt der Nachweis, dass die Verfügung grösstenteils von der Erblasserin geschrieben wurde. Die Kläger haben entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nachzuweisen, dass das Testament ganz oder doch in allen wesentlichen Punkten von der Hand der Erblasserin stammt. Vielmehr obliegt den das Testament anfechtenden Beklagten der Nachweis der Tatsachen, aus denen sich die Formungültigkeit (oder die materielle Ungültigkeit) der zur Hauptsache von der Erblasserin geschriebenen und daher als echt zu betrachtenden Verfügung ergeben soll (TUOR, N. 13, ESCHER, N. 9 zu
Art. 519 ZGB
). Die Rüge der unrichtigen Beweislastverteilung ist im übrigen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts gegenstandslos, soweit die Vorinstanz über den massgebenden Sachverhalt positive Feststellungen getroffen hat (
BGE 95 II 233
Erw. 1 und 342 Erw. 6 a cc mit Hinweisen,
BGE 96 II 258
Erw. 1).
Die Rüge, die Vorinstanz habe
Art. 8 ZGB
dadurch verletzt, dass sie die zum Beweis der Unechtheit bzw. der behaupteten Formfehler beantragten Beweisergänzungen nicht anordnete, hält ebenfalls nicht stand. Wie im Entscheid über die staatsrechtliche Beschwerde dargelegt, beruht die Ablehnung dieser Beweisergänzung auf einer Würdigung der bereits erhobenen und einer Vorauswürdigung der neu angebotenen Beweise. Diese Beweiswürdigung kann mit der Berufung an das Bundesgericht nicht angefochten werden (vgl. Erw. 2 Abs. 2 hievor und
BGE 87 II 232
mit Hinweisen,
BGE 96 II 58
oben). Der Versuch der Beklagten, sie mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Willkür
BGE 98 II 73 S. 87
anzufechten, ist gescheitert. (Im Urteil über diese Beschwerde konnte im übrigen u.a. darauf hingewiesen werden, dass der Vorbehalt, den der Experte im Ergänzungsgutachten unter Hinweis auf das Ungenügen des Vergleichsmaterials bezüglich der Eigenhändigkeit gewisser Zahlen angebracht hat, sich nach dem Zusammenhang nicht auf die Zahlen bezieht, welche die streitigen Legate beziffern).
Dass die wiedergegebenen Feststellungen der Vorinstanz in anderer Hinsicht gegen bundesrechtliche Beweisvorschriften verstossen oder offensichtlich auf Versehen beruhen, machen die Beklagten mit Recht nicht geltend. Daher hat das Bundesgericht diese Feststellungen seiner Entscheidung zugrunde zu legen (
Art. 63 Abs. 2 OG
).
5.
Hat die Erblasserin die Orts- und Zeitangabe, den Text, der die Empfänger und die Beträge der streitigen Vermächtnisse bezeichnet, und die Unterschrift mit einer das zulässige Mass nicht überschreitenden (nach Erw. 2 hievor auch ihren freien Willen nicht beeinträchtigenden) Unterstützung durch Frau Hanhart selbst geschrieben und stammen im Bereiche dieser Textstellen höchstens die Randziffern und der Buchstabe "f" in "Krankenpflege" von fremder Hand, so ist das Erfordernis der eigenhändigen Niederschrift in diesen Punkten erfüllt. Die Randziffern sind unnötige Zusätze, und den Buchstaben "f" hätte, wenn er weggeblieben wäre, jeder Leser ohne weiteres von sich aus ergänzt. Im übrigen ist der Ausdruck "für gute Krankenpflege", mit dem die Zuwendung an Frau Gubler begründet wird, materiell bedeutungslos.
Die angeführten Elemente des Testaments haben freilich nur zusammen mit den im Ingress stehenden Wörtern: "Ich ... verfüge hiemit als mein(en) letzten Willen was folgt:" einen verständlichen Sinn. Die Wörter "verfüge" und "folgt" enthalten je einen Buchstaben (f bzw. t), den der Schriftexperte als verdächtig betrachtet. Für diese Buchstaben gilt jedoch das gleiche wie für den Buchstaben "f" in "Krankenpflege".
Wieweit die Erblasserin die Empfänger und die Beträge der übrigen, heute nicht streitigen Vermächtnisse eigenhändig bezeichnet habe, kann dahingestellt bleiben; denn die Ergänzungen, die Frau Hanhart hier vorgenommen haben soll, vermögen auch dann, wenn sie die betreffenden Vermächtnisse ungültig machen sollten, keinen Zweifel am Testierwillen der Erblasserin
BGE 98 II 73 S. 88
zu begründen, und es besteht keinerlei Grund zur Annahme, dass die Erblasserin die Kläger nur zusammen mit den andern Vermächtnisnehmern bedenken wollte.
Ob sich die Erblasserin bei der Niederschrift des Testaments einer Brille bedient habe, was die Beklagten bestreiten, durfte von der Vorinstanz als unerheblich offengelassen werden. Nach dem angefochtenen Urteil muss nämlich auf jeden Fall als erwiesen gelten, dass die Erblasserin das von ihr Geschriebene genügend lesen konnte. Diese Feststellung ist das Ergebnis einer Beweiswürdigung, die der Überprüfung im Berufungsverfahren entzogen ist. Angesichts dieser Feststellung braucht nicht geprüft zu werden, ob die Fähigkeit, das selbst Geschriebene lesen zu können, für die Errichtung eines eigenhändigen Testaments unerlässlich sei (vgl. zu dieser Frage z.B. COTTIER, a.a.O. S. 38 mit Anm. 2 und 3; § 2247 Abs. 4 BGB und PALANDT, N. 2 a aa zu § 2247).
Die streitigen Vermächtnisse sind also gültig.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 11. November 1971 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,972 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e466008-ce4a-4e86-a5fa-4df8690a0bcd | Urteilskopf
107 V 244
58. Estratto della sentenza del 3 dicembre 1981 nella causa Giannini contro Ufficio federale dell'assicurazione militare e Tribunale cantonale ticinese delle assicurazioni | Regeste
Art. 56 Abs. 1 MVG
.
Die Vorschrift des
Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG
ist in analoger Weise anwendbar auch bei Militärversicherungssachen im Beschwerdeverfahren vor den erstinstanzlichen gerichtlichen Behörden. | Erwägungen
ab Seite 244
BGE 107 V 244 S. 244
Estratto dai considerandi:
2.
Giusta l'
art. 55 LAM
gli aventi diritto hanno la facoltà di ricorrere contro le decisioni degli organi dell'assicurazione militare. L'art. 56 cpv. 1 dispone che la procedura è regolata dai cantoni, precisando che essa, per quanto possibile, deve essere analoga a quella del Tribunale federale delle assicurazioni e soddisfare ad una serie di condizioni esplicitamente elencate dalla lett. a) alla lett. h). Alla lett. a) si rileva in particolare che la procedura deve essere speditiva e di massima gratuita per le parti.
La materia nel Cantone Ticino è stata regolata nel Decreto esecutivo concernente l'organizzazione e la procedura per le cause promosse contro le decisioni dell'assicurazione militare. Questo testo all'art. 3 prevede a quali presupposti formali debba rispondere la "petizione", ma nulla dice sugli atti incompleti...
Chiamata nell'ambito della presente vertenza a pronunciarsi sul tema, la Corte plenaria del Tribunale federale delle assicurazioni,
BGE 107 V 244 S. 245
ferma l'esigenza di mantenere semplice la procedura e, nell'intento di armonizzare l'applicazione dei vari rami delle assicurazioni sociali davanti alle autorità giudiziarie di primo grado, ha ritenuto, in assenza di una disposizione nella legislazione in materia di assicurazione militare di una norma che disponga i minimi di procedura, essere applicabile per analogia pure alla LAM l'
art. 85 cpv. 2 lett. b LAVS
, disposto questo già dichiarato dal legislatore richiamabile nelle cause in materia di LAI, LPC, LAF e di LIPG e ripresa letteralmente anche dall'
art. 30bis cpv. 3 lett. b LAMI
nonché dall'art. 108 cpv. 1 lett. b della non ancora vigente legge federale 20 marzo 1981 sull'assicurazione infortuni (LAINF). Questa norma prevede che l'atto di ricorso deve contenere un'esposizione dei fatti concisa, le conclusioni e una breve motivazione precisando che se il gravame non soddisfa tali requisiti l'autorità di ricorso assegna al ricorrente un termine sufficiente per l'adeguamento, con la comminatoria che, altrimenti, essa non entrerà nel merito.
Una disposizione analoga è peraltro prevista anche dall'
art. 52 cpv. 2 e 3 PA
. Ne può essere dedotto che la norma di cui si tratta deve essere intesa come una regola di diritto procedurale amministrativo che ha valore generale e che è sempre applicabile quando la legge non dica altrimenti in quanto rispondente al principio che vieta il formalismo eccessivo.
Ora, interpretando l'
art. 85 cpv. 2 lett. b LAVS
, il Tribunale federale delle assicurazioni ha dichiarato che nella procedura di prima istanza - contrariamente a quanto previsto dal disposto dell'
art. 108 OG
- la fissazione del termine in vista di migliorare il ricorso non deve aver luogo soltanto nei casi di difetto di chiarezza o di motivazione, bensì, generalmente, in qualsiasi caso in cui il ricorso non soddisfi le esigenze legali. Si tratta di una prescrizione formale che fa obbligo al giudice di prima istanza, eccettuati essendo i casi di abuso manifesto, di fissare un termine per rimediare alle imperfezioni dell'atto ricorsuale (
DTF 104 V 178
). | null | nan | it | 1,981 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2e479707-854f-4856-b73e-cca0fb563e21 | Urteilskopf
95 II 599
81. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. November 1969 i.S. Wullschleger gegen Saul. | Regeste
Güterrechtliche Auseinandersetzung bei Eintritt der Gütertrennung oder bei Scheidung (
Art. 189, 154 ZGB
).
Hat der Ehemann der Ehefrau einen Geldbetrag zu ersetzen, den diese während der Güterverbindung als Gläubigerin einer zum eingebrachten Frauengut gehörenden Forderung selbst einkassiert und dem Ehemann nicht übergeben hat?
- Ersatzpflicht des Ehemanns wegen schuldhafter Verletzung einer ihm obliegenden Sorgfaltspflicht (
Art. 201 Abs. 1 und 752 ZGB
), wegen Verwendung des Geldes für den Haushalt oder zur Tilgung sonstiger Mannesschulden (
Art. 209 Abs. 1 ZGB
) oder wegen Vermischung mit dem im Eigentum des Ehemanns stehenden Haushaltungsgeld (
Art. 727, 201 Abs. 3 ZGB
)? (Erw. 4 d, aa - cc).
- Der Eigentumsübergang und die Ersatzforderung nach
Art. 201 Abs. 3 ZGB
fallen bei Auflösung der Güterverbindung wegen Übergangs zur Gütertrennung oder wegen Scheidung grundsätzlich dahin; im übrigen erhält die Ehefrau nach dieser Bestimmung keine Ersatzforderung für bares Geld, andere vertretbare Sachen und nur der Gattung nach bestimmte Inhaberpapiere, die sie dem Ehemann vorenthalten hat (Erw. 4 d Abs. 1 und 4 e; Bestätigung und Klarstellung der Rechtsprechung). | Sachverhalt
ab Seite 600
BGE 95 II 599 S. 600
Aus dem Tatbestand:
Die Eheleute Wullschleger-Saul lebten nach ihrer Heirat (1944) zunächst unter dem Güterstand der Güterverbindung. Durch Ehevertrag vom 28. Februar 1953, der von der zuständigen
BGE 95 II 599 S. 601
Vormundschaftsbehörde genehmigt wurde, vereinbarten sie als ihren künftigen Güterstand die Gütertrennung. Die hiedurch nötig gewordene güterrechtliche Auseinandersetzung unterblieb damals und war daher in dem vom Ehemann im Oktober 1959 eingeleiteten Scheidungsprozesse auf den Zeitpunkt des Eintritts der Gütertrennung nachzuholen. In diesem Zusammenhang verlangte die Beklagte vom Kläger u.a. den Ersatz eines Betrags von Fr. 1300.--, den sie nach der Heirat mit dem Kläger von ihrem frühern Ehemann als Rest einer von diesem gemäss Scheidungsurteil vom 13. Oktober 1943 geschuldeten Abfindungssumme in monatlichen Raten von Fr. 50.- erhalten und unstreitig nicht dem Kläger übergeben, sondern in ihren Händen behalten hatte. Sie behauptete, sie habe dieses Geld für den Haushalt verwendet, wogegen der Kläger geltend machte, sie habe es für rein persönliche Bedürfnisse verbraucht oder auf ihr Sparheft gelegt. Das Obergericht des Kantons Zürich verpflichtete den Kläger am 19. November 1968 zum Ersatz dieses Betrags mit der Begründung, nach
Art. 189 ZGB
sei das eingebrachte Frauengut bei Eintritt der Gütertrennung zurückzugeben; der Kläger würde von dieser Rückgabepflicht nur durch den Nachweis befreit, dass die Beklagte das Geld "für persönliche Belange ausserhalb des Rahmens der Schlüsselgewalt" verbraucht oder auf ihr Sparheft gelegt habe; diesen Beweis habe der Kläger nicht geleistet. Das Bundesgericht weist die Ersatzforderung der Beklagten ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
... d) Tritt während der Ehe die Gütertrennung ein, so zerfällt das eheliche Vermögen gemäss
Art. 189 Abs. 1 ZGB
mit Vorbehalt der Rechte der Gläubiger in das Eigengut des Mannes und das Eigengut der Frau. Das geschieht gleich wie nach
Art. 154 ZGB
bei der Scheidung unabhängig vom Güterstand (
BGE 40 II 308
unten,
BGE 47 II 9
E. 3), was im Falle, dass bisher Güterverbindung bestand, namentlich bedeutet, dass der kraft Vereinbarung der Gütereinheit (
Art. 199 ZGB
) oder gemäss
Art. 201 Abs. 3 ZGB
erfolgte Eigentumsübergang an den Ehemann dahinfällt und dass die Ehefrau die betreffenden Vermögenswerte oder gegebenenfalls die als Ersatz dafür angeschafften Werte als ihr Eigengut zurücknehmen kann und die Ersatzforderung aus Art. 199 bezw. 201 Abs. 3 ZGB verliert (
BGE 47 II 131
ff. E. 1,
BGE 57 II 452
oben,
BGE 74 II 147
; KNAPP, Le régime matrimonial
BGE 95 II 599 S. 602
de l'union des biens, N. 879 S. 292; LEMP N. 15/16 und 23 zu Art. 189; DESCHENAUX, SJK 1233, II 1 S. 1/2; HINDERLING, Das schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. A., S. 118 f.). Der Ehemann ist für die gemäss
Art. 199 oder 201 Abs. 3 ZGB
in sein Eigentum übergegangenen Vermögenswerte im Falle des Übergangs zur Gütertrennung in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm daran nur das Recht der Verwaltung und Nutzung zugestanden hätte (LEMP N. 24 zu
Art. 189 ZGB
), d.h. seine Verantwortlichkeit richtet sich in diesem Falle nach
Art. 201 Abs. 1 ZGB
. Die güterrechtliche Ersatzforderung der Ehefrau aus
Art. 199 oder 201 Abs. 3 ZGB
bleibt als solche beim Übergang zur Gütertrennung nur insoweit bestehen, als die ins Eigentum des Mannes übergegangenen Vermögenswerte infolge Verbindung oder Vermischung mit dem Mannesgut (
Art. 727 ZGB
; vgl.
BGE 47 II 132
) nicht mehr ausgeschieden werden können (LEMP N. 25 zu
Art. 189 ZGB
). Abgesehen von diesen Besonderheiten gelten für die Ersatzforderungen im Falle des Übergangs zur Gütertrennung die gleichen Regeln wie im Falle der Auflösung der Güterverbindung durch den Tod eines Ehegatten (LEMP N. 26 zu
Art. 189 ZGB
). Namentlich ist
Art. 209 Abs. 1 ZGB
in beiden Fällen anwendbar.
aa) Auf Grund von
Art. 201 Abs. 1 ZGB
könnte die Beklagte den Kläger nach dieser Bestimmung in Verbindung mit
Art. 752 Abs. 1 ZGB
für den Betrag von Fr. 1300.-- nur verantwortlich machen, wenn dieser Betrag infolge schuldhafter Verletzung einer dem Kläger obliegenden Sorgfaltspflicht nicht mehr vorhanden wäre (vgl. LEMP N. 24 ff. zu
Art. 201 ZGB
). Eine solche Pflichtverletzung ist dem Kläger nicht vorzuwerfen. Insbesondere hat der Kläger seine Pflichten als Verwalter und "Nutzniesser" des Frauenguts nicht etwa schon dadurch verletzt, dass er diesen Betrag nicht an sich zog, sondern ihn der Beklagten überliess, wie sie es zweifellos selber wünschte.
bb) Unabhängig von einem Verschulden hätte der Kläger der Beklagten den Betrag von Fr. 1300.-- zu ersetzen, wenn die Beklagte ihn wegen ungenügender Leistungen des Klägers, der nach
Art. 160 Abs. 2 ZGB
für den Unterhalt der Familie zu sorgen hatte, für die laufenden Bedürfnisse des Haushalts hätte verwenden müssen (
Art. 209 ZGB
;
BGE 52 II 424
ff.,
BGE 57 II 139
f.,
BGE 78 II 305
f.,
BGE 81 II 188
; LEMP N. 37 zu Art. 212/13, N. 15 zu
Art. 209 ZGB
). Dass dies der Fall gewesen sei, hätte nach
Art. 8 ZGB
die Beklagte beweisen müssen. Diesen Beweis hat
BGE 95 II 599 S. 603
sie nicht geleistet. Als Beweismittel nannte sie in diesem Zusammenhang nur die persönliche Befragung des Klägers. Vom Bezirksgericht befragt, bestritt dieser ihre Darstellung. Das Obergericht, dessen tatsächliche Feststellungen für das Bundesgericht verbindlich sind, nimmt an, es stehe nicht fest, was mit dem Betrag von Fr. 1300.-- geschah.
Dass die Beklagte diesen Betrag sonstwie zur Tilgung einer intern des Mannesgut belastenden Schuld verwendet habe, ist nicht behauptet worden, und es bestehen dafür auch keine Anhaltspunkte.
Die Forderung auf Ersatz dieses Betrags kann sich daher nicht auf
Art. 209 ZGB
stützen.
cc) Behielt die Beklagte den Betrag von Fr. 1300.--, so konnte er sich höchstens dann mit Mannesgut vermischen, wenn sie ihn zu dem vom Kläger erhaltenen Haushaltungsgeld legte, das trotz der Übergabe an sie im Eigentum des Klägers blieb (
BGE 51 II 101
; LEMP N. 16 zu
Art. 163 ZGB
). Eine Vermischung mit dem Haushaltungsgeld, die als Grundlage der Ersatzforderung von der Beklagten zu beweisen wäre, ist jedoch so wenig bewiesen wie eine Verwendung für den Haushalt. Die Voraussetzung, unter welcher angenommen werden könnte, dass eine nach
Art. 201 Abs. 3 ZGB
entstandene Ersatzforderung ungeachtet der durch den Eintritt der Gütertrennung bewirkten Auflösung der Güterverbindung bestehen geblieben sei (Fall der Unmöglichkeit einer Ausscheidung der eingebrachten Werte wegen Verbindung oder Vermischung mit dem Mannesgut, lit. d Abs. 1 hievor), ist also mit Bezug auf den Betrag von Fr. 1300.-- nicht erfüllt.
Auch in anderer Weise lässt sich eine Pflicht des Klägers zum Ersatz dieses Betrages bei der gegebenen Sachlage aus den Regeln über die Ersatzforderungen bei Auflösung der Güterverbindung infolge Übergangs zur Gütertrennung nicht ableiten.
e) Im Falle
BGE 85 II 302
ff. hat das Bundesgericht geprüft, ob die Ehefrau bei der güterrechtlichen Auseinandersetzung infolge Scheidung der Ehe auf Grund des von ihr angerufenen
Art. 201 Abs. 3 ZGB
Anspruch auf Ersatz des Werts nicht mehr vorhandener Inhaberobligationen habe, die sie dem Ehemann nicht zur Verwaltung übergeben, sondern in einem eigenen Schrankfach verwahrt und selbst verwaltet hatte (und die folglich auch nicht etwa mit entsprechenden Titeln des Ehemanns vermischt worden waren). Das Bundesgericht hat diese Frage mit der Vorinstanz
BGE 95 II 599 S. 604
verneint, ohne sich mit der frühern Rechtsprechung und mit der Lehre auseinanderzusetzen, wonach ein nach
Art. 201 Abs. 3 ZGB
erfolgter Eigentumserwerb des Mannes und eine nach dieser Bestimmung entstandene Ersatzforderung der Frau grundsätzlich dahinfallen, wenn die Güterverbindung infolge Scheidung oder Übergangs zur Gütertrennung aufgelöst wird. Unter diesen Umständen ist im Entscheide
BGE 85 II 302
ff. nicht eine Änderung jener frühern Rechtsprechung zu erblicken. Die Erwägungen dieses Entscheides sollen vielmehr in Wirklichkeit (ähnlich wie die ausdrücklich als zusätzliche Begründung gekennzeichnete Erwägung 2 des EntscheidesBGE 47 II 129ff.) nur dartun, dass der Ehefrau in einem Falle, wie er damals zu beurteilen war, auch dann kein Ersatzanspruch im Sinne von
Art. 201 Abs. 3 ZGB
zusteht, wenn man im Gegensatz zuBGE 47 II 131ff. E. 1 und zu den weitern unter lit. d Abs. 1 hievor angeführten Entscheiden annehmen wollte, dass die nach dieser Bestimmung entstandenen Ersatzansprüche bei der Scheidung oder beim Übergang zur Gütertrennung bestehen bleiben.
Entsprechendes lässt sich auch im vorliegenden Falle sagen. Aus
Art. 201 Abs. 3 ZGB
könnte zwar, wie in
BGE 85 II 305
ausgeführt, bei streng wörtlicher Auslegung abgeleitet werden, der Ehemann werde nach dieser Bestimmung grundsätzlich auch für den Wert ihm vorenthaltener Vermögensstücke der in dieser Bestimmung genannten Art ersatzpflichtig (so LEMP N. 66 und 68 in Verbindung mit N. 46 zu
Art. 201 ZGB
). Das Bundesgericht hat jedoch der Ehefrau in mehreren Entscheiden eine solche Ersatzforderung abgesprochen (
BGE 47 II 137
unten; nicht veröffentlichte Entscheide vom 10. Dezember 1931 i.S. Schwendeler und vom 5. Juli 1945 i.S. Giroud, zustimmend zitiert von KNAPP N. 94 S. 22 mit Anm. 66 S. 80;
BGE 85 II 304
f.). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Soweit
Art. 201 Abs. 3 ZGB
vorsieht, die Ehefrau erhalte für den Wert der hier genannten Vermögensstücke eine Ersatzforderung, ist diese Bestimmung auf den Normalfall zugeschnitten, dass die Ehefrau dem Ehemann diese Vermögensstücke zur Verfügung stellt, so dass er über ihre Verwendung entscheiden kann (vgl.
BGE 85 II 305
). Die Ersatzpflicht des Ehemanns nach
Art. 201 Abs. 3 ZGB
ist das Gegenstück des umfassenden Verfügungsrechts, das diese Bestimmung ihm einräumt, indem sie das Eigentum auf ihn übergehen lässt. Verhindert die Ehefrau die Ausübung dieses Verfügungsrechts, indem sie die fraglichen Vermögensstücke
BGE 95 II 599 S. 605
für sich behält, so kann sie den Ehemann nach der ratio legis des
Art. 201 Abs. 3 ZGB
für deren Wert nicht verantwortlich machen. Die Ersatzpflicht des Ehemanns in solchen Fällen zu bejahen und ihm nur die Verrechnung mit einer (ein Verschulden der Ehefrau voraussetzenden) Schadenersatzforderung wegen unbefugter Verfügung der Ehefrau über ihm zustehende Werte vorzubehalten, wie das in
BGE 85 II 305
unter Hinweis auf LEMP (N. 30 zu Art. 203, N. 44 zu
Art. 200 ZGB
; vgl. ausserdem N. 68 a.E. zu
Art. 201 ZGB
) im Sinne einer Eventualbegründung erwogen wurde, wird den Verhältnissen nicht gerecht (anderer Meinung MERZ in ZBJV 1960 S. 407 f.).
Da unbestritten ist, dass die Beklagte den Betrag von Fr. 1300.-- nicht dem Kläger übergab, sondern für sich behielt, ist ihr Anspruch auf Ersatz dieses Betrags bei Anwendung von
Art. 201 Abs. 3 ZGB
nach dem Sinne dieser Bestimmung abzuweisen, ohne dass zu prüfen wäre, ob in solchen Fällen der Ehemann die Vorenthaltung oder (wie in den Entscheiden Schwendeler und Giroud angenommen) die Ersatz fordernde Ehefrau die Übergabe der fraglichen Vermögensstücke zu beweisen habe. | public_law | nan | de | 1,969 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e49d331-2f36-443d-970c-28fae7b1324c | Urteilskopf
105 Ib 389
58. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. November 1979 i.S. Ellenberger Electronic AG gegen Generaldirektion PTT (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Umfang des Fernmelderegals (
Art. 1 TVG
).
Elektrische oder radioelektrische Impulse sind nur dann "Zeichen" im Sinne von
Art. 1 TVG
, wenn sie zur sinnlichen Wahrnehmung durch den Menschen bestimmt sind. Vorrichtungen zur ferngesteuerten Öffnung von Garagetoren sind daher dem Fernmelderegal nicht unterstellt. | Sachverhalt
ab Seite 389
BGE 105 Ib 389 S. 389
Die Ellenberger Electronic AG in Herzogenbuchsee stellt elektrische Geräte, Maschinen und Bauteile her. So entwickelte sie u.a. Anlagen für die induktive drahtlose Steuerung von Garagetoren. Sie beschreibt diese Anlagen als Fernsteuersysteme, die auf dem Prinzip der elektromagnetischen Induktion beruhen, wobei durch Bewegen eines magnetischen Mediums oder durch Änderung des magnetischen Feldflusses magnetische Wechselfelder erzeugt und dadurch in einer Spule elektrische Spannungen induziert werden, welche über einen Leiter den Schalter für die Ingangsetzung des am Starkstrom angeschlossenen Elektromotors betätigen, der seinerseits den
BGE 105 Ib 389 S. 390
Öffnungsmechanismus bewegt. Seit 1966 steht sie in Briefwechsel mit der Generaldirektion PTT wegen der Frage, ob derartige Anlagen dem Fernmelderegal gemäss Art. 1 des Bundesgesetzes betreffend den Telegrafen- und Telefonverkehr vom 14. Oktober 1922 (TVG) und damit einer Prüfungs- und Konzessionspflicht unterstehen. Am 11. Oktober 1974 erliess die Radio- und Fernsehabteilung der Generaldirektion PTT, Unterabteilung Allgemeine Dienste und Funkregal, eine Feststellungsverfügung, wonach Anlagen mit induktiver drahtloser Übertragung unter das Fernmelderegal fallen. Eine Beschwerde der Ellenberger Electronic AG wies die Generaldirektion PTT mit Entscheid vom 18. Oktober 1977 ab. Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesgericht heisst sie im Sinne der Erwägungen gut.
Erwägungen
Erwägungen:
1.
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um eine auf öffentliches Recht des Bundes gestützte Verfügung im Sinne von
Art. 97 OG
in Verbindung mit
Art. 5 VwVG
. Gemäss
Art. 99 lit. d OG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig gegen die Erteilung oder Verweigerung von Konzessionen, auf die das Bundesrecht keinen Anspruch einräumt. Da vorliegend nicht die Erteilung oder Verweigerung einer Konzession in Frage steht, sondern vielmehr der Umfang eines Regals zu bestimmen und daher die Frage zu entscheiden ist, ob überhaupt eine Konzessionspflicht besteht, kann auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingetreten werden.
2.
Art. 1 TVG
lautet:
"Telegrafen- und Telefonregal
a) Umfang
Die Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe haben das ausschliessliche Recht, Sende- und Empfangseinrichtungen sowie Anlagen jeder Art, die der elektrischen oder radioelektrischen Zeichen-, Bild- oder Lautübertragung dienen, zu erstellen und zu betreiben."
Art. 3 TVG
sieht vor, dass zur Erstellung und zum Betrieb solcher Einrichtungen Konzessionen erteilt werden können. Die VO (1) vom 10. Dezember 1973 zum TVG definiert in Art. 1 Abs. 6 als radioelektrische Zeichen-, Bild- oder Lautübertragung u.a. "jede Übertragung von Zeichen, Bildern oder
BGE 105 Ib 389 S. 391
Lauten mittels elektromagnetischer Wellen durch den freien Raum". Gemäss
Art. 2 TVG
und Art. 2 VO (1) bestehen von diesem "Fernmelderegal" eine Reihe von Ausnahmen, die aber vorliegend ausser Betracht fallen; streitig ist nicht, ob die von der Beschwerdeführerin hergestellten Anlagen als Ausnahmefälle zu behandeln sind, sondern ob sie vom Fernmelderegal des Bundes grundsätzlich erfasst werden und damit einer Konzessionspflicht unterstehen. Die Beschwerdeführerin vertritt die Ansicht, elektromagnetische Impulse seien nur dann Zeichen im Sinne von
Art. 1 TVG
, wenn diese der sinnlichen Wahrnehmung durch den Menschen dienen. Demgegenüber glaubt die Generaldirektion PTT, es falle nicht nur die Übertragung von Mitteilungen oder Gedanken, welche zur sinnlichen Wahrnehmung durch den Menschen bestimmt sind, unter das Regal, sondern jede elektrische oder radioelektrische Übertragung von Impulsen, auch wenn sich diese darauf beschränke, eine Maschine zu steuern oder einen Motor (beispielsweise zur Öffnung von Garagetoren) in Betrieb zu setzen. Es ist im folgenden zu prüfen, welches die Bedeutung des Begriffs "Zeichen" im Sinne von
Art. 1 TVG
ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt vom Umfang des in der Bundesverfassung dem Bund vorbehaltenen Fernmelderegals (nachfolgend lit. a), von der Entstehungsgeschichte des TVG (lit. b) sowie vom Wortlaut des
Art. 1 TVG
(lit. c) ab.
a) Das dem Bund in
Art. 36 BV
vorbehaltene Fernmelderegal ist ein Ausfluss des Postregals und dieses ein solcher der staatlichen Strassenhoheit. Das Postregal umfasst seit 1848 die Vermittlung von Mitteilungen, von Waren und Geld zwischen räumlich getrennten Personen sowie die regelmässige und gewerbsmässige Beförderung von Personen (BURCKHARDT, Kommentar der schweiz. Bundesverfassung, S. 309, 311). Nach der Erfindung des Telegrafen erhob sich die Frage, ob dieses neue Kommunikationsmittel dem Postregal unterstellt werden könne. Der Bundesrat bejahte dies, indem er ausführte, die Mitteilungen mittels der Telegrafen seien im Grunde nichts anderes als die Briefkorrespondenzen, deren Beförderung dem Bund ausschliesslich vorbehalten sei (BBl 1851 III 283 f.
;
1852 I 25
, 131). Gestützt auf diese Auffassung war es dem Bund 1851 möglich, ohne Verfassungsänderung das Telegrafenwesen als einen Zweig der Bundesverwaltung zu organisieren. Die Bundesverfassung von 1874 bestätigte diese Anschauung, indem sie
BGE 105 Ib 389 S. 392
in Art. 36 das Post- und Telegrafenwesen im ganzen Umfang der Eidgenossenschaft für Bundessache erklärte (vgl. FLEINER, Schweiz. Bundesstaatsrecht, S. 508). Der Wortlaut von
Art. 36 BV
blieb bis heute unverändert. Nach der Erfindung des Telefons im Jahre 1877 waren die Meinungen zunächst geteilt, ob das Telefon in das Telegrafenregal einbezogen werden könne oder ob die Unterscheidungsmerkmale derart wesentlich seien, dass sich eine Gleichstellung nicht rechtfertigen lasse. Mit Beschluss vom 18. Februar 1878 erklärte der Bundesrat, dass die Telefonanlagen unter das Telegrafenregal fallen. Dieser Beschluss wurde bei der Bundesversammlung angefochten. Der Bundesrat führte in seinem Bericht zu dieser Beschwerde aus (BBl 1878 IV 448 f.), er sei nie im Zweifel gewesen, dass in dem Kollektivbegriff "elektrische Telegrafen" alle diejenigen Einrichtungen verstanden seien, welche dazu dienen, mittels der Elektrizität, zwischen zwei mehr oder weniger entfernten Punkten, Gedanken auszutauschen. Die Räte folgten dieser Ansicht und wiesen die Beschwerde ab (vgl. dazu im einzelnen: WIEDERKEHR, Die Rechtsstellung der Schweizerischen Telegrafen- und Telefonanstalt, Diss. Zürich 1924, S. 9). In der Folge stellte sich die gleiche Frage bezüglich der drahtlosen Telegrafie. Für solche Stationen wurde von Anfang an eine staatliche Bewilligung verlangt (BBl 1913 II 732) mit der Begründung, durch das Telegrafen- und Telefonregal werde die Übermittlung von Gedanken als eine notwendig einheitliche Verkehrseinrichtung dem Bunde vorbehalten. Das Regal dehne sich auch aus auf neue technische Mittel der Nachrichtenübertragung, auch wenn der Wortlaut der Verfassungsbestimmung diese Erweiterung nicht enthalte (vgl. BURCKHARDT, a.a.O., S. 312), so dass das zu Telegraf und Telefon Gesagte auch für jedes demselben Zwecke dienende Verkehrsmittel gelte (so auch MEILI, die drahtlose Telegrafie im internen Recht und Völkerrecht, 1908, S. 19 f.). Um das Jahr 1922 hielt eine neue Erscheinungsform der drahtlosen Übermittlung in der Schweiz Einzug, die sich von den bisherigen Formen des Funkverkehrs unterschied. Es war der Rundspruch, dessen Wesen nicht mehr darin besteht, Nachrichten an einzelne bestimmte Empfänger zu übertragen, sondern der dazu dient, Programme an einen unbestimmt grossen Empfängerkreis zu senden. Da diese neue Erfindung ebenso wie die Telegrafen- und Telefonanstalten als staatliche Einrichtung zur Übermittlung von Gedanken - in
BGE 105 Ib 389 S. 393
einem weiten Sinn - erschien, wurde auch sie dem Regal unterstellt (FLEINER, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 1928, S. 344; CASPAR, Konzessionen und Erlaubnisse im schweizerischen Telegrafen- und Funkrecht, Diss. Zürich 1933, S. 63; BAUMANN, Die rechtlichen Grundlagen des Programmdienstes im schweizerischen Rundspruch- und Fernsehwesen..., Diss. Zürich 1956, S. 53, 61). Kritik erwuchs dieser Betrachtungsweise insbesondere deshalb, weil nicht nur die technische Seite des Rundfunks, also die Aussendung und allenfalls der Empfang von akustischen Zeichen und Lauten, dem Regal unterstellt werden sollte, sondern auch die Programmgestaltung einbezogen wurde (vgl. dazu BBl 1953 I 29
;
1956 I 1015
). Dieser Aspekt braucht indessen für das vorliegende Verfahren nicht weiter verfolgt zu werden. Schliesslich fand das Radio seine Weiterentwicklung im Fernsehen. Das Fernsehen kann als Bildtelegraf und damit als besondere Erscheinungsform der drahtlosen Telegrafie betrachtet werden (BBl 1955 I 379). Insofern unterscheidet sich das Fernsehen vom Radio nur dadurch, dass neben akustischen Zeichen und Lauten auch Bilder übertragen werden. Wenn das Fernsehen dem Regal unterstellt wurde, dann wiederum deshalb, weil es sich auch hier um eine Vorrichtung handelt, die den an einem Ort zum sinnlichen Ausdruck gebrachten Gedanken - in einem weiten Sinn - an einem andern, entfernten Ort wahrnehmbar macht (TUASON, Das Recht der PTT-Betriebe, 1959, S. 33).
Diese Entwicklung des Geltungsbereichs von
Art. 36 BV
zeigt, dass die Bundesbehörden stets gewillt waren, neue technische Mittel der Nachrichtenübertragung in das Regal einzuschliessen, dass sie aber bezüglich des übertragenen Gegenstandes immer davon ausgingen, dass es sich um Gedanken, Nachrichten oder Mitteilungen handeln müsse.
b) Die Entstehungsgeschichte des TVG vom 14. Oktober 1922 weist in dieselbe Richtung. Der Gesetzgeber war damals der Meinung, dass das in Art. 1 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1907 über die Organisation der Telegrafen- und Telefonverwaltung umschriebene Telegrafen- und Telefonregal in das neue Gesetz aufgenommen werden sollte. Bisher war das Regal im Gesetz umschrieben worden als das ausschliessliche Recht des Bundes, elektrische Telegrafen- und Telefonanlagen in der Schweiz zu errichten und zu betreiben oder die Bewilligung zur Erstellung von solchen zu erteilen (Art. 1 des Gesetzes von 1907).
BGE 105 Ib 389 S. 394
Die neue Formulierung sollte zwar von derjenigen des früheren Gesetzes abweichen, inhaltlich sollte sie jedoch nichts anderes wiedergeben als die Rechtslage, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat (CASPAR, a.a.O., S. 42). Man war sich bewusst, dass wohl auch in Zukunft stets neue Mittel für die Nachrichtenübertragung erfunden würden und dass man eine Umschreibung finden müsse, welche jedes dem Zwecke der Übermittlung von Gedanken dienende Verkehrsmittel umfasse (BURCKHARDT, a.a.O., S. 312; FLEINER, a.a.O., S. 509; WIEDERKEHR, a.a.O., S. 12). Man war sich indessen einig, dass es sich ausschliesslich um Mittel zur Übertragung von Nachrichten, Meinungen oder Gedanken handeln konnte (die zitierten Autoren; CASPAR, a.a.O., S. 32; BAUMANN, a.a.O., S. 52). In der Botschaft vom 6. Juni 1921 (BBl 1921 III 293) führt der Bundesrat zu
Art. 1 TVG
aus, er wolle mit der neuen Formulierung die Möglichkeit bieten, alle elektrischen Einrichtungen, die dem Nachrichtenverkehr dienten, dem Staatsregal zu unterstellen. Auch im Nationalrat wiesen die Berichterstatter der Kommission darauf hin, dass man die Umschreibung des Regals grundsätzlich dem Gesetz von 1907 entnommen habe, dass man den Wortlaut aber weiter gefasst habe, um alle elektrischen Installationen erfassen zu können, welche der Übertragung von Korrespondenzen dienten (Sten. Bull. NR 1922, S. 221).
Im Zusammenhang mit der Konkretisierung von
Art. 36 BV
und im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten für das TVG wurde daher stets die Ansicht vertreten, dass lediglich Anlagen, die der Übertragung von Gedanken, Meinungen oder Nachrichten, d.h. Einrichtungen, die der Kommunikation dienten, dem Regal unterstellt seien. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung diesen Begriffen zukommt. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist die Äusserung von Gedanken oder einer Meinung stets zur sinnlichen Wahrnehmung durch andere Menschen bestimmt. Ebenso ist eine Nachricht nach dem allgemeinen Sprachgebrauch einem Empfänger zugedacht, und zwar in Gestalt eines denkenden Wesens, das sich "nach ihr richten", d.h. sein Verhalten aufgrund der Information aus eigenem Willen neu bestimmen kann. Keine Nachricht ist daher die blosse Auslösung physikalischer Vorgänge als solche, ohne dass "am fernen Ende" jemand davon Kenntnis nehmen kann. Die Betätigung einer Schranke vom Stationsgebäude
BGE 105 Ib 389 S. 395
aus, erfolge sie durch direkte mechanische Kraftübertragung oder durch Übertragung eines elektrischen Impulses auf den Öffnungsmechanismus, bedeutet keine Nachrichtenübermittlung. Eine Nachricht ist dagegen der mündliche, schriftliche, telefonische, durch Funk oder vereinbarte optische oder akustische Zeichen erfolgte Befehl an den Barrierenwärter, die Schanke zu öffnen oder zu schliessen. Ebenso ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch eine Kommunikation nur mit dem Menschen möglich (vgl. JARAFF, Die Freiheit der Massenmedien, 1978, S. 29 f. mit Hinweisen); mit einer Maschine wird nicht kommuniziert. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Gesetzgeber eine andere Betrachtungsweise vorschwebte. Ebensowenig gibt es in der Lehre und auch in der Praxis der Rechtsanwendungsbehörden bis weit in die Fünfzigerjahre einen Grund zur Annahme, dass diese Begriffe in anderer Weise verstanden worden wären.
c) Das Gesetz selber spricht von Anlagen, die der "Zeichen-, Bild- oder Lautübertragung" dienen. Der französische und der italienische Text verwenden anstelle des Wortes "Zeichen" den Ausdruck "signaux" bzw. "segnali". Der internationale Fernmeldevertrag vom 25. Oktober 1973 (für die Schweiz am 28. April 1976 in Kraft getreten, AS 1976 I 993 f.) verwendet in dessen Anlage 2 (AS 1976 I 1057) im Zusammenhang mit der Begriffsbestimmung des Fernmeldeverkehrs sowohl die Begriffe "Zeichen" ("signes") als auch "Signale" ("signaux"), so dass anzunehmen ist, dass den beiden Begriffen nicht genau dieselbe Bedeutung zukommt. Immerhin muss nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auch das Signal von jemandem verstanden werden. Dem Zeichen muss seinem Wesen nach um so mehr eine Bedeutung zukommen, welche ein Empfänger aufnehmen und verstehen kann. Erst dann erscheint ein Impuls oder eine Bewegung als Zeichen. Dass Zeichen im Sinne von
Art. 1 TVG
stets zur sinnlichen Wahrnehmung durch den Menschen bestimmt sein müssen, ergibt sich daher sowohl aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung, als auch aus dem verfassungsrechtlichen Zusammenhang, auf den
Art. 1 TVG
im Marginale Bezug nimmt.
Die Generaldirektion PTT geht davon aus, dass die moderne Technik nicht nur Nachrichtenübermittlung von Mensch zu Mensch, sondern ebenso von Maschine zu Mensch, von Mensch zu Maschine und von Maschine zu Maschine kennt. Da
BGE 105 Ib 389 S. 396
die beiden ersten Kategorien eindeutig dem Fernmelderegal unterstünden, müsse dies für die beiden andern ebenso gelten, so dass auch Fernsteuerungs- und Fernwirksysteme vom Regal erfasst würden, sofern sie die Impulse auf elektrischem oder radioelektrischem Wege übertragen. Dieser Schluss ist nicht zwingend. Zeichen, Bilder und Laute, deren Übertragung in einer Maschine endet, ohne für die Wahrnehmung durch die menschlichen Sinne bestimmt zu sein, verlieren ihren Charakter als Zeichen, Bilder oder Laute, es sei denn, die Maschine gebe sie - sofort oder später, unverändert oder in Verbindung mit anderer Information - in irgendeiner wahrnehmbaren Form weiter. Fernsteuerungs- und Fernwirkanlagen erschöpfen sich in einer Kette rein physikalischer Abläufe. Zeichen, Bilder oder Laute im Sinne von
Art. 1 TVG
werden dabei nicht übertragen. Die gegenteilige Auffassung, die der Bundesrat in einem von der Generaldirektion PTT angerufenen Entscheid vom 3. Mai 1960 i.S. Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke vertreten hat und wonach auch blosse Stromimpulse als Zeichen im Sinne von
Art. 1 TVG
zu gelten hätten, beruht auf einer unzulässig ausdehnenden Interpretation des Gesetzes. Der von der Generaldirektion PTT ebenfalls zitierte (unveröffentlichte) Entscheid des Bundesgerichts vom 11. Januar 1977 i.S. Einwohnergemeinde Rheinfelden hatte diese, allenfalls als Vorfrage zu prüfenden Probleme nicht untersucht, so dass sich aus diesem Entscheid für den vorliegenden Fall nichts ableiten lässt. Aus diesen Gründen sind Vorrichtungen zur Öffnung von Garagetoren, auch wenn dazu elektromagnetische Wellen verwendet werden, nach dem geltenden Recht dem Fernmelderegal nicht unterstellt.
3.
Freilich werden in der Computer-Wissenschaft (Informatik), in der Steuer- und Regeltechnik, aber auch in anderen Bereichen der Naturwissenschaft, die Begriffe der Nachricht, des Befehls, des Signals ausgedehnt auf die Abgabe, Übertragung und den Empfang von Impulsen ohne den Zweck sinnlicher Wahrnehmung durch den Menschen. In diesem Sinne mag die Öffnung eines Garagetores auf radioelektrischem Weg vom fahrenden Auto aus als Übermittlung einer Meldung, einer Nachricht, eines Signals oder allgemein als "Information" gelten. Es ist daher ein gewisser Wandel in der sprachlichen Ausdrucksweise festzustellen. Zudem kann nicht verkannt werden, dass die Entwicklung von radioelektrischen Fernsteuerungs- und Fernwirkanlagen in jüngster Zeit grosse Fortschritte gemacht
BGE 105 Ib 389 S. 397
hat und ein erhebliches öffentliches Interesse besteht, diese Entwicklung in den Griff zu bekommen, weil die regalfreie Ausstrahlung von elektromagnetischen Wellen in den Raum die zweckmässige Ausübung des Regals behindern könnte.
Diese Feststellungen ändern indessen nichts daran, dass nach dem geltenden Recht solche Steuersysteme vom Regal nicht erfasst werden; denn dieses ist im TVG von 1922 verbindlich umschrieben. Der Wortsinn des Gesetzes erscheint nach den vorangehenden Ausführungen derart eindeutig, dass kein Raum bleibt für eine Auslegung, welche dem in einzelnen Wissenschaften üblichen Sprachgebrauch Rechnung trägt. Für die Erfassung von Fernsteuerungs- und Fernwirkanlagen durch das Regal bedürfte es einer Neuumschreibung in der Verfassung oder allenfalls im Gesetz, sofern der Gesetzgeber zur Auffassung gelangen sollte, der Inhalt des Regals habe sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt (vgl. zur Möglichkeit des Verfassungswandels:
BGE 104 Ia 291
E. 4c).
Im übrigen ermächtigt das Fernmelderegal den Bund nicht nur zur alleinigen Ausübung der vom Regal erfassten Tätigkeitsbereiche, sondern darüber hinaus zur Ergreifung aller Massnahmen, die erforderlich sind, um die Ausübung des Regals gegen Störungen von aussen zu schützen. Diese Befugnis ergibt sich schon aus anstaltspolizeilichen Gesichtspunkten, erschöpft sich aber - sofern keine weitergehende gesetzliche Grundlage besteht - in der repressiven Anwendung, d.h. dem Recht, gegen bereits erfolgte oder unmittelbar drohende Störungen einzuschreiten. Präventive Massnahmen im Sinne der obligatorischen Unterwerfung der Herstellung von Geräten, welche radioelektrische Wellen ausstrahlen, unter eine vorgängige Einzel- oder Typenkontrolle würden eine besondere gesetzliche Grundlage erfordern. Ob eine solche Grundlage für den hier allein in Betracht fallenden Bereich der Schwachstromanlagen besteht oder allenfalls zunächst geschaffen werden muss, braucht im vorliegenden Verfahren nicht geprüft zu werden, denn es wird von der Generaldirektion PTT nicht behauptet, dass eine Bewilligungspflicht für Fernsteuerungsund Fernwirkanlagen unter dem Gesichtspunkt des Störungsschutzes bestehe.
4.
Da Vorrichtungen zur Öffnung von Garagetoren auf elektromagnetischem Weg bereits deshalb dem Fernmelderegal entzogen sind, weil keine Zeichen-, Bild- oder Lautübertragung
BGE 105 Ib 389 S. 398
gemäss
Art. 1 TVG
erfolgt, braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob solche Vorrichtungen, sofern sie auf dem Prinzip der elektromagnetischen Induktion beruhen, auch aus dem weiteren Grund dem Regal entzogen seien, weil bei diesem Prinzip keine Übertragung auf elektrischem oder radioelektrischem Wege erfolge. | public_law | nan | de | 1,979 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2e4a165b-947a-4667-8c65-d3adc81e60c0 | Urteilskopf
122 II 145
20. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour de droit public du 11 avril 1996 dans la cause C. contre Département de la police et Tribunal administratif du canton de Fribourg (recours de droit administratif) | Regeste
Art. 7 Abs. 1 (zweiter Satz) ANAG; Anspruch auf eine Niederlassungsbewilligung nach ordnungsgemässem und ununterbrochenem Aufenthalt von fünf Jahren.
Der Ausländer, der weniger als fünf Jahre mit einer Schweizerin verheiratet war, hat keinen Anspruch auf eine Niederlassungsbewilligung, auch wenn er - unter Berücksichtigung seiner Anwesenheit vor der Heirat - insgesamt mehr als fünf Jahre hier gewesen ist (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 145
BGE 122 II 145 S. 145
C., ressortissant angolais, né en 1956, est entré en Suisse le 22 novembre 1989 et y a déposé quelques jours plus tard une demande d'asile que l'Office fédéral des réfugiés a rejetée par décision du 13 février 1992, en lui impartissant un délai au 31 mars 1992 pour quitter notre pays.
Le 31 mars 1992, le prénommé a épousé R., de nationalité suisse, née en 1933. C. a obtenu de ce fait une autorisation de séjour dans le canton de Fribourg, laquelle a été renouvelée la dernière fois jusqu'au 30 juin 1995.
BGE 122 II 145 S. 146
Par jugement du 13 décembre 1994, devenu définitif et exécutoire le 5 mai 1995, le Tribunal civil de l'arrondissement de la Sarine a prononcé le divorce des époux C.
Le 24 juillet 1995, le Département de la police du canton de Fribourg a refusé de prolonger l'autorisation de séjour de C. en raison de ce divorce.
C. a recouru contre cette décision en faisant valoir qu'il séjournait en Suisse de manière régulière et ininterrompue depuis 1989, soit plus de cinq ans, si bien qu'il avait droit à l'octroi d'une autorisation d'établissement. Par arrêt du 26 octobre 1995, le Tribunal administratif du canton de Fribourg a rejeté le recours.
Agissant notamment par la voie du recours de droit administratif, C. demande au Tribunal fédéral d'annuler l'arrêt rendu le 26 octobre 1995 par le Tribunal administratif. Il conclut en outre à la délivrance d'une autorisation d'établissement, subsidiairement au renouvellement de l'autorisation de séjour.
Le Tribunal fédéral déclare le recours irrecevable.
Erwägungen
Extrait des considérants:
3.
a) Selon l'
art. 100 lettre b ch. 3 OJ
, le recours de droit administratif n'est pas recevable en matière de police des étrangers contre l'octroi ou le refus d'autorisations auxquelles le droit fédéral ne confère pas un droit. D'après l'art. 4 de la loi fédérale du 26 mars 1931 sur le séjour et l'établissement des étrangers (LSEE; RS 142.20), l'autorité statue librement, dans le cadre des prescriptions légales et des traités avec l'étranger, sur l'octroi de l'autorisation de séjour ou d'établissement. En principe, l'étranger n'a pas de droit à l'octroi (respectivement à la prolongation) d'une autorisation de séjour; ainsi, le recours de droit administratif est irrecevable, à moins que ne puisse être invoquée une disposition particulière du droit fédéral ou d'un traité, accordant le droit à la délivrance d'une telle autorisation (
ATF 120 Ib 6
consid. 1 p. 7, 16 consid. 1 p. 17, 257 consid. 1a p. 259, 360 consid. 1 p. 363).
Conformément à l'
art. 7 al. 1 LSEE
, le conjoint étranger d'un ressortissant suisse a droit à l'octroi et à la prolongation de l'autorisation de séjour. Après un séjour régulier et ininterrompu de cinq ans, il a droit à l'autorisation d'établissement.
Dans la mesure où son mariage avec une ressortissante suisse a été dissous par le divorce, le recourant n'a pas droit au renouvellement de l'autorisation de séjour (art. 7 al. 1 première phrase LSEE). Son recours
BGE 122 II 145 S. 147
est donc irrecevable sous cet angle. Reste à déterminer si le recourant peut prétendre à une autorisation d'établissement en vertu de l'art. 7 al. 1 deuxième phrase LSEE.
b) En l'occurrence, le mariage contracté le 31 mars 1992 par le recourant avec une citoyenne suisse a été dissous par un jugement de divorce passé en force de chose jugée le 5 mai 1995; il n'a donc duré que trois ans environ. Ayant séjourné en Suisse moins de cinq ans en tant que conjoint étranger d'une Suissesse, le recourant n'a ainsi pas droit à une autorisation d'établissement fondée sur l'art. 7 al. 1 deuxième phrase LSEE. En effet, le Tribunal fédéral a déjà eu l'occasion de juger que pour le calcul du délai de cinq ans prévu à cette disposition, est seule déterminante la durée du séjour en Suisse de l'étranger pendant son mariage avec un ressortissant suisse (arrêt non publié du 27 août 1993 dans la cause K., reproduit in RDAT 1994 I 55 p. 133, consid. 4b/c; confirmé par l'arrêt non publié du 10 novembre 1993 dans la cause Y., consid. 4c et par l'arrêt non publié du 17 janvier 1995 dans la cause D., consid. 1c. Cf. aussi
ATF 121 II 97
consid. 4c p. 104 et
ATF 120 Ib 16
consid. 2c/d concernant la perte du droit à une autorisation de séjour pour une étrangère dont le mariage avec un Suisse a été dissous par le décès de celui-ci survenu avant l'échéance du délai de cinq ans). Il découle de cette jurisprudence que le délai de cinq ans prévu à l'art. 7 al. 1 deuxième phrase LSEE court dès la conclusion du mariage et non à partir du jour où l'étranger fixe sa résidence en Suisse et que c'est au terme du délai quinquennal que l'étranger pourra, en principe, obtenir l'autorisation d'établissement, sous réserve de l'existence d'un motif d'expulsion (art. 7 al. 1 troisième phrase LSEE), d'un mariage fictif (
art. 7 al. 2 LSEE
) ou d'un abus de droit. Plus précisément, le droit à une telle autorisation est subordonné à la condition que le mariage au sens formel ait duré au minimum cinq ans; à cet égard, peu importe le séjour en Suisse qu'a effectivement accompli l'étranger avant le mariage. Ainsi, le recourant, dont le mariage a duré moins de cinq ans, ne saurait en aucun cas se prévaloir de l'art. 7 al. 1er deuxième phrase LSEE, quand bien même il a résidé en Suisse plus de cinq ans, compte tenu du laps de temps passé dans notre pays avant son mariage. Cette interprétation est conforme au but de cette norme qui est d'accorder une autorisation d'établissement inconditionnelle et pour une durée indéterminée (
art. 6 LSEE
) à l'étranger dont l'union conjugale avec un ressortissant suisse présente, du moins formellement, une certaine stabilité.
Si le séjour en Suisse effectué par l'étranger avant son mariage avec un ressortissant suisse ne saurait être pris en compte dans le calcul du délai
BGE 122 II 145 S. 148
fixé par l'art. 7 al. 1 deuxième phrase LSEE, il pourra en revanche, le cas échéant, être pris en considération dans le calcul du délai de dix ans au terme duquel les étrangers qui ont séjourné régulièrement dans notre pays obtiennent en principe une autorisation d'établissement en application de l'art. 11 al. 5 du règlement du 1er mars 1949 de la loi fédérale sur le séjour et l'établissement des étrangers (RSEE, RS 142.201). Cette disposition n'entre ici manifestement pas en ligne de compte, étant donné que le recourant réside en Suisse depuis moins de dix ans.
En définitive, comme le recourant a été marié avec une Suissesse moins de cinq ans, son recours de droit administratif est irrecevable en vertu de l'art. 7 al. 1 deuxième phrase LSEE.
c) Pour le surplus, le recourant ne saurait invoquer la loi fédérale du 29 septembre 1952 sur l'acquisition et la perte de la nationalité suisse (loi sur la nationalité, LN; RS 141.0). Il est en effet manifeste que cette législation ne confère aux étrangers aucun droit à l'octroi (respectivement au renouvellement) d'une autorisation de séjour ou à un permis d'établissement. | public_law | nan | fr | 1,996 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e4c96d3-763f-43e9-96df-11d47138200d | Urteilskopf
93 I 61
7. Sentenza 1. marzo 1967 nella causa Bel Golfo S. A. contro Bamesa SA | Regeste
Art. 87 OG
.
Der Entscheid, mit dem der Richter die vorläufige Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts gemäss
Art. 837 Ziff. 3 und
Art. 961 ZGB
anordnet, ist ein Zwischenentscheid (Erw. 2).
Der Nachteil, den eine solche vorläufige Eintragung für den Grundeigentümer zur Folge haben kann, ist kein nicht wiedergutzumachender (Erw. 3 b). | Sachverhalt
ab Seite 61
BGE 93 I 61 S. 61
A.-
La società anonima Bamesa, impresa di costruzioni edili e stradali, ha edificato una casa d'appartamenti sulla
BGE 93 I 61 S. 62
particella n. 1369 di Lugano, proprietà della ditta Bel Golfo SA Il 30 novembre 1965 ha chiesto al Pretore di Lugano-Città di ordinare, a carico del mappale edificato, l'iscrizione di un'ipoteca legale provvisoria degli artigiani e degli imprenditori quale garanzia del credito rimasto scoperto e dei relativi interessi. L'istanza è stata respinta dal Pretore con un giudizio che la Bamesa SA ha impugnato davanti alla Camera civile del Tribunale di appello. Quest'ultima, mediante decisione del 6 dicembre 1966, ha accolto l'istanza ed ha accordato a favore della ditta costruttrice e a carico della particella n. 1369 della Bel Golfo SA l'iscrizione di un'ipoteca legale provvisoria ai sensi degli art. 837 num. 3 e 961 CC. Il periodo di validità dell'iscrizione è stato stabilito "fino a quindici giorni dalla crescita in giudicato della sentenza di merito che la Bamesa SA dovrà promuovere entro febbraio 1967 se intende evitare la decadenza della iscrizione provvisoria".
B.-
La Bel Golfo SA impugna questa decisione con un tempestivo ricorso di diritto pubblico per violazione dell'art. 4 CF. Essa rimprovera all'istanza cantonale di avere arbitrariamente ammesso la tempestività della domanda d'iscrizione dell'ipoteca tenendo conto di semplici indizi.
C.-
La Bamesa SA propone che il ricorso sia dichiarato irricevibile e, in via subordinata, ch'esso sia respinto.
Erwägungen
Considerando in diritto:
1.
Il Tribunale di appello ha accordato l'iscrizione provvisoria dell'ipoteca legale, subordinandone la futura validità al tempestivo inoltro di un'azione ordinaria per il riconoscimento del credito e per l'iscrizione definitiva di quel diritto. Qualora la Bamesa SA non avesse proposto una simile azione entro il termine assegnatole, l'iscrizione sarebbe decaduta e il presente ricorso non soddisferebbe il requisito dell'attualità della lesione negli interessi giuridici protetti (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, p. 376) o, comunque, sarebbe privo d'oggetto. È però da ammettere che la Bamesa SA ha proposto tempestivamente l'azione di merito.
2.
Le parti concordano nel ritenere che il giudizio impugnato è una decisione incidentale ai sensi dell'
art. 87 OG
. Questa loro comune opinione è fondata. Infatti, per decisioni incidentali ai sensi della norma suesposta non vanno intesì solo quei giudizi che, pronunciati nel corso di una causa, ne
BGE 93 I 61 S. 63
decidono una questione procedurale o risolvono in via preliminare una questione di merito (RU 69 I 17 e riferimenti), ma pure, giusta una più recente giurisprudenza, decisioni prese in una procedura a sè stante e attraverso le quali è poi possibile avviare un nuovo procedimento che può annullare gli effetti di quelle. Sono stati così considerati giudizi incidentali, in particolare, la decisione di rigetto provvisorio dell'opposizione (RU 79 I 44 e segg., 153, 87 I 366 e segg.), la decisione con la quale il giudice ordina la formazione di un inventario ai sensi dell'art. 83 cpv. 1 LEF (RU 82 I 147), la decisione provvisionale con cui, in una speciale procedura, è imposto ad una parte un determinato comportamento, con la minaccia di sanzioni penali in caso di trasgressione (RU 87 I 105).
Il giudizio mediante il quale l'autorità ordina l'iscrizione provvisoria di un'ipoteca legale giusta gli art. 837 num. 3 e 961 CC è una decisione incidentale nel senso suesposto. Esso non è pronunciato nel corso di una causa, ma in una procedura indipendente, cui il creditore deve però far seguire l'azione di merito se intende giungere al riconoscimento giudiziale del credito e conseguire l'iscrizione definitiva del diritto.
3.
Una decisione incidentale, giusta l'
art. 87 OG
, può essere impugnata con un ricorso di diritto pubblico per violazione dell'art. 4 CF alla condizione che sia stata pronunciata in ultima istanza e che da essa risulti un danno irreparabile per l'interessato.
a) Il requisito dell'ultima istanza coincide con quello relativo all'esaurimento dei rimedi di diritto cantonale, enunciato all'art. 86 cpv. 2 OG (BIRCHMEIER, op.cit., p. 353). Secondo la giurisprudenza la nozione di rimedio giuridico a'sensi della norma citata dev'essere intesa estensivamente, e comprende non solo i ricorsi propriamente detti, ma ogni via legale attraverso cui è possibile eliminare il pregiudizio giuridico allegato nel ricorso di diritto pubblico (RU 78 I 250, 81 I 61/62, 84 I 171/172, 90 I 204 e 229/230). In principio, l'azione civile ordinaria (aperta in concreto), volta al riconoscimento giudiziale del credito e all'iscrizione definitiva dell'ipoteca legale, rientra in questa nozione, e va pertanto considerata, di massima, come un rimedio giuridico ai sensi degli art. 86 cpv. 2 e 87 OG. Tuttavia, nella fattispecie, la ricorrente non aveva direttamente la possibilità di far decadere, in sede cantonale, l'iscrizione provvisoria contro cui essa si erge nel presente gravame.
BGE 93 I 61 S. 64
Soltanto la creditrice poteva promuovere l'azione di merito, e soltanto ad essa era assegnato un termine perentorio a questo riguardo. Ora, nella nozione di rimedio giuridico è implicita l'idea ch'esso possa essere esercitato dalla persona i cui interessi sono rimasti lesi. La giurisprudenza esige che sia il ricorrente medesimo ad esaurire tutti i gradi della giurisdizione cantonale (RU 82 I 152, 85 I 78, 214). Il quesito di sapere se i rimedi offerti dal diritto cantonale sono stati tutti esauriti in concreto può però rimanere indeciso, il presente ricorso di diritto pubblico essendo comunque irricevibile già per altro motivo.
b) Infatti, una decisione incidentale, a prescindere da eccezioni che non si avverano in concreto (cfr. RU 87 I 177/178), può essere impugnata con un ricorso di diritto pubblico per violazione dell'art. 4 CF soltanto nella misura in cui da essa risulti un danno irreparabile per l'interessato. Secondo la costante giurisprudenza, il danno ai sensi della norma citata deve consistere in un pregiudizio giuridico; esso è reputato irreparabile quando la decisione finale, anche se favorevole alla parte ricorrente, non lo eliminerebbe completamente (RU 79 I 46 consid. 3, 82 I 147/148, 87 I 373). Questi presupposti non sono però adempiuti nella fattispecie. Il pregiudizio che può subire il proprietario non è definitivo; esso cade se il creditore non promuove l'azione di merito entro il termine assegnatogli, oppure se la decisione finale nega l'esistenza del credito. Certo, l'iscrizione a registro fondiario dell'ipoteca legale limita il diritto di disporre dell'immobile ch'essa colpisce, e in particolare riduce la facoltà di gravarlo d'altre ipoteche. Il danno giuridico che tale iscrizione provvisoria causa al debitore sarà tuttavia eliminato totalmente dalla reiezione dell'azione di merito o dalla mancata promozione della medesima. Per quanto concerne le sue conseguenze materiali, queste non entrano in linea di conto. Del resto, il proprietario potrà sempre chiedere al creditore che ha fatto iscrivere a torto l'ipoteca legale provvisoria, il risarcimento dei danni ch'egli ha subìto a tale riguardo. Per il fatto che è accordata l'iscrizione provvisoria di cui si tratta, la ricorrente non subisce quindi alcun pregiudizio giuridico definitivo, ciò che esclude appunto il ricorso di diritto pubblico (v. sentenza inedita del 15 febbraio 1967 nella causa Lätt c. Kläy).
Dispositiv
Il Tribunale federale pronuncia:
Il ricorso è irricevibile. | public_law | nan | it | 1,967 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2e4facfc-97b1-4f30-99ec-ad827e46d2a5 | Urteilskopf
103 Ib 178
29. Urteil vom 27. Juli 1977 i.S. Hirst-Neckarstahl gegen Regierungsrat des Kantons Luzern | Regeste
Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland.
1. Vermächtnisnehmer mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland bedürfen wie eingesetzte Erben einer Bewilligung, um inländische Grundstücke im Rahmen des Erbganges erwerben zu können (E. 1).
2. Berechtigtes Interesse des Erwerbers im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. a BB über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (E. 2).
3. Wirkungen der Verweigerung der Bewilligung auf das Vermächtnis (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 178
BGE 103 Ib 178 S. 178
Am 29. November 1975 verstarb die in Deutschland wohnhaft gewesene deutsche Staatsangehörige Wwe. Dorothea Köster. Sie besass in Emmen (Luzern) ein Neunfamilienhaus, für das sie die Beschwerdeführerin, eine in Österreich wohnhafte österreichische Staatsangehörige, als Vermächtnisnehmerin
BGE 103 Ib 178 S. 179
einsetzte. Sie hinterliess keine gesetzlichen Erben und setzte als Alleinerbin die in Deutschland wohnhafte deutsche Staatsangehörige Gertrud Elisabeth Becher-Tobias ein. Die Beschwerdeführerin ersuchte um Eintragung als Eigentümerin der vermachten Liegenschaft ins Grundbuch. Der Regierungsstatthalter des Amtes Hochdorf erachtete den Erwerb des Grundstücks als bewilligungspflichtig im Sinne des Bundesbeschlusses über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland vom 23. März 1961/21. März 1973 (BewB) und entschied folgendes:
"Der Erwerb des Grundstückes Nr. 1851 GB Emmen wird gleichzeitig an Frau Gertrud Elisabeth Becher-Tobias, 1924, wohnhaft in D-4400 Münster, Weierstrassweg 6 (als eingesetzte Erbin) und an Frau Dr. Magdalena Hirst-Neckarstahl, geb. Tobias, österreichische Staatsangehörige, Franz Josefstrasse 3, A-4540 Bad Hall, Oberösterreich, bewilligt, unter der Auflage, dass Frau Dr. Hirst beim Grundbuchamt Hochdorf einen eintragungsfähigen Vertrag betreffend die Übertragung von Grundeigentum betr. Grundstück Nr. 1851 GB Emmen an eine Drittperson unwiderruflich zur Eintragung im Grundbuch anmeldet."
Gegen diese Auflage rekurrierte die Beschwerdeführerin an den Regierungsrat des Kantons Luzern, welcher die Beschwerde am 17. Januar 1977 abwies. Zur Begründung verwies der Regierungsrat auf
Art. 6 Abs. 2 lit. a BewB
, wonach das zu erwerbende Grundstück in erster Linie dem Aufenthalt des Erwerbers oder seiner Familie dienen muss. Diese Grundvoraussetzung für die Erteilung der Bewilligung sei im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Die Beschwerdeführerin zieht diesen Entscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht weiter. Der Regierungsrat und die Eidg. Justizabteilung beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 1 BewB
bedarf der Erwerb von Grundstücken in der Schweiz durch Personen mit Wohnsitz im Ausland der Bewilligung der zuständigen kantonalen Behörde. Keiner Bewilligung unterliegt indessen der Erwerb von Grundstücken durch gesetzliche Erben im Rahmen eines Erbganges (
Art. 5 lit. b BewB
). Für die eingesetzten Erben gilt diese Ausnahme nicht; der Erwerb durch eingesetzte Erben
BGE 103 Ib 178 S. 180
erfordert grundsätzlich eine Bewilligung (
BGE 101 Ib 381
E. 1 b; Urteil i.S. Eidg. Justiz- und Polizeidepartement gegen Erben I. vom 18. Mai 1973, in ZBGR 55/1974, S. 53 ff., E. 4b). Dies muss entsprechend auch für den Erwerb durch Vermächtnis gelten. Der Erblasser ist in der Wahl der Vermächtnisnehmer ebenso frei wie bei der Bestimmung eingesetzter Erben. Die vom Bundesgericht in den erwähnten Entscheiden hervorgehobene Gefahr einer Gesetzesumgehung besteht dort nicht weniger als hier. Die Übertragung der Liegenschaft in Emmen auf die Beschwerdeführerin unterliegt somit der Bewilligungspflicht.
2.
Es ist zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erwerb von Grundstücken in der Schweiz erfüllt.
a) Nach
Art. 6 Abs. 1 BewB
ist die Bewilligung zu erteilen, wenn der Erwerber ein berechtigtes Interesse am Erwerb nachweist; andernfalls ist sie zu verweigern. Gemäss Abs. 2 lit. a ist ein berechtigtes Interesse anzunehmen, wenn das zu erwerbende Grundstück in erster Linie dem Aufenthalt des Erwerbers oder seiner Familie dient, der Erwerber es auf seinen persönlichen Namen erwirbt und er, sein Ehegatte oder seine minderjährigen Kinder kein anderes diesem Zweck dienendes Grundstück in der Schweiz erworben haben und ausserdem eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:
"1. aussergewöhnlich enge geschäftliche oder andere schutzwürdige Beziehungen des Erwerbers zu dem Ort des zu erwerbenden Grundstücks;
2. ...".
Art. 10 Abs. 1 lit. a der Vollziehungsverordnung über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland vom 21. Dezember 1973, in der Fassung vom 11. Februar 1976 (BewV) sieht vor, dass als Beziehungen des Erwerbers zum Ort des zu erwerbenden Grundstückes im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 BewB Beziehungen zum Ort gelten, die sich aus
"a. Verwandtschaft oder Schwägerschaft mit niedergelassenen Personen und, im Fall der Erbeinsetzung oder des Vermächtnisses, anderen gemeinsamen Interessen des Erblassers und des Erben oder Vermächtnisnehmers" ergeben. In diesem Rahmen kann somit der besonderen Stellung der eingesetzten Erben und Vermächtnisnehmer Rechnung
BGE 103 Ib 178 S. 181
getragen werden. Dabei ist zu beachten, dass diese Beziehungen nur dann als schutzwürdig zu betrachten sind, wenn der Erwerber nachweist, dass sie aussergewöhnlich eng sind (
Art. 10 Abs. 2 BewV
).
b) Die Beschwerdeführerin weist zur Begründung der Beschwerde vor allem auf ihre engen Beziehungen zur Erblasserin hin. Aus den angeführten Vorschriften ergibt sich indessen klarerweise, dass solche Beziehungen für sich allein die Erteilung der Bewilligung nicht zu rechtfertigen vermögen; vielmehr stellen sie ein zusätzliches Erfordernis zur grundsätzlichen Voraussetzung dar, dass das zu erwerbende Grundstück in erster Linie dem Aufenthalt des Erwerbers oder seiner Familie dient (
Art. 6 Abs. 2 lit. a BewB
). Der Regierungsrat hat daher im angefochtenen Entscheid zu Recht angenommen, es könne dahingestellt bleiben, ob die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Beziehungen zwischen ihr und der Erblasserin als aussergewöhnlich enge Beziehungen im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 BewB bzw.
Art. 10 BewV
angesehen werden könnten, da auch in diesem Fall eine Bewilligung nur erteilt werden könnte, wenn das Grundstück in erster Linie dem Aufenthalt des Erwerbers oder seiner Familie dient; dass es indessen an dieser Grundvoraussetzung im vorliegenden Fall fehle.
Eine Wohnsitznahme in der Schweiz wird gegenwärtig von der Beschwerdeführerin nicht in Betracht gezogen. Selbst wenn sie aber die feste Absicht hätte, eine oder sogar zwei Wohnungen des Neunfamilienhauses für sich zu beanspruchen, behielte das Neunfamilienhaus im Vorort von Luzern den Charakter eines Renditenhauses, das nicht in erster Linie dem Aufenthalt der Beschwerdeführerin dienen würde, sondern in erster Linie als Kapitalanlage zu betrachten wäre. Zwecke der Vermögensanlage gelten aber in einem solchen Fall nicht als berechtigtes Interesse für den Erwerb des Grundstückes (
Art. 6 Abs. 3 BewB
).
c) An derselben Voraussetzung scheitern auch die weiteren Gründe, die die Beschwerdeführerin vorbringt, um ihr Erwerbsinteresse darzutun. Sie weist dabei insbesondere auf verwandtschaftliche Verbindungen zur Stadt Bern im 18. Jahrhundert hin sowie auf gegenwärtige freundschaftliche Bindungen, die an jene historischen Verbindungen anknüpfen. Selbst wenn diese Beziehungen als enge schutzwürdige Beziehungen
BGE 103 Ib 178 S. 182
zum Ort der gelegenen Sache im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 BewB bzw.
Art. 10 BewV
gelten könnten - was hier nicht weiter zu untersuchen ist -, könnte nach dem Gesagten die Bewilligung nicht erteilt werden, da das zu erwerbende Grundstück in erster Linie eine Vermögensanlage bildet.
d) Schliesslich ist die Tatsache, dass sich das Grundstück bereits in ausländischen Händen befindet, unerheblich. Seinem Zweck entsprechend stellt der BewB einzig auf die Lage eines Grundstücks im Landesinnern ab.
3.
Das Bundesgericht hat, wie ausgeführt, angenommen, die Bewilligungspflicht gelte nicht bloss für den zweiseitigen rechtsgeschäftlichen Erwerb von Grundstücken, sondern ebenso für den Erwerb aufgrund testamentarischer Verfügung. Indes hat es dabei auch festgehalten, dass für diesen Fall im BewB insofern eine echte Gesetzeslücke besteht, als
Art. 20 BewB
, welcher die zivilrechtlichen Folgen der auf bewilligungspflichtigem Erwerb beruhenden Rechtsgeschäfte regelt, nicht angewendet werden kann (
BGE 101 Ib 382
). Diese Bestimmung sieht vor, dass die bewilligungspflichtigen Rechtsgeschäfte mit der Verweigerung der Bewilligung nichtig werden (Abs. 1) und dass diese Nichtigkeit von Amtes wegen zu beachten ist (Abs. 2). Nach Abs. 3 können ferner versprochene Leistungen nicht gefordert und erbrachte Leistungen innert fünf Jahren, bei strafbaren Handlungen bis zur Verjährung der Strafverfolgung, zurückgefordert werden. Das Bundesgericht hat aber im erwähnten Entscheid offengelassen, wie diese Gesetzeslücke auszufüllen ist und sich darauf beschränkt, den Grundsatz anzuführen, dass die Lückenfüllung in analoger Anwendung von
Art. 1 Abs. 2 ZGB
zu geschehen hat (
BGE 101 Ib 382
f.).
Die Vorinstanzen gehen davon aus, es werde der Alleinerbin und der Vermächtnisnehmerin gleichzeitig der Erwerb des Grundstücks bewilligt, aber unter der Auflage, dass die Vermächtnisnehmerin einen eintragungsfähigen Vertrag auf Weiterübertragung des Grundstückes an eine Drittperson unwiderruflich zur Eintragung im Grundbuch anmeldet. Mit dieser Lösung füllen die Vorinstanzen im vorliegenden Fall die vom Bundesgericht festgestellte Gesetzeslücke in zweckmässiger Weise aus. Einerseits wird durch dieses Vorgehen die erb- und vermögensrechtliche Stellung der Beschwerdeführerin respektiert und insofern der Tatsache Rechnung getragen, dass der
BGE 103 Ib 178 S. 183
Erblasser nicht mehr die Möglichkeit hat, über das betreffende Grundstück anderweitig zu verfügen. Anderseits wird dadurch verhindert, dass der Beschwerdeführerin dauernd Grundeigentumsrechte zuerkannt werden, die mit dem BewB unvereinbar sind. Die Beschwerde erweist sich daher auch in dieser Hinsicht als unbegründet; die gegenüber der Beschwerdeführerin gemachte Auflage verstösst nicht gegen Bundesrecht.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen. | public_law | nan | de | 1,977 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
2e4fedfc-9859-446f-98a7-d1535f193e1e | Urteilskopf
125 III 100
19. Extrait de l'arrêt de la Chambre des poursuites et des faillites du 18 février 1999 dans la cause G. SA (recours LP) | Regeste
Betreibungsort (
Art. 46 Abs. 1 SchKG
); Bestimmung des Wohnsitzes nach den Kriterien von
Art. 23 Abs. 1 ZGB
und
Art. 20 IPRG
.
Die tatsächlichen Feststellungen, die im vorliegenden Fall getroffen worden sind, zeigen, dass der Schuldner den Kanton Waadt und insbesondere den Bezirk Lavaux zum Mittelpunkt seiner Lebensinteressen gemacht hat: Er hat dort seine Familie, mit welcher er in enger Beziehung steht, übt dort eine wirtschaftliche Tätigkeit aus und ist dort Grundeigentümer und erreichbar. Diese Tatsachen bilden den Gegenbeweis zur Vermutung eines spanischen Wohnortes, die sich lediglich aus dem ins Recht gelegten Fahrzeugausweis und dem Führerschein herleitet und sonst durch keine weiteren Umstände erhärtet wird (E. 3). | Erwägungen
ab Seite 101
BGE 125 III 100 S. 101
Extrait des considérants:
3.
La recourante reproche à la cour cantonale, non pas d'avoir méconnu les principes et critères permettant de déterminer le domicile, mais de n'avoir pas tiré les conclusions qui s'imposaient quant à l'intention du débiteur de s'établir au sens des
art. 23 CC
et 20 de la loi fédérale sur le droit international privé (LDIP; SR 291).
L'arrêt cantonal fait les constatations essentielles suivantes, qui lient la Chambre de céans: le débiteur préside le conseil d'administration de la société X. SA, à Epalinges; il s'en occupe régulièrement et a participé, en qualité de président, à son assemblée générale du
20 mars 1998; il est également intervenu pour demander l'ajournement de sa faillite; il figure dans l'annuaire téléphonique à la route de Y., à S., sur la commune de X., le courrier l'atteignant à cette adresse, et il est propriétaire d'immeubles dans le district de Lavaux; il est en étroite relation avec les membres de sa famille, en particulier ses enfants et ses petits-enfants, dont une partie est domiciliée dans le district de Lavaux, à C.; il aurait déclaré avoir des attaches particulières avec la France où il résiderait fréquemment et où son amie habiterait; d'après les documents officiels produits (passeport italien, certificat de domicile, permis de conduire et permis de circulation espagnols), il est domicilié à Tarragone depuis 1991 au moins; le contrat sur lequel se fonde la poursuite fait état de ce domicile; le débiteur avait aux alentours de soixante-cinq ans lorsqu'il a créé son domicile espagnol; un précédent prononcé sur plainte constatait qu'il usait et abusait de tous les procédés pour entraver l'exécution forcée.
La cour cantonale admet l'existence d'un domicile en Espagne en se fondant principalement sur les documents administratifs produits, notamment le permis de circulation et le permis de conduire espagnols du débiteur. De tels documents constituent certes des indices sérieux de l'existence du domicile, propres à faire naître une présomption de fait à cet égard (arrêt de la 1ère Cour civile du 15 avril 1994 dans la cause B. c. Banque L. SA, publié in SJ 1995, p. 52 consid. 2c; E. BUCHER, n. 36 ad
art. 23 CC
), mais il ne s'agit là que d'indices, comme en matière de dépôt de papiers d'identité (
ATF 102 IV 162
), d'attestations de la police des étrangers, des autorités fiscales ou des assurances sociales (
ATF 120 III 7
consid. 2b et les références) ou encore d'indications figurant dans des décisions judiciaires ou des publications officielles (
ATF 96 II 161
), et la présomption que ces indices créent peut être renversée par des preuves contraires (SJ 1995, p. 52 consid. 2c).
BGE 125 III 100 S. 102
Pour savoir quel est le domicile d'une personne, il faut tenir compte de l'ensemble de ses conditions de vie, le centre de son existence se trouvant à l'endroit, lieu ou pays, où se focalisent un maximum d'éléments concernant sa vie personnelle, sociale et professionnelle, de sorte que l'intensité des liens avec ce centre l'emporte sur les liens existant avec d'autres endroits ou pays (A. BUCHER, Droit international privé suisse, t. II, p. 61 n. 117; J.-M. GROSSEN, Les personnes physiques, in: Traité de droit civil suisse, t. II, 2 § 13 p. 69). Dans leur grande majorité, les faits établis en l'espèce démontrent que le débiteur a fait du canton de Vaud, du district de Lavaux en particulier, le centre de ses relations et de ses intérêts, le centre de gravité de son existence (cf. Grossen, loc. cit.): il y a sa famille, avec laquelle il est en étroite relation, il y exerce une activité économique et y est propriétaire d'immeubles où il est atteignable. Contrairement à ce que retient la Cour cantonale, ces faits sont la manifestation objective et reconnaissable pour les tiers d'une volonté de rester établi dans le district de Lavaux. A l'évidence, ils constituent une contre-preuve détruisant la présomption de domicile espagnol fondée sur les seuls permis de circulation et de conduire produits, et que ne vient renforcer aucune autre circonstance décisive, en tout cas pas le fait - non établi et relevant donc de la pure hypothèse - du départ pour l'Espagne au moment de la retraite à 65 ans ou la simple mention de l'adresse espagnole sur le contrat à l'origine de la poursuite en cause. Par ailleurs, il ne ressort pas des faits constatés que le débiteur ait des attaches particulières avec Tarragone, où il n'exerce en tout cas pas d'activité professionnelle. Il aurait de telles attaches plutôt en France, mais rien n'est établi à ce sujet. Il n'est de surcroît pas exclu qu'il tente d'échapper à ses créanciers, en usant et abusant de tous les procédés pour entraver l'exécution forcée.
Au vu de ce qui précède, c'est à tort que la cour cantonale a jugé prépondérants les indices de l'existence d'un domicile en Espagne et donc décidé de rejeter la plainte dirigée contre le rejet de la réquisition de poursuite en cause. Il y a lieu, partant, d'admettre le recours et de réformer l'arrêt attaqué dans le sens des conclusions prises, sous réserve de la question des frais et dépens. | null | nan | fr | 1,999 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e512e8d-f720-41e3-ab7a-d62a10015e5c | Urteilskopf
103 Ia 159
30. Auszug aus dem Urteil vom 23. März 1977 i.S. X. gegen Kanton Solothurn, kantonale Rekurskommission Solothurn und Kanton Aargau | Regeste
Art. 46 Abs. 2 BV
; Besteuerung des beim Verkauf von Aktien einer Holdinggesellschaft erzielten Gewinns.
Dem Verkauf der Aktien einer reinen Immobilien-Aktiengesellschaft steuerlich gleichgestellter Verkauf der Aktien einer Holdinggesellschaft, deren Aktiven aus Grundstücken und Beteiligungen an Immobilien-Aktiengesellschaften bestehen.
Die Steuerhoheit des Liegenschaftskantons gilt unter bestimmten Voraussetzungen auch für den von einem Minderheitsaktionär erzielten Gewinn. | Sachverhalt
ab Seite 159
BGE 103 Ia 159 S. 159
Der in Reinach (Kanton Aargau) wohnhafte X. war bis zum 21. Juni 1972 Eigentümer von 100 Aktien der Y. Holding AG mit Sitz in Olten. Diese Firma betätigte sich auf dem Gebiet des Erwerbs, der Veräusserung, Überbauung und Verwaltung von Liegenschaften und der Verwaltung von Beteiligungen. Ihre Aktiven bestanden einerseits aus Liegenschaften, anderseits aus Beteiligungen an anderen Aktiengesellschaften,
BGE 103 Ia 159 S. 160
die ihrerseits wieder auf dem Gebiet des Immobilienhandels tätig waren.
Im Mai 1972 erteilten sämtliche 27 Aktionäre der Y. Holding AG dem Präsidenten der Firma Auftrag zum Verkauf der Aktien. Am 21. Juni 1972 schloss er für alle Aktionäre gleichlautende Kaufverträge mit der Z. Immobilien AG ab. X. erzielte auf Grund dieses Geschäftes einen Netto-Verkaufspreis von Fr. 225'000.--.
Am 20. Juli 1973 teilte die Steuerverwaltung des Kantons Solothurn derjenigen des Kantons Aargau mit, der Kanton Solothurn erhebe als Kanton, in dem sich Liegenschaften der Y. Holding AG befänden, Anspruch auf Besteuerung der Gewinne aus dem erwähnten Aktienverkauf. Am 5. April 1976 erliess sie eine Verfügung, in der sie X. für den aus der Veräusserung seiner Aktien der Y. Holding AG erzielten Gewinn als im Kanton Solothurn anteilsmässig steuerpflichtig erklärte und ihn aufforderte, eine Steuererklärung einzureichen. X. erhob beim Finanz-Departement des Kantons Solothurn Beschwerde, die am 16. Juli 1976 abgewiesen wurde. Den Entscheid des Finanz-Departementes focht X. ohne Erfolg bei der kantonalen Rekurskommission Solothurn an.
X. führt beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des
Art. 46 Abs. 2 BV
. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab und erklärt den Kanton Solothurn als zur Besteuerung des von X. beim Verkauf der Aktien der Y. Holding AG erzielten Gewinnes berechtigt, vorbehältlich der Ansprüche der anderen Kantone, in denen sich im Zeitpunkt des Aktienverkaufs Liegenschaften der erwähnten Gesellschaft oder ihrer Tochtergesellschaften befanden.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Wer in einem Kanton zur Steuer herangezogen wird, aber die Steuerhoheit dieses Kantons bestreitet, hat auf Grund von
Art. 46 Abs. 2 BV
Anspruch darauf, dass vor jedem weiteren Veranlagungsverfahren rechtskräftig darüber entschieden werde, ob er dieser Steuerhoheit überhaupt unterliegt (
BGE 73 I 222
; ASA 34 S. 312). Der Kanton Solothurn ist somit richtig vorgegangen, indem er einstweilen nur einen Grundsatzentscheid gefällt hat. Dieser ist mit der vorliegenden Beschwerde rechtzeitig angefochten worden.
BGE 103 Ia 159 S. 161
4.
a) In einem grundlegenden Entscheid aus dem Jahre 1959 hat das Bundesgericht bestimmt, der Gewinn aus dem Verkauf einer Immobiliengesellschaft sei, seiner wirtschaftlichen Natur entsprechend, jedenfalls dann als Liegenschaftsgewinn zu behandeln und dem Kanton der gelegenen Sache zur Besteuerung zuzuweisen, wenn es sich um den Verkauf sämtlicher Aktien einer reinen Immobiliengesellschaft handle (
BGE 85 I 102
, seither oft bestätigt, zuletzt in
BGE 99 Ia 464
E. 3a und
BGE 98 Ia 92
E. 3). Der Beschwerdeführer greift diese Praxis nicht an. Streitig ist dagegen, ob ein Minderheitsaktionär, der seine Aktien gleichzeitig und im Zusammenwirken mit den übrigen Aktionären veräussert, hinsichtlich der interkantonalen Steuerausscheidung einem Allein- oder Mehrheitsaktionär gleichgestellt werden dürfe, und ferner, ob eine Holdinggesellschaft, deren Aktiven neben eigenen Liegenschaften vor allem Beteiligungen an Immobilienaktiengesellschaften umfassen, wie eine reine Immobilien-AG zu behandeln sei.
b) Zur ersten Frage hat die kantonale Rekurskommission erwogen, es hätten alle 27 Aktionäre der Y. Holding AG durch den gleichen Bevollmächtigten, der Geschäftsführer der Y. Holding gewesen sei, mit zwar einzelnen, jedoch gleichlautenden Verträgen am gleichen Tage das gesamte Aktienkapital der Gesellschaft auf eine Käuferin, die Z. Immobilien AG, übertragen. Das Zusammenwirken der Aktionäre könne nicht in Abrede gestellt werden. Für die Preisbildung der Aktien sei der Wert der Liegenschaften der Y. Holding AG und ihrer Tochtergesellschaften massgebend gewesen, wie sie sich aus einer Aufstellung der Treuhandstelle über den inneren Wert der Aktien ergebe. Es sei darum gegangen, der Erwerberin der Aktien durch Zusammenwirken aller Aktionäre die wirtschaftliche Verfügungsmacht über die der Gesellschaft zustehenden Grundstücke zu vermitteln. Die dabei erzielten Gewinne stellten demnach im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtes nicht Wertschriften-, sondern Grundstückgewinne dar, die vom Kanton der gelegenen Sache zu besteuern seien.
Der Beschwerdeführer bestreitet die Richtigkeit der diesen Erwägungen zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen nicht. Er anerkennt somit insbesondere, dass der Verkauf der Aktien in organisiertem Zusammenwirken sämtlicher Aktionäre erfolgt ist. Er wendet indessen ein, die Praxis des Bundesgerichtes
BGE 103 Ia 159 S. 162
über die Steuerhoheit bei Verkauf der Aktienmehrheit einer Immobiliengesellschaft lasse sich nicht übertragen auf den hier vorliegenden Fall, in dem der Steuerpflichtige nur über 1,7% der Aktien verfügt habe. Dass ein solcher Tatbestand anders zu behandeln sei als der Verkauf einer Aktienmehrheit, ergebe sich insbesondere aus dem nicht veröffentlichten Urteil des Bundesgerichtes vom 28. November 1975 i.S. Walder gegen die Kantone Wallis und Zürich.
Das Bundesgericht hatte in
BGE 97 I 167
einen Tatbestand zu beurteilen, der mit dem vorliegenden vergleichbar ist. Es handelte sich um die Besteuerung des Gewinnes eines Aktionärs, der 20% der Aktien zweier Immobilien-Aktiengesellschaften und 10% der Aktien einer dritten besass und seinen Aktienbesitz zusammen mit allen übrigen Aktionären durch Kaufvertrag an einen einzigen Interessenten übertrug. Es wurde damals erkannt, der Steuerpflichtige sei zwar Minderheitsaktionär gewesen, habe indessen mit den übrigen Aktionären als Gruppe gehandelt, in gleicher Weise, wie wenn sämtliche Aktionäre Miteigentümer der im Eigentum der Gesellschaften stehenden Liegenschaften gewesen wären. Der Verkauf sämtlicher Aktien sei daher dem Verkauf der Liegenschaften steuerlich gleichzustellen. Die damals getroffene Lösung erscheint als überzeugend. Der innere Grund, weshalb der Verkauf von Aktien einer Immobilien-Aktiengesellschaft jedenfalls dann, wenn er gesamthaft erfolgt, steuerlich wie ein Grundstückverkauf behandelt wird, liegt darin, dass wirtschaftlich die Verfügungsmacht über Grundstücke - und nichts anderes - übertragen werden soll, wobei der Preis der Aktien durch den Wert der der Gesellschaft gehörenden Grundstücke bestimmt wird und der erzielte Gewinn ganz oder im wesentlichen auf die Bewegung der Grundstückpreise und nicht auf persönliche Bemühungen des Aktionärs zurückzuführen ist (
BGE 98 Ia 95
E. 4, 91 I 471 E. 2,
BGE 85 I 101
). Dass es sich auch im vorliegenden Falle so verhalten habe, wird in der Beschwerde nicht bestritten und ist durch die vorgelegten Akten (Bericht der Visura Treuhand-Gesellschaft vom 6. Juni 1972 und darauf gestützte, undatierte Berechnung des inneren Wertes der Aktien durch die Y. Holding AG selbst) belegt. Es ist daher kein Grund ersichtlich, weshalb von der dargestellten Praxis abgewichen werden sollte.
Der Beschwerdeführer stützt seine Auffassung, wonach die Steuerhoheit des Kantons der gelegenen Sache hier zu verneinen
BGE 103 Ia 159 S. 163
sei, auf das bereits erwähnte, nicht veröffentlichte Urteil vom 28. November 1975 i.S. Walder gegen Wallis und Zürich. Indessen geht aus jenem Entscheid hervor, dass der Beschwerdeführer, ein Minderheitsaktionär, jedes Wissen um den Verkauf der übrigen Aktien bestritten hat und dass ihm das Gegenteil nicht nachgewiesen werden konnte. Bei dieser Sachlage war es ausgeschlossen, anzunehmen, der Beschwerdeführer habe mit anderen Aktionären zusammen dem Aktienerwerber praktisch die Verfügungsmacht über die der Gesellschaft gehörenden Liegenschaften verschafft. Wenn weiter ausgeführt wurde, es sei nicht massgeblich, wie sich die Transaktion aus der Sicht des Erwerbers darstelle, entscheidend sei vielmehr, ob der Veräusserer dem Erwerber die Verfügungsmacht über die Liegenschaften der Gesellschaft verschafft habe, so lässt sich daraus für den vorliegenden Fall nichts zugunsten des Beschwerdeführers ableiten. Hier haben die Aktionäre in bewusstem Zusammenwirken dem Käufer sämtlicher Aktien praktisch Eigentümerstellung an den Grundstücken der Gesellschaft verschafft, so dass der dabei erzielte Gewinn als ein solcher aus Grundstückverkauf erscheint. Ob die Gesamtheit der Aktionäre nur beim Aktienverkauf oder schon früher als Gruppe zusammengewirkt hat, ist, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, unerheblich. Vielmehr wäre es stossend, wenn eine Gesamtheit von Aktionären, die ein Geschäft dieser Art gemeinsam durchführt, steuerlich grundsätzlich anders behandelt würde als der Allein- oder Mehrheitsaktionär.
c) Der Beschwerdeführer bestreitet weiter, dass der Verkauf der Aktien einer Holdinggesellschaft gleich zu behandeln sei wie derjenige der Aktien einer reinen Immobilien-Aktiengesellschaft. Er weist darauf hin, dass nicht Aktien einer Immobilien-Aktiengesellschaft übertragen worden seien und dass die verschiedenen Tochtergesellschaften der Y. Holding AG in verschiedenen Kantonen tätig geworden seien. Einen Gewinn aus dem Verkauf solcher Beteiligungsrechte wie einen Gewinn aus der Übertragung von Immobilien zu besteuern, würde verfahrenstechnisch zu grossen Schwierigkeiten führen.
Es trifft zu, dass das Bundesgericht, soweit ersichtlich, die hier zu lösende Rechtsfrage noch nie zu entscheiden hatte. Die Rekurskommission hat dazu erwogen, wenn bei einer Immobilien-Aktiengesellschaft die Veräusserung sämtlicher Gesellschaftsanteile die gleiche Funktion erfülle wie die Übertragung
BGE 103 Ia 159 S. 164
des Eigentums an der Liegenschaft selbst, dann treffe dies auch zu bei der Übertragung von Aktien einer Holdinggesellschaft, deren Aktiven ausser Grundstücken auch Beteiligungen an Immobilien-Aktiengesellschaften umfassten. Über die Aktien der Holdinggesellschaft werde der Erwerber in die Lage versetzt, die Tochtergesellschaften zu kontrollieren und zu leiten; er erhalte also durch den Kauf auch die Verfügungsmacht über die Grundstücke der Tochtergesellschaften, gleich wie wenn er deren Aktien unmittelbar erworben hätte.
Diese Erwägungen sind überzeugend; es bleibt ihnen nur wenig beizufügen. Da bei Handänderung von Aktien von Immobilien-Aktiengesellschaften die Steuerhoheit des Wohnsitzkantons der Aktionäre entfällt, kann sie logischerweise auch nicht wieder aufleben, wenn nicht die Aktien dieser Gesellschaft, sondern diejenigen einer mehrere Immobilien-Aktiengesellschaften kontrollierenden Holdinggesellschaft veräussert werden. Würde man es ablehnen, die Steuerhoheit dem Kanton oder den Kantonen der gelegenen Sache zuzuweisen, so stünde das Besteuerungsrecht für die beim Aktienverkauf erzielten Gewinne überhaupt keinem Kanton zu. Dies wäre unbefriedigend, denn der die Steuer auslösende Vorgang, die Übertragung der Verfügungsmacht über Liegenschaften, hat in gleicher Weise stattgefunden, wie wenn die Aktien der Immobilien-Aktiengesellschaften selbst veräussert worden wären. Es kann steuerlich keinen Unterschied ausmachen, ob die tatsächlichen Beherrscher der Liegenschaften, die Aktionäre, zwischen sich und ihr wirtschaftliches Eigentum nur eine Aktiengesellschaft oder mehrere, einander stufenförmig über- bzw. untergeordnete Gesellschaften einschalten. Dass die Steuerausscheidung zwischen den Kantonen, in denen sich die Liegenschaften befinden, gewisse Schwierigkeiten bereiten kann, darf den Entscheid im Sinne der grundsätzlich richtigen Lösung nicht beeinflussen. Im übrigen dürften diese Schwierigkeiten kaum wesentlich grösser sein als im Normalfall bei Veräusserung der Aktien einer Immobilien-Aktiengesellschaft. | public_law | nan | de | 1,977 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2e5afe95-e747-4ab5-b2f3-8da683ab0ac4 | Urteilskopf
119 Ia 460
54. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. Dezember 1993 i.S. L. und Mitbeteiligte gegen Kanton Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Moderne Fortpflanzungsmedizin (künstliche Insemination, In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer, intratubarer Gametentransfer, Aufbewahrung von Keimzellen und Embryonen); Gesetz des Kantons Basel-Stadt betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen (GRM); persönliche Freiheit, Forschungsfreiheit,
Art. 31 BV
,
Art. 8 und 12 EMRK
.
1. Allgemeine Überlegungen zur Fortpflanzungsmedizin; Hinweise auf die Entwicklung seit 1989; Entstehung von
Art. 24novies BV
(E. 4).
2. Die Beschränkung des Zugangs zu den Methoden der künstlichen Fortpflanzung betrifft die persönliche Freiheit; Tragweite von
Art. 24novies BV
; Frage offengelassen, ob auch
Art. 8 EMRK
in Verbindung mit
Art. 12 EMRK
betroffen ist (E. 5).
3. Das generelle Verbot der heterologen künstlichen Insemination nach § 4 Abs. 2 lit. a GRM hält vor der persönlichen Freiheit nicht stand (E. 6a-6d); Einschränkungen der heterologen künstlichen Insemination (E. 6e).
4. Das generelle Verbot der In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer (IVF/ET) nach § 4 Abs. 2 lit. d und e GRM verstösst gegen die persönliche Freiheit (E. 7a-7d); Einschränkungen der IVF/ET (E. 7e).
5. Aufhebung des Verbotes der Methode des intratubaren Gametentransfers (GIFT) im Sinne von § 4 Abs. 2 lit. c GRM (E. 8).
6. Das Verbot nach § 5 Abs. 1 GRM, Samenzellen über eine Behandlungsdauer von höchstens sieben Tagen hinaus aufzubewahren, verstösst gegen die persönliche Freiheit; Beschränkungen der Aufbewahrung (E. 9).
7. Das generelle Verbot der Konservierung von Eizellen gemäss § 5 Abs. 2 GRM verletzt die persönliche Freiheit (E. 10).
8. Das Verbot der Konservierung von Embryonen nach § 5 Abs. 2 GRM lässt sich im Rahmen des für die IVF/ET Erforderlichen verfassungskonform auslegen (E. 11).
9. Frage offengelassen, ob die Forschungsfreiheit als ungeschriebenes Verfassungsrecht anzuerkennen ist; das Verbot, lebende Embryonen, Föten oder Teile davon zu Forschungszwecken zu verwenden, kann unter Zulassung von Beobachtung und Entwicklungsverfolgung verfassungskonform ausgelegt werden (E. 12). | Sachverhalt
ab Seite 462
BGE 119 Ia 460 S. 462
Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt befasste sich seit Mitte der 80er Jahre aufgrund von parlamentarischen Vorstössen mit den Risiken der Gentechnologie und der Problematik um die Reproduktionsmedizin beim Menschen. Dies führte am 17. Dezember 1987 zur ersten Lesung einer Standesinitiative und eines Gesetzes betreffend Reproduktionsmedizin beim Menschen. Eine zweite Lesung verzögerte sich. Aufgrund eines zweiten Zwischenberichts der vorberatenden Kommission nahm der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt
BGE 119 Ia 460 S. 463
darauf am 18. Oktober 1990 (Schlussabstimmung) das Gesetz betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen an (GRM). Dieses Gesetz unterstand dem obligatorischen Referendum, wurde im Kantonsblatt von Basel-Stadt vom 20. Oktober 1990 publiziert und schliesslich in der Volksabstimmung vom 1., 2. und 3. März 1991 von den Stimmbürgern angenommen. Der Erlass hat folgenden Wortlaut:
Gesetz betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen vom 18. Oktober
1990
Geltungsbereich
§ 1. Dieses Gesetz regelt
a) die künstliche Insemination;
b) den intratubaren Gametentransfer;
c) die In-vitro-Fertilisation;
d) den Embryotransfer;
e) die Leihmutterschaft;
f) die Keimzellenspende;
g) die Konservierung von Keimzellen und Embryonen;
h) die Forschung an Keimzellen, Embryonen und Föten;
i) die Eingriffe in das Erbgut.
Begriffe
§ 2. Unter künstlicher Insemination wird die künstliche Einführung von Samenzellen in die Scheide, die Gebärmutter oder die Eileiter verstanden.
2 Unter intratubarem Gametentransfer (gamete intrafallopian transfer:
GIFT) wird die künstliche Einführung von Samen- und Eizellen in die Eileiter verstanden.
3 Unter In-vitro-Fertilisation (IVF) wird die in einem Gefäss herbeigeführte Verschmelzung (Befruchtung) von instrumentell entnommenen Eizellen mit Samenzellen verstanden.
4 Unter Embryotransfer (ET) wird die Einführung der sich entwickelnden Frucht in die Gebärmutter verstanden.
5 Unter Embryo im Sinne dieses Gesetzes wird das menschliche Leben vom Zeitpunkt der Befruchtung bis zum fötalen Stadium verstanden.
6 Unter Fötus wird das menschliche Leben vom Zeitpunkt der Ausbildung der Organe bis zur Geburt verstanden.
7 Unter Leihmutter wird die Frau verstanden, die einen fremden Embryo oder einen aus einer eigenen Eizelle und einer instrumentell eingeführten Samenzelle eines Dritten entstandenen Embryo austrägt, nachdem sie sich verpflichtet hat, das Kind nach der Geburt Dritten herauszugeben.
Anwendungsbereich
§ 3. Das zulässige Verfahren darf nur bei Ehepaaren und bei Paaren, die in einer vergleichbaren Gemeinschaft leben, angewendet werden.
BGE 119 Ia 460 S. 464
Zulässigkeit
§ 4. Erlaubt ist: die künstliche Insemination.
2 Verboten sind:
a) die künstliche Insemination mit Spendersamen;
b) die künstliche Insemination nach dem Tod des Partners;
c) der intratubare Gametentransfer;
d) die In-vitro-Fertilisation;
e) der Embryotransfer;
f) die Schaffung von Leihmutterschaftsverhältnissen.
3 Das in diesem Gesetz geregelte zulässige reproduktionsmedizinische Verfahren darf nur durch zur Ausübung des Arztberufes berechtigte Personen vorgenommen werden.
Konservierung von Keimzellen und Embryonen
§ 5. Samenzellen dürfen nur während der laufenden ärztlichen Behandlungsphase konserviert werden. Diese umfasst in der Regel drei, jedoch höchstens sieben Tage.
2 Die Konservierung von Eizellen und Embryonen ist verboten.
Eingriffe in das Erbgut und Einflussnahme auf das Geschlecht
§ 6. Eingriffe in das Erbgut von Keimzellen, lebenden Embryonen und Föten sind verboten.
2 Massnahmen, die darauf abzielen, Einfluss auf das Geschlecht oder in die Erbeigenschaften des Kindes zu nehmen, sind verboten.
Information, Einwilligung des Paares
§ 7. Die Vornahme einer künstlichen Insemination bedarf der schriftlichen Einwilligung des Paares.
2 Das Paar muss vor der Sterilitätsbehandlung genau informiert werden über
a) alle vorgesehenen Eingriffe;
b) die physischen und psychischen Risiken der Eingriffe;
c) die Erfolgschancen der Methode;
d) die Kosten der Behandlung.
3 Zudem hat die verantwortliche Ärztin oder der verantwortliche Arzt die Frau während der Behandlung über jede Massnahme aufzuklären und sie über den Stand der Behandlung zu orientieren.
Forschung
§ 8. Lebende Embryonen, Föten oder Teile davon dürfen nicht zu Forschungszwecken verwendet werden.
2 Forschung an Keimzellen bedarf der eingehenden Information und Einwilligung der Betroffenen.
3 Verboten sind:
a) künstliche Mehrlingsbildung (Klonierung);
b) Vereinigung von mehreren Embryonen und Teilen davon (Chimärenbildung);
BGE 119 Ia 460 S. 465
c) Erzeugung von Mischwesen aus Mensch und Tier
(Interspezies-Hybridisierung);
d) Aufzucht ausserhalb des Mutterleibs.
Handel mit Embryonen und Föten
§ 9. Der Handel mit lebenden oder toten Embryonen und Föten oder Teilen davon ist verboten.
2 Unentgeltliche Weitergabe und Annahme regelt der Regierungsrat auf dem Verordnungsweg.
Vermittlung von Leihmüttern
§ 10. Die entgeltliche Vermittlung von Leihmüttern ist verboten.
Strafbestimmungen
§ 11. Wer ein nach § 4 verbotenes Verfahren anwendet oder eine nach §§ 5, 6, 8, 9 und 10 verbotene Handlung vornimmt, wird mit Haft oder Busse bestraft.
2 Wer sich einem nach § 4 verbotenen Verfahren unterzieht oder sich als Leihmutter, Eizellenspenderin oder Samenspender daran beteiligt, macht sich hiefür nicht strafbar.
Dieses Gesetz ist zu publizieren; es unterliegt dem obligatorischen Referendum und wird mit Eintritt seiner Rechtskraft wirksam.
Gegen diesen Erlass haben neun im Kanton Basel-Stadt bzw. in den benachbarten Regionen wohnhafte Frauen und Männer sowie Ärzte beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie fechten im wesentlichen die Beschränkung der zulässigen Techniken (§ 4), die Begrenzung der Konservierung von Keimzellen und Embryonen (§ 5) und eine Bestimmung betreffend die Forschung (§ 8 Abs. 1) sowie die entsprechenden Strafbestimmungen (§ 11) an und verlangen deren Aufhebung. Hierfür machen sie im wesentlichen eine Verletzung der persönlichen Freiheit und von
Art. 8 und
Art. 12 EMRK
geltend. - In bezug auf § 5 des Gesetzes betreffend die Reproduktionsmedizin ist der Beschwerde teilweise aufschiebende Wirkung beigelegt worden.
Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde teilweise gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist bei der Prüfung der Verfassungsmässigkeit eines Erlasses im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle massgebend, ob der betreffenden Norm
BGE 119 Ia 460 S. 466
nach anerkannten Auslegungsregeln ein Sinn zugemessen werden kann, der sie mit den angerufenen Verfassungsgarantien vereinbar erscheinen lässt. Gleich verhält es sich, wenn mit der Beschwerde Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention angerufen werden. Das Bundesgericht hebt demnach eine kantonale Norm nur auf, sofern sie sich einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung entzieht (
BGE 118 Ia 305
E. f S. 309,
BGE 117 Ia 472
E. 3a S. 477,
BGE 113 Ia 126
S. 131,
BGE 111 Ia 23
S. 25,
BGE 109 Ia 273
S. 277 und 301, mit Hinweisen).
4.
a) Bevor auf die mit der staatsrechtlichen Beschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen und erhobenen Rügen im einzelnen eingegangen wird, soll an die allgemeinen Überlegungen zur Fortpflanzungsmedizin und die sich aus dieser ergebenden Probleme angeknüpft werden, welche das Bundesgericht seinem Urteil vom 15. März 1989 zur Reproduktionsmedizin im Kanton St. Gallen vorangestellt hat (
BGE 115 Ia 234
E. 3 S. 240).
Das Bundesgericht hat in diesem Urteil auf die unterschiedlichen Versuche hingewiesen, mit künstlichen Mitteln auf die Fortpflanzung beim Menschen einzuwirken. Dazu gehört seit längerem die künstliche Insemination, welche mit der Möglichkeit der Langzeitgefrierung von Samenzellen seit der Zeit des Zweiten Weltkrieges starken Aufschwung genommen hat. In neuerer Zeit ist die Möglichkeit hinzugekommen, operativ gewonnene Eizellen ausserhalb des Mutterleibes zu befruchten und den so entstandenen Embryo hernach der Frau einzupflanzen (In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer, IVF/ET). Seit kurzer Zeit erst wird die Methode des intratubaren Gametentransfers (GIFT) angewendet, bei der die operativ gewonnenen Eizellen der Frau zusammen mit Samenzellen in den Eileiter zur Befruchtung übertragen werden.
Diese Entwicklungen haben zu bisher ungeahnten Möglichkeiten, ebensosehr aber zu neuartigen Herausforderungen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und der ethischen Diskussion geführt. Die Beurteilung dieser modernen Fortpflanzungsmethoden fällt je nach Standpunkt sehr unterschiedlich aus; die moderne Fortpflanzungsmedizin stösst ebenso auf Befürwortung wie auf Zurückhaltung und Ablehnung (vgl. zu den unterschiedlichen Bewertungen der Fortpflanzungshilfen insbesondere den Bericht der Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedizin, in: BBl 1989 III 1029 und insbes. 1054 ff.; FRANZISKA BUCHLI-SCHNEIDER, Künstliche Fortpflanzung aus zivilrechtlicher Sicht, Diss. Freiburg 1987, S. 71 ff.). Angesichts des medizinisch-technisch Machbaren
BGE 119 Ia 460 S. 467
sind alle an der Fortpflanzungshilfe Beteiligten - Personen mit Fortpflanzungsstörungen, Ärzte, Forscher und ebenso Spender von Keimzellen - in neuartiger Weise unabhängig von der staatlichen Regelung zu eigenverantwortlichem Handeln und zum Bedenken der Auswirkungen aufgerufen.
Die Ärzteschaft hat sich der Problematik in den frühen 80er Jahren angenommen. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat am 17. November 1981 die Medizinisch-ethischen Richtlinien für die artifizielle Insemination und in einer zweiten Fassung am 23. Mai 1985 die Medizinisch-ethischen Richtlinien für die In-vitro-Fertilisation erlassen (publiziert in der Schweizerischen Ärztezeitung 1982 S. 623 bzw. 1985 S. 1127, beide wiedergegeben in BBl 1989 III 1208 bzw. 1210). - Verschiedene Kantone sind gesetzgeberisch aktiv geworden. Angesichts des umstrittenen Gegenstandes sind sehr unterschiedliche Lösungen getroffen worden (vgl. Übersicht bei RICHARD FRANK, Die künstliche Fortpflanzung beim Menschen im geltenden und im künftigen Recht, Zürich 1989, S. 86 ff.; Recueil international de lois sur la procréation assistée, réuni et édité par JAN STEPAN, Zürich 1990, S. 173 ff.). Die st. gallische Gesetzgebung gab im Jahre 1989 Anlass zum Entscheid des Bundesgerichts
BGE 115 Ia 234
(Urteil vom 15. März 1989). - Im Ausland sind gestützt auf vielbeachtete Expertenberichte Regelungen an die Hand genommen worden. Im Europarat ist im Jahre 1978 ein Resolutionsentwurf über die artifizielle Insemination beim Menschen und im Jahre 1987 ein Empfehlungsentwurf zur künstlichen Fortpflanzung ausgearbeitet worden, welche beide nicht definitiv verabschiedet worden sind (vgl. zur ausländischen Rechtsentwicklung insbesondere den Bericht der Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedizin, in: BBl 1989 III 1029 und insbes. 1070 ff. sowie zum Resolutionsentwurf des Europarates BBl 1989 III 1175).
b) Seit dem Urteil des Bundesgerichts vom 15. März 1989 betreffend den Beschluss des Grossen Rates des Kantons St. Gallen über Eingriffe in die Fortpflanzung beim Menschen (
BGE 115 Ia 234
) ist die Auseinandersetzung um die Methoden der modernen Fortpflanzung weitergeführt worden. Auf die seitherigen Entwicklungen ist im folgenden kurz hinzuweisen.
Von besonderer Bedeutung ist die Weiterentwicklung auf der Ebene der Verfassungsgebung des Bundes. In diesem Rahmen hat vorerst die Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedizin unter dem Vorsitz von E. Amstad am 19. August 1988
BGE 119 Ia 460 S. 468
ihren Bericht erstattet und eine Reihe von (teilweise kontroversen) Thesen und Vorschlägen zur Verfassungs- und Gesetzgebung vorgelegt (publiziert in: BBl 1989 III 1029, vgl. auch
BGE 115 Ia 234
S. 243).
In seiner Botschaft zur Volksinitiative "Gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie beim Menschen" (sog. "Beobachter"-Initiative) (BBl 1989 III 989) teilte der Bundesrat die Grundanliegen dieser Initiative und unterstützte im Grundsatz manche der konkreten Forderungen. Er erblickte in der Initiative indessen eine Reihe von Mängeln, weil sie sich auf die Fortpflanzungsmedizin und die Humangenetik beschränke, eine Sondernorm über die Menschenwürde nicht angebracht sei und der Initiativtext formelle Unzulänglichkeiten aufweise. Deshalb schlug er einen neuen
Art. 24octies BV
als direkten Gegenvorschlag zur Initiative vor, welcher die Reproduktions- und Gentechnologie umfassend abdecken und dem Bund eine weitgefasste Gesetzgebungskompetenz mit Einzelaufträgen einräumen sollte (BBl 1989 III 1028).
Die Eidgenössischen Räte erarbeiteten in der parlamentarischen Beratung einen vollkommen neugefassten Gegenvorschlag zur "Beobachter"-Initiative. Dieser charakterisiert sich gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag dadurch, dass er über die Kompetenzzuweisung an den Bund hinausgehende materielle Vorschriften zur Fortpflanzungs- und Gentechnologie enthält (vgl. zu den Beratungen der Eidgenössischen Räte insbesondere Amtl.Bull. SR 1990 477 ff., NR 1991 556 ff., 588 ff., SR 1991 450 ff.). Die neue Bestimmung von
Art. 24novies BV
ist - nach Rückzug der "Beobachter"-Initiative - am 17. Mai 1992 von Volk und Ständen angenommen worden und in Kraft getreten. Die neue Verfassungsvorschrift hat folgenden Wortlaut:
Art. 24novies
1 Der Mensch und seine Umwelt sind gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie geschützt.
2 Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit menschlichem Keim- und Erbgut. Er sorgt dabei für den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Familie und lässt sich insbesondere von den folgenden Grundsätzen leiten:
a. Eingriffe in das Erbgut von menschlichen Keimzellen und Embryonen sind unzulässig.
b. Nichtmenschliches Keim- und Erbgut darf nicht in menschliches Keimgut eingebracht oder mit ihm verschmolzen werden.
BGE 119 Ia 460 S. 469
c. Die Verfahren der Fortpflanzungshilfe dürfen nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann, nicht aber um beim Kind bestimmte Eigenschaften herbeizuführen oder um Forschung zu betreiben. Die Befruchtung menschlicher Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau ist nur unter den vom Gesetz festzulegenden Bedingungen erlaubt. Es dürfen nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als ihr sofort eingepflanzt werden können.
d. Die Embryonenspende und alle Arten von Leihmutterschaften sind unzulässig.
e. Mit menschlichem Keimgut und mit Erzeugnissen aus Embryonen darf kein Handel getrieben werden.
f. Das Erbgut einer Person darf nur mit ihrer Zustimmung oder aufgrund gesetzlicher Anordnung untersucht, registriert oder offenbart werden.
g. Der Zugang einer Person zu den Daten über ihre Abstammung ist zu gewährleisten.
3 Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.
Mit der Annahme von
Art. 24novies BV
ist der Bundesgesetzgeber aufgerufen, in den verschiedenen Bereichen und insbesondere auf dem Gebiet der Fortpflanzungshilfe die erforderlichen Erlasse zu schaffen. Dabei wird es darum gehen, Missbräuche zu verhindern, gleichzeitig den Zugang zu einzelnen Techniken nicht zu verbauen. Es werden die Auswirkungen der assistierten Fortpflanzung auf das Kindesrecht zu prüfen und der Kreis der Personen, die Zugang zu den Fortpflanzungstechniken haben, festzulegen und entsprechende Strafnormen zu erlassen sein (vgl. IDAGEN-Bericht (Bericht der Interdepartementalen Arbeitsgruppe für Gentechnologie), Bern 1993, S. 16 ff.).
Parallel zu diesen gesetzgeberischen Vorarbeiten sind auf eidgenössischer Ebene Verfassungsinitiativen lanciert worden. Zum einen die "Initiative zum Schutz des Menschen vor Manipulationen in der Fortpflanzungstechnologie (Initiative für menschenwürdige Fortpflanzung)" (BBl 1992 VI 420), welche zum Schutz der Menschenwürde, Persönlichkeit und Familie die Zeugung ausserhalb des Körpers der Frau und die Verwendung von Keimzellen Dritter zur künstlichen Zeugung für unzulässig erklären will. Zum andern die am 25. Oktober 1993 eingereichte "Initiative zum Schutz von Leben und Umwelt vor Genmanipulation (Gen-Schutz-Initiative)"
BGE 119 Ia 460 S. 470
(BBl 1992 II 1654), welche sich gegen Missbräuche und Gefahren durch genetische Veränderung am Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen richtet.
c) Auch in anderer Hinsicht sind seit dem Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahre 1989 Veränderungen eingetreten.
aa) Es kann angenommen werden, dass die medizinischen Methoden und Techniken weiterentwickelt und verfeinert worden sind. Gemäss den Aussagen der Beschwerdeführer soll es heute möglich sein, einer Frau ambulant mittels Punktion und Ultraschall ohne Narkose und Hospitalisation Eizellen zu entnehmen. Inzwischen soll es auch verschiedentlich gelungen sein, schon unbefruchtete Eizellen zu kryokonservieren (ROLF KELLER/HANS-LUDWIG GÜNTHER/PETER KAISER, Kommentar zum Embryonenschutzgesetz (BRD), Stuttgart/Berlin/Köln 1992, Rz. 4 zu § 1 Abs. 1 Nr. 5, S. 167). Dennoch ist zur Zeit noch davon auszugehen, dass diese Technik nicht gesichert ist (vgl. Amtl.Bull. NR 1991 615).
Neuerdings ist aus den USA bekanntgeworden, dass menschliche Klone mittels ungeschlechtlicher Vermehrung von Zellen (durch Zellsplitting und/oder Kerntransplantation) erzeugt worden sind. Das führt zu entwicklungsfähigen Zellen mit identischem genetischem Material.
bb) Die Doktrin hat sich der weitgefächerten komplexen Materie von Reproduktionsmedizin und Gentechnologie im In- und Ausland in vermehrtem Masse angenommen. Auf das Schrifttum kann an dieser Stelle nur vereinzelt eingegangen werden. Doch gilt es anzumerken, dass das bundesgerichtliche Präjudiz in der schweizerischen Doktrin - entsprechend der sich bei diesem Thema scheidenden Geister - unterschiedlich aufgenommen worden ist (vgl. etwa die Kritik bei CYRIL HEGNAUER, Künstliche Fortpflanzung und persönliche Freiheit, in: ZBl 92/1991 S. 341; im Anschluss daran auch ALFRED KÖLZ, Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1989, in: ZBJV 127/1991 S. 476 ff.; zustimmend etwa MARINA MANDOFIA BERNEY/OLIVIER GUILLOD, Liberté personnelle et procréation assistée, in: SJZ 89/1993 S. 205; vgl. auch die Wiedergabe bei JÖRG PAUL MÜLLER, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, Bern 1991, S. 16; ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 3. Auflage 1993, Rz. 1177b S. 383).
cc) Die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften hat Ende 1990 neue Ethische Richtlinien zur ärztlich assistierten Fortpflanzung (Fassung 1990) erlassen. Die Richtlinien
BGE 119 Ia 460 S. 471
enthalten zu Beginn eine Umschreibung von Begriffen (Ziff. 1). Sie erklären die assistierte Fortpflanzung für vertretbar zur Erfüllung des Kinderwunsches eines Paares, wenn andere Behandlungsmethoden aussichtslos sind und Erfolgschancen bestehen sowie Risiken für Eltern und Kind ausgeschlossen werden können (Ziff. 2). Die Methoden ärztlich assistierter Fortpflanzung dürfen nur bei verheirateten oder bei in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden unverheirateten Paaren angewendet werden, welche die Elternpflichten gegenüber dem Kinde selber übernehmen wollen (Ziff. 3.1). Dabei dürfen nur entweder Eizellen oder Samenzellen Dritter verwendet werden, nicht aber gleichzeitig beides (Ziff. 3.2); die Verwendung gespendeter Keimzellen ist nur bei der Behandlung verheirateter Paare zulässig (Ziff. 3.2). Den Eltern und dem Kind sind auf deren Verlangen die Daten des Spenders bekanntzugeben, mit Ausnahme derjenigen, welche dessen Identifikation erlauben (Ziff. 8.2). Gespendete Keimzellen sollen höchstens während fünf Jahren aufbewahrt werden, abgesehen von Fällen der Verwendung eigener Keimzellen zur Zeugung eigener Kinder (Ziff. 10.1 und 10.2). Embryonen dürfen nur während der laufenden Behandlung am Leben erhalten werden (Ziff. 10.3). Menschliche Embryonen dürfen nicht als Forschungsobjekte verwendet werden (Ziff. 11).
dd) Hinsichtlich der ausländischen Rechtsentwicklung kann auf das sog. Fortpflanzungsmedizingesetz von Österreich aus dem Jahre 1992 verwiesen werden (Bundesgesetzblatt 1992 Nr. 275 S. 1299). Danach ist die medizinisch unterstützte Fortpflanzung bei Ehen oder eheähnlichen Lebensgemeinschaften als subsidiäre Methode zulässig (§ 2 Abs. 1). Die heterologe Insemination ist erlaubt, die übrigen Techniken der assistierten Fortpflanzung nur in homologer Form (§ 3). Das Gesetz regelt im einzelnen die Befugnis zur Durchführung der medizinisch assistierten Fortpflanzung, die Beratung und Zustimmung (§ 4-8). Entwicklungsfähige Zellen dürfen zu keinem andern Zweck verwendet und nur zur Herbeiführung einer Schwangerschaft untersucht werden; Eingriffe in die Keimbahn sind unzulässig (§ 9). Es dürfen in vitro nur so viele Eizellen befruchtet werden, wie innerhalb eines Zyklus für eine aussichtsreiche und zumutbare Behandlung notwendig sind (§ 10). Samen- und Eizellen sowie entwicklungsfähige Zellen dürfen höchstens ein Jahr aufbewahrt werden (§ 17). Dem Kind ist Auskunft über die den Spender betreffenden Daten zu geben (§ 20). Im übrigen werden zivilrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der heterologen Insemination
BGE 119 Ia 460 S. 472
geregelt: So wird vermutet, dass der Mann, der einer medizinisch unterstützten Fortpflanzung mit Samen eines Dritten in gerichtlicher oder notarieller Form zugestimmt hat, der Vater des Kindes ist; der Samenspender kann diesfalls nicht als Vater des mit seinem Samen gezeugten Kindes festgestellt werden; hinsichtlich unehelicher Kinder können indessen auch Samenspender als Vater des Kindes vermutet werden (§ 163 ABG).
Von 1990 stammt das Gesetz zum Schutz von Embryonen der Bundesrepublik Deutschland (Embryonenschutzgesetz, BGBl 1990 I 2746; vgl. hierzu insbesondere ROLF KELLER/HANS-LUDWIG GÜNTHER/PETER KAISER, Kommentar zum Embryonenschutzgesetz, Stuttgart/Berlin/Köln 1992; BERNHARD LOSCH, Lebensschutz am Lebensbeginn: Verfassungsrechtliche Probleme des Embryonenschutzes, in: NJW 1992 S. 2926 ff.). Danach wird die missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken unter Strafe gestellt (§ 1). Die künstliche Befruchtung ausserhalb des Körpers darf ausschliesslich erfolgen für die Herbeiführung einer Schwangerschaft (§ 1 Abs. 1 Ziff. 2). Es dürfen nur drei befruchtete Eizellen verwendet werden (§ 1 Abs. 1 Ziff. 3 und 5). Jede andere Verwendung von künstlich erzeugtem Leben wird als Straftat untersagt (§ 2). Heterologe Formen der In-vitro-Fertilisation sind zulässig. Die künstliche Veränderung der menschlichen Keimbahnzellen ist verboten (§ 5). Untersagt sind auch die Klonen-, Chimären- und Hybridbildungen (§ 6 und 7).
In Frankreich steht eine Gesetzgebung in Beratung, welche die medizinisch unterstützte Fortpflanzung und insbesondere die IVF/ET stark einschränkt und an strenge Bedingungen knüpft.
d) Im Jahre 1989 stellten sich dem Bundesgericht im Verfahren betreffend die st. gallische Gesetzgebung über die Reproduktionsmedizin neuartige Probleme. Angesichts der schwer abschätzbaren technischen Entwicklungen und der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen fehlten dem Bundesgericht hinreichend fassbare Beurteilungsmassstäbe. Solche Umstände und die Bestrebungen auf kantonaler und eidgenössischer Ebene zur Verfassungs- und Gesetzgebung auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin mahnten das Bundesgericht zu einer gewissen Zurückhaltung. Dennoch hatte es aufgrund von
Art. 113 BV
seine Aufgabe als Verfassungsgericht wahrzunehmen (
BGE 115 Ia 234
E. c S. 244).
In der Zwischenzeit ist die Bundesverfassung mit der erwähnten Bestimmung von Art. 24novies über die Fortpflanzungs- und Gentechnologie ergänzt worden. Diese neue Verfassungsnorm gilt es im
BGE 119 Ia 460 S. 473
vorliegenden Verfahren aus folgenden Überlegungen in die Beurteilung miteinzubeziehen.
Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren wird geprüft, ob ein kantonaler Erlass oder eine kantonale Verfügung vor der Verfassung (und der Europäischen Menschenrechtskonvention) standhält. Es wird hierfür auf die Rechtslage im Zeitpunkt von deren Verabschiedung abgestellt, und neu eingetretene Umstände können nicht mehr berücksichtigt werden (vgl.
BGE 102 Ia 76
E. f S. 79). Von diesem Grundsatz ist im vorliegenden Verfahren der abstrakten Normenkontrolle abzuweichen. Seit dem Erlass des angefochtenen Gesetzes über die Reproduktionsmedizin beim Menschen am 18. Oktober 1990 ist mit der eidgenössischen Volksabstimmung vom 17. Mai 1992 die neue Bestimmung von
Art. 24novies BV
in Kraft getreten und stellt nunmehr geltendes Bundesverfassungsrecht dar. Dem im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ergangenen Entscheid kommt nach der Rechtsprechung keine eigentliche Rechtskraft zu; in einem konkreten Einzelfall kann die kantonale Gesetzgebung erneut auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung hin überprüft werden (
BGE 119 Ia 141
S. 153,
BGE 114 Ia 350
E. 2 S. 355,
BGE 102 Ia 104
E. b S. 109, 102 Ia 279 E. 2 S. 282). In vergleichbaren Konstellationen hat das Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde hin neu in Kraft getretenes, übergeordnetes Recht mitberücksichtigt (vgl.
BGE 117 Ia 147
E. c S. 151 f.). Der Einbezug von
Art. 24novies BV
in die Beurteilung der vorliegenden Normenkontrolle erweist sich in Anbetracht dieser Überlegungen als geboten. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass sich die Beschwerdeführer in ihrer staatsrechtlichen Beschwerde nicht auf die (damals noch nicht in Kraft stehende) Bundesverfassungsbestimmung berufen haben; sowohl die Beschwerdeführer als auch der Kanton Basel-Stadt konnten sich zu deren Anwendung und Tragweite äussern.
Die Ergänzung der Bundesverfassung durch Art. 24novies wirkt sich im vorliegenden Fall auf die Art und Weise der Beurteilung des Bundesgerichts aus. Es stehen mit diesen Bestimmungen klarere verfassungsrechtliche Beurteilungsmassstäbe und Grundwertungen zur Verfügung, an denen das Bundesgericht seine Entscheidfindung ausrichten kann. Unter diesem Aspekt braucht es sich daher - anders als im Jahre 1989 - keine besondere Zurückhaltung aufzuerlegen. Auf der andern Seite kann es indessen auch nicht Sache des Bundesgerichts sein, dem Bundesgesetzgeber vorzugreifen und den diesem durch
Art. 24novies BV
eingeräumten gesetzgeberischen Spielraum auf dem Wege der abstrakten Kontrolle eines kantonalen
BGE 119 Ia 460 S. 474
Erlasses einzuschränken. Unter diesem Gesichtswinkel gilt es daher bei der Beurteilung der vorliegenden Beschwerde trotzdem eine gewisse Zurückhaltung zu beachten.
5.
Zur Anfechtung des Gesetzes des Kantons Basel-Stadt über die Reproduktionsmedizin beim Menschen (GRM) berufen sich die Beschwerdeführer hinsichtlich der Beschränkung der Methoden künstlicher Fortpflanzung auf die persönliche Freiheit sowie auf
Art. 8 und
Art. 12 EMRK
. Das Hauptgewicht liegt bei der persönlichen Freiheit, so dass zuerst geprüft werden soll, ob und inwiefern dieses ungeschriebene Verfassungsrecht betroffen ist.
a) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung schützt das ungeschriebene Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit als zentrales Freiheitsrecht und verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz nicht nur die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen (
BGE 113 Ia 1
S. 5 f.,
BGE 97 I 45
E. 3 S. 49 f., mit Hinweisen); es umfasst "toutes les libertés élémentaires dont l'exercice est indispensable à l'épanouissement de la personne humaine" (
BGE 114 Ia 186
E. 6 S. 290, mit Hinweisen). Die persönliche Freiheit garantiert ein bestimmtes Mindestmass an persönlicher Entfaltungsmöglichkeit und schützt den Bürger in der ihm eigenen Fähigkeit, eine gewisse tatsächliche Begebenheit zu würdigen und danach zu handeln (
BGE 113 Ia 1
S. 6,
BGE 97 I 45
S. 49 f., mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat indessen wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass nicht jeder beliebige Eingriff in den persönlichen Bereich des Bürgers die Berufung auf das ungeschriebene Grundrecht rechtfertige; namentlich hat die persönliche Freiheit nicht die Funktion einer allgemeinen Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne gegenüber jedem staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt, berufen kann (
BGE 114 Ia 286
E. 6 S. 290,
BGE 113 Ia 1
S. 6, mit Hinweisen), und schützt daher nicht vor jeglichem physischen oder psychischen Missbehagen (
BGE 119 Ia 178
E. 5 S. 187,
BGE 112 Ia 97
S. 100). Daher ist eine Grenzziehung des Schutzbereichs der persönlichen Freiheit notwendig und im Einzelfall angesichts von Art und Intensität der Beeinträchtigung zu suchen (
BGE 108 Ia 59
S. 61, mit Hinweisen; zur ganzen Erwägung
BGE 115 Ia 234
E. 5 S. 246).
Es steht ausser Zweifel, dass etwa eine staatliche Geburtenregelung und entsprechende Zwangsmassnahmen, mit denen die Zeugung von Kindern eingeschränkt würde, das Grundrecht der persönlichen Freiheit berühren würden. Damit aber lässt sich der vorliegende
BGE 119 Ia 460 S. 475
Fall nicht vergleichen. Denn die Besonderheit liegt darin, dass nicht eine natürlich gegebene Fähigkeit durch staatliche Massnahmen eingeschränkt und unter Berufung auf die persönliche Freiheit in rechtlicher Hinsicht wiedererlangt werden soll. Die umstrittene Regelung des Basler Gesetzgebers ordnet vielmehr den Zugang zu den Techniken für Personen, die - einzeln oder als Paar betrachtet - über eine reduzierte Fortpflanzungsfähigkeit verfügen. Solche Personen möchten mit Hilfe bestimmter Methoden der Reproduktionsmedizin die Voraussetzungen dafür schaffen, selber Kinder zu bekommen. Es geht demnach darum, dass von der vorhandenen, aber reduzierten Fortpflanzungsfähigkeit weiterhin Gebrauch gemacht werden kann und dass hierfür medizinische Dienstleistungen und insbesondere die Anwendung moderner medizinischer Reproduktionsmethoden in Anspruch genommen werden dürfen. In diesem Sinne greift das Verbot einzelner Methoden der Fortpflanzungsmedizin in das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit ein. Denn es ist nicht zu verkennen, dass der Wunsch nach Kindern eine elementare Erscheinung der Persönlichkeitsentfaltung darstellt. Kinder zu haben und aufzuziehen bedeutet für viele Menschen eine zentrale Sinngebung ihres Lebens, und ungewollte Kinderlosigkeit wird von den Betroffenen häufig als schwere Belastung erlebt. Das gilt für alle Personen, die aus organischen Gründen keine Kinder haben können oder für die eine natürliche Zeugung wegen genetischer Belastung oder angesichts gesundheitlicher Risiken für die Kinder nicht verantwortbar erscheint. Die Belastung trifft Mann und Frau in vergleichbarer Weise. Die Beschränkung des Zugangs zu den modernen Methoden künstlicher Fortpflanzungshilfen berührt die Beschwerdeführer daher in ihrem Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit (zum ganzen Absatz
BGE 115 Ia 234
S. 246 f.).
b) An dieser auf das eben genannte Urteil aus dem Jahre 1989 zurückgehenden Praxis zur persönlichen Freiheit ist trotz der Kritik des Grossen Rates auch im vorliegenden Fall in der eben umschriebenen Form festzuhalten. Das Bundesgericht hat sie in seiner Rechtsprechung bestätigt und den Eingriff in die persönliche Freiheit in einem konkreten Fall, in dem ein Konkubinatspaar nicht zur IVF/ET zugelassen worden war, als schwer bezeichnet (Urteil i.S. P. und R. vom 26. Oktober 1989, in: RDAF 46/1990 S. 153). Die Bedenken des Grossen Rates, die im wesentlichen auf die Kritik von CYRIL HEGNAUER (a.a.O.) zurückgehen, betreffen Aspekte, welche schon im Jahre 1989 bekannt waren. Der Umstand, dass die Berufung auf die persönliche Freiheit gleichzeitig die Inanspruchnahme von ärztlichen
BGE 119 Ia 460 S. 476
Dienstleistungen und die Mitwirkung von Dritten (nämlich Ärzten und evtl. Spendern) mit sich bringt, ändert nichts daran, dass die ungewollte Kinderlosigkeit von den Betroffenen als schwere Belastung und Beeinträchtigung in einer zentralen Sinngebung des Lebens erlebt wird. Die Betroffenen können daher grundsätzlich einen Anspruch auf Nutzung ihrer reduzierten Fortpflanzungsfähigkeit erheben und verlangen, dass entsprechende Methoden auf sie angewendet werden dürfen. An der Betroffenheit in der persönlichen Freiheit vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass aus diesem Grundrecht kein Anspruch auf eine entsprechende Behandlung von seiten des Staates abgeleitet werden kann. Gesamthaft rechtfertigt sich daher ein Abweichen von der bisherigen Praxis nicht, und dies umso weniger, wenn
Art. 24novies BV
zur Grenzziehung der persönlichen Freiheit beigezogen und dessen Gehalt mitberücksichtigt wird.
Diese neue Bestimmung der Bundesverfassung enthält in Abs. 2 - neben einem programmatischen Zweckartikel in Abs. 1 und einer Vorschrift zum Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen in Abs. 3 - eine Kompetenzzuweisung an den Bund, Vorschriften über den Umgang mit menschlichem Keim- und Erbgut zu erlassen. Dabei handelt es sich um eine Bundeskompetenz mit nachträglich derogierender Wirkung. Dies bedeutet, dass die Kantone bis zum Erlass entsprechender Normen auf Bundesebene weiterhin zur Gesetzgebung befugt sind (vgl.
BGE 115 Ia 234
S. 272 f.). Die neue Vorschrift enthält indessen über die reine Kompetenzzuweisung hinaus auch materielle Vorgaben. Diese richten sich entsprechend der Kompetenzzuweisung in erster Linie an den Bundesgesetzgeber. Gleichermassen stellen sie Grundentscheidungen verfassungsrechtlicher Natur dar, welche auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit medizinisch unterstützter Fortpflanzung weisen. Diese sind für die Grenzziehung der persönlichen Freiheit heranzuziehen und insofern auch von der kantonalen Gesetzgebung zu beachten. Es wird sich weiter hinten bei der Behandlung einzelner Methoden zeigen, dass der Bundesverfassungsgeber gewisse Techniken in den Grundzügen zulassen wollte bzw. solche seinen materiellen Vorgaben zugrunde legte.
Demnach ist für die Behandlung des Verbotes einzelner Techniken der Reproduktionsmedizin vom verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit auszugehen, wie es sich aus der bisherigen Rechtsprechung und in Anlehnung an die neue Bundesverfassungsbestimmung zur Fortpflanzungs- und Gentechnologie ergibt.
BGE 119 Ia 460 S. 477
c) Die Beschwerdeführer beziehen sich ferner auf die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nach
Art. 8 EMRK
hat jedermann insbesondere Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, und
Art. 12 EMRK
räumt das Recht ein, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung schützt
Art. 8 EMRK
u.a. wesentliche Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Persönlichkeit. Dazu gehört sowohl der Schutz der Intimsphäre im allgemeinen als auch das Sexualleben. Unter dem Gesichtswinkel von
Art. 12 EMRK
wird die Familiengründung als Folge der Heirat verstanden. Hierzu zählt nach der Doktrin auch das Recht, Kinder zu zeugen; ebenso kann darunter ein Anspruch verheirateter Paare auf Adoption fallen (vgl.
BGE 115 Ia 243
E. c S. 248, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe sowie auf die Doktrin; vgl. zusätzlich LUZIUS WILDHABER, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Lieferung April 1992, Rz. 124 ff. und 142 f. zu Art. 8).
Das Bundesgericht hat im Entscheid zur St. Galler Gesetzgebung über die Fortpflanzungsmedizin die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern die Garantien der EMRK durch Verbote einzelner Methoden betroffen werden, hierbei auf befürwortende Autoren verwiesen und die Frage schliesslich mangels entsprechender Entscheidungen der Strassburger Organe offenlassen können (
BGE 115 Ia 234
E. c S. 248). In der Zwischenzeit sind keine neueren Entscheide bekanntgeworden, welche im vorliegenden Fall ein abweichendes Vorgehen nahelegen würden. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den EMRK-Garantien erforderte zudem den Einbezug von
Art. 14 EMRK
, der von den Beschwerdeführern indessen in keiner Weise angerufen worden ist. Schliesslich zeigt die neuere Doktrin, dass aus dem Recht auf natürliche Fortpflanzung nicht zwingend ein Recht auf künstliche Fortpflanzung folgt und dass sehr vorsichtig zwischen den einzelnen Reproduktionsmethoden, den verschiedenen Formen (homologe und heterologe) sowie den weiteren Umständen (Ehepaare, Konkubinatspaare, alleinstehende Personen) unterschieden und zusätzliche Aspekte wie etwa die Erzeugung von überzähligen Embryonen einbezogen werden müssen (vgl. WILDHABER, a.a.O., Rz. 182 ff.). Angesichts dieser Umstände sowie der Berufung der Beschwerdeführer auf die persönliche Freiheit, welche zu einer umfassenden Prüfung ihrer Rügen führt, kann auch im vorliegenden Fall die Anwendung und die Tragweite von
Art. 8 und
Art. 12 EMRK
offengelassen werden.
BGE 119 Ia 460 S. 478
d) Das Grundrecht der persönlichen Freiheit und die Inanspruchnahme der Reproduktionsmedizin gelten indessen nicht absolut. Einschränkungen sind zulässig, soweit sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind. Zudem darf die persönliche Freiheit weder völlig unterdrückt noch ihres Gehaltes als Institution der Rechtsordnung entleert werden (
BGE 113 Ia 325
S. 327 f., 112 Ia 161 S. 162,
BGE 112 Ia 248
S. 249,
BGE 109 Ia 273
S. 281 und 289 f., mit Hinweisen); von einer Beeinträchtigung des Kerngehalts der persönlichen Freiheit kann beim angefochtenen Erlass nicht gesprochen werden. Welche Beschränkungen der persönlichen Freiheit unter dem Gesichtswinkel des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit zulässig sind, ist mit Rücksicht auf die dem Wandel unterworfene ethische Wertordnung und in Anbetracht der sich verändernden Sozialverhältnisse zu prüfen (
BGE 97 I 45
S. 50). Die Beurteilung des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit von Einschränkungen kann in bezug auf den vorliegenden Fall zum einen nicht generell für sämtliche Methoden der künstlichen Fortpflanzung vorgenommen werden. Zum andern ist zu unterscheiden zwischen der Frage nach dem absoluten Verbot gewisser Behandlungsmethoden und, im Falle ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit, der Beurteilung, in welchem Ausmasse und unter welchen Bedingungen und Modalitäten von ihnen Gebrauch gemacht werden darf. In bezug auf die letztere Frage kommt, wie unten auszuführen ist, dem Kindeswohl zentrale Bedeutung zu (vgl. zum ganzen Absatz
BGE 115 Ia 234
E. b S. 247).
6.
Das basel-städtische Gesetz betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen lässt nach § 4 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 2 lit. a und § 3 die künstliche Insemination in der homologen Form bei Ehepaaren und Paaren, die in vergleichbarer Gemeinschaft leben, zu. Demgegenüber schliesst es aufgrund von § 4 Abs. 2 lit. a GRM die künstliche Insemination mit Spendersamen generell aus. Die Beschwerdeführer fechten dieses generelle Verbot der heterologen Insemination mit Berufung auf die persönliche Freiheit und unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung an und ersuchen um dessen Aufhebung.
Es ist bereits oben ausgeführt worden, dass das Verbot oder die Einschränkung einzelner Methoden der künstlichen Fortpflanzung einen Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, auf die sich die Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren berufen können. Das gilt auch für § 4 Abs. 2 lit. a GRM. Es ist daher zu prüfen, ob hierfür
BGE 119 Ia 460 S. 479
überwiegende öffentliche Interessen bestehen und ob die Massnahme verhältnismässig ist.
a) Das Bundesgericht hat sich in seinem Urteil aus dem Jahre 1989 eingehend mit der Frage nach der Zulässigkeit eines Verbotes der heterologen Insemination auseinandergesetzt und mit ausführlicher Begründung befunden, dass ein solches vor der persönlichen Freiheit nicht standhalte (
BGE 115 Ia 234
E. 6a S. 249). Es ist davon ausgegangen, dass die Methode der Insemination als solche - wie auch im vorliegenden Fall nach § 4 Abs. 1 GRM - nicht untersagt ist und ihr keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen. Es ist auf die psychischen Risikofaktoren eingegangen, welche bei Ehepaaren angesichts des Vorhandenseins fremden Erbgutes bei den eigenen Kindern entstehen könnten, hat aber angefügt, dass die gefühlsmässige Bindung zu derart gezeugten Kindern nicht schwächer sei und dass sich die Frage der Aufklärung nicht wesentlich anders stelle als bei Adoptivkindern. Es hat weiter die schwierige Problematik der Auswahl der Samenspender aufgegriffen und dabei entsprechende Weisungen und Kontrollen zur Vermeidung von Missbräuchen oder von unerwünschten Blutsverwandtschaften als hinreichend bezeichnet. Schliesslich ist in rechtlicher Hinsicht ausgeführt worden, dass Schwierigkeiten in bezug auf den familienrechtlichen Status und in bezug auf die Anonymität der Spender bei entsprechender umfassender Information und allfällig einschränkenden Bedingungen das st. gallische Verbot der heterologen Insemination verfassungsrechtlich nicht hinreichend zu begründen vermöchten.
b) Der Grosse Rat stellt diese Überlegungen in Frage und versucht in seiner Vernehmlassung, das Verbot der heterologen Insemination in verschiedener Hinsicht zu rechtfertigen. Seine ernsthaften und grundlegenden Bedenken und Hinweise zeugen von seiner grossen Verantwortung. Sie enthalten indessen keine grundlegend neuen Gesichtspunkte, welche es rechtfertigten, von der bisherigen, im Jahre 1989 ausführlich begründeten Rechtsprechung abzuweichen. Gesundheitliche Risiken, etwa im Zusammenhang mit AIDS, können zwar nicht in absoluter Weise, in der Praxis indessen mit entsprechenden gesetzlichen Regeln oder Richtlinien und entsprechender Kontrolle hinreichend ausgeschlossen werden. Die Problematik um die Auswahl der Spender vermag ein absolutes Verbot nicht zu begründen. Dasselbe gilt für manche rechtliche Frage, die sich im Zusammenhang mit der Heterologie stellt und auf die das Bundesgericht einlässlich eingegangen ist. In bezug auf das Kind mag zutreffen, dass es möglicherweise leichter verstehen wird, im Falle einer
BGE 119 Ia 460 S. 480
Adoption mangels Sorge der leiblichen Eltern von den Adoptiveltern aufgenommen worden zu sein, als wegen der Zeugungsunfähigkeit des sozialen Vaters mittels heterologer Insemination gezeugt worden zu sein; dem kann eine ausgeprägte Bindung der Eltern an heterolog gezeugte Kinder gegenüberstehen (vgl. JAN STEPAN, Rechtsvergleichende Gedanken zur Regelung der heterologen Insemination, in: Mélanges en l'honneur d'Alfred von Overbeck, Fribourg 1990, S. 559 ff.). Auch bei einer gesamthaften Betrachtung all dieser Einwendungen rechtfertigt es sich unter dem Gesichtswinkel der Verhältnismässigkeit nicht, von der bisherigen Praxis abzuweichen. Dies drängt sich umso weniger auf, wenn
Art. 24novies BV
und seine Entstehungsgeschichte in Betracht bezogen werden.
c)
Art. 24novies BV
enthält in seiner Bestimmung von Abs. 2 lit. c, welche dem Bundesgesetzgeber Leitlinien zur Rechtssetzung auf dem Gebiete der Fortpflanzungshilfe vorschreibt, nur indirekte Anhaltspunkte zur Frage der Zulässigkeit der Insemination mit Spendersamen. Bei der Erarbeitung der neuen Bundesverfassungsnorm hat sich der Verfassungsgeber indessen intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt und ein Verbot der heterologen Insemination klar verworfen.
Im Nationalrat ist die Problematik gerade auch auf dem Hintergrund der vom Grossen Rat vorgebrachten Bedenken diskutiert worden. So ist zum einen in allgemeiner Weise eine restriktive Gesetzgebung mit weitestgehender Beschränkung der heterologen Insemination gefordert worden (Votum Seiler, Amtl.Bull. NR 1991 563 und Votum Segmüller, Amtl.Bull NR 1991 613). Auf Verfassungsstufe wurde ausdrücklich ein Zusatz verlangt, wonach die künstliche Befruchtung mit Verwendung fremder Keimzellen beim Menschen unzulässig sei (Antrag Nussbaumer, Amtl.Bull. NR 1991 601). Dieser Antrag löste eine breite Diskussion aus, in der trotz der Bedenken gegen heterologe Formen der Reproduktionsmedizin ein Verbot der heterologen Insemination als ungeeignete Massnahme bezeichnet wurde; die vorberatende Kommission setzte die Zulässigkeit der Heterologie voraus und verwies die Lösung von Einzelproblemen auf die Stufe der Gesetzgebung; der Bundesrat widersetzte sich dem vorgeschlagenen Verbot ebenfalls (Amtl.Bull. NR 1991 619-622). Der Antrag wurde schliesslich klar verworfen (Amtl.Bull. NR 1991 622). Vorgängig ist der Ständerat als Erstrat davon ausgegangen, dass die heterologe Insemination auf Verfassungsstufe nicht untersagt werden solle (vgl. Votum Hänsenberger Amtl.Bull. SR 1990 489). Soweit ersichtlich ist die Frage eines verfassungsrechtlichen Verbotes
BGE 119 Ia 460 S. 481
der heterologen Insemination in der Folge nicht mehr aufgegriffen und diskutiert worden.
Diese Meinungsäusserungen haben schliesslich in der neuen Verfassungsbestimmung auch ihren Niederschlag gefunden. Nach
Art. 24novies Abs. 2 lit. c BV
sollen die Verfahren der Fortpflanzungshilfe u.a. nur dann angewendet werden dürfen, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann. Die Behebung der Unfruchtbarkeit oder der Ausschluss der Gefahr der Übertragung schwerer Krankheiten muss es erforderlich machen, dass fremde Keimzellen verwendet werden. Im einzelnen wird der Bundesgesetzgeber Zulässigkeit und Umfang der Verwendung fremder Keimzellen umschreiben müssen. Für den vorliegenden Fall kann daraus der Schluss gezogen werden, dass
Art. 24novies BV
kein absolutes Verbot der Heterologie vorsieht und dass der Bundesverfassungsgeber ein generelles Verbot der heterologen Insemination auf der Stufe der Verfassung ablehnte, vielmehr deren Zulässigkeit seinen materiellen Vorgaben zur Fortpflanzungshilfe zugrunde legte.
d) Diese Erwägungen ergeben, dass sich nach der bisherigen Rechtsprechung zur persönlichen Freiheit und speziell auch unter Mitberücksichtigung der neu in Kraft getretenen Verfassungsbestimmung von
Art. 24novies BV
ein generelles Verbot der Insemination mit Spendersamen nicht aufrechterhalten lässt. Es ist demnach festzuhalten, dass § 4 Abs. 2 lit. a GRM in der vorliegenden Form gegen die verfassungsrechtlich geschützte persönliche Freiheit verstösst. Die vorliegende Beschwerde erweist sich demnach in diesem Punkt als begründet, und dementsprechend ist die Vorschrift von § 4 Abs. 2 lit. a GRM aufzuheben.
In § 3 GRM wird "das zulässige Verfahren" erwähnt; aus der Systematik des angefochtenen Gesetzes bezieht sich der Ausdruck einzig auf die homologe künstliche Insemination. Die Beschwerdeführer leiten daraus ab, dass der Ausdruck "das zulässige Verfahren" zu streichen sei, um auch weitere Methoden wie die heterologe Insemination zuzulassen und damit das Gesetz in den Rahmen der Verfassungsmässigkeit zurückzuführen. Dies erweist sich indessen nicht als notwendig, da mit der Gutheissung der Beschwerde und der Aufhebung der Verbotsnorm von § 4 Abs. 2 lit. a GRM die künstliche Insemination mit Spendersamen von Verfassungs wegen zugelassen ist. Das gleiche wird sich bei der Prüfung von § 4 Abs. 2 lit. c, d und e GRM zeigen. Der Antrag um Aufhebung der Worte "das zulässige Verfahren" in § 3 GRM ist daher abzuweisen.
BGE 119 Ia 460 S. 482
e) Mit der Streichung von § 4 Abs. 2 lit. a GRM stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die heterologe Insemination zuzulassen ist und in welcher Hinsicht sie eingeschränkt werden kann.
aa) Die vom angefochtenen Gesetz betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen in der homologen Form zugelassene künstliche Insemination darf nach § 4 Abs. 3 GRM nur von einer zur Ausübung des Arztberufes berechtigten Person vorgenommen werden; die Vornahme bedarf nach § 7 Abs. 1 GRM der schriftlichen Einwilligung des Paares und erfordert im Sinne von § 7 Abs. 2 und Abs. 3 GRM eine entsprechende Information und Aufklärung. Diese nicht angefochtenen und verhältnismässigen Bedingungen und Auflagen haben nach dem Sinn und der Systematik des angefochtenen Erlasses erst recht für die nunmehr im Grundsatz zuzulassende künstliche Insemination mit Samenzellen eines Dritten Gültigkeit. Ferner findet § 6 GRM Anwendung, wonach Eingriffe in das Erbgut und die Einflussnahme auf das Geschlecht oder die Erbeigenschaften des Kindes untersagt sind (vgl. auch Art. 24novies Abs. 2 lit. c Satz 1 am Ende). Dem kantonalen Gesetzgeber kommt schliesslich ein gewisser Spielraum zu, die heterologe Insemination an weitere Bedingungen zu knüpfen (vgl.
BGE 115 Ia 234
S. 258 f.). Schliesslich sieht
Art. 24novies BV
bereits auf Verfassungsstufe gewisse Bedingungen für den Zugang zur Fortpflanzungshilfe vor; diese soll nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann. Ebenso gilt es
Art. 24novies Abs. 2 lit. g BV
zu beachten, wonach einer Person Zugang zu den Daten über ihre Abstammung zu gewährleisten ist (vgl.
BGE 115 Ia 234
E. d S. 254; MANDOFIA BERNEY/GUILLOD, a.a.O., S. 209 ff.). - Auf diese Bedingungen und Auflagen braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht näher eingegangen zu werden.
bb) Es stellt sich im weitern die Frage, ob die künstliche Insemination mit Spendersamen sowohl bei verheirateten Ehepaaren wie auch bei Konkubinatspaaren, die in einer vergleichbaren Gemeinschaft leben, angewendet werden dürfe. Die Beschwerdeführer werfen dieses Problem nicht ausdrücklich auf und verlangen mit ihrer Verfassungsbeschwerde nicht, dass die heterologe Insemination Ehepaaren und Konkubinatspaaren offengehalten werden müsse. Es braucht daher im folgenden nur kurz darauf eingegangen zu werden.
Zu dieser Frage lässt sich weder
Art. 24novies BV
noch den Materialien eine Antwort entnehmen. Auf Bundesebene wird demnach
BGE 119 Ia 460 S. 483
der Bundesgesetzgeber im Rahmen des ihm eingeräumten Spielraumes darüber zu befinden haben. Das bedeutet, dass es zur Zeit in erster Linie Sache des kantonalen Gesetzgebers ist, zu entscheiden und im einzelnen festzulegen, ob und unter welchen Bedingungen die heterologe Form der artifiziellen Insemination Ehepaaren und Konkubinatspaaren offenstehen soll.
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid zur St. Galler Gesetzgebung zu diesem Fragenkomplex nicht abschliessend Stellung genommen. Es hat dazu ausgeführt, dass die Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuches im Falle der heterologen Insemination bei Konkubinatsverhältnissen keine rechtliche Vaterschaft entstehen lassen. Eine solche kann auch nicht in rechtsverbindlicher Weise hergestellt werden, da eine Anerkennung im Sinne von
Art. 260 ZGB
nach
Art. 260a ff. ZGB
ohne weiteres angefochten werden könnte. Die fehlende rechtliche Vaterschaft führt zudem zu schwierigen erbrechtlichen Problemen. Unter dem Gesichtswinkel des Kindeswohls und damit aus öffentlichen Interessen könnte es daher gerechtfertigt sein, die Zahl der Kinder, die keinen rechtlichen Vater haben, nicht zu vergrössern und damit die heterologe Insemination auf verheiratete Ehepaare zu beschränken; dem stünden die Einschränkungen der persönlichen Freiheit und die Privilegierung der Ehe nicht grundsätzlich entgegen (
BGE 115 Ia 234
E. c S. 252). Dem kann angefügt werden, dass die Medizinisch-ethischen Richtlinien heute die Verwendung gespendeter Keimzellen bei in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Konkubinatspaaren ausschliessen (Ziff. 3.2). - Diese Erwägungen zeigen, dass die persönliche Freiheit keinen unbedingten Anspruch von Konkubinatspaaren auf Zulassung zur heterologen Insemination einräumt und es die Kantone in der Hand haben, die heterologe Insemination auf verheiratete Ehepaare zu beschränken.
Unter Beachtung dieser Erwägungen ist es demnach Sache des kantonalen Gesetzgebers, in eigenständiger Weise den Ehepaaren und den Konkubinatspaaren einen Anspruch auf Anwendung der heterologen Form der artifiziellen Insemination einzuräumen oder sie aber den Ehepaaren vorzubehalten. Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt wird daher beurteilen müssen, ob und in welcher Weise er gestützt auf das vorliegende Urteil neu legiferieren will.
cc) In der Zwischenzeit wird sich zudem die Frage stellen, wie das angefochtene Gesetz angesichts der Aufhebung von § 4 Abs. 2 lit. a GRM zu verstehen ist. Mit der grundsätzlichen Zulassung der heterologen Insemination könnte diese gestützt auf § 3 GRM auch für
BGE 119 Ia 460 S. 484
stabile Konkubinatspaare als zugelassen betrachtet werden. Ebenso könnte die Meinung vertreten werden, dass der Gesetzgeber historisch gesehen nur das eine zulässige Verfahren der homologen Insemination sowohl für Ehepaare als auch Konkubinatspaare zulassen wollte und daher mit der Aufhebung des Verbotes der heterologen Insemination die Ausdehnung der Methoden nicht ohne weiteres auch für die Konkubinatspaare gelten solle. - Wie es sich damit verhält, kann im vorliegenden abstrakten Normenkontrollverfahren offengelassen werden. Wie dargetan, kann der kantonale Gesetzgeber in dieser Hinsicht weitere Anordnungen treffen. Es ist bis dahin von den Behörden darüber zu entscheiden, ob gestützt auf den nunmehr korrigierten Gesetzestext auch Konkubinatspaare zur heterologen Insemination zuzulassen sind. Dabei dürfen die Behörden berücksichtigen, dass das Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit keinen unbedingten Anspruch von Konkubinatspaaren auf Zulassung zur heterologen Insemination einräumt und gestützt auf dieses Verfassungsrecht auch kein Anspruch auf eine entsprechende Leistung gegenüber dem Staat erhoben werden kann.
7.
§ 4 Abs. 2 lit. d und lit. e GRM verbieten die In-vitro-Fertilisation (IVF) mit anschliessendem Embryotransfer (ET). Unter In-vitro-Fertilisation wird nach § 2 Abs. 3 GRM die in einem Gefäss ausserhalb des Mutterleibes herbeigeführte Verschmelzung und Befruchtung von instrumentell entnommenen Eizellen mit Samenzellen verstanden; der anschliessende Embryotransfer ist entsprechend § 2 Abs. 4 GRM die Einführung der sich entwickelnden Frucht in die Gebärmutter (vgl. auch die Umschreibungen in BBl 1989 III 1042 ff. und 1164 ff.). Auch diese beiden Bestimmungen von § 4 Abs. 2 lit. d und lit. e GRM fechten die Beschwerdeführer unter zulässiger Berufung auf die persönliche Freiheit an und verlangen deren Aufhebung. Es wird zu prüfen sein, ob für dieses absolute Verbot hinreichende öffentliche Interessen bestehen und ob diese die privaten Interessen überwiegen.
a) Das Bundesgericht hat sich im Jahre 1989 eingehend mit der Problematik der In-vitro-Fertilisation mit anschliessendem Embryotransfer auseinandergesetzt und die sich gegenüberstehenden Interessen sorgfältig abgewogen (
BGE 115 Ia 234
E. 9 S. 262). Es kann entgegen der Auffassung des Grossen Rates nicht gesagt werden, es habe nur einzelne Aspekte isoliert betrachtet und damit die Frage der Zulassung der IVF/ET nie im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung beurteilt. Im einzelnen hat das Bundesgericht dem Umstand, dass die Krankenkassen nicht gehalten sind,
BGE 119 Ia 460 S. 485
entsprechende Behandlungen zu übernehmen (vgl. neu
BGE 119 V 26
), keine Bedeutung zugemessen. Es hat sich detailliert mit der Problematik des Schicksals und der Verwendung von (überzähligen) Embryonen und den damit zusammenhängenden Missbrauchsgefahren auseinandergesetzt. Angesichts des Umstandes, dass mit der Befruchtung einer Eizelle in bezug auf das Erbgut eine menschliche Individualität determiniert ist, kann das Schicksal des Embryos in vitro für die Rechtsgemeinschaft in der Tat nicht gleichgültig sein. Soweit solche Embryos der Mutter eingepflanzt werden, werden sie einer natürlichen Entwicklung zugeführt. Die Embryos in vitro geniessen den strafrechtlichen Schutz von
Art. 118 ff. StGB
nicht. Es stellt sich bei der In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer allerdings die sehr ernsthafte Frage nach der Verwendung und dem Schicksal von überzähligen Embryonen und den damit verbundenen Gefahren von Missbräuchen. Unter dem Gesichtswinkel der Verhältnismässigkeit kommt indessen nicht nur ein absolutes Verbot der Methode in Frage. Denkbar ist etwa eine Regelung, wonach keine überzähligen Eizellen in vitro befruchtet werden und alle so entstandenen Embryonen der Wunschmutter eingepflanzt werden. Trotz der damit verbundenen Nachteile und in Anbetracht weiterer Massnahmen erachtete das Bundesgericht ein absolutes Verbot der In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit als unhaltbar.
b) Der Grosse Rat hält die Methode der IVF/ET für ausserordentlich aufwendig, hochtechnisiert und für die betroffenen Frauen mit erheblichen Eingriffen und Einschränkungen verbunden. Er führt im einzelnen aus, die Erfolgsquote betrage bescheidene 5 Prozent. Die Methode sei mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden. Mit der Zulassung von IVF/ET stellten sich grosse Probleme in bezug auf die überzähligen Embryonen. Die Embryonen verdienten einen ganz besondern Schutz. Sodann weist der Grosse Rat auf die enormen Missbrauchsgefahren hin. Zusammenfassend vertritt er die Auffassung, bei einer gesamthaften Berücksichtigung aller Interessen lasse sich das Verbot der IVF/ET als verhältnismässig und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt betrachten. - Demgegenüber berufen sich die Beschwerdeführer auf die bisherige Rechtsprechung und sprechen den Argumenten des Grossen Rates ihre verfassungsrechtliche Berechtigung ab.
Die Kritik des Grossen Rates zeugt auch in dieser Hinsicht von Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein, ist nachvollziehbar und gipfelt bei einer gesamthaften Betrachtung in die Frage nach dem
BGE 119 Ia 460 S. 486
"cui bono". Dennoch vermag der Grosse Rat keine Aspekte aufzuzeigen, welche nicht auch schon bei der Entscheidung über die gesetzliche Regelung des Kantons St. Gallen bekannt gewesen und gesamthaft berücksichtigt worden sind. Die Belastung der Frau darf in der Tat nicht verharmlost werden, auch wenn sie sich einer entsprechenden Therapie aus eigenem Willen unterzieht. Das Risiko häufigerer Mehrlingsschwangerschaften und Kaiserschnittentbindungen sowie Frühgeburten ist nicht von entscheidendem Gewicht. Wie schon im bundesgerichtlichen Präjudiz ist der Einwand des möglichen Missbrauchs mit Embryonen sehr ernst zu nehmen. Beim Befruchtungsvorgang in vitro kann es vorkommen, dass entwicklungsunfähige Embryonen entstehen, die nicht eingepflanzt werden können. Für solche Fälle bedarf es einer eingehenden Kontrolle und Überwachung über die weitere Verwendung. Dasselbe gilt hinsichtlich des Umstandes, dass bereits mit der Gewinnung von Samen- und insbesondere Eizellen eine potentielle Gefahr von Missbräuchen geschaffen wird. Für sich allein genommen stellt die geringe Erfolgsquote von lediglich rund 5 Prozent auch nach der Auffassung des Grossen Rates keinen hinreichenden Grund für ein Verbot der IVF/ET dar; er weist aber darauf hin, dass bei diesem Verfahren eine grosse Zahl von Embryonen erzeugt und eingepflanzt werden müssen, um in einem einzigen Fall mit einer erfolgreichen Geburt rechnen zu können. Auch bei erneuter Prüfung vermögen diese Vorbringen zu keinem andern Ergebnis zu führen, so dass die bisherigen bundesgerichtlichen Erwägungen weiterhin Gültigkeit haben und das prinzipielle Verbot der IVF/ET vor der persönlichen Freiheit nicht standhält. - Wie schon im Zusammenhang mit der heterologen Form der künstlichen Insemination ausgeführt (oben E. 6c), wird die bisherige Rechtsprechung zur IVF/ET auch durch den neuen Verfassungsartikel und dessen Entstehungsgeschichte bestärkt.
c) Mit seiner Botschaft zum heutigen
Art. 24novies BV
schlug der Bundesrat eine Kompetenzzuweisung an den Bundesgesetzgeber vor, die Befruchtung menschlicher Eizellen und die Entwicklung von menschlichen Embryonen und Föten ausserhalb des Mutterleibes zu regeln. Dem Ständerat als Erstrat lag eine Fassung seiner Kommission vor, welche die Befruchtung menschlicher Eizellen ausserhalb des Mutterleibes unter den vom Gesetz festzulegenden Bedingungen erlaubt (Kommissionsfassung zu Art. 24octies Abs. 2 lit. d, Amtl.Bull. SR 1990 487 f.). Dementsprechend gingen die Ratsmitglieder von der grundsätzlichen, aber im einzelnen zu regelnden Zulässigkeit der IVF/ET aus (vgl. Voten Hänsenberger, Simmen und Masoni,
BGE 119 Ia 460 S. 487
Amtl.Bull. SR 1990 489, 490 und 491). Der Nationalrat führte eine ausgedehnte Debatte zur Frage, ob die In-vitro-Fertilisation im Grundsatze, wenn auch nur unter einschränkenden Bedingungen, zuzulassen oder aber ganz generell bereits auf Verfassungsstufe zu untersagen sei. Der Rat ging dabei auf die verschiedensten Probleme und insbesondere auch auf die Frage der Verwendung und des Schicksals von überzähligen Embryonen ein. Schliesslich hat er einen ausdrücklichen Antrag, die Befruchtung menschlicher Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu verbieten, unter Namensaufruf abgelehnt (Amtl.Bull. NR 1991 601 (Antrag der Minderheit II) und 617 f. (Abstimmung) sowie S. 602 ff. (Diskussion)). Der Ständerat behandelte die Frage im Sinne einer prinzipiellen Zulässigkeit darauf erneut (Amtl.Bull. SR 1991 450 ff. (Diskussion) und 457 (Abstimmung)). Das Ergebnis der parlamentarischen Beratung hierzu ist die heutige Bestimmung von
Art. 24novies Abs. 2 lit. c BV
, wonach die Befruchtung menschlicher Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau nur unter den vom Gesetz festzulegenden Bedingungen erlaubt ist; dabei dürfen nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als ihr sofort eingepflanzt werden können. Diese Bestimmung setzt die Zulässigkeit der Methode der In-vitro-Fertilisation im Grundsatz voraus; es wird in der Folge Sache des Bundesgesetzgebers sein, die Bedingungen und Auflagen für den Zugriff auf die In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer zu umschreiben.
Damit geht aus der Entstehungsgeschichte hervor, dass der Bundesverfassungsgeber ein generelles Verbot der In-vitro-Fertilisation auf der Stufe der Verfassung ablehnte und die Zulässigkeit dieser Methode den materiellen Vorgaben zur Fortpflanzungshilfe zugrunde legte.
d) Diese Erwägungen zeigen, dass sich das generelle Verbot der In-vitro-Fertilisation mit anschliessendem Embryotransfer sowohl nach der bisherigen Rechtsprechung zur persönlichen Freiheit als auch speziell unter Mitberücksichtigung der neu in Kraft getretenen Verfassungsbestimmung von
Art. 24novies BV
nicht aufrechterhalten lässt. Es ist demnach festzustellen, dass § 4 Abs. 2 lit. d und lit. e GRM in der vorliegenden Form gegen die verfassungsrechtlich geschützte persönliche Freiheit verstösst. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet, und dementsprechend sind die Verbote von § 4 Abs. 2 lit. d und lit. e GRM aufzuheben.
e) In gleicher Weise wie bei der heterologen Insemination stellt sich mit der Streichung von § 4 Abs. 2 lit. d und lit. e GRM auch im
BGE 119 Ia 460 S. 488
vorliegenden Zusammenhang die Frage, unter welchen Bedingungen die IVF/ET zuzulassen ist und in welcher Hinsicht sie eingeschränkt werden kann.
aa) Nach dem Sinn und der Systematik des angefochtenen Gesetzes hat das Verbot des Eingriffs in das Erbgut und der Einflussnahme auf Geschlecht und Erbeigenschaften des Kindes (§ 6 GRM) auch für die IVF/ET Gültigkeit; ferner gelten die Erfordernisse der schriftlichen Einwilligung sowie der Information und Aufklärung (§ 7 GRM). Eine IVF/ET kann nicht ohne Beizug eines Arztes vorgenommen werden (§ 4 Abs. 3 GRM). Und in gleicher Weise sind die Vorschriften nach § 8 GRM zu beachten. Schliesslich dürfen die Verfahren der Fortpflanzungshilfe nach Bundesverfassungsrecht nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann (Art. 24novies Abs. 2 lit. c Satz 1 BV).
Schranken ergeben sich ferner aus der ernstzunehmenden Gefahr des Missbrauchs im Umgang mit Embryonen in vitro, der es mit wirksamen Massnahmen zu begegnen gilt (vgl.
BGE 115 Ia 234
S. 265). Die Bundesverfassung schreibt zudem mit Art. 24novies Abs. 2 lit. c Satz 3 vor, dass nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau entwickelt werden dürfen, als ihr sofort eingepflanzt werden können. In den Beratungen der Eidgenössischen Räte bildete gerade diese Frage einen zentralen Punkt der Diskussion (vgl. Amtl.Bull. NR 1991 601 (Antrag Minderheit I), 601 ff. (Diskussion) und 617 f. (Abstimmung)). Mit der heutigen Verfassungsnorm ging es dem Verfassungsgeber darum, Missbräuche mit sog. überzähligen Embryonen zum vornherein zu unterbinden. Auch sie bildet, obwohl sie in erster Linie eine materielle Vorgabe für den Bundesgesetzgeber darstellt, eine inhaltliche Schranke für den kantonalen Gesetzgeber sowie die Praxis in den Kantonen.
bb) Neben diesen Randbedingungen verfügt der kantonale Gesetzgeber über einen breiten Spielraum, die Voraussetzungen und den Zugang zur IVF/ET festzulegen, solange der Bundesgesetzgeber noch keine Ausführungsnormen zu
Art. 24novies BV
erlassen hat. Die Rechtsprechung und die Materialien zur BV-Novelle geben keine Hinweise darauf, ob die IVF/ET sowohl den Ehepaaren als auch den stabilen Konkubinatspaaren offenstehen soll, wie dies die Medizinisch-ethischen Richtlinien für die ärztlich assistierte Fortpflanzung vorsehen (vgl. im übrigen
BGE 115 Ia 234
E. e S. 267 sowie Amtl.Bull. SR 1990 478). Gleich verhält es sich mit der Frage der Heterologie bei der IVF/ET (vgl.
BGE 115 Ia 234
S. 266 f., Amtl.Bull.
BGE 119 Ia 460 S. 489
SR 1990 478 sowie die Medizinisch-ethischen Richtlinien mit dem Verbot der Heterologie bei unverheirateten Paaren nach Ziff. 3.2 Satz 2). Aus dem ungeschriebenen Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit kann kein unbedingter Anspruch auf Zulassung zu allen Formen und Varianten der In-vitro-Fertilisation abgeleitet und ebensowenig ein entsprechender Anspruch auf Leistungen gegenüber dem Staat erhoben werden. Es ist demnach Sache des kantonalen Gesetzgebers, im Rahmen der vorstehenden Bedingungen gestützt auf das eigene Recht den Zugang zur IVF/ET zu umschreiben, entsprechende Ansprüche einzuräumen oder aber Beschränkungen zu erlassen. Auch in dieser Hinsicht wird der Grosse Rat darüber zu entscheiden haben, ob er das Gesetz über die Reproduktionsmedizin beim Menschen ergänzen will und in welchem Ausmasse die IVF/ET mit der Aufhebung der Verbotsnorm von Art. 4 Abs. 2 lit. d und lit. e GRM als zugelassen gelten soll. Wie vorne im Zusammenhang mit der heterologen Insemination ausgeführt (E. 6e/cc), wird über die Auslegung des nunmehr noch bestehenden Gesetzestextes allenfalls im Einzelfall entschieden werden müssen.
8.
§ 4 Abs. 2 lit. c GRP untersagt den intratubaren Gametentransfer (gamete intrafallopian transfer, GIFT). Darunter wird die künstliche Einführung von Samen- und Eizellen in den Eileiter zum Zwecke der Verschmelzung verstanden (§ 2 Abs. 2 GRM; BBl 1989 III 1044 und 1169).
a) Die Beschwerdeführer fechten auch dieses Verbot an. Sie erklären, der intratubare Gametentransfer sei - abgesehen von der homologen Insemination - die "harmloseste" aller künstlichen Fortpflanzungsmethoden. Es entstehe dabei kein menschlicher Embryo ausserhalb des Mutterkörpers. Die Keimzellen vereinigten sich im Körper der Frau und würden lediglich zuvor künstlich dorthin verbracht. Selbst der Kanton St. Gallen habe diese Form der Fortpflanzungshilfe nicht verboten.
Demgegenüber räumt der Grosse Rat ein, es treffe wohl zu, dass sich das Problem der überzähligen Embryonen beim GIFT insoweit nicht stelle, als die Befruchtung im Mutterleib und nicht in vitro erfolge. Doch seien die gesundheitlichen Risiken nicht geringer und sei die Erfolgsrate nicht wesentlich höher. Es stelle sich das Problem des Absterbens von Embryonen in ähnlicher Weise. Schliesslich sei auch die Missbrauchsgefahr gegeben, bestehe diese doch immer dort, wo die Eizelle für Manipulationen zur Verfügung stehe. Zwischen IVF/ET und GIFT bestehe somit kein entscheidender Unterschied, der eine grundlegend andere Beurteilung zwingend erfordere. Das
BGE 119 Ia 460 S. 490
Verbot des GIFT erweise sich somit aus denselben Gründen wie dasjenige von IVF/ET als gerechtfertigt und verhältnismässig.
b) Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid vom Jahre 1989 keine Ausführungen zum intratubaren Gametentransfer gemacht, da diese Methode vom st. gallischen Gesetzgeber ausdrücklich zugelassen worden war (vgl.
BGE 115 Ia 234
S. 238). Ein Vergleich mit der IFV/ET drängt sich insofern auf, als auch beim GIFT zuerst Samen- und Eizellen gewonnen werden müssen, was bei der Frau mit einem Eingriff verbunden ist. Der intratubare Gametentransfer unterscheidet sich indessen grundlegend von der IVF/ET dadurch, dass keine Befruchtung in vitro erfolgt und demnach keine Embryonen ausserhalb des Körpers der Frau entstehen; vielmehr werden die Keimzellen gemeinsam in den Eileiter eingeführt, damit sie sich im Körper verschmelzen können. Damit entfällt die Problematik um die Verwendung überzähliger Embryonen zum vornherein. Nicht ins Gewicht fällt, dass im Falle einer Verschmelzung der Keimzellen das dadurch entstandene Embryo in gleicher Weise wie bei einer natürlichen Befruchtung abgestossen werden kann. Und auch die Missbrauchsgefahr wird bei dieser Sachlage in entscheidendem Masse verringert. Die relativ geringe Erfolgsrate stellt unter dem Gesichtswinkel der Verhältnismässigkeit keinen Umstand dar, der das Verbot der Methode zu rechtfertigen vermöchte.
Da bereits die In-vitro-Fertilisation verfassungsrechtlich zuzulassen ist, kann nach den Grundsätzen der persönlichen Freiheit auch der intratubare Gametentransfer nicht untersagt werden.
Dieses Ergebnis wird in ähnlicher Weise wie für die heterologe Insemination und die In-vitro-Fertilisation durch die Entstehungsgeschichte von
Art. 24novies BV
bestärkt. Über diese Methode der Fortpflanzungshilfe ist in den Räten zwar wenig diskutiert worden (vgl. etwa Amtl.Bull. NR 1991 590, 613, 614). Aber selbst der Antrag aus der Ratsmitte, auf jegliche Form der Heterologie bei den Fortpflanzungshilfen zu verzichten, ging von der grundsätzlichen Zulässigkeit des intratubaren Gametentransfers aus (vgl. Amtl.Bull. NR 1991 601 und 619). Und auf der Zulässigkeit des GIFT basiert denn auch
Art. 24novies Abs. 2 BV
im allgemeinen und lit. c im speziellen.
Unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit und von
Art. 24novies BV
erweist sich die Beschwerde daher auch in bezug auf § 4 Abs. 2 lit. c GRM begründet. Demnach ist das Verbot von § 4 Abs. 2 lit. c GRM zu streichen.
c) Wie für die andern umstrittenen Fortpflanzungsmethoden gelten auch für den intratubaren Gametentransfer die bereits im Gesetz
BGE 119 Ia 460 S. 491
über die Reproduktionsmedizin beim Menschen hinsichtlich der Insemination gültigen Schranken. Darüber hinaus sind diejenigen Bedingungen und Einschränkungen zu beachten, wie sie sich aus
Art. 24novies Abs. 2 BV
ergeben.
Schliesslich ist es dem kantonalen Gesetzgeber mindestens bis zum Erlass einer Bundesgesetzgebung anheimgestellt, den Zugang zum intratubaren Gametentransfer und die Art und Weise von dessen Durchführung zu regeln. Es ist auch seine Sache, darüber zu befinden, in welchem Ausmasse der GIFT bei in stabilen Verhältnissen lebenden Konkubinatspaaren zuzulassen ist und ob er in homologer und heterologer Form angewendet werden darf. Insofern kann auf die vorstehenden Erwägungen (E. 6e und 7e) verwiesen werden.
9.
Die Beschwerdeführer fechten neben den eben behandelten Verboten einzelner Methoden der Fortpflanzungshilfe die Bestimmung von § 5 GRM an, der die Konservierung von Keimzellen und Embryonen ordnet. Die Bestimmung enthält einen Absatz über die Konservierung von Samenzellen einerseits und einen solchen zu den Eizellen und Embryonen andererseits. Es rechtfertigt sich, die Anfechtung der beiden Absätze getrennt voneinander zu behandeln.
Nach § 5 Abs. 1 GRM dürfen Samenzellen nur während der laufenden ärztlichen Behandlungsphase konserviert werden; diese umfasst in der Regel drei, jedoch höchstens sieben Tage. Die Beschwerdeführer verlangen unter Berufung auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur persönlichen Freiheit die Aufhebung dieser Bestimmung. Sie machen geltend, vor einer Krebsbehandlung mit Strahlentherapie soll sich der Patient die Chance zu eigenem, nicht-strahlengeschädigtem Nachwuchs durch vorgängige Samenhinterlegung wahren können. Die Methode der Kryokonservierung von Samenzellen sei heute gut entwickelt und erlaube eine sichere Langzeitaufbewahrung. Es sei kein vernünftiger Grund ersichtlich, die Chance eigenen, erbgesunden Nachwuchses durch ein Konservierungsverbot vorzuenthalten. Zudem sei nach § 8 Abs. 2 GRM die Forschung an Samenzellen erlaubt. Das Verbot verstosse demzufolge gegen die Verfassung.
a) Das Bundesgericht hat bereits im Jahre 1989 zur Aufbewahrung von Samenzellen ausführlich Stellung genommen (
BGE 115 Ia 234
E. 8 S. 259). Danach kann sich der aufgrund der persönlichen Freiheit verfassungsrechtlich geschützte Kinderwunsch nicht nur bei Wunscheltern zeigen, welche in einer bestimmten Situation und in einem gewissen Zeitpunkt moderne Methoden der Fortpflanzungsmedizin
BGE 119 Ia 460 S. 492
in Anspruch nehmen möchten. Es ist ebenso sehr denkbar, dass ein fester, aber noch nicht aktueller Kinderwunsch im Rahmen des Möglichen für die Zukunft gesichert werden soll. Diese Situation kann sich etwa bei verheirateten oder nicht verheirateten Männern ergeben, die sich infolge ihrer Berufsausübung oder wegen einer Hodenkrebsbehandlung der Gefahr ausgesetzt sehen, später keine Kinder mehr zeugen oder eine natürliche Zeugung wegen genetischer Veränderungen der Samenzellen und den damit verbundenen Risiken für das Kind nicht mehr verantworten zu können. Auch dieser Aspekt betrifft das ungeschriebene Grundrecht der persönlichen Freiheit.
In jenem Verfahren hat das Bundesgericht das generelle Verbot des Samendepots als verfassungswidrig bezeichnet. Hierfür ist es davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber die kurzfristige Aufbewahrung von Samenzellen zulässt und demnach der Methode der Kryokonservierung als solcher keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen. Es sind denn auch keine Bedenken bekannt, dass die Kryokonservierung eine Veränderung der Samenzellen bewirken würde und dass bei ihrer Verwendung gesundheitliche Risiken für Mutter und Kind entstehen könnten. Eine spezielle Missbrauchsgefahr hat das Bundesgericht nicht erkennen können, da solche bei einer längerfristigen Aufbewahrung nicht wesentlich grösser erscheint als bei einer vom Gesetzgeber zugelassenen kürzeren Dauer. Aber auch andere Gründe vermochten ein absolutes Verbot der Aufbewahrung von Samenzellen im Hinblick auf eine spätere eigene Verwendung unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit nicht zu rechtfertigen. Diese Erwägungen bezogen sich sowohl auf verheiratete als auch auf unverheiratete Männer (
BGE 115 Ia 234
S. 260 f.).
b) Demgegenüber bringt der Grosse Rat vor, die Beschränkung der Konservierung von Samenzellen stehe in engem Zusammenhang mit dem Verbot der heterologen künstlichen Insemination. Der Kanton Basel-Stadt wolle damit sicherstellen, dass keine Samenbanken entstünden, mit denen dieses Verbot allenfalls umgangen werden könnte. Er bewerte im übrigen das öffentliche Interesse an der Verhinderung von Missbräuchen höher als das individuelle Interesse einzelner Personen an der langfristigen Aufbewahrung ihrer Samenzellen. Selbst wenn das Bundesgericht für den speziellen Fall der Strahlentherapie bei Hodenkrebs (und nur um diesen oder ähnliche Fälle könne es hier gehen) eine Aufbewahrungsdauer von sieben Tagen als zu kurz ansehen sollte, so müsse jedenfalls eine zeitliche Grenze zulässig sein.
BGE 119 Ia 460 S. 493
Diese Überlegungen des Grossen Rates vermögen gegenüber der bisherigen Rechtsprechung nicht durchzudringen. Er bringt keine wesentlich neuen Gründe vor, welche in der Interessenabwägung des Bundesgerichts nicht schon mitberücksichtigt worden wären. Es gilt insbesondere darauf hinzuweisen, dass einer längeren Aufbewahrung keine gesundheitlichen Interessen entgegenstehen. Die Missbrauchsgefahr ist bei einer längerfristigen, aber geordneten und kontrollierten Aufbewahrung nicht in erheblichem Masse grösser als bei kurzfristiger Konservierung im Hinblick auf eine konkrete Behandlung; zudem sind Samenzellen ohnehin jederzeit ohne grösseren Aufwand erhältlich. Schliesslich geht wohl auch der kantonale Gesetzgeber mit der Bestimmung von § 8 Abs. 2 GRM, wonach die Forschung an Keimzellen unter bestimmten Bedingungen zulässig ist, davon aus, dass Samenzellen grundsätzlich über eine Dauer von sieben Tagen hinaus konserviert werden dürfen. Die Aufbewahrung von eigenen Samenzellen im Hinblick auf eine spätere Verwendung - etwa in Anbetracht einer gefährlichen Berufsausübung oder einer Strahlenbehandlung wegen (Hoden-)Krebs - kann unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit mit solchen Gründen nicht untersagt werden.
Soweit das Verbot der längerfristigen Aufbewahrung von Samenzellen und die Verhinderung von eigentlichen Samenbanken mit dem gesetzlichen Verbot der heterologen Insemination begründet wird, kann daran schon aufgrund der vorstehenden Erwägungen, mit denen die heterologe Insemination im Grundsatz zulässig erklärt wird (E. 6), nicht festgehalten werden. Die meisten behandelten Reproduktionsmethoden setzen die Aufbewahrung von Samenzellen weitgehend voraus. Schliesslich geht auch der Verfassungsgeber mit
Art. 24novies Abs. 2 BV
sinngemäss von der Zulässigkeit der längerfristigen Aufbewahrung von Samenzellen aus.
Demnach lässt sich § 5 Abs. 1 GRM insoweit mit der persönlichen Freiheit nicht vereinbaren, als die Konservierung von Samenzellen auf die laufende ärztliche Behandlung und eine Höchstdauer von sieben Tagen beschränkt wird. Die Beschwerde erweist sich daher in dieser Hinsicht als begründet, und § 5 Abs. 1 GRM ist aufzuheben.
c) Dies bedeutet indessen nicht, dass eine derartige Hinterlegung von Samenzellen nicht gewissen Einschränkungen hinsichtlich der Art und Weise sowie im Hinblick auf eine spätere Verwendung unterworfen werden kann. Aus dem Bedürfnis nach einwandfreier Aufbewahrung, nach korrekter Kennzeichnung zur Verhinderung von
BGE 119 Ia 460 S. 494
Verwechslungen und nach Ausschluss einer grösseren Zahl von unerwünschten und unerkannten genetischen Verwandtschaften kann die Aufbewahrung bei einer zentralen Stelle wie etwa dem Kantonsspital vorgesehen werden. Ebensowenig ist es ausgeschlossen, die Konservierung auf eine bestimmte Dauer zu beschränken und die Verwendung von Samenzellen eines Verstorbenen zu verbieten (
BGE 115 Ia 234
E. c S. 261 und S. 258; vgl. die nicht angefochtene Bestimmung von § 4 Abs. 2 lit. b GRM sowie die Medizinisch-ethischen Richtlinien, Ziff. 10 und 12). In diesem Rahmen kann auch dem Anliegen des kantonalen Gesetzgebers grundsätzlich Rechnung getragen werden, dass hinterlegte Samenzellen vom Hinterleger nur so lange verwendet werden dürfen, als dieser beim natürlichen Gang der Dinge zu einer Zeugung noch fähig wäre.
Es ist daher allenfalls Sache des Kantons, entsprechende ergänzende Vorschriften zu erlassen und die Bedingungen im einzelnen festzulegen.
10.
Die Beschwerdeführer richten ihre Beschwerde auch gegen § 5 Abs. 2 GRM, wonach die Konservierung von Eizellen und Embryonen verboten ist, und verlangen dessen Aufhebung. Für die folgende Behandlung ist zwischen der Aufbewahrung von Eizellen und derjenigen von Embryonen (unten E. 11) zu unterscheiden.
a) Die Beschwerdeführer bringen in dieser Hinsicht vor, es stelle eine Verletzung der persönlichen Freiheit dar, dass der Frau die Konservierung von Eizellen in genereller Weise untersagt werde. Bereits die geforderte Zulassung der In-vitro-Fertilisation erfordere als Methode eine minimale Aufbewahrung von Eizellen. Es müsse der Frau auch erlaubt werden, Eizellen zu diagnostischen Zwecken untersuchen und entsprechend aufbewahren zu lassen. Auf dem Gebiete der Eizellengewinnung seien im übrigen in den letzten Jahren grosse Fortschritte erzielt worden; insbesondere sei es nunmehr möglich, der Frau ohne Vollnarkose ambulant Eizellen zu entnehmen. Zudem erfordere die nach § 8 Abs. 2 GRM im Grundsatz zugelassene Forschung ein Minimum an Konservierung gerade auch von Eizellen.
Demgegenüber betont der Grosse Rat die ungenügende Erprobung der Aufbewahrung von Eizellen auf längere Dauer. Er bringt vor, eine spätere Verwendung von eigenen Eizellen sei mit einem Aufbewahren von Samenzellen für eine Verwendung nach einer Strahlenbehandlung nicht vergleichbar; denn bei einer Bestrahlung der Frau würde auch die Gebärmutterfunktion beeinträchtigt, so dass sich die Aufbewahrung von eigenen Eizellen nicht als nützlich erweise. Die grosse Missbrauchsgefahr, welche mit der Gewinnung und längerfristigen
BGE 119 Ia 460 S. 495
Aufbewahrung von Eizellen begründet wird, lasse deren Verbot rechtfertigen.
b) Das Bundesgericht hat sich mit der Methode der Aufbewahrung von Eizellen und deren Zulässigkeit bzw. Beschränkbarkeit in seinem Präjudiz nicht näher auseinandergesetzt (vgl.
BGE 115 Ia 234
S. 262 oben).
Es ist oben ausgeführt worden, dass die absoluten Verbote der IVF/ET und des GIFT als Methode vor der Verfassung nicht standzuhalten vermögen und diese Methoden daher, unter allenfalls einschränkenden Bedingungen, im Grundsatze zuzulassen sind. Diese Techniken setzen nun aber eine minimale Aufbewahrung von Eizellen geradezu voraus. Die entnommenen Eizellen müssen vor ihrer Verwendung für die IVF/ET und den GIFT behandelt werden. Es können nicht Eizellen entnommen und gewissermassen gleichzeitig in vitro befruchtet bzw. zusammen mit Samenzellen intratubar in die Gebärmutter eingefügt werden. Ein absolutes Aufbewahrungsverbot würde damit die als zulässig erachteten Methoden der IVF/ET und des GIFT verunmöglichen. Schon aus diesem Grunde steht das absolute Aufbewahrungsverbot mit der persönlichen Freiheit nicht im Einklang.
Dieser Schluss steht auch mit der neuen Verfassungsbestimmung von
Art. 24novies BV
und deren Entstehungsgeschichte im Einklang. Es lassen sich daraus zwar keine direkten Hinweise zur Eizellenkonservierung entnehmen. Immerhin kann nicht angenommen werden, dass der Verfassungsgeber ein solches Verbot hat erlassen wollen; vielmehr gingen die Räte, welche die Frage der Konservierung von Keimzellen vor allem im Zusammenhang mit der Zulässigkeit einzelner Fortpflanzungshilfen berührten (vgl. Amtl.Bull. NR 1991 590), im Grundsatz von der im einzelnen durch den Gesetzgeber zu umschreibenden Zulässigkeit aus.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Konservierung von Eizellen von Verfassungs wegen nicht in genereller Weise verboten werden kann. Die Beschwerde erweist sich demnach in diesem Punkte als begründet, und die Worte "Eizellen und" sind aus § 5 Abs. 2 GRM zu streichen.
c) Die Zulassung der Eizellenkonservierung bedeutet nun aber nicht, dass diese nicht Einschränkungen unterstellt werden könnte. Es ist dem kantonalen Gesetzgeber daher bis zum Erlass bundesrechtlicher Vorschriften unbenommen, die Bedingungen der Konservierung von Eizellen im Rahmen der vorstehenden Erwägungen durch kantonale Normen im einzelnen festzulegen. Angesichts der
BGE 119 Ia 460 S. 496
Aufhebung des absoluten Verbotes der Eizellenkonservierung wird sich der Grosse Rat auch dieser Frage erneut annehmen können. Dabei darf er den technischen Entwicklungsstand berücksichtigen; die Langzeitgefrierung von Eizellen gilt heute noch als ungenügende Methode, auch wenn in der Fachliteratur darauf hingewiesen wird, dass es schon verschiedentlich gelungen sei, unbefruchtete Eizellen zu kryokonservieren (KELLER/GÜNTHER/KAISER, a.a.O., Rz. 4 zu § 1 Abs. 1 Nr. 5, S. 167). Die Aufbewahrung von männlichen und weiblichen Keimzellen braucht nicht in derselben Weise geregelt zu werden, da sie sehr unterschiedliche Fragen aufwirft. Die Gewinnung von Samen- bzw. Eizellen ist verschieden und die medizinischen Möglichkeiten stossen auf grundlegende Unterschiede. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer kann daher nicht verlangt werden, dass die Konservierung für männliche bzw. weibliche Keimzellen in derselben Weise geordnet wird.
11.
Die Beschwerdeführer fechten in diesem Zusammenhang überdies das generelle Verbot nach § 5 Abs. 2 GRM an, Embryonen aufzubewahren.
a) In prozessualer Hinsicht bringt der Grosse Rat vor, die Beschwerdeführer verlangten in ihrem Antrag zwar die Aufhebung der ganzen Bestimmung von § 5 Abs. 2 GRM inklusive des Verbotes der Konservierung von Embryonen. In der Beschwerdebegründung bezögen sie sich indessen in keiner Weise auf die Embryonenaufbewahrung und machten in dieser Hinsicht keine Verfassungsverletzung geltend, weshalb insoweit auf die Beschwerde nicht eingetreten werden könne. Demgegenüber replizieren die Beschwerdeführer, die Begründung ergebe sich mindestens sinngemäss aus ihren Ausführungen zum Konservierungsverbot von Eizellen sowie aus ihrer Anfechtung des Verbotes der IVF/ET als solcher.
Es kann nicht übersehen werden, dass die Beschwerdeführer trotz ihres Aufhebungsantrages nicht im einzelnen begründen, weshalb das Verbot der Embryonenkonservierung in seiner Gesamtheit gegen die Verfassung verstossen sollte. Ihr Antrag reicht damit tatsächlich über die abgegebene Beschwerdebegründung hinaus; soweit die Beschwerdeführer das Verbot einer langfristigen Konservierung von Embryonen anfechten, kann demnach auf ihre Beschwerde nicht eingetreten werden. Es ist andererseits aber auch zu beachten, dass die Beschwerdeführer das generelle Verbot der In-vitro-Fertilisation mit nachfolgendem Embryotransfer in zulässiger Weise angefochten haben; soweit diese Methode ein Mindestmass an Aufbewahrung von Embryonen voraussetzt, bezieht sich ihre Beschwerde auch auf § 5
BGE 119 Ia 460 S. 497
Abs. 2 GRM. In diesem Rahmen ist demnach auf die Anfechtung des Embryonenkonservierungsverbotes einzutreten.
b) Nach den obenstehenden Erwägungen ist die In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer verfassungsrechtlich im Grundsatze zuzulassen. Bei der Anwendung dieser Methode werden operativ gewonnene Eizellen der Frau ausserhalb ihres Körpers mit Spermien befruchtet; hernach werden die sich entwickelnden Embryonen der Frau eingepflanzt. Ein solches Vorgehen erfordert ein minimales Aufbewahren der auf diese Weise entstandenen Embryonen. Soweit mit § 5 Abs. 2 GRM schon ein derartiges Aufbewahren untersagt werden sollte, hält die Bestimmung vor der persönlichen Freiheit nicht stand. Diese Betrachtung wird bestärkt durch
Art. 24novies BV
und dessen Entstehungsgeschichte. Nach Art. 24novies Abs. 2 lit. c Satz 2 BV soll die Befruchtung menschlicher Eizellen ausserhalb des Körpers unter gewissen Bedingungen ausdrücklich erlaubt sein. Demnach geht auch die Bundesverfassung davon aus, dass Embryonen bis zur Einpflanzung aufbewahrt werden dürfen.
Die Aufbewahrung von Embryonen zum Zwecke einer späteren Einpflanzung ist nun aber nur in sehr beschränktem Ausmasse zulässig. Das Bundesgericht hat im Jahre 1989 im Zusammenhang mit dem damals angefochtenen Verbot der IVF/ET ausgeführt, dass mit dieser Methode ernstzunehmende Gefahren des Missbrauchs mit überzähligen Embryonen verbunden sind, denen es mit wirksamen Massnahmen zu begegnen gelte. Diesem Bedürfnis könne nicht nur mit einem als unverhältnismässig betrachteten absoluten Verbot entsprochen werden; denkbar sei auch eine Regelung, wonach keine überzähligen Eizellen in vitro befruchtet und alle so entstandenen Embryonen der Frau unmittelbar eingepflanzt werden (
BGE 115 Ia 234
S. 264 f.). - Die neue Verfassungsbestimmung hält nunmehr in Art. 24novies Abs. 2 lit. c Satz 3 BV den Grundsatz fest, dass nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden dürfen, als ihr sofort eingepflanzt werden können. Diese Fassung setzte sich im Nationalrat gegenüber einem absoluten Verbot der IVF/ET überhaupt und einer weitergehenden Konservierungsmöglichkeit von Embryonen durch (vgl. Amtl.Bull. NR 1991 601 (Antrag Minderheit I), 601 ff. (Diskussion) und 617 f. (Abstimmung); vgl. beispielsweise auch die Voten zugunsten einer weitergehenden Konservierung a.a.O., S. 610 f.). Der Ständerat ist dem nach erneuter Diskussion gefolgt (Amtl.Bull. SR 1991 450 ff. (Diskussion mit abweichenden Voten, S. 453 f.) und 457 (Abstimmung)). Die damit verbundene
BGE 119 Ia 460 S. 498
Beschränkung hat als Rahmenbedingung auch für die kantonale Gesetzgebung Gültigkeit.
Diese Überlegungen zeigen, dass zum Zwecke der Bekämpfung von Missbräuchen keine überzähligen Embryonen erzeugt und etwa im Hinblick auf einen späteren Zyklus kryokonserviert aufbewahrt werden dürfen. In dieser grundsätzlichen Hinsicht erweist sich die Beschwerde demnach als unbegründet. - Soweit lediglich die Aufbewahrung von Embryonen bis zur unmittelbaren Einpflanzung in den weiblichen Körper in Frage steht, ist sie in Anbetracht der Zulässigkeit der IVF/ET zu gestatten. Das Verbot der Konservierung von Embryonen nach § 5 Abs. 2 GRM lässt sich in diesem Sinne verfassungskonform interpretieren. Einer förmlichen Aufhebung bedarf es hierfür nicht.
Demnach ist die Beschwerde in bezug auf das Verbot der Aufbewahrung von Embryonen nach § 5 Abs. 2 GRM im Sinne der vorstehenden Erwägungen abzuweisen.
c) Anlässlich der ständerätlichen Beratung der nunmehr in Kraft stehenden Vorgabe von Art. 24novies Abs. 2 lit. c Satz 3 BV ist unter Berufung auf die angehörten Experten über die verschiedenen Entwicklungsstadien eines Embryos berichtet worden: Nach dem Zusammenbringen von Samen- und Eizellen bildet sich vorerst das sog. Vorkernstadium heraus. Erst kurz danach findet die eigentliche Kernverschmelzung statt und kommt es zur Heranbildung des Präembryos oder der Zygote. Der Embryo wächst hernach durch Zellteilung weiter und beginnt, die Organe zu entwickeln (vgl. Amtl.Bull. SR 1991 451 f.; P. SPRUMONT, Keimbildung, Befruchtung und Keimentwicklung, in: Reproduktionsmedizin und Gentechnologie, herausgegeben von Hj. Müller, Basel und Stuttgart 1987, S. 10 ff.; KELLER/GÜNTHER/KAISER, a.a.O., Rz. 1 ff. zu § 8, S. 247 ff. und Fussnote auf S. 273 sowie Glossar S. 289 ff.). Die Auffassung darüber und die Terminologie scheint in der Wissenschaft allerdings nicht unumstritten zu sein, und es wird teilweise darauf hingewiesen, dass zwischen dem Stadium des Embryos oder Präembryos und dem Vorkernstadium keine straffe, kategoriale Unterscheidung getroffen werden könne (Amtl.Bull. SR 1991 451 f.; zur Terminologie vgl. auch ANTOINE SUAREZ, Ist der menschliche Embryo eine Person? - Ein rationaler Beweis, in: Schweizerische Ärztezeitung 69/1988 S. 1030).
Entsprechend diesen Entwicklungsstufen ist in den Eidgenössischen Räten die Meinung vertreten worden, dass eine Kryokonservierung von befruchteten Eizellen im Vorkernstadium zugelassen
BGE 119 Ia 460 S. 499
werden sollte, wenn bei dieser Methode Missbräuche ausgeschlossen seien. Von wissenschaftlicher Seite her wird darauf hingewiesen, dass eine derartige Aufbewahrung von Eizellen im Vorkernstadium leichter zu bewerkstelligen sei als eine Kryokonservierung von unbefruchteten Eizellen (vgl. insbes. Amtl.Bull. SR 1991 452 und 456; KELLER/GÜNTHER/KAISER, a.a.O., Rz. 4 und 22 zu § 1 Abs. 1 Nr. 5, S. 167 f.).
Wie es sich mit dieser differenzierenden Betrachtungsweise und dem Verbot der Aufbewahrung von Embryonen im Sinne von Art. 24novies Abs. 2 lit. c Satz 3 BV und von § 5 Abs. 2 GRM verhält, braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden. Es ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers (auf eidgenössischer und vorerst auch kantonaler Stufe), entsprechende präzisierende Regeln zu erlassen, so dass darauf nicht näher eingegangen zu werden braucht.
12.
§ 8 Abs. 1 des angefochtenen Gesetzes schreibt vor, dass lebende Embryonen, Föten oder Teile davon nicht zu Forschungszwecken verwendet werden dürfen.
a) Die Beschwerdeführer machen in bezug auf § 8 Abs. 1 GRM geltend, Einschränkungen der Forschung an lebenden Embryonen und Föten liessen sich, wie bei der Forschung am Menschen schlechthin, nur insofern rechtfertigen, als Gesundheit und Leben bzw. Entwicklungsfähigkeit auf dem Spiele stünden. Werde das Forschungsverbot ausschliesslich mit dem Schutz des werdenden menschlichen Lebens begründet, sei das generelle Verbot nach § 8 Abs. 1 GRM unverhältnismässig. Die verfahrensbegleitende Beobachtung des Embryos, welche ebenfalls als Forschung zu bezeichnen sei, müsse vielmehr zulässig bleiben. Die Beschwerdeführer anerkennen andererseits, dass für lebende Embryonen und Föten gefährliche bzw. gesundheitsschädliche, d.h. die sogenannte verbrauchende Forschung verboten sein soll bzw. verfassungsrechtlich verboten werden könne. Da das generelle Forschungsverbot vom Grossen Rat aber ausschliesslich gesellschaftspolitisch begründet sei, erweise es sich als verfassungsrechtlich unzulässiger Versuch der Forschungszensur. - Eventualiter beantragen die Beschwerdeführer die Streichung der in § 8 Abs. 1 GRM enthaltenen Wendung "oder Teile davon". Unter Teilen von lebenden Embryonen und Föten könnten nur Zellen oder Gewebe verstanden werden, die nicht selbständig lebensfähig seien. Solche Zellen und Gewebe würden z.B. bei der Fruchtwasserpunktion (Amniozentese) zwecks Diagnostizierung von Mongolismus gewonnen,
BGE 119 Ia 460 S. 500
ferner bei der Chorionzottenbiopsie und bei der Nabelschnurpunktion (Chordozentese). Warum an solchen Zellen und Geweben Forschung generell verboten werden müsse, sei nicht ersichtlich. - Die Methoden der pränatalen Diagnostik sind nach der Auffassung der Beschwerdeführer im angefochtenen Gesetz zudem nicht geregelt. Das gehe aus § 1 desselben hervor. Verboten seien nach dem Gesagten lediglich Eingriffe zu Forschungszwecken, die auf eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens hinausliefen.
Demgegenüber legt der Grosse Rat in seiner Beschwerdeantwort dar, das Bundesgericht habe in
BGE 115 Ia 234
lediglich das Verbot der Forschung an Keimzellen für unzulässig erklärt. Ferner habe es durchblicken lassen, dass es die Forschung an Embryonen wegen schwerwiegender Gefahren und Missbrauchsmöglichkeiten für unzulässig halte. Für ein Verbot der Embryonenforschung sprächen gewichtige Interessen. Zulässigkeit und Sinn einer solchen Forschung seien im übrigen höchst umstritten, wie sich insbesondere aus dem Bericht der Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedizin (BBl 1989 III 1029, insbes. 1131 ff.) und den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften von 1985 (BBl 1987 III 1210 Ziff. 7 und 8) ergebe. - In bezug auf den Eventualantrag der Beschwerdeführer bringt der Grosse Rat vor, § 8 Abs. 1 GRM bezwecke in erster Linie, Forschung am Embryo oder Teilen hievon zu verhindern, die mit dessen Integrität nicht zu vereinbaren sei und auf eine blosse Instrumentalisierung menschlichen Lebens zu Forschungszwecken hinauslaufe, wie durch das Wort "verwendet" deutlich gemacht werde. Diese Gefahr bestehe auch bei der "Verwendung" eines Teils des lebenden Embryos.
b) Vorerst ist im Zusammenhang mit der Anfechtung des Forschungsverbotes zu prüfen, auf welches Verfassungsrecht sich die Beschwerdeführer mit ihrer staatsrechtlichen Beschwerde berufen können.
Im Jahre 1989 liess das Bundesgericht die Frage offen, ob die Wissenschafts- oder Forschungsfreiheit als Garantie eines unantastbaren schöpferischen Kerns wissenschaftlicher Erkenntnis und Lehre sowie zur Bewahrung der geistigen und methodischen Unabhängigkeit der Forschung im Sinne eines ungeschriebenen, eigenständigen Verfassungsrechts anzuerkennen ist. Es genügte damals, entsprechende Teilgehalte an bestehende geschriebene oder ungeschriebene Grundrechte anzuknüpfen. Hierfür fiel einerseits die Meinungsfreiheit in dem Sinne in Betracht, sich mittels Forschung eine
BGE 119 Ia 460 S. 501
Meinung über Sachverhalte zu bilden und diese später allenfalls zu verbreiten; andererseits ging das Bundesgericht davon aus, dass die Forschung, verstanden als Methode zur Vertiefung und Mehrung der Erkenntnisse, unmittelbar der Selbstverwirklichung des Menschen dienen und insofern der persönlichen Freiheit zugeordnet werden könne (
BGE 115 Ia 234
S. 268 f.).
Die Frage nach einer ausdrücklichen Anerkennung der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit braucht auch im vorliegenden Fall, der sich nicht wesentlich von der Konstellation bei der Anfechtung der st. gallischen Fortpflanzungsregelung unterscheidet, nicht abschliessend entschieden zu werden. Es genügt auch hier, wenn sich die in Lehre und Forschung tätigen Beschwerdeführer im dargelegten Sinne auf die Meinungsfreiheit und die persönliche Freiheit berufen können. Ob sie darüber hinaus auch in der Handels- und Gewerbefreiheit betroffen sind, kann offengelassen werden.
c) Der so verstandene Freiraum kann nicht unbeschränkt gelten und unterliegt wie bei anderen Grundrechten der Einschränkung, soweit eine solche im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist. Schranken ergeben sich in allgemeiner Weise auf den Gebieten des Straf- und Polizeirechts sowie des Persönlichkeitsrechts, deren Normen dem ebenfalls verfassungsrechtlichen Schutz von Rechtspositionen dienen. Besonders problematisch erweist sich die Forschungsfreiheit auf dem Gebiete der medizinischen Biologie, wo elementare Verfassungsziele und die Menschenwürde entgegenstehen können (
BGE 115 Ia 234
S. 269 f.). - Im folgenden ist zu prüfen, ob das in § 8 Abs. 1 des angefochtenen Gesetzes enthaltene Forschungsverbot im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist.
d) Im Zusammenhang mit der Prüfung der st. gallischen Gesetzgebung über die Fortpflanzungsmedizin brauchte das Bundesgericht zur Forschung an Embryonen und Föten nicht Stellung zu nehmen und konnte sich mit dem Hinweis begnügen, dass eine solche Forschung sowie die Veränderung des Erbgutes die Möglichkeit zu bedeutenden Gefahren und Missbräuchen eröffnen könnten. An anderer Stelle hat es ausgeführt, dass mit der Befruchtung einer Eizelle eine menschliche Identität determiniert sei und demnach das Schicksal des Embryos in vitro der Rechtsgemeinschaft nicht gleichgültig sein könne (
BGE 115 Ia 234
S. 264). Dieses Grundanliegen hat auch für die Frage der Forschung am Embryo Gültigkeit.
BGE 119 Ia 460 S. 502
Die Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedizin hat sich in ihrem Bericht eingehend auch mit der Forschung und insbesondere der Frage nach der Zulässigkeit und den Bedingungen der Forschung am Embryo in vitro als zentralem Thema auseinandergesetzt. Einerseits hat sie den Eigenwert des menschlichen Lebens schon im Embryonalstadium betont und darauf hingewiesen, dass Forschung am keimenden Leben als entwürdigende Instrumentalisierung menschlichen Lebens empfunden werde und die grundsätzliche Zulassung der Forschung alles Bestreben, keine überzähligen Embryonen entstehen zu lassen, faktisch zunichte mache. Auf der andern Seite möge es hochrangige Forschungsziele geben, die eine Forschung am Embryo in vitro rechtfertigen könnten; immerhin seien bisher keine relevanten Forschungsziele bekanntgeworden, welche die Forschung am Embryo in vitro unerlässlich machten (BBl 1989 III 1029, 1131 ff.).
Unter allgemeinen Gesichtspunkten ist schliesslich auf die neue Verfassungsbestimmung von
Art. 24novies BV
hinzuweisen. Nach dessen Abs. 1 ist der Mensch und seine Umwelt gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie geschützt. Als materielle Vorgabe für die Gesetzgebung nennt Abs. 2 den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Familie. Eingriffe in das Erbgut von menschlichen Keimzellen und Embryonen sollen unzulässig sein (lit. a). Diese verfassungsrechtlichen Leitlinien haben Auswirkungen auch auf die Frage der Zulässigkeit der Forschung an Embryonen.
e) Die sogenannte verbrauchende Forschung, bei der das Embryo in vitro "verbraucht" wird und keine Chance zum Weiterleben hat, ist bereits von der Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedizin abgelehnt worden (BBl 1989 III 1029, 1132). In der parlamentarischen Beratung ist darauf hingewiesen worden, die Forschungsfreiheit sei nicht grenzenlos und es sei klar auszuschliessen, dass Embryonen zu Forschungszwecken erzeugt würden (Amtl.Bull. SR 1990 478 und 1991 451). Die Beschwerdeführer anerkennen denn auch selber, dass für lebende Embryonen und Föten gefährliche bzw. gesundheitsschädliche oder zerstörende Forschung verboten sein soll bzw. verfassungsrechtlich verboten werden könne. In dieser Hinsicht erweist sich die Bestimmung von § 8 Abs. 1 GRM in Anbetracht der obenstehenden Ausführungen als verfassungsmässig. Das gilt auch für die Forschung an Teilen von lebenden Embryonen oder Föten, soweit die Herauslösung von solchen gesundheitsschädigende oder zerstörende Wirkung zeitigt. Weitere Grenzen ergeben sich ferner
BGE 119 Ia 460 S. 503
aus den in § 8 Abs. 3 GRM enthaltenen, nicht selbständig angefochtenen Verboten. Schliesslich kann auf die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften für die ärztlich-assistierte Fortpflanzung hingewiesen werden, nach welchen menschliche Embryonen nicht als Forschungsobjekte verwendet werden dürfen (Ziff. 11).
Demgegenüber erscheint die Forschung an Embryonen und Föten in einem andern Lichte, soweit es sich um deren Beobachtung bzw. um Forschungsuntersuchung handelt. Die Beobachtung und das Verfolgen der Entwicklung eines Embryos in vitro, welche bereits als Forschung bezeichnet werden können, dienen dessen Gesunderhaltung und können darauf abzielen, bessere Bedingungen für die Entwicklung zu schaffen. Eine solche Tätigkeit ist mit der Würde des Menschen, welche schon dem Embryo in vitro zukommt, durchaus vereinbar (vgl.
Art. 24novies Abs. 1 und Abs. 2 BV
). Bei solchen Vorgängen wird die heranwachsende Frucht nicht "verbraucht" und nicht in unwürdiger Weise instrumentalisiert. In diesem Rahmen steht einer Forschung an lebenden Embryonen oder Föten aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts entgegen.
Was die von den Beschwerdeführern ausdrücklich erwähnten Techniken der pränatalen Diagnose betrifft, so werden diese vom Gesetz über die Reproduktionsmedizin beim Menschen nach der Umschreibung des Geltungsbereichs in § 1 nicht erfasst. Im übrigen kann man bei den Zell- und Gewebeentnahmen, die bei der Anwendung der genannten Methoden der pränatalen Diagnostik erfolgen, nicht von lebenden Embryonen und Föten oder Teilen davon im Sinne von § 8 Abs. 1 des angefochtenen Gesetzes sprechen.
f) Aufgrund dieser Erwägungen ergibt sich, dass das Forschungsverbot an lebenden Embryonen und Föten oder Teilen davon vor der Verfassung standhält. Soweit hingegen eine begleitende oder beobachtende Forschung erfolgen soll, kann dem aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts entgegengehalten werden. § 8 Abs. 2 GRM ist in diesem Sinne verfassungskonform auszulegen.
Demnach ist die Beschwerde in bezug auf § 8 Abs. 2 GRM im Sinne der Erwägungen abzuweisen. (...)
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
2. Die staatsrechtliche Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
BGE 119 Ia 460 S. 504
Das Gesetz des Kantons Basel-Stadt vom 18. Oktober 1990 betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen wird im Sinne der Erwägungen in folgendem Umfang aufgehoben:
- § 4 Abs. 2 lit. a
- § 4 Abs. 2 lit. c
- § 4 Abs. 2 lit. d
- § 4 Abs. 2 lit. e
- § 5 Abs. 1
- in § 5 Abs. 2 die Worte "Eizellen und"
Im übrigen wird die staatsrechtliche Beschwerde im Sinne der Erwägungen abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann. | public_law | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2e5fb971-47d2-4fb2-923a-417ec5146152 | Urteilskopf
117 II 40
10. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Januar 1991 i.S. Stockwerkeigentümergemeinschaft C. gegen G. (Berufung) | Regeste
Partei- und Prozessfähigkeit der Stockwerkeigentümergemeinschaft; Baurechtszins (
Art. 712l Abs. 2,
Art. 712h Abs. 2 ZGB
).
Die Zahlung von Baurechtszinsen fällt unter die gemeinschaftlichen Lasten der Stockwerkeigentümer; die Stockwerkeigentümergemeinschaft ist insoweit partei- und prozessfähig. | Sachverhalt
ab Seite 41
BGE 117 II 40 S. 41
A.-
Mit öffentlich beurkundetem Baurechtsvertrag vom 8. Dezember 1970 wurde der K. AG ein selbständiges und dauerndes Baurecht an einem Grundstück in W. eingeräumt. Ziff. 6 des Vertrages sah die Anpassung des jährlichen Baurechtszinses an die Teuerung vor.
Am 4. April 1972 wurde das Baurecht in Stockwerkeigentum aufgeteilt. Mit Schreiben vom 31. Januar 1983 verlangte G. die Anpassung des Baurechtszinses an den Indexstand per 31. Dezember 1982. In der Folge entstanden zwischen den Parteien Auseinandersetzungen über Sinn und Tragweite der Indexklausel.
B.-
Am 30. Dezember 1983 klagte G. gegen die Stockwerkeigentümergemeinschaft C. auf Bezahlung des Teuerungsausgleichs.
Das Bezirksgericht Brugg hiess die Klage am 28. Juni 1988 teilweise gut. Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 12. Mai 1989 eine Appellation der Beklagten sowie eine Anschlussappellation der Klägerin ab.
Das Bundesgericht weist die Berufung der Beklagten ab, soweit es darauf eintritt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Beklagte macht geltend, die Klage sei zurückzuweisen, weil sie nicht passivlegitimiert sei. Es ist daher zu prüfen, ob die Stockwerkeigentümergemeinschaft für die Zahlung des Baurechtszinses verantwortlich ist oder ob jeder Stockwerkeigentümer persönlich und nach Massgabe seines Wertteiles haftet.
a) Die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer erwirbt unter ihrem eigenen Namen das sich aus ihrer Verwaltungstätigkeit
BGE 117 II 40 S. 42
ergebende Vermögen, wie namentlich die Beitragsforderungen und die aus ihnen erzielten verfügbaren Mittel, wie den Erneuerungsfonds (
Art. 712l Abs. 1 ZGB
). Die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer kann unter ihrem Namen klagen und betreiben sowie am Ort der gelegenen Sache beklagt und betrieben werden (
Art. 712l Abs. 2 ZGB
). Das Vermögen der Gemeinschaft haftet den Gläubigern für die gemeinschaftlichen Verbindlichkeiten und kann von ihnen in der Betreibung gegen die Gemeinschaft als solche in Anspruch genommen werden (BBl 1962 II 1518; HANSJÖRG FREI, Zum Aussenverhältnis der Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer, Diss. Zürich 1970, S. 31 und 103). Die vermögensrechtliche Zuständigkeit der Stockwerkeigentümergemeinschaft bestimmt demnach ihre Partei- und Prozessfähigkeit (
BGE 114 II 241
E. 3 mit Hinweisen). Bei Forderungsklagen ist die Gemeinschaft dann prozessfähig, wenn die fragliche Forderung zu ihrem Verwaltungsvermögen gehört oder aus diesem zu befriedigen sein wird (
BGE 106 II 21
). Es stellt sich mithin die Frage, ob die Bezahlung des Baurechtszinses eine Verwaltungsaufgabe darstellt.
b) Die gemeinschaftlichen Kosten und Lasten des Gebäudes sind an die gemeinschaftlichen Bauteile sowie deren gemeinschaftliche Verwaltung gebunden (STEINAUER, Les droits réels, t. I, Rn. 1342, S. 347). Die Aufzählung der Lasten und Kosten in
Art. 712h Abs. 2 ZGB
ist nicht abschliessend (
BGE 109 II 425
E. b); insbesondere wird die Zahlung von Baurechtszinsen nicht ausdrücklich erwähnt. Das Gesetz unterscheidet zwischen gemeinschaftlichen Bauteilen und denjenigen, die im Sonderrecht eines jeden Stockwerkeigentümers stehen und mit Grundpfandrechten belastet werden können (
BGE 107 II 214
E. 3). Einem Stockwerkeigentümer können aber insbesondere weder das Baurecht, kraft dessen gegebenenfalls das Gebäude erstellt wird, noch die Bauteile, Anlagen und Einrichtungen, die eine gemeinschaftliche Zweckbestimmung haben, zu Sonderrecht zugeschieden werden (
Art. 712b Abs. 2 ZGB
; auch FORNI, La propriété par étages dans la jurisprudence du Tribunal fédéral, ZBJV 124/1988, S. 449 ff., 459). Dies ist zwingendes Recht (BBl 1962 II 1513). Soweit die Stockwerkeigentümergemeinschaft aus dem Baurecht berechtigt ist, fällt die Zahlung von Baurechtszinsen folgerichtig unter die gemeinschaftlichen Lasten; sie obliegt als Verwaltungsaufgabe der Stockwerkeigentümergemeinschaft. Dies entspricht der herrschenden Auffassung (MEIER-HAYOZ, N 57 zu
Art. 712l, N 65
zu
Art. 712h ZGB
;
BGE 117 II 40 S. 43
CHRISTOPH MÜLLER, Zur Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer, Diss. Zürich 1973, S. 59; FRIEDRICH, Das Stockwerkeigentum, Reglement für die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer, 2. Aufl. 1972, N 8 zu § 17, S. 89; ROLF H. WEBER, Zur Prozessfähigkeit der Stockwerkeigentümergemeinschaft, SJZ 75/1979, S. 117 ff., 120 Ziff. 1.3.5 und 122 Ziff. 2.3.1).
Die Zahlung des Baurechtszinses zählt zu den gemeinschaftlichen Lasten. Jeder Stockwerkeigentümer ist somit ungeachtet einer allfälligen im Baurechtsvertrag vereinbarten Solidarhaftung verpflichtet, an den Baurechtszins einen seiner Wertquote entsprechenden Beitrag zu leisten. Gegenüber dem Baurechtsgeber haftet indessen unmittelbar die Stockwerkeigentümergemeinschaft (MEIER-HAYOZ, N 65 zu
Art. 712h ZGB
).
c) Was die Beklagte dagegen vorbringt, insbesondere ihre Ausführungen zur Solidarität, Schuldübernahme und gesetzlichen Subrogation, vermögen nicht durchzudringen. Sie missachten die zwingende Ordnung des Stockwerkeigentums. Weder der Begründungsakt für das Stockwerkeigentum noch das Reglement der Gemeinschaft können an dieser Haftungsordnung etwas ändern. Insoweit erweist sich die Berufung als unbegründet. | public_law | nan | de | 1,991 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e5feb6a-d548-4d71-826a-9dced031fa99 | Urteilskopf
85 III 11
3. Sentenza 19 febbraio 1959 nella causa Breetz. | Regeste
Beschwerde gegen eine Verfügung des um Rechtshilfe ersuchten Betreibungsamtes.
Unterstehen das ersuchende und das ersuchte Amt derselben Aufsichtsbehörde, so darf diese das Eintreten auf die Beschwerde nicht deshalb ablehnen, weil sie gegen das ersuchende statt gegen das ersuchte Amt geführt wurde (das allein, auf Grund des Rechtshilfegesuches, zur Ankündigung der Pfändung und zur Durchführung der Verwertung binnen den Fristen des
Art. 122 SchKG
zuständig war). | Sachverhalt
ab Seite 12
BGE 85 III 11 S. 12
A.-
A seguito di varie esecuzioni promosse contro Vittorina Breetz, moglie di Carlo, già in Olivone e ora a Biasca, l'ufficio d'esecuzione di Blenio procedette il 15 ottobre 1958, a domanda di taluni creditori, al pignoramento di un autofurgone Ford Taunus, stimato fr. 2000. Con istanza del 10/12 dicembre 1958, Annibale Breetz, che partecipava al pignoramento, chiese all'ufficio d'esecuzione di Blenio la vendita dell'autoveicolo. Quattro giorni dopo, detto ufficio si rivolse con rogatoria di vendita all'ufficio d'esecuzione di Riviera, a Biasca. Nella rogatoria, esso faceva osservare che la debitrice non aveva domicilio fisso e poteva dunque essere escussa nel suo luogo di dimora attuale, e cioè a Biasca. L'ufficio di Biasca non diede seguito alla rogatoria. Quando l'ufficio di Blenio sollecitò, il 16 gennaio 1959, quello di Riviera perchè procedesse alla realizzazione dell'autoveicolo, ricevette la comunicazione, fatta anche ai creditori, che con decreto del 14 gennaio 1959 il pretore di Riviera aveva concesso alla debitrice una moratoria concordataria di quattro mesi.
Un reclamo di Annibale Breetz contro la mancata vendita dell'autofurgone nel termine di un mese dalla domanda di vendita fu dichiarato irricevibile dall'autorità ticinese di vigilanza in materia di esecuzione e fallimenti, con decisione del 3 febbraio 1959.
B.-
Annibale Breetz ha interposto in tempo utile un ricorso al Tribunale federale, chiedendo che, annullata la decisione dell'autorità ticinese di vigilanza, sia fatto ordine all'ufficio d'esecuzione di Blenio di procedere alla vendita dell'autofurgone di cui si tratta.
Erwägungen
Considerando in diritto:
1.
L'autorità ticinese di vigilanza non è entrata nel merito del reclamo di Annibale Breetz perchè era stato
BGE 85 III 11 S. 13
proposto contro l'ufficio rogante anzichè contro quello rogato, al quale incombeva esclusivamente, in base alla rogatoria, comunicare l'avviso d'incanto e intraprendere le operazioni di vendita nei termini dell'art. 122 LEF. Come il ricorrente giustamente pretende, tale decisione di irricevibilità fu errata. La dottrina si esprime bensì nel senso che, quando un reclamo verte non già sull'ammissibilità di una decisione presa su rogatoria ma sul modo in cui la decisione medesima è stata eseguita, il reclamo deve essere proposto davanti all'autorità di vigilanza dalla quale dipende l'ufficio (JAEGER, Commentario LEF, num. 5 ad art. 17). In concreto, sia l'ufficio rogato, sia quello rogante dipendevano però dalla medesima autorità di vigilanza. Così stando le cose, il reclamo di Annibale Breetz avrebbe dovuto essere esaminato nel merito, tanto più che era allegato un diniego di giustizia. In verità, la questione dell'autorità di vigilanza competente a ricevere un reclamo ha senso solo quando l'ufficio rogato e l'ufficio rogante dipendono da autorità di vigilanza diverse. Che così sia, risulta anche dalla giurisprudenza la quale ha sempre ricercato, in questi casi, quale autorità di vigilanza fosse competente (cfr. RU 67 III 106; Archivio VII pag. 133). BLUMENSTEIN (Handbuch des schweizerischen Betreibungsrechtes, pag. 84/85) dice - è vero - che se il reclamo ha per oggetto il modo in cui la rogatoria fu eseguita, soltanto l'ufficio rogato sarebbe "passivamente legittimato". Ma tale opinione, che è ripresa nella decisione impugnata, non può comunque essere condivisa quando con il reclamo sia allegato un diniego di giustizia e l'autorità di vigilanza adita sia in ogni modo competente a decidere i reclami diretti sia contro l'ufficio rogato sia contro quello rogante.
2.
.....
Dispositiv
La Camera di esecuzione e fallimenti pronuncia:
Il ricorso è respinto. | null | nan | it | 1,959 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e60a419-224e-40a5-bfb0-82d0529327ff | Urteilskopf
114 III 105
30. Auszug aus dem Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 6. Juni 1988 i.S. Sun International Ltd. (Rekurs) | Regeste
Herausgabepflicht nach
Art. 223 Abs. 2 SchKG
; Anwaltsgeheimnis.
Ist ein Rechtsanwalt zugleich Verwaltungsratsmitglied einer Gesellschaft und wird er im Konkurse dieser Gesellschaft in seiner Eigenschaft als Verwaltungsratsmitglied aufgefordert, alle Geschäftsakten herauszugeben, so ist zwischen der Geschäftskorrespondenz der Gesellschaft und den internen Unterlagen des Anwaltes zu unterscheiden. Herauszugeben ist nur die Geschäftskorrespondenz der Gesellschaft, worunter aber auch deren Korrespondenz mit dem Anwalt fällt (E. 3a und b).
Hält der Anwalt gewisse Unterlagen zugleich für sich und für die Gesellschaft, so hat er die Geschäftsakten der Gesellschaft entsprechend zu ergänzen und herauszugeben (E. 3c und d). | Sachverhalt
ab Seite 106
BGE 114 III 105 S. 106
A.-
Gestützt auf ein Schiedsgerichtsurteil vom 5. Mai 1983 betrieb die Sun International Ltd., Bermuda, die SU Mineral- und Petrochemie AG, Zug, auf Bezahlung von Fr. 21'303'749.01, nebst Zins zu 12% seit dem 5. Mai 1983.
Auf Begehren der Sun International Ltd. eröffnete das Kantonsgerichtspräsidium Zug am 20. Oktober 1987 den Konkurs über die SU Mineral- und Petrochemie AG.
B.-
Mit Verfügung vom 10. Dezember 1987 forderte das Konkursamt Zug Rechtsanwalt X. als einzelzeichnungsberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrates der in Konkurs gefallenen Gesellschaft auf, dem Konkursamt innert 10 Tagen sämtliche Geschäftsakten dieser Gesellschaft seit dem 1. Januar 1977 auszuhändigen, soweit dies noch nicht geschehen sei. Namentlich seien folgende Unterlagen einzureichen:
"- sämtliche Jahresabschlüsse (Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnungen) und Kontrollstellenberichte;
- sämtliche Buchhaltungsunterlagen mit allen Kontenblättern und allen zu den einzelnen Buchungsvorgängen gehörenden Belegen (...);
- sämtliche (ein- und ausgegangene) Korrespondenz, Bankdokumente und Verträge, ob intern oder an Dritte, betr. alle getätigten Kauf- und Verkaufsgeschäfte sowie damit zusammenhängende Operationen (...);
- sämtliche übrige (ein- und ausgegangene) Geschäftskorrespondenz, ob intern oder mit Dritten, insbesondere mit der Muttergesellschaft der Konkursitin, der Bulk Oil Holding AG, Cham, und mit der englischen Anwaltsfirma M. & Co., London;
- sämtliche Protokolle aller ordentlichen und ausserordentlichen Generalversammlungen samt zugehörigen Geschäftsberichten des Verwaltungsrates;
- sämtliche Protokolle aller Verwaltungsratssitzungen."
Gegen diese Verfügung erhob Rechtsanwalt X. in eigenem Namen Beschwerde an die Justizkommission des Kantons Zug als kantonaler Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs. Diese hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 8. März 1988 gut und präzisierte die Verfügung des Konkursamtes dahin,
"dass die Korrespondenzen, die der Beschwerdeführer in seiner Eigenschaft als Rechtsvertreter bzw. Rechtsberater der SU Mineral und Petrochemie AG sowie der Bulk Oil Holding AG mit deren Verwaltungsräten O. und S. sowie mit der Londoner Anwaltsfirma M. g Co. über die prozessualen Auseinandersetzungen mit der Sun Oil-Gruppe und insbesondere über die Rechtsöffnungsverfahren Nr. 60/1987 und Nr. 61/1987 führte, von der Herausgabeverfügung nicht betroffen werden."
C.-
Gegen diesen Entscheid haben das Konkursamt Zug und die Sun International Ltd. selbständig Rekurs an die Schuldbetreibungs- und
BGE 114 III 105 S. 107
Konkurskammer des Bundesgerichts erhoben. Beide beantragen die Aufhebung des angefochtenen Entscheides.
Rechtsanwalt X. und die kantonale Aufsichtsbehörde beantragen die Abweisung der Rekurse.
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer heisst die Rekurse gut und bestätigt die Verfügung des Konkursamtes in ihrem ursprünglichen Wortlaut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die kantonale Aufsichtsbehörde hat die Verfügung des Konkursamtes ferner dahin präzisiert, dass die Korrespondenzen, die der Rekursgegner in seiner Eigenschaft als Rechtsvertreter bzw. Rechtsberater der in Konkurs gefallenen Gesellschaft geführt habe, ebenfalls nicht herauszugeben seien.
a)
Art. 321 StGB
stellt u.a. die Verletzung des Berufsgeheimnisses durch Rechtsanwälte unter Strafe. Diese Bestimmung wurde erlassen, um die Ausübung der darin aufgezählten Berufe im öffentlichen Interesse zu erleichtern. Sie findet ihre Rechtfertigung in der Überlegung, dass diese Berufe nur dann richtig und einwandfrei ausgeübt werden können, wenn das Publikum aufgrund einer unbedingten Garantie zur Verschwiegenheit das unentbehrliche Vertrauen in die betreffenden Berufsinhaber hat (
BGE 112 Ib 606
).
Die Geheimhaltungspflicht des Anwaltes erstreckt sich - wie der Wortlaut von
Art. 321 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
deutlich zeigt - nur auf Tatsachen, die ihm vom Klienten anvertraut worden sind, um die Ausübung des Mandates zu ermöglichen, oder die der Anwalt in Ausübung seines Berufes wahrgenommen hat. Diese Geheimnisse dürfen weder direkt noch indirekt verraten werden. Es handelt sich um eine strikte Verpflichtung des Anwaltes, die auch nach der Aufhebung der vertraglichen Beziehung mit dem Klienten weiterbesteht (
BGE 112 Ib 607
).
Besondere Schwierigkeiten ergeben sich indes, wenn sich der Anwalt nicht auf rein anwaltliche Tätigkeiten beschränkt, namentlich wenn er zugleich Verwaltungsrat seiner Klientin ist. Überwiegt in solchen Fällen das kaufmännische Element derart, dass die Tätigkeit des Anwaltes nicht mehr als anwaltliche betrachtet werden kann, so kann sich der Anwalt nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts zumindest nicht in einem umfassenden Sinne auf sein Berufsgeheimnis berufen. Die Entscheidung
BGE 114 III 105 S. 108
darüber, welche Tatsachen vom Berufsgeheimnis erfasst werden, kann jedoch nur unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles getroffen werden. Diese Grundsätze, die das Bundesgericht im Zusammenhang mit einem Rechtshilfeverfahren angewendet hat, gelten sinngemäss auch im vorliegenden Konkursverfahren (vgl.
BGE 112 Ib 607
f.).
b) Die Verfügung des Konkursamtes Zug verlangt ausdrücklich nur die Herausgabe von Geschäftsunterlagen der in Konkurs gefallenen Gesellschaft. Von Anwaltsakten, die dem Rekursgegner gehören, ist weder in der allgemeinen Umschreibung der Herausgabepflicht noch in der detaillierten Liste der herauszugebenden Unterlagen und Dokumente die Rede. Der Rekursgegner befürchtet insoweit zu Unrecht eine mögliche Verletzung seines Berufsgeheimnisses. Er übersieht, dass die Geschäftsakten der Gemeinschuldnerin von seinen eigenen Anwaltsakten zu unterscheiden sind.
Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich seiner Korrespondenz mit der Gemeinschuldnerin. Soweit sich diese bei der Gemeinschuldnerin befindet, handelt es sich um deren Geschäftsunterlagen und nicht um seine eigene Anwaltskorrespondenz. Der Rekursgegner vermag daher aus dem Umstand, dass er die Korrespondenz an die weiteren Verwaltungsräte O. und S. gerichtet hat, nichts zu seinen Gunsten abzuleiten. Es ist nicht entscheidend, mit welcher Stelle innerhalb der Gesellschaft er den Geschäftsverkehr abgewickelt hat, sondern allein, dass es sich um Korrespondenz mit der Gemeinschuldnerin handelt und daher bei dieser abgelegt werden musste. Nicht herauszugeben wären lediglich solche Unterlagen und Briefe an die beiden erwähnten Verwaltungsräte, die rein persönliche Angelegenheiten oder solche der Mutterfirma betreffen und demzufolge bei der Gemeinschuldnerin nicht abzulegen waren.
Die gleichen Grundsätze gelten hinsichtlich der anwaltlichen Korrespondenz des Rekursgegners mit der englischen Anwaltsfirma M. & Co. Soweit der Rekursgegner Kopien dieser Korrespondenz an die Gemeinschuldnerin als Auftraggeberin gesandt oder bei sich zuhanden der Gemeinschuldnerin in einem besonderen Ordner abgelegt hat, handelt es sich nicht mehr um Anwaltskorrespondenz, für die er das Berufsgeheimnis beanspruchen kann, sondern um ordentliche Geschäftskorrespondenz der Gemeinschuldnerin, die gemäss
Art. 223 Abs. 2 SchKG
der Herausgabepflicht unterliegt.
BGE 114 III 105 S. 109
In Übereinstimmung mit dieser Rechtslage richtet sich die Verfügung des Konkursamtes denn auch ausdrücklich an den Rekursgegner in seiner Eigenschaft als einzelzeichnungsberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrates der Gemeinschuldnerin und nicht an ihn als Anwalt.
c) Die Personalunion von Verwaltungsrats- und Anwaltsfunktion kann nun aber dazu führen, dass bestimmte Akten bei der Auftraggeberin nicht mehr gesondert vorhanden sind, indem sie der Anwalt zugleich für sich und die Gesellschaft hält. Es geht jedoch nicht an, der Konkursverwaltung Akten vorzuenthalten, die bei einer ordnungsgemässen Geschäftsführung vorhanden wären. Sind Verwaltungsrats- und Anwaltsmandat sauber getrennt, so gelangt das Konkursamt ohne weiteres in den Besitz der Geschäftsakten, ohne dass der Anwalt - der weiterhin ausschliesslich über seine Unterlagen verfügt - etwas dagegen unternehmen könnte. Es ist nicht einzusehen, inwiefern etwas anderes gelten soll, wenn die beiden Tätigkeiten personell nicht getrennt sind.
In solchen Fällen hat daher der Anwalt, der zugleich Verwaltungsrat der Auftraggeberin ist, deren Unterlagen gemäss seiner Pflicht, für eine ordentliche Geschäftsführung zu sorgen, wenn nötig auch nachträglich entsprechend zu ergänzen. Das Geheimhaltungsrecht des Anwaltes wird insoweit durch die Herausgabepflicht nach
Art. 223 Abs. 2 SchKG
eingeschränkt. Der Rekursgegner als einzelzeichnungsberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrates der Gemeinschuldnerin kann sich dem nicht einfach dadurch entziehen, dass er deren Korrespondenz als eigene Anwaltskorrespondenz betrachtet. Anders zu entscheiden hiesse, dem Rechtsmissbrauch Tür und Tor zu öffnen. Durch blosses Einschalten eines Rechtsanwaltes könnten der Konkursverwaltung Geschäftsunterlagen vorenthalten werden, in die sie Einblick erhalten muss und bei einer ordnungsgemässen Geschäftsführung auch ohne weiteres erhalten würde.
d) Anderseits ist den berechtigten Interessen des Rechtsanwaltes Rechnung zu tragen. Sein Berufsgeheimnis darf ebensowenig ausgehöhlt werden wie die Herausgabepflicht der Gemeinschuldnerin. Die Handakten des Anwaltes, das heisst die für ihn bestimmten Doppel der Briefe an seine Klienten und deren Briefe an ihn, seine Entwürfe, Notizen, die Doppel der eigenen Rechtsschriften usw. hat er nicht herauszugeben (vgl. DUBACH, Das Disziplinarrecht der freien Berufe, ZSR 70/1951, S. 81a). Ebensowenig darf er Tatsachen offenbaren, die ihm - auch gesellschaftsintern
BGE 114 III 105 S. 110
- ausschliesslich in seiner Eigenschaft als Anwalt mitgeteilt worden sind (vgl. DUPONT-WILLEMIN, Le secret professionnel et l'indépendance de l'avocat, in: Bulletin des Schweizerischen Anwaltsverbandes, 1986, Nr. 101, S. 24 f.).
Aus diesem Grunde hat der Rekursgegner insbesondere das Recht und die Pflicht, seine Anwaltskorrespondenz geheimzuhalten, die nicht die Gemeinschuldnerin, sondern deren Muttergesellschaft betreffen. Soweit der Rekursgegner die Angelegenheiten der Mutter- und Tochtergesellschaft in der gleichen Korrespondenz behandelt hat, sind jene Teile abzudecken, die nicht die Gemeinschuldnerin betreffen. Ob und unter welchen Voraussetzungen dies grundsätzlich auch hinsichtlich jener Dokumente erfolgen dürfte, die der Anwalt bei sich, aber für die Gesellschaft als deren Geschäftskorrespondenz gesondert abgelegt hat, kann hier dahingestellt bleiben. Die Rekurrenten wenden gegen ein solches Abdecken nichts ein.
Aus dem Umstand, dass das Abdecken mit einem grossen Aufwand verbunden sein könnte, vermag der Rekursgegner nichts zu seinen Gunsten abzuleiten. Er hat es sich selber zuzuschreiben, wenn er seine verschiedenen Funktionen nicht hinreichend auseinandergehalten hat und ihm daraus nun ein zusätzlicher Aufwand entsteht. | null | nan | de | 1,988 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e6295bb-8b79-4617-90ed-80efcba10733 | Urteilskopf
122 IV 360
55. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. November 1996 i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
;
Art. 21 ff. StGB
; Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, mengenmässig schwerer Fall, Versuch.
Die Verurteilung wegen eines mengenmässig schweren Falles ist geknüpft an eine objektive und an eine subjektive Voraussetzung. Die subjektive allein genügt nicht, auch nicht für den Versuch des qualifizierten Falles (E. 2; Bestätigung der Rechtsprechung). | Sachverhalt
ab Seite 360
BGE 122 IV 360 S. 360
A.-
A. war am 30. November 1992 im Besitz von 49,1 Gramm Kokain.
Am 19. April 1994 sprach ihn das Obergericht des Kantons Zürich zweitinstanzlich schuldig des untauglich versuchten Verbrechens im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 Abs. 5 in Verbindung mit
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
und in Verbindung mit
Art. 23 Abs. 1 StGB
. Es verurteilte ihn zu 15 Monaten Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von 3 Jahren.
BGE 122 IV 360 S. 361
In Gutheissung einer von A. eingereichten kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde hob das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 3. Oktober 1994 das Urteil des Obergerichts auf und wies die Sache an dieses zurück.
Am 7. Juli 1995 erklärte das Obergericht A. erneut des untauglich versuchten Verbrechens im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 Abs. 5 in Verbindung mit
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
und in Verbindung mit
Art. 23 Abs. 1 StGB
schuldig. Es sprach die gleiche Strafe aus wie in seinem ersten Urteil, setzte aber die Probezeit auf 2 Jahre fest.
Eine von A. dagegen erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 19. Juni 1996 ab, soweit es darauf eintrat.
B.-
A. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts vom 7. Juli 1995 aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft haben auf Gegenbemerkungen verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
a) In ihrem ersten Urteil (ZR 1994 Nr. 43) führte die Vorinstanz aus, eine Analyse des sichergestellten Kokains habe ergeben, dass in der Bruttomenge von 49,1 Gramm ein Anteil von 27 Prozent oder 13,3 Gramm reinen Kokains enthalten sei. Die von der Praxis entwickelte Grenze von 18 Gramm reinen Stoffes für die Anwendung von
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
sei damit nicht erreicht.
Das Bundesgericht habe erklärt, selbst wenn der Täter gemeint haben sollte, er habe mit reinem Stoff zu tun, würde das seine Strafbarkeit nicht begründen. Die subjektive Vorstellung des Täters könne nach Auffassung des Bundesgerichtes die fehlende objektive Voraussetzung nicht ersetzen; es bestehe insoweit eine Analogie zum Wahndelikt.
Die Vorinstanz ist der Ansicht, abweichend vom Bundesgericht sei nicht die Parallele zum Wahndelikt zu ziehen, sondern jene zum untauglichen Versuch. Wenn ein Drogenhändler meine, seinem Käufer eine bestimmte Menge reinen Stoffes zu verkaufen, während er in seinem Sack in Wirklichkeit nur Mehl oder nur stark verschnittenen Stoff habe, handle es sich um einen untauglichen Versuch. Dieses Verhalten sei nicht straffrei, auch wenn es wegen des
BGE 122 IV 360 S. 362
fehlenden oder geringeren objektiven Unrechtsgehaltes milder sanktioniert werde. Es sei gerade das Wesen des untauglichen Versuches, dass die subjektive Vorstellung des Täters und die objektive Tatbestandsvoraussetzung auseinanderfielen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes bedeute die Aufhebung von
Art. 23 StGB
. Sie müsse auf einem Versehen beruhen, und es sei ihr nicht zu folgen.
Der Beschwerdeführer habe über seine Vorstellung zum Reinheitsgehalt des Kokains keine Angaben gemacht. Deshalb sei anzunehmen, er sei von einer gassenüblichen Qualität ausgegangen. Der Gehalt von rund einem Viertel reinen Kokains sei tief. Es sei gerichtsnotorisch, dass sich die Bandbreite beim Handel grob zwischen einem und drei Vierteln bewege. Der Beschwerdeführer habe also mindestens eventuell damit gerechnet, dass von den knapp 50 Gramm Stoff mehr als die kritischen 18 Gramm reines Kokain seien. Damit sei der schwere Fall von
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
gegeben, wenn auch nur in der Form des untauglichen Versuches nach
Art. 23 Abs. 1 StGB
.
In ihrem zweiten Urteil hält die Vorinstanz an dieser Auffassung fest. Fragen könne man sich nur, ob angesichts der lediglich quantitativen Abweichung der Vorstellung des Täters vom wirklichen Sachverhalt nicht ein untauglicher, sondern sogar ein tauglicher Versuch vorliege. Um letztlich unfruchtbare dogmatische Streitigkeiten zu vermeiden, werde in diesem Punkt von vornherein zugunsten des Beschwerdeführers entschieden (da
Art. 23 Abs. 1 StGB
eine weitergehende Strafmilderung erlaube als
Art. 22 Abs. 1 StGB
).
b) Der Beschwerdeführer bringt vor, an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei festzuhalten. Es gehe nicht an, mit der von der Vorinstanz gegebenen Begründung die einschneidende Strafrahmenänderung von Art. 19 Ziff. 1 zu
Art. 19 Ziff. 2 BetmG
vorzunehmen.
2.
a) Wer die in
Art. 19 Ziff. 1 BetmG
umschriebenen Handlungen vorsätzlich begeht, wird mit Gefängnis oder Busse bestraft. In schweren Fällen ist die Strafe Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter einem Jahr, womit eine Busse bis zu einer Million Franken verbunden werden kann. Ein schwerer Fall liegt nach
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
insbesondere vor, wenn der Täter weiss oder annehmen muss, dass sich die Widerhandlung auf eine Menge von Betäubungsmitteln bezieht, welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann.
Nach der Rechtsprechung ist die Annahme eines schweren Falles gemäss Ziff. 2 lit. a geknüpft an eine objektive und an eine subjektive
BGE 122 IV 360 S. 363
Voraussetzung. Die objektive Voraussetzung besteht darin, dass sich die Widerhandlung auf eine Menge von Betäubungsmitteln bezieht, welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann. Die Kokainmenge, welche diese Gefahr bewirken kann, hat der Kassationshof in
BGE 109 IV 143
festgelegt. Er nahm an, 18 Gramm Kokain reichten dafür aus. Diese Gewichtsangabe bezieht sich auf den reinen Drogenwirkstoff. Ist die Grenze von 18 Gramm Kokain nicht erreicht, ist die objektive Voraussetzung der Anwendung von
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
somit nicht erfüllt. Der Qualifikationsgrund nach Ziff. 2 lit. a scheidet damit aus, und zwar auch dann, wenn der Täter irrtümlicherweise meint, das gehandelte Kokain enthalte mindestens 18 Gramm reinen Stoff. Die subjektive Vorstellung des Täters kann die fehlende objektive Voraussetzung nicht ersetzen. Es besteht insoweit eine Analogie zum Wahndelikt (
BGE 119 IV 180
E. 2d, wo Entsprechendes zur 12-Gramm-Grenze bei Heroin gesagt wurde).
b) Daran ist festzuhalten.
Gegen die Auffassung der Vorinstanz spricht folgendes:
Zum einen kann man sich fragen, ob es für die allgemeinen Regeln über den Versuch (
Art. 21 ff. StGB
) im Betäubungsmittelstrafrecht überhaupt noch einen Anwendungsbereich gibt (vgl.
BGE 121 IV 198
E. 2a; PETER ALBRECHT, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht, Sonderband Betäubungsmittelstrafrecht, Art. 19 N. 115 und Art. 26 N. 3). Zum andern betreffen diese Regeln die Frage der Strafbarkeit. Sie bestimmen, wann der Versuch strafbar ist, wie er gegebenenfalls zu bestrafen ist und welche Folgen der Rücktritt hat. Bei der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein nach
Art. 19 Ziff. 1 BetmG
tatbestandsmässiges Verhalten einen schweren Fall im Sinne von Ziff. 2 lit. a darstellt und deshalb mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu ahnden ist, geht es demgegenüber nicht um die Strafbarkeit, sondern um Strafzumessung. Ziff. 2 lit. a. ist eine Strafzumessungsregel. Sie nennt Umstände, welche zur Anwendung des höheren Strafrahmens von einem bis zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe führen, nicht Tatbestandsmerkmale (vgl. MARTIN SCHUBARTH, Qualifizierter Tatbestand und Strafzumessung in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts, BJM 1992, S. 57 ff.). Letztere beschreiben die gesetzlich erfasste Rechtsgutsbeeinträchtigung und bestimmen das strafbare Geschehen als Gegenstand der Strafzumessung. Strafzumessungsregeln dagegen enthalten einen Massstab für die Bewertung dieses Gegenstandes (MAURACH/GÖSSEL/ZIPF, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Aufl., Heidelberg
BGE 122 IV 360 S. 364
1989, S. 37). Im Stadium dieser Bewertung kann die Frage des Versuchs, die sich gegebenenfalls bei der Tatbestandsmässigkeit stellt, nicht mehr aufgeworfen werden. Es ist denn auch widersprüchlich, in Fällen wie hier wegen Versuchs zu bestrafen, obwohl die Tat - Besitz und Aufbewahren von Betäubungsmitteln - vollendet ist.
Ziff. 2 lit. a setzt für die Anwendung des höheren Strafrahmens zweierlei voraus: (1) Die Widerhandlung muss sich auf eine Menge von Betäubungsmitteln beziehen, welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann; (2) der Täter muss dies wissen oder annehmen. Der Wechsel des Strafrahmens ist somit nach dem klaren Gesetzeswortlaut geknüpft an eine objektive und an eine subjektive Voraussetzung. Die subjektive allein genügt, wie bereits hervorgehoben (E. 2a in fine), nicht.
3.
(Kostenfolgen). | null | nan | de | 1,996 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2e64d1ca-1363-4e9d-91fa-fa689672df2d | Urteilskopf
136 V 322
37. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour de droit social dans la cause Caisse de pensions X. contre A. et consorts (recours en matière de droit public)
9C_434/2009 du 6 octobre 2010 | Regeste
Art. 53b Abs. 1 BVG
; Teilliquidation einer Gemeinschaftsstiftung.
Bei der reglementarischen Umschreibung der Teilliquidationsvoraussetzungen können Gemeinschaftseinrichtungen - im Hinblick auf ihre jeweilige Eigenart - zusätzliche Umstände vorsehen, die zu einer Umkehr der gesetzlichen Vermutung nach
Art. 53b Abs. 1 BVG
führen (so beispielsweise eine Reduktion des Versichertenbestandes oder eine Verminderung des Gesamtdeckungskapitals; E. 8-10). | Sachverhalt
ab Seite 323
BGE 136 V 322 S. 323
A.
A.a
Par contrat de vente du 6 juillet 2005, la société Y. SA, entreprise appartenant à X. et comptant une soixantaine de salariés, a transféré à la société Z. SA avec effet rétroactif au 30 avril 2005, l'un de ses trois secteurs de production (V.), lequel comptait 26 collaborateurs.
Les rapports de travail de 23 sur 26 collaborateurs de l'unité précitée de Y. SA furent transférés à Z. SA avec pour conséquence un changement d'institution de prévoyance au 1
er
janvier 2006 pour les salariés concernés, lesquels ont quitté la Caisse de pensions X. et ont intégré celle de Z. SA.
A.b
Par courrier du 18 septembre 2006, Me Marc Nufer, avocat, agissant au nom des salariés transférés de Y. SA à Z. SA, requit de la Caisse de pensions X. qu'elle procède à une liquidation partielle en raison de la restructuration de Y. SA. Il demanda par ailleurs qu'une proposition et un plan de répartition des réserves et des fonds libres (y compris les provisions et les réserves de fluctuation) fussent soumis aux employés transférés.
La Caisse de pensions X. s'y refusa par réponse du 10 octobre 2006, faisant valoir que le détachement de personnes intervenu à la suite de la vente d'une division de Y. SA à Z. SA ne permettait pas, selon son règlement de liquidation partielle en cours d'approbation, de procéder à une liquidation partielle faute d'un nombre de personnes suffisant au regard de l'effectif de X.
A.c
Par décision du 15 décembre 2006, l'Autorité de surveillance des institutions de la prévoyance et des fondations du canton de Neuchâtel, Office de surveillance (ci-après: l'Autorité de surveillance),
BGE 136 V 322 S. 324
organe de surveillance de la Caisse de pensions X., approuva le règlement de liquidation partielle du 16 novembre 2006 de ladite Caisse. L'approbation de ce règlement fit l'objet de publications dans la Feuille officielle suisse du commerce (FOSC) le 4 janvier 2007, dans la Feuille Officielle du canton de Neuchâtel et dans la Feuille des Avis Officiels du canton de Vaud le 5 janvier 2007 indiquant un délai de recours de 30 jours à compter desdites publications. La décision d'approbation du règlement ne fut pas contestée.
A.d
Le 1
er
février 2007, Me Nufer s'adressa à l'Autorité de surveillance en lui demandant de rendre une décision obligeant la Caisse de pensions X. à procéder à une liquidation partielle. L'Autorité de surveillance répondit le 2 mars 2007 qu'au regard des 10'190 personnes constituant l'effectif total de la Caisse de pensions X., le transfert des 26 collaborateurs de Y. SA ne représentait qu'une réduction de 0,21 % (recte: 0,25 %), laquelle n'entraînait pas une liquidation partielle de l'institution de prévoyance. Dans une correspondance ultérieure du 19 avril 2007, l'Autorité de surveillance indiqua que le règlement de liquidation partielle de la Caisse de pensions X., approuvé le 15 décembre 2006 et applicable rétroactivement depuis le 1
er
janvier 2005, ne prévoyait pas de liquidation partielle dans le cas d'espèce et qu'il appartenait à l'institution de prévoyance de se prononcer à ce sujet.
Le 23 mai 2007, agissant au nom de 18 collaborateurs concernés par le transfert de Y. SA à Z. SA, Me Nufer requit une nouvelle fois de l'Autorité de surveillance qu'elle se prononce sur les conditions d'une liquidation partielle et rende une décision susceptible de recours.
A.e
Par décision du 15 juin 2007, l'Autorité de surveillance conclut que les conditions d'une liquidation partielle de la Caisse de pensions X. n'étaient pas remplies.
B.
Agissant au nom de A. et 17 consorts détachés de Y. SA, Me Nufer interjeta un recours contre la décision précitée devant le Tribunal administratif fédéral en concluant, sous suite de frais et dépens, à ce qu'il soit ordonné à la Caisse de pensions X. d'exécuter une procédure de liquidation partielle et d'élaborer un plan de répartition pour la distribution des réserves et des fonds libres (provisions et réserves de fluctuations incluses) en faveur des recourants.
Invitée à se prononcer sur le recours, l'Autorité de surveillance proposa de le rejeter et de confirmer sa décision du 15 juin 2007.
BGE 136 V 322 S. 325
Pour sa part, la Caisse de pensions X. conclut au rejet du recours.
Par arrêt du 3 avril 2009, le Tribunal administratif fédéral a admis le recours dans la mesure où il était recevable, annulé la décision de l'Autorité de surveillance du 15 juin 2007 et lui a renvoyé la cause pour qu'elle rende une nouvelle décision dans le sens des considérants.
C.
La Caisse de pensions X. interjette un recours en matière de droit public contre ce jugement dont elle demande l'annulation, en concluant sous suite de frais et dépens, à ce qu'il soit constaté que les conditions d'une liquidation partielle ne sont pas remplies ainsi qu'à la confirmation de la décision de l'Autorité de surveillance du 15 juin 2007.
Les intimés concluent au rejet du recours et à la confirmation du jugement attaqué.
L'Autorité de surveillance a renoncé à se déterminer.
D.
Par ordonnance du 2 septembre 2009, le juge instructeur a admis la requête d'effet suspensif formée par la recourante.
A la demande du juge délégué à l'instruction, l'Office fédéral des assurances sociales (OFAS) a déposé des observations portant sur la réalisation d'un cas de liquidation partielle. Les parties ont ensuite pu faire usage de la faculté qui leur était accordée de déposer des déterminations.
Le recours a été admis.
Erwägungen
Extrait des considérants:
8.
8.1
Aux termes de l'
art. 53b al. 1 LPP
(RS 831.40), les institutions de prévoyance fixent dans leurs règlements les conditions et la procédure de liquidation partielle. Les conditions pour une liquidation partielle sont présumées remplies lorsque:
a. l'effectif du personnel subit une réduction considérable;
b. une entreprise est restructurée;
c. le contrat d'affiliation est résilié.
Les prescriptions réglementaires concernant les conditions et la procédure de liquidation partielle doivent être approuvées par l'autorité de surveillance (al. 2).
8.2
L'énumération de ces trois états de fait est exhaustive. En outre, il suffit que l'un d'entre eux soit réalisé pour donner lieu à une
BGE 136 V 322 S. 326
liquidation partielle (UELI KIESER, in Commentaire LPP et LFLP, 2010, n° 9 ad
art. 53b LPP
). Afin que les institutions de prévoyance ne procèdent pas à des liquidations partielles de façon arbitraire mais selon des principes uniformes et légaux, les conditions et la procédure de liquidation partielle doivent être fixées au préalable dans le règlement de l'institution, lequel doit être soumis à l'autorité de surveillance pour approbation constitutive (PETER/ROOS, Konkretisierung der Teilliquidationstatbestände im Reglement, L'Expert-comptable suisse, 2008, p. 694).
8.3
La jurisprudence a posé pour principe qu'une réduction de 10 % de l'effectif du personnel devait être considérée, de façon générale, comme une réduction considérable de l'effectif de celui-ci donnant lieu à liquidation partielle de l'institution de prévoyance, étant toutefois précisé que ce principe ne saurait être appliqué de manière schématique à toute entreprise, indépendamment de sa taille. En effet, pour une entreprise comptant peu de personnel, le chiffre de 10 % apparaît manifestement trop faible puisqu'il faudrait procéder à une liquidation partielle chaque fois que quelques collaborateurs quittent l'entreprise. A l'inverse, il serait contraire au but de la loi d'attendre qu'une grande société multinationale licencie plusieurs centaines, voir plusieurs milliers de collaborateurs avant d'opérer une liquidation partielle (cf. arrêts du Tribunal fédéral 2A.699/2006 du 11 mai 2007 consid. 3.2, in PJA 2008 p. 360; 2A.576/2002 du 4 novembre 2003 consid. 2.2; voir aussi KIESER, op. cit., n° 15 s. ad
art. 53b LPP
).
Quant à la notion de "restructuration d'entreprises" au sens du droit de la prévoyance, elle contient deux aspects qui doivent être remplis de manière cumulative(KIESER, op. cit., n° 17 ad
art. 53b LPP
). D'un point de vue qualitatif, on entend par restructuration une réorganisation stratégique de l'entreprise caractérisée soit par l'établissement de nouvelles activités de base, soit par l'abandon, la vente ou toute autre modification d'un ou de plusieurs domaines d'activité. Il peut également y avoir restructuration lorsqu'une entreprise abandonne certains services internes et les externalise. En revanche, le seul réaménagement des structures de direction, sans réduction du personnel, ne saurait être interprété comme une restructuration (ISABELLE VETTER-SCHREIBER, Berufliche Vorsorge, 2009, n
os
14 ss ad
art. 53b LPP
; FRITZ STEIGER, Die Teilliquidation nach Art. 53b BVG, PJA 2007 p. 1055 s.). D'un point de vue quantitatif, on entend par restructuration une modification de l'effectif des assurés. Lorsque la
BGE 136 V 322 S. 327
restructuration affecte à la baisse l'effectif du personnel, on se trouve dans une situation de "réduction considérable de l'effectif du personnel" (cf. Message du 1
er
mars 2000 concernant la 1
re
révision de la LPP, FF 2000 2554). Une restructuration peut cependant aussi conduire à des remplacements sans diminution de l'effectif du personnel. C'est le cas par exemple d'une réorganisation impliquant, d'une part, la vente d'une unité de l'entreprise et, d'autre part, le rachat d'une autre unité. Contrairement à l'état de fait visé par l'
art. 53b al. 1 let. a LPP
, la restructuration d'une entreprise n'exige donc pas une réduction considérable de l'effectif du personnel.
8.4
En l'espèce, la caisse de prévoyance X. a concrétisé comme suit les conditions d'une liquidation partielle dans son règlement du 16 novembre 2006:
Article 1
1. Conditions
1.1. Les conditions pour une liquidation partielle sont présumées remplies lorsque:
a) l'effectif du personnel de X. en Suisse subit une réduction considérable;
b) une restructuration conduit à une diminution considérable du personnel;
c) (...)
1.2. Une diminution du personnel de X. est considérable si elle est d'au moins 15 % et qu'elle conduit à une réduction d'au moins 15 % des engagements individuels.
Il s'agit d'une restructuration si des domaines d'activité de X. sont abandonnés, vendus, ou ont été modifiés d'une autre façon de manière significative et que cela a provoqué une diminution de l'effectif de X. d'au moins 15 % et conduit à une réduction des engagements d'assurance d'au moins 15 %.
1.3. Sont déterminants la diminution du personnel ou la réduction des engagements d'assurance qui se produisent dans une période de 12 mois après la décision des organes compétents de l'entreprise. Si les mesures de restructuration prévoient elles-mêmes une période plus longue ou plus courte, c'est cette période qui est déterminante.
9.
Les premiers juges ont retenu qu'il n'était pas conforme au droit de lier l'existence d'un motif de liquidation pour réduction considérable de l'effectif du personnel avec celui de restructuration d'entreprise car un cas de restructuration entraînant nécessairement une liquidation partielle pouvait résulter de l'acquisition d'une entreprise
BGE 136 V 322 S. 328
avec simultanément la vente d'une autre sans qu'il y ait au final une réduction importante du nombre des assurés de l'institution de prévoyance. Dans la mesure où l'art. 1 ch. 1.1 let. b du règlement de liquidation n'ouvrait pas la porte à une liquidation partielle en cas de restructuration sans changement du nombre des assurés, il n'était pas conforme à l'
art. 53b al. 1 LPP
. Par ailleurs, le seuil de 15 % exigé par le règlement pour admettre une réduction considérable de l'effectif du personnel était trop élevé au regard de la jurisprudence. Enfin, les premiers juges ont considéré que l'unité de référence pour décider de la réalisation des conditions menant à la liquidation partielle d'une fondation commune était chaque entité économique du groupe et non l'effectif total de la fondation commune.
10.
10.1
Dans leur règlement de liquidation, les institutions de prévoyance doivent adapter concrètement les conditions d'une liquidation partielle à leurs spécificités. Elles jouissent à cet égard d'une certaine latitude de jugement dans l'application de notions juridiques indéterminées, en particulier les notions de "réduction considérable de l'effectif du personnel" et de "restructuration". La marge discrétionnaire de l'institution de prévoyance est toutefois limitée par deux principes généraux applicables en cas de liquidation partielle, soit le principe de la bonne foi (
art. 2 al. 2 CC
), qui exige que la fortune de l'institution suive le personnel, et le principe de l'égalité de traitement (
art. 8 al. 1 Cst.
), qui interdit de favoriser un groupe de destinataires au détriment d'un autre (
ATF 133 V 607
consid. 4.2.1 p. 610;
ATF 128 II 394
consid. 3.2 p. 396;
ATF 119 Ib 46
consid. 4c p. 54; PETER/ROOS, op. cit., p. 694; ROLF WIDMER, Aufteilung der freien Stiftungsmittel, in Teilliquidationen von Vorsorgeeinrichtungen, 2000, p. 60). Sous l'angle du principe de l'égalité de traitement, il serait problématique que les assurés quittant l'institution de prévoyance avant la survenance d'un cas d'assurance n'aient droit qu'à leur prestation de libre passage, sans pouvoir bénéficier de l'excédent d'actif auquel ils ont pourtant contribué par le biais de leurs cotisations. A l'inverse, les assurés sortants devront participer à un éventuel déficit d'actif car il serait aussi contraire au principe de l'égalité de traitement que celui-ci soit réparti uniquement sur les assurés restants (cf.
ATF 135 V 113
consid. 2.1.6 p. 119;
ATF 133 V 607
consid. 4.2.1 p. 610;
ATF 128 II 394
consid. 3.2 p. 397).
10.2
Dans sa prise de position du 19 juillet 2007, l'OFAS s'est prononcé sur différents points concernant la liquidation partielle; il a
BGE 136 V 322 S. 329
notamment précisé, à l'attention des institutions de prévoyance qui servent des prestations, le contenu minimal des dispositions réglementaires relatives aux conditions de liquidation partielle que celles-ci devaient établir (cf. ch. 590 du Bulletin de la prévoyance professionnelle n° 100 du 19 juillet 2007). Principalement, les différentes suppositions de fait figurant à l'
art. 53b al. 1 LPP
doivent être spécifiées dans le règlement; il ne suffit cependant pas de reprendre l'
art. 53b al. 1 LPP
tel quel, mais il appartient bien plutôt aux institutions de prévoyance d'adapter concrètement les conditions de liquidation partielle à leur spécificités. En ce qui concerne les institutions communes, il peut se justifier, dans certains cas particuliers, de prévoir un critère complémentaire (p. ex. une diminution de l'effectif des assurés, une diminution du total du capital de couverture) dans les trois états de fait (réduction considérable de l'effectif du personnel, restructuration d'entreprise, résiliation du contrat d'affiliation; cf.VETTER-SCHREIBER, op. cit., n
os
6 s. et 17 ad
art. 53b LPP
).
Les différentes circonstances retenues à l'
art. 53b al. 1 LPP
ne fondent qu'une présomption. Telles qu'elles sont formulées (let. a et b), ces hypothèses visent essentiellement des états de fait propres aux institutions de prévoyance individuelles, particulières à un employeur. Aussi, les particularités spécifiques à d'autres institutions de prévoyance, notamment aux institutions communes, autorisent celles-ci à prévoir dans leur règlement des circonstances selon lesquelles les conditions pour une liquidation partielle ne sont pas remplies ou, en d'autres termes, qui entraînent le renversement de la présomption de l'
art. 53b al. 1 LPP
. Des considérations d'ordre pratique et de proportionnalité militent également dans ce sens, car les grandes institutions de prévoyance communes se trouveraient sinon perpétuellement en liquidation partielle après le départ d'une partie relativement importante du personnel d'un seul employeur (HANS ENDER, Teilliquidation von Gemeinschaftsvorsorgeeinrichtungen, Prévoyance Professionnelle Suisse [PPS] 1996 n° 1 p. 35 ss; HELGA KOPPENBURG, Teilliquidationen bei Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen, in Teilliquidationen von Vorsorgeeinrichtungen, 2000, p. 94; STEIGER, op. cit., p. 1056). A cet égard, sous l'empire des instructions concernant l'examen de la résiliation des contrats d'affiliation et de la réaffiliation de l'employeur (Bulletin de la prévoyance professionnelle n° 24 du 23 décembre 1992), la pratique avait déjà admis, bien que cela ne ressortît pas expressément de la prise de position
BGE 136 V 322 S. 330
de l'OFAS, que l'hypothèse d'une liquidation partielle pouvait être réfutée si la preuve était apportée qu'en définitive seul un petit nombre d'assurés était touché par la résiliation d'un contrat d'affiliation. Dans ce cas en effet, une liquidation partielle apparaissait disproportionnée (
ATF 135 V 113
consid. 2.1.5 p. 118).
10.3
Dans son règlement, la recourante a prévu qu'à défaut d'une diminution du personnel de X. (en Suisse) d'au moins 15 % conduisant à une réduction d'au moins 15 % des engagements individuels, de même qu'à défaut d'une restructuration entraînant les mêmes conséquences en termes d'effectifs d'assurés et d'engagements d'assurance, les conditions pour une liquidation partielle n'étaient pas remplies. Fondation commune autonome, la recourante a ainsi ancré dans son règlement, pour tenir compte de ses spécificités, deux hypothèses liées à l'effectif des personnes assurées et aux capitaux de couverture renversant la présomption légale de l'
art. 53b al. 1 LPP
.
Les seuils élevés (15 %) retenus par la recourante pour chacune des circonstances lui permettant de ne pas entrer en liquidation partielle sont-ils encore compatibles avec les principes généraux de la bonne foi et de l'égalité de traitement applicables en cas de liquidation partielle (cf. consid. 10.1 supra)? Dans le cas d'espèce, la question peut rester ouverte. La réduction de l'effectif au sein de la société Y. SA ne représente même pas une réduction de 1 % de l'effectif du personnel de X. et, au regard des 10'190 assurés actifs que compte la Caisse de pensions X., ne correspond qu'à une diminution de 0,25 % des engagements d'assurance.
10.4
Dans la mesure où l'art. 1 ch. 1.1 let. b du règlement prévoit un cumul des critères visés par l'
art. 53b al. 1 let. a et b LPP
, il est contraire au système légal (cf. consid. 8.2 supra). Pour autant, on ne saurait en conclure que le transfert de la division commerciale V. de la société Y. SA à la société Z. SA doive entraîner une liquidation partielle de la Caisse de pensions X. S'il ne fait aucun doute que ce transfert constitue une mesure de réorganisation d'un point de vue qualitatif, le critère quantitatif de la restructuration, à savoir une modification de l'effectif des assurés (entre 1 et 5 % selon les premiers juges) n'est clairement pas rempli. N'ayant entraîné qu'une fluctuation de 0,25 % des assurés de la fondation, le départ des employés de la société Y. SA ne peut être retenu comme une modification de l'effectif des assurés liée à une restructuration justifiant une liquidation partielle. | null | nan | fr | 2,010 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2e694a1f-56c7-4880-ac7d-ee1f392a155f | Urteilskopf
109 II 295
63. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. Oktober 1983 i.S. F. gegen Vormundschaftskommission der Stadt Bern (Berufung) | Regeste
Art. 374 ZGB
.
Die Anhörung im Sinne von
Art. 374 ZGB
stellt nicht nur ein Verteidigungsrecht des zu Bevormundenden dar, auf das dieser beliebig verzichten kann, sondern sie bildet auch ein Mittel zur Erforschung des Tatbestandes, dessen sich die Behörde allenfalls auch gegen den Willen des Interdizenden bedienen soll. | Erwägungen
ab Seite 296
BGE 109 II 295 S. 296
Aus den Erwägungen:
2.
Nach
Art. 374 Abs. 1 ZGB
darf eine Person wegen Verschwendung, Trunksucht, lasterhaften Lebenswandels oder der Art und Weise ihrer Vermögensverwaltung nicht entmündigt werden, ohne dass sie vorher angehört worden ist. Wie sich indirekt aus Abs. 2 dieser Bestimmung schliessen lässt, gilt die Anhörungspflicht auch bei der Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche, es sei denn, die Anhörung sei aus medizinischen Gründen nicht geboten (
BGE 87 II 131
E. 2,
BGE 70 II 75
/76). Der Berufungskläger rügt, er sei nie angehört worden.
Es ist richtig, dass der Berufungskläger im kantonalen Verfahren weder von der Vormundschaftskommission noch vom Richter einvernommen worden ist, obwohl ihn das Gutachten der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Bern als einvernahmefähig bezeichnet hatte. Das Zivilamtsgericht hatte ihn zwar persönlich zur Hauptverhandlung vorgeladen. Er erschien jedoch nicht, weshalb es ihn für säumig erklärte und das Verfahren auf einseitigen Antrag der Vormundschaftskommission weiterführte. Vor dem Appellationshof fand keine mündliche Verhandlung statt.
Mit dem Hinweis auf die unentschuldigte Abwesenheit des Berufungsklägers hätte sich das Zivilamtsgericht indessen nicht begnügen dürfen. Die Anhörung im Sinne von
Art. 374 ZGB
stellt nicht nur ein Verteidigungsrecht des zu Bevormundenden dar, auf das dieser beliebig verzichten kann, sondern sie bildet auch ein Mittel zur Erforschung des Tatbestandes (EGGER, N. 1/2, und SCHNYDER/MURER, N. 11, zu
Art. 374 ZGB
). Ob sich die kantonale Behörde dieses Beweismittels bedienen will, kann nicht im Belieben des zu Bevormundenden liegen. Aufgrund der Offizialmaxime ist die Behörde vielmehr verpflichtet, diesen allenfalls auch gegen seinen Willen einzuvernehmen. Leistet er der Vorladung keine
BGE 109 II 295 S. 297
Folge, so darf die Entmündigung daher in der Regel nicht einfach gestützt auf die Akten ausgesprochen werden, sondern die Behörde hat sich darum zu bemühen, dass die Einvernahme trotzdem stattfinden kann (EGGER, N. 13, und SCHNYDER/MURER, N. 71, zu
Art. 374 ZGB
). Zum mindesten hat sie den Interdizenden unter den nach dem kantonalen Recht zulässigen Androhungen ein zweites Mal vorzuladen. Der Umstand, dass sich dieser wie hier zwangsweise in einer Anstalt befindet, entbindet die Behörde nicht von der Anhörung, kann diese doch auch dort durchgeführt werden, allenfalls durch eine Behördendelegation.
Im vorliegenden Fall war der Berufungskläger im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Verhandlung freilich aus der Anstalt St. Johannsen in Le Landeron, in die er durch Verfügung des Regierungsstatthalters II von Bern vom 11. April 1983 auf unbestimmte Zeit eingewiesen worden war, entwichen. Er war indessen nicht etwa unauffindbar. Wie sich aus der Vernehmlassung der Vormundschaftskommission ergibt, war er einfach in seine Wohnung zurückgekehrt. Während des Appellationsverfahrens befand er sich offenbar bereits wieder in der Anstalt. Unter diesen Umständen hätte sich der Appellationshof nicht mit der Bestätigung des erstinstanzlichen Säumnisurteils zufrieden geben dürfen. Wenn er die Anhörung nicht selbst vornehmen wollte oder konnte, hätte er das Zivilamtsgericht wenigstens dazu anhalten müssen, den Berufungskläger nochmals vorzuladen. Dass eine zweite Vorladung zum vornherein sinnlos gewesen wäre, kann nicht gesagt werden. Der Entmündigungsentscheid verstösst somit gegen
Art. 374 ZGB
, weshalb er aufzuheben und die Sache an den Appellationshof zurückzuweisen ist, damit dieser das Versäumte nachhole. Die persönliche Einvernahme wird es dem Richter im übrigen auch ermöglichen, den Berufungskläger, der nur eine unklare Vorstellung vom Institut der Vormundschaft zu haben scheint, über den Sinn dieser Massnahme aufzuklären. | public_law | nan | de | 1,983 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e6a5378-1a40-470e-aa10-07d9a6a93b3b | Urteilskopf
112 Ia 119
21. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 24. Juli 1986 i.S. X. gegen Firma Y., Baukommission Meilen und Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 4 BV
; Legitimation des Nachbarn zur Anfechtung einer Baubewilligung.
1. Kantonale Vorschriften, welche das Erfordernis der Zugangsmöglichkeiten zu Bauten näher umschreiben, stellen kein Ausführungsrecht zum RPG dar. Dementsprechend richtet sich die Legitimation zur Anfechtung einer Baubewilligung ausschliesslich nach kantonalem Recht.
2. Die Zürcher Praxis, wonach die Rechtsmittelbefugnis des Nachbarn in Bausachen davon abhängt, ob für ihn einerseits eine hinreichend enge nachbarliche Raumbeziehung zum Baugrundstück bestehe und ob er anderseits durch die Erteilung der Baubewilligung mehr als irgend jemand oder die Allgemeinheit in eigenen Interessen berührt sei, ist nicht verfassungswidrig; sie deckt sich mit der Praxis des Bundesgerichts zu
Art. 103 lit. a OG
. | Sachverhalt
ab Seite 120
BGE 112 Ia 119 S. 120
X. ist Mieter einer Wohnung an der Strasse "Auf der Hürnen" in Meilen. Diese Strasse ist nach seiner Darstellung 5 m bis 5,30 m breit. Sie zweigt von der Burgstrasse ab und dient in erster Linie der Feinerschliessung der angrenzenden, überwiegend bereits überbauten Wohnhausliegenschaften. Sie endet mit einem Kehrplatz nach ungefähr 300 m. An den Kehrplatz schliesst die Zufahrt zum Wohnhaus Nr. 83 der Firma Y. an. Dieses Haus soll teilweise umgebaut und mit einem Dachaufbau versehen werden. Der von der Baukommission Meilen am 10. Juli 1984 bewilligte Um- und Aufbau bezweckt, ohne Einrichtung einer neuen Wohnung zusätzliche Wohnfläche von rund 80 m2 zu schaffen.
X., dessen Wohnung ohne Sichtverbindung rund 150 m vom Haus Nr. 83 entfernt ist, erhob Einsprache und Beschwerde gegen das Um- und Ausbauvorhaben der Firma Y. Zur Begründung machte er im wesentlichen geltend, die Strasse "Auf der Hürnen" stelle eine ungenügende Erschliessung dar; die Zugänglichkeit sei nicht hinreichend im Sinne von § 237 des Zürcher Planungs- und Baugesetzes (PBG). Namentlich genüge die Fahrbahnbreite von 5 m nicht. Zufolge der parkierten Autos sei ein Kreuzen erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. Wegen des Fehlens eines Trottoirs seien die Fussgänger, namentlich die Kinder, die zur Hauptsache gefährdeten Personen. Als Anwohner werde er durch das beanstandete Um- und Ausbauvorhaben mehr als irgend jemand berührt, da es einen Mehrverkehr von 1 bis 2 Autos nach sich ziehe.
BGE 112 Ia 119 S. 121
Die Baurekurskommission II trat auf den von X. erhobenen Rekurs ein, wies ihn jedoch als unbegründet ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich stellte demgegenüber fest, dass die Rekurskommission auf die Beschwerde gar nicht hätte eintreten dürfen. Es bezeichnete diese als Popularbeschwerde und verneinte ein schutzwürdiges Anfechtungsinteresse des Beschwerdeführers im Sinne von
§ 338a PBG
.
Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 31. Januar 1986 gelangte X. mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
an das Bundesgericht. Er ist der Meinung, das Verwaltungsgericht sei in willkürlicher Weise auf seine Beschwerde nicht eingetreten und habe damit seinen Anspruch auf rechtliches Gehör missachtet. Er beantragt die Aufhebung des Beschlusses und die Rückweisung der Sache zur materiellen Beurteilung.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Der Beschwerdeführer beruft sich bei seiner Kritik des angefochtenen Entscheids u.a. auf den Grundsatz des eidgenössischen Raumplanungsrechts, wonach Baubewilligungen nur erteilt werden dürfen, wenn das Land erschlossen ist (Art. 22 Abs. 2 lit. b des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1979 über die Raumplanung, RPG). Es ist nicht klar, ob er damit zum Ausdruck bringen will, die von ihm angefochtene Baubewilligung der Baukommission Meilen vom 10. Juli 1984 sei eine Verfügung, die sich auf das RPG und seine kantonalen Ausführungsbestimmungen stütze (
Art. 33 Abs. 2 RPG
). Sollte dies der Fall sein, so könnte seiner Auffassung nicht gefolgt werden. Die Baubewilligung für den Um- und Aufbau des bestehenden Wohnhauses auf der erschlossenen Liegenschaft "Auf der Hürnen" 83 ist ausschliesslich in Anwendung kommunalen und kantonalen öffentlichen Baurechts erteilt worden. Kantonale Ausführungsbestimmungen im Sinne von
Art. 33 RPG
sind solche, die zur Hauptsache raumplanerische Züge tragen, indem sie der zweckmässigen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedlung des Landes dienen (vgl. EJPD/BRP, Erläuterungen zum RPG, N. 16 zu Art. 33). Dies trifft für die von den Baubehörden in der vorliegenden Sache angewandten Bauvorschriften, die den Um- und Ausbau eines bestehenden, in der Wohnzone W 3 gelegenen Wohnhauses regeln, nicht zu.
Auch wenn das betreffende kantonale und kommunale Recht die Zugänglichkeit zu Bauten und Anlagen im Sinne von
§ 237
BGE 112 Ia 119 S. 122
PBG
näher umschreibt, wird es deswegen nicht zu Ausführungsrecht zur Grundsatzgesetzgebung des Bundes. Es stellt weder die Baubewilligungspflicht (
Art. 22 Abs. 1 RPG
) noch die Mindestvoraussetzungen für die Bewilligung (
Art. 22 Abs. 2 RPG
) in Frage. Dass das der Wohnzone W 3 zugewiesene, fast vollständig überbaute Quartier beidseits der Strasse "Auf der Hürnen" erschlossen ist, anerkennt der Beschwerdeführer. Er ist aber der Meinung, der Ausbau der Strasse vermöge den heutigen Anforderungen des Strassenverkehrs nicht zu genügen. Die Festlegung der Ausmasse der Erschliessungsanlagen und die Umschreibung der genügenden Zugänglichkeit ist indes Sache des in
Art. 22 Abs. 3 RPG
vorbehaltenen kantonalen Rechts.
Verhält es sich so, hat das kantonale Recht nicht bereits von Bundesrechts wegen die Legitimation im gleichen Umfange wie für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zu gewährleisten (ALFRED KUTTLER, Fragen des Rechtsschutzes gemäss dem Bundesgesetz über die Raumplanung, ZBl 83/1982, S. 334). Auch steht das Bundesrecht einer kantonalen Praxis, die eine mit
Art. 103 lit. a OG
im wesentlichen übereinstimmende Vorschrift des kantonalen Prozessrechts in einem gegenüber der Rechtsprechung des Bundesgerichts engeren Sinne anwendet, nicht entgegen, sofern die Schranke der Willkür respektiert wird (BGE vom 26. Februar 1982, ZBl 83/1982, S. 302 E. 2b).
4.
Der Ausgang der Sache hängt somit davon ab, ob das Verwaltungsgericht in willkürlicher Anwendung von
§ 338a PBG
die Beschwerdelegitimation des Beschwerdeführers verneint hat. Nach der Rechtsprechung liegt Willkür nicht schon dann vor, wenn eine andere Lösung in Betracht zu ziehen oder sogar vorzuziehen wäre; das Bundesgericht weicht nur vom Entscheid der kantonalen Behörde ab, wenn dieser offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (
BGE 111 Ia 19
, 178, mit Hinweisen). Von Willkür in diesem Sinne kann nicht die Rede sein.
a) Wie im angefochtenen Entscheid dargelegt wird, hängt nach der Rechtsprechung des Zürcher Verwaltungsgerichts die Rechtsmittelbefugnis des Nachbarn in Bausachen davon ab, ob für ihn einerseits eine hinreichend enge nachbarliche Raumbeziehung zum Baugrundstück bestehe und ob er anderseits durch die Erteilung der Baubewilligung mehr als irgend jemand oder die Allgemeinheit
BGE 112 Ia 119 S. 123
in eigenen Interessen berührt sei. Eine hinreichend enge räumliche Beziehung zum Baugrundstück ist dabei dann gegeben, wenn sich das streitige Bauvorhaben im Sinn des geltend gemachten Anfechtungsinteresses auszuwirken vermag. Ein schutzwürdiges Anfechtungsinteresse setzt sodann voraus, dass die Auswirkungen des beanstandeten Bauvorhabens auf seine Liegenschaft nach Art und Intensität so beschaffen sind, dass sie auch bei objektivierter Betrachtungsweise als Nachteil empfunden werden müssen; eine besondere subjektive Empfindlichkeit des Betroffenen verdient keinen Rechtsschutz.
Diese Rechtsprechung deckt sich in grundsätzlicher Hinsicht mit der Praxis des Bundesgerichts zu
Art. 103 lit. a OG
. Auch für das Bundesgericht vermag nicht jedes beliebige Interesse das ausreichende "Berührtsein" in schutzwürdigen Interessen zu begründen. Mit den Worten der Rechtsprechung muss eine besondere, beachtenswerte, nahe Beziehung zur Streitsache vorliegen. Besondere und andere Interessen als das allgemeine öffentliche Interesse an der richtigen Durchsetzung und einheitlichen Anwendung des Bundesrechts müssen gegeben sein, damit das unmittelbare Berührtsein bejaht werden kann (
BGE 111 Ib 160
;
110 Ib 100
f. E. 1a, je mit Hinweisen).
b) Im Lichte dieser Regel durfte das Verwaltungsgericht die Rechtsmittelbefugnis des Beschwerdeführers verneinen, ohne in Willkür zu verfallen. In seinen entscheidenden Erwägungen führte das Gericht aus, dass bei der Beurteilung der Eintretensfrage summarisch zu untersuchen sei, ob die Einwendungen des Beschwerdeführers überhaupt geeignet sein können, allenfalls eine Rechtsverletzung durch das bekämpfte Bauvorhaben aufzuzeigen. Auch das Bundesgericht geht so vor (BGE vom 2. November 1983, ZBl 85/1984 S. 378 ff. mit redaktioneller Bemerkung). Bei dieser summarischen Prüfung gelangte das Gericht zum Ergebnis, dass die allenfalls mögliche Verkehrszunahme, welche das Um- und Ausbauvorhaben des Beschwerdeführers nach sich ziehen könne, gegenüber dem heute bereits bestehenden Verkehr und gegenüber den auch ohne baurechtlich bedeutsame Veränderung möglichen Verkehrsschwankungen nicht ins Gewicht falle. Diese tatsächliche Feststellung des Verwaltungsgerichts, die vom Bundesgericht nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür zu prüfen ist, ist nicht zu beanstanden.
c) In Wirklichkeit wendet sich der Beschwerdeführer im Sinne einer Popularbeschwerde gegen die nach seiner Meinung untragbaren
BGE 112 Ia 119 S. 124
Verkehrsverhältnisse, die auf der 5 m breiten Strasse "Auf der Hürnen" namentlich zufolge der parkierten Autos bestehen. Er ist der Meinung, die Gemeinde sollte einen Strassenausbau mit Anlegung eines Trottoirs anordnen. Damit macht er jedoch öffentliche Interessen geltend, die er dem verhältnismässig bescheidenen Bauvorhaben der privaten Beschwerdegegnerin gegenüber nicht geltend machen kann. Die aufgrund dieses Vorhabens mögliche Verkehrszunahme durfte das Verwaltungsgericht ohne Willkür als nicht kausal für eine weitere Verschlechterung der Verkehrsverhältnisse bezeichnen. Im übrigen wäre es in erster Linie Sache der Verkehrspolizei, mit in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Anordnungen - etwa Parkierungsverboten - einzugreifen, wenn sich die Verhältnisse als wirklich untragbar erweisen sollten.
Die Beschwerde erweist sich somit klarerweise als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. | public_law | nan | de | 1,986 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2e6b68a4-ac87-4b9a-878a-e23083b7ee87 | Urteilskopf
116 Ia 355
55. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour de droit public du 21 décembre 1990 en la cause Stéphane de Montmollin contre Neuchâtel, Conseil d'Etat (recours de droit public) | Regeste
Art. 31 BV
; Verfassungswidrigkeit der Vorschrift, wonach Architekten ein Geschäftsdomizil im Kanton Neuenburg begründen müssen.
Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist verletzt, wenn die Eintragung ins neuenburgische Register anerkannter Architekten und somit die freie Ausübung des Berufs im Kanton von einem dortigen Gechäftsdomizil abhängig gemacht wird. Eine derartige Beschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit ist nicht geeignet, den vom kantonalen Gesetz verfolgten Zweck, nämlich die Garantie einer minimalen praktischen Erfahrung in der Anwendung- und Reglementsbestimmungen des Kantons, zu erreichen (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 355
BGE 116 Ia 355 S. 355
Ayant obtenu en 1982 son diplôme d'architecte à l'Ecole polytechnique fédérale de Lausanne, Stéphane de Montmollin exploite actuellement un bureau d'architecte à Bienne; il est également associé avec deux autres architectes qui ont ouvert des bureaux à Lausanne, Sainte-Croix et Sion. En raison de ses origines et de ses attaches neuchâteloises, il est fréquemment appelé à intervenir professionnellement pour la construction et la rénovation de bâtiments dans le canton de Neuchâtel.
Le 6 novembre 1989, Stéphane de Montmollin a demandé au Chef du Département des travaux publics du canton de Neuchâtel
BGE 116 Ia 355 S. 356
son inscription permanente au registre des architectes et ingénieurs autorisés à établir dans le canton des projets de plans d'aménagement ou d'alignement cantonaux ou communaux, des plans de propriétaires ou des plans de construction (cf. art. 130 ss de la loi neuchâteloise sur les constructions du 12 février 1957, dans sa version du 22 novembre 1978; ci-après LC). L'art. 130 LC subordonne notamment l'inscription au registre à l'obligation de disposer d'un domicile professionnel sur le territoire cantonal.
Par décision du 10 janvier 1990, le Conseil d'Etat neuchâtelois a rejeté la demande d'inscription de Stéphane de Montmollin au motif que le requérant n'a pas de domicile professionnel dans le canton ainsi que l'exige l'art. 130 al. 1 LC.
Agissant en temps utile par la voie du recours de droit public, Stéphane de Montmollin demande au Tribunal fédéral d'annuler, sous suite de frais et dépens, la décision du 10 janvier 1990 et de renvoyer la cause au Conseil d'Etat pour nouvelle décision. A l'appui de ses conclusions, le recourant invoque une violation des
art. 4 et 31 Cst.
ainsi que de l'art. 5 Disp. trans. Cst.
Le Tribunal fédéral a admis le recours et annulé la décision attaquée.
Erwägungen
Extrait des considérants:
3.
Le recourant invoque, à titre principal, une violation de la liberté du commerce et de l'industrie garantie par l'
art. 31 Cst.
Selon lui, l'exigence du domicile professionnel dans le canton prévue par l'art. 130 al. 1 LC n'est pas justifiée par un intérêt public suffisant, s'avère contraire au principe de la proportionnalité et constitue en réalité une mesure de politique économique prohibée.
a) Les autorités cantonales peuvent restreindre la liberté du commerce et de l'industrie, notamment en adoptant des mesures de police justifiées par un intérêt public pertinent. Selon la jurisprudence, ces mesures de police doivent tendre à sauvegarder la tranquillité, la sécurité, la santé ou la moralité publique, à préserver d'un danger ou à l'écarter, ou encore à prévenir les atteintes à la bonne foi en affaires par des procédés déloyaux et propres à tromper le public (
ATF 114 Ia 36
,
ATF 113 Ia 40
,
ATF 112 Ia 320
). Sous réserve d'habilitation constitutionnelle spéciale (
ATF 111 Ia 23
), sont en revanche prohibées les mesures qui ont pour but d'entraver la libre concurrence, d'avantager certaines entreprises
BGE 116 Ia 355 S. 357
ou certaines formes d'entreprises, et qui tendent à diriger la vie économique selon un plan déterminé (
ATF 111 Ia 186
,
ATF 110 Ia 102
). L'atteinte doit en outre reposer sur une base légale, être justifiée par un intérêt public prépondérant et, selon le principe de la proportionnalité, se limiter à ce qui est nécessaire à la réalisation des buts d'intérêt public poursuivis (
ATF 113 Ia 40
).
S'agissant d'une profession libérale comme celle de l'architecte (
ATF 112 Ia 33
,
ATF 104 Ia 475
), les cantons ont la faculté de la subordonner dans l'intérêt public à des preuves de capacité. Mais ils ne peuvent toutefois prévoir de telles restrictions que dans la mesure où elles sont nécessaires pour atteindre le but poursuivi, à savoir notamment la protection du public contre les personnes incapables (
ATF 112 Ia 325
). Conscient de cette nécessité, le recourant ne met pas en cause, en l'espèce, l'exigence d'un certificat de capacité pour être inscrit au registre des architectes et ingénieurs. Ce qu'il conteste, c'est l'obligation pour tout architecte d'avoir un domicile professionnel dans le canton de Neuchâtel pour pouvoir figurer sur ce registre, même si par ailleurs il satisfait aux exigences légales quant à ses connaissances professionnelles. Il faut donc examiner si l'exigence d'un domicile professionnel se justifie tant du point de vue de l'intérêt public que de l'application du principe de la proportionnalité.
b) Par domicile professionnel, la loi neuchâteloise ne vise, selon la définition qu'en donne le Conseil d'Etat dans sa réponse, que la création d'un bureau dans le canton de Neuchâtel, l'intéressé étant libre par ailleurs de n'exercer sa profession dans le canton qu'à titre accessoire. L'inscription sur la liste des architectes reconnus et sa publication attestent que les autorités reconnaissent à l'intéressé les connaissances et les qualifications professionnelles nécessaires au respect des règles de la construction. Mais, de l'avis du Conseil d'Etat, cette garantie ne peut être offerte qu'aux architectes "qui, non seulement possèdent les connaissances techniques, mais aussi l'expérience pratique de diverses exigences légales et réglementaires, cantonales et communales, en matière de construction"; cette connaissance particulière ne pourrait être acquise qu'en pratiquant dans le canton, d'où la nécessité d'exiger un domicile professionnel. Les architectes ne disposant pas d'un tel domicile dans le canton doivent en revanche, pour quasiment chaque projet touchant à l'exercice de leur profession, demander une autorisation particulière au Conseil d'Etat en vertu de l'art. 133 LC.
BGE 116 Ia 355 S. 358
c) La justification de l'exigence d'un domicile professionnel ne résiste pas à l'examen. Tout d'abord, elle n'indique pas en quoi le fait d'avoir un domicile professionnel sur le territoire neuchâtelois permettrait à l'intéressé d'acquérir les connaissances pratiques nécessaires. Au départ, tout architecte, qu'il ait son bureau dans le canton de Neuchâtel ou en dehors de ce canton, ne peut acquérir les connaissances pratiques dont parle le Conseil d'Etat que par l'exécution des mandats qui lui sont confiés. Or, l'autorité intimée ne songe pas à refuser l'inscription dans le registre aux architectes frais émoulus d'une école d'architecture, mais domiciliés professionnellement dans le canton, sous prétexte qu'ils manquent de connaissances pratiques. De même, le fait d'être domicilié dans un canton tiers n'empêche pas un architecte bien organisé d'assumer efficacement la surveillance des chantiers qui lui sont confiés, à plus forte raison lorsqu'il réside à quelques kilomètres du lieu où s'exerce cette surveillance et de connaître parfaitement les réglementations en vigueur. En conséquence, l'exigence d'un domicile professionnel ne donne pas la garantie que l'architecte reconnu est un professionnel ayant une expérience pratique des exigences légales et réglementaires du canton.
Par ailleurs, si l'architecte en cause est jugé incapable, son autorisation d'exercer la profession, telle qu'elle résulte de l'inscription au registre, pourra lui être retirée en application des art. 130 al. 3 et 132 LC qui prévoient expressément le cas. Dans ces conditions, il n'est pas besoin d'imposer en plus à l'architecte qui est établi à l'extérieur du canton de Neuchâtel mais qui désire y travailler, de choisir entre la constitution d'un domicile professionnel dans le canton (art. 130 LC) avec les frais que cela comporte et la complication de demander de cas en cas des autorisations spéciales qui lui seront toujours accordées s'il s'est révélé compétent (art. 133 LC).
Au surplus, on ne voit pas en quoi l'existence d'un domicile professionnel dans le canton faciliterait le contrôle des conditions fixées par les art. 130 et 132 LC. S'agissant en effet de produire des certificats, des diplômes ou des attestations, le problème peut être résolu par voie postale. Quant aux sanctions consécutives à une "incapacité professionnelle notoire", c'est en général sur la base des plans qui peuvent être facilement obtenus, quel que soit le domicile de l'architecte, et sur son comportement sur le chantier qu'elles peuvent être ordonnées.
BGE 116 Ia 355 S. 359
Il s'ensuit que l'exigence d'un domicile professionnel ne contribue pas à atteindre de manière sensible les buts poursuivis par la loi cantonale; les objectifs de celle-ci peuvent être réalisés par des mesures beaucoup moins gênantes que la création d'un tel domicile, qui risque fort au demeurant de n'être qu'une boîte aux lettres.
d) L'obligation critiquée par le recourant s'avérant ainsi clairement contraire au principe de la proportionnalité et, partant, à l'
art. 31 Cst.
, la décision attaquée peut être annulée sans qu'il soit nécessaire de déterminer si, comme il semble, l'unique but de l'art. 130 al. 1 LC ne consiste pas en réalité à protéger les architectes installés dans le canton de Neuchâtel contre la concurrence de leurs confrères ayant leurs bureaux dans un autre canton. Pour la même raison, il est superflu de contrôler si la restriction attaquée viole aussi le principe de l'égalité de traitement. | public_law | nan | fr | 1,990 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
2e6e34d2-436f-4eb0-b4ae-44d315af3f06 | Urteilskopf
109 V 125
24. Auszug aus dem Urteil vom 5. Mai 1983 i.S. Toffol gegen Kantonale Ausgleichskasse des Wallis und Kantonales Versicherungsgericht, Sitten | Regeste
Art. 29 Abs. 1 IVG
, 88a Abs. 2 und 88bis Abs. 1 IVV.
Bei der gleichzeitigen rückwirkenden Zusprechung einer halben und der diese ablösenden ganzen Rente richtet sich der Zeitpunkt des Wechsels von der halben zur ganzen Rente ausschliesslich nach
Art. 88a Abs. 2 IVV
;
Art. 29 Abs. 1 IVG
und
Art. 88bis Abs. 1 IVV
sind nicht anwendbar (Präzisierung der Rechtsprechung). | Sachverhalt
ab Seite 125
BGE 109 V 125 S. 125
A.-
Mit Urteil vom 6. Juni 1979 hat das Eidg. Versicherungsgericht - wie zuvor die Kantonale Ausgleichskasse des Wallis mit Verfügung vom 7. Dezember 1976 und das Versicherungsgericht des Kantons Wallis mit Entscheid vom 13. Juni 1977 - ein Rentenbegehren des 1918 geborenen Werner Toffol letztinstanzlich abgewiesen. Bereits Ende April 1979 hatte sich der Versicherte erneut bei der Invalidenversicherungs-Kommission gemeldet und eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes durch ärztliche Zeugnisse belegt. Entsprechend einem Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission sprach die Ausgleichskasse dem Versicherten mit zwei Verfügungen vom 18. Dezember 1979 für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1978 eine halbe und ab 1. Juli 1978 eine ganze Rente zu.
B.-
Werner Toffol reichte gegen die Verfügung vom 18. Dezember 1979 über die halbe Rente Beschwerde ein und verlangte rückwirkend ab Juli 1975 eine ganze Rente. Das Versicherungsgericht des Kantons Wallis führte in seinem Entscheid vom 11. Juni 1980 aus, die Rente könne dem Versicherten höchstens für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet werden, da die Neuanmeldung Ende April 1979 erfolgt sei. Die Verwaltung habe ihm denn auch ab April 1978 eine Rente zugesprochen,
BGE 109 V 125 S. 126
jedoch für die ersten drei Monate bloss eine halbe. Somit sei allein zu prüfen, ob der Versicherte für diese drei Monate eine ganze Rente beanspruchen könne. Das Gericht untersuchte einlässlich die Entstehung des Rentenanspruchs nach der Variante II des
Art. 29 Abs. 1 IVG
und gelangte dabei zu einer Bestätigung der angefochtenen Kassenverfügung vom 18. Dezember 1979.
C.-
Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Werner Toffol geltend machen, er sei seit seinem Unfall vom Januar 1974 vollständig invalid und es sei ihm von diesem Zeitpunkt an eine ganze Rente auszurichten. Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf deren Abweisung anträgt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
a) Wird dem Versicherten rückwirkend eine Rente zugesprochen, und zwar stufenweise in dem Sinne, dass ihm - wie hier - gleichzeitig sowohl eine halbe als auch eine diese ablösende ganze Rente gewährt wird, erhebt sich die Frage, ob sich der Anspruchsbeginn auch für die ganze Rente nach
Art. 29 Abs. 1 IVG
richtet oder ob der Zeitpunkt für den Wechsel von der halben zur ganzen Rente in sinngemässer Anwendung von
Art. 88a Abs. 2 IVV
zu bestimmen ist. Verwaltung und Vorinstanz gingen im vorliegenden Fall nach
Art. 29 Abs. 1 IVG
vor, wenngleich sie auch auf
Art. 88a Abs. 2 IVV
verwiesen; sie nahmen - unter Berücksichtigung einer Arbeitsunfähigkeit von 33 1/3% vor und von 100% nach dem 21. Januar 1978 - an, die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit während 360 Tagen habe im Juli 1978 66 2/3% überschritten, und setzten den Zeitpunkt der Ablösung der halben durch die ganze Rente auf den 1. Juli 1978 fest. Demgegenüber sieht die bundesamtliche Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit (gültig ab 1. Januar 1979) in Rz. 202 (letzter Satz) vor, dass bei gleichzeitiger Beschlussfassung über den Anspruch auf eine halbe und eine ganze Rente
Art. 88a Abs. 2 IVV
anzuwenden ist. Zwar ist der Sozialversicherungsrichter nicht an Verwaltungsweisungen gebunden; doch soll er von ihnen nur abweichen, soweit sie Vorschriften enthalten, welche den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen widersprechen (
BGE 107 V 154
Erw. 2b mit Hinweisen).
Nach
Art. 88a Abs. 2 IVV
ist bei einer Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit die anspruchsbeeinflussende Änderung zu
BGE 109 V 125 S. 127
berücksichtigen, sobald sie ohne wesentliche Unterbrechung drei Monate angedauert hat. Wie das Eidg. Versicherungsgericht entschieden hat, hält sich die Regelung des
Art. 88a IVV
im Rahmen der gesetzlichen Ordnung und ist geeignet, eine rechtsgleiche und den jeweiligen Verhältnissen entsprechende Festsetzung der Rente zu gewährleisten (
BGE 105 V 264
f.). Nach seiner systematischen Stellung (Marginalie vor
Art. 86 IVV
: "E. Die Revision der Rente und der Hilflosenentschädigung") bezieht sich
Art. 88a IVV
zwar auf die Revision bereits laufender Renten. Er ist sinngemäss aber auch dann anzuwenden, wenn die anspruchsbeeinflussende Änderung des Invaliditätsgrades noch vor Erlass der ersten Rentenverfügung eingetreten ist mit der Folge, dass dann gleichzeitig die Änderung mit berücksichtigt wird (nicht veröffentlichtes Urteil Figura vom 30. September 1982). Dabei ist unerheblich, ob eine anfängliche ganze Rente von einer halben abgelöst wird (so im erwähnten Urteil Figura) oder ob umgekehrt - wie vorliegend - der halben eine ganze Rente folgt. Dass in diesem Fall für den Wechsel zur ganzen Rente
Art. 88a Abs. 2 IVV
und nicht
Art. 29 Abs. 1 IVG
massgebend ist, rechtfertigt sich aus Gründen der Rechtsgleichheit. Verfügt die Ausgleichskasse nämlich zunächst bloss eine halbe Rente und gewährt sie nach Eintritt einer relevanten Änderung des Invaliditätsgrades mit einer zweiten (Revisions-) Verfügung eine ganze Rente, so gelangt selbstredend
Art. 88a Abs. 2 IVV
zur Anwendung. Rechtlich kann es sich aber nicht anders verhalten, wenn die Verwaltung gleichzeitig über die halbe und die ganze Rente befindet ... Die Regelung in Rz. 202 (letzter Satz) geht daher in Ordnung. Somit ist festzuhalten, dass bei gleichzeitiger Verfügung über eine halbe und die sie ablösende ganze Rente der Wechsel sich nach
Art. 88a Abs. 2 IVV
richtet, während
Art. 29 Abs. 1 IVG
bloss für den Beginn der zeitlich ersten, d.h. hier der halben Rente massgebend ist. Soweit sich
BGE 105 V 156
(insbesondere Erw. 2b und 2d) etwas anderes entnehmen lässt, kann daran nicht festgehalten werden.
b) Der Beschwerdeführer war zunächst nur zu einem Drittel arbeitsunfähig; seit 21. Januar 1978 bestand vollständige Arbeits- und auch Erwerbsunfähigkeit. Nach dem in Erw. 3 Gesagten hat er ab 1. April 1978 Anspruch auf eine halbe Rente. Im Sinne des
Art. 88a Abs. 2 IVV
wirkte sich die Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit drei Monate nach Rentenbeginn als "anspruchsbeeinflussende Änderung" aus. Demnach steht ihm ab 1. Juli 1978 eine
BGE 109 V 125 S. 128
ganze Rente zu. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der Zeitpunkt der Rentenerhöhung sich bei der rückwirkenden stufenweisen Rentenzusprechung ausschliesslich nach
Art. 88a Abs. 2 IVV
richtet.
Art. 88bis Abs. 1 IVV
, der - abgesehen von lit. c - auf eigentliche Rentenrevisionsfälle zugeschnitten ist, findet hier keine Anwendung; was in
BGE 106 V 16
mit Bezug auf
Art. 88bis Abs. 2 IVV
gesagt wurde, gilt sinngemäss auch für dessen Abs. 1.
Die Anwendung des
Art. 88a Abs. 2 IVV
führt somit im vorliegenden Fall zum gleichen Ergebnis wie die Rechnung von Verwaltung und Vorinstanz nach
Art. 29 Abs. 1 IVG
. Dies ist indessen nur zufallsbedingt; könnte beim Beschwerdeführer ab 21. Januar 1978 nicht vollständige Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit angenommen werden (sondern z.B. nur 75%ige), so würde die Berechnung nach
Art. 29 Abs. 1 IVG
den Wechsel zur ganzen Rente erst einige Monate nach dem 1. Juli 1978 zulassen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer ab 1. April 1978 Anspruch auf eine halbe und ab 1. Juli 1978 auf eine ganze Rente hat, wie Ausgleichskasse und Vorinstanz im Ergebnis richtig entschieden haben. | null | nan | de | 1,983 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2e75ecc9-a38c-40c1-98d4-ef6613d7461d | Urteilskopf
104 V 1
1. Auszug aus dem Urteil vom 20. März 1978 i.S. Fürst gegen Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die AHV | Regeste
Art. 7 Abs. 1 IVG
. Rentenkürzung bei alkoholbedingter Invalidität: Zusammenfassung der Praxis (Erw. 2).
Art. 39 IVV
(gültig ab 1. Januar 1977). Die Regelung des Abs. 2, wonach von einem Entzug oder einer Kürzung der Leistung bei Durchführung einer Entziehungskur und bei Wohlverhalten abgesehen wird, ist gesetzmässig (Erw. 4). | Erwägungen
ab Seite 1
BGE 104 V 1 S. 1
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- ...
2.
a) Nach
Art. 7 Abs. 1 IVG
können die Geldleistungen dauernd oder vorübergehend verweigert, gekürzt oder entzogen werden, wenn der Versicherte die Invalidität vorsätzlich oder grobfahrlässig oder bei Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert hat. Grobfahrlässig handelt, wer Sorgfaltspflichten verletzt, die sich jedem verständigen Menschen in gleicher Lage aufdrängen mussten. Bei Alkoholmissbrauch ist grobe Fahrlässigkeit zu
BGE 104 V 1 S. 2
bejahen, wenn der Versicherte bei der ihm angesichts seines Bildungsgrades zumutbaren pflichtgemässen Sorgfalt rechtzeitig hätte erkennen können, dass jahrelanger Missbrauch alkoholischer Getränke die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung in sich birgt, und wenn er imstande gewesen wäre, entsprechend dieser Einsicht sich des übermässigen Alkoholkonsums zu enthalten (
BGE 98 V 31
,
BGE 97 V 229
).
Die gleichen Grundsätze gelten mit Bezug auf den Tabakmissbrauch (ZAK 1977, S. 46, sowie nicht veröffentlichtes Urteil vom 7. Oktober 1976 i. S. Gogni).
b) Die grobfahrlässige Herbeiführung oder Verschlimmerung der Invalidität zieht grundsätzlich nicht den gänzlichen Entzug der Geldleistungen, sondern bloss deren angemessene Kürzung nach sich (
BGE 97 V 230
). Praxisgemäss lässt sich unter der Voraussetzung, dass die Invalidität einzig durch den Alkoholismus verursacht worden ist und der Versicherte den Alkoholismus voll zu verantworten hat, eine Kürzung von höchstens 50 % rechtfertigen (ZAK 1969, S. 384, sowie Rz 252 ff. der Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit vom 1. Januar 1971). Ist an der Invalidität ein zusätzlicher Gesundheitsschaden beteiligt, so ist das Verhältnis der die Invalidität bewirkenden Faktoren zueinander abzuklären und der Alkoholmissbrauch als Kausalitätsfaktor bei der Bemessung der Kürzung anteilsmässig festzusetzen (
BGE 97 V 230
Erw. c). Im übrigen bestimmt sich der Kürzungssatz ausschliesslich nach dem Verschulden des Versicherten.
c) Die Rentenkürzung hat grundsätzlich so lange zu dauern, als die Kausalität des Verschuldens nachwirkt (
BGE 99 V 31
, ZAK 1977, S. 47). Eine befristete Kürzung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn schon bei der Rentenfestsetzung wahrscheinlich ist, dass das grobfahrlässige Verhalten des Versicherten als Ursache seiner Invalidität nach Ablauf einer annähernd bestimmbaren Zeit nicht mehr erheblich sein wird, weil andere Faktoren in den Vordergrund treten.
3.
a) Aus den Akten geht hervor, dass der Beschwerdeführer schon kurz nach Beendigung der Schulpflicht dem Alkohol verfallen ist. Er musste in der Folge wiederholt hospitalisiert werden und sich Alkoholentwöhnungskuren unterziehen; auch wurde er gemäss
Art. 370 ZGB
unter Vormundschaft gestellt. Nach den ärztlichen Angaben hat der Alkoholismus zu schweren körperlichen Schädigungen (Leberzirrhose,
BGE 104 V 1 S. 3
Polyneuropathie, Anämie, Herzinsuffizienz) und zu einer äthylischen Wesensveränderung im Sinne einer Persönlichkeitsdepravation geführt. Im Bericht der Psychiatrischen Klinik X. vom 10. August 1976 wird ausgeführt, der Versicherte sei auf unbestimmte Zeit arbeitsunfähig, wobei dem Alkoholismus ursächlich entscheidende Bedeutung zukomme; der Alkoholismus sei als "Gewohnheitstrunksucht bei einem Minderbegabten bis Debilen zu bezeichnen".
b) Verwaltung und Vorinstanz haben die Rente in dem nach der Praxis höchstmöglichen Mass von 50 % gekürzt. Die Vorinstanz erachtet hiefür als entscheidend, dass der Beschwerdeführer immer wieder auf die Gefährlichkeit des Alkohol- und Nikotinmissbrauchs hingewiesen wurde, sich jedoch völlig einsichtslos verhalten hat. Das Bundesamt für Sozialversicherung pflichtet dem verfügten Kürzungssatz bei in der Meinung, die Invalidität sei allein durch den chronischen Alkoholismus verursacht worden und der Versicherte habe den Alkoholismus voll zu verantworten.
Dass die Invalidität allein auf den Alkoholismus - allenfalls ergänzt durch den Nikotinabusus - zurückzuführen ist, steht auf Grund der Akten fest. Wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Alkoholismus lediglich Symptom eines Krankheitswert aufweisenden psychischen Gesundheitsschadens wäre mit der Folge, dass der Beschwerdeführer hiefür nicht verantwortlich gemacht werden könnte (vgl. auch
Art. 39 Abs. 1 IVV
, gültig ab 1. Januar 1977).
Zu prüfen ist somit lediglich, wie es sich hinsichtlich der Schwere des Verschuldens verhält. Dies beurteilt sich in erster Linie nach den tatsächlichen Verhältnissen, wie sie bei Beginn der Alkohol- bzw. Nikotinsucht bestanden haben. Entgegen dem, was Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherung anzunehmen scheinen, ist daher nicht bedeutungslos, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen "Minderbegabten bis Debilen" handelt. Die geringe Intelligenz hat seine Fähigkeit, vernunftgemäss zu handeln, zwar nicht aufgehoben, jedoch eingeschränkt, weshalb sein Verschulden in milderem Lichte erscheint. Dazu kommt, dass er eine "ungefreute Jugendzeit" hatte (Strafurteil des Bezirksgerichts vom 23. Juni 1971), was mit entscheidend dafür sein kann, dass der chronische Alkoholismus bereits nach der Schulentlassung eingesetzt hat.
BGE 104 V 1 S. 4
Diese Umstände sind in Übereinstimmung mit der Verwaltungspraxis (Rz 255 ff. der genannten Wegleitung) bei der Festsetzung des Kürzungsansatzes zu berücksichtigen. Wird davon ausgegangen, dass bei einem Normalbegabten, welcher zufolge Charakterschwäche erst im Erwachsenenalter zum Alkoholiker geworden ist, eine Rentenkürzung von höchstens 50 % gerechtfertigt ist, so erweist sich im vorliegenden Fall eine Kürzung von 30 % als angemessen. Die angefochtene Verfügung ist daher in dem Sinne abzuändern, dass die verfügte Kürzung auf 30 % herabgesetzt wird.
4.
Mit der Verordnungsänderung vom 29. November 1976 hat der Bundesrat ergänzende Bestimmungen über die Verweigerung, die Kürzung und den Entzug von Geldleistungen wegen Selbstverschuldens erlassen. Gemäss dem ab 1. Januar 1977 gültigen
Art. 39 Abs. 2 IVV
ist im Falle einer durch den Genuss gesundheitsschädigender Mittel verursachten Invalidität während einer Entziehungskur und bei Wohlverhalten von einem Entzug oder einer Kürzung der Leistung abzusehen. Diese Regelung hält sich im Rahmen der gesetzlichen Ordnung und ist nicht zu beanstanden. Die Verwaltung wird nach Erhalt der Akten daher noch zu prüfen haben, ob die vom Beschwerdeführer am 13. Februar 1976 angetretene Entziehungskur am 1. Januar 1977 noch angedauert hat und ob demnach die Rentenkürzung ab diesem Zeitpunkt bis zur Beendigung der Kur aufzuheben ist. Ferner wird abzuklären sein, ob sich der Beschwerdeführer nach Entlassung aus der Entziehungskur wohlverhalten hat und ob dementsprechend auch für die Folgezeit von einer Kürzung abzusehen ist. | null | nan | de | 1,978 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2e781f88-9c9a-438e-8c88-9900d431e1ba | Urteilskopf
124 IV 127
23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. April 1998 i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 286 StGB
und 305 Abs. 1 StGB; Hinderung einer Amtshandlung; Selbstbegünstigung.
Wer sich durch Flucht einer Ausweiskontrolle durch einen Polizeibeamten entzieht, um einer Strafverfolgung zu entgehen, macht sich der Hinderung einer Amtshandlung schuldig (Bestätigung der Rechtsprechung). | Sachverhalt
ab Seite 127
BGE 124 IV 127 S. 127
Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte H. mit Urteil vom 8. November 1996 in zweiter Instanz der einfachen Körperverletzung, der Hinderung einer Amtshandlung sowie der groben Verletzung von Verkehrsregeln schuldig und verurteilte ihn zu einer Strafe von 30 Tagen Gefängnis, mit bedingtem Strafvollzug unter Ansetzung einer Probezeit von 3 Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 2'000.--. Ferner verpflichtete ihn das Obergericht zur Zahlung einer Genugtuung von Fr. 1'000.-- an die Geschädigte. Deren Schadenersatzbegehren verwies es auf den Zivilweg.
Gegen diesen Entscheid führt H. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Mit Beschluss vom 24. Oktober 1997 wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich eine von H. erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ab.
Mit Entscheid vom heutigen Datum hat der Kassationshof eine in derselben Sache eingereichte staatsrechtliche Beschwerde abgewiesen, soweit er darauf eintrat.
BGE 124 IV 127 S. 128
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Vorinstanz stellte für den Kassationshof verbindlich (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
) und ohne Willkür fest, der Beschwerdeführer habe am 4. August 1992 den Personenwagen der Geschädigten überholt, sei unmittelbar vor deren Fahrzeug rechts eingebogen und habe grundlos einen Vollstopp gerissen, so dass die Geschädigte ihren Wagen mittels Vollbremsung habe anhalten müssen, um eine Kollision zu vermeiden. In der Folge habe der Beschwerdeführer die in ihrem Wagen sitzende Geschädigte heftig beschimpft und ihr mit der geballten Faust ins Gesicht geschlagen, was zu diversen Verletzungen geführt habe. Der Polizist W., der den Vorfall aus einer Entfernung von ca. 7-8 m beobachtet hatte, habe den Beschwerdeführer mit lauter Stimme und unter Vorzeigen seines Polizeiausweises zur Vorlegung seiner Ausweispapiere aufgefordert. Dieser habe sich aber in seinem Wagen eingeschlossen und sei davongefahren.
2.
a) Die Beschwerde richtet sich ausschliesslich gegen den Schuldspruch der Hinderung einer Amtshandlung. Die Schuldsprüche wegen einfacher Körperverletzung sowie wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln werden nicht angefochten.
Im einzelnen rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der
Art. 1, 286 sowie 305 StGB
. Er macht geltend, das blosse Nichtvorzeigen des Ausweises und das Davonfahren, d.h. das Nichtbeachten von Strafverfolgungsanordnungen, stelle eine reine Selbstbegünstigung dar, die nur dann eine Sanktion gemäss Strafgesetzbuch nach sich ziehen dürfe, wenn - wie etwa bei der Vereitelung einer amtlich angeordneten Blutprobe - das Gesetz explizit als lex specialis eine besondere positive Mitwirkungspflicht enthalte. Dies sei bei der blossen Aufforderung, einen Ausweis vorzuweisen, um damit die Einleitung der Strafverfolgung wegen einer Handgreiflichkeit zu ermöglichen, nicht der Fall. Unter Berufung auf eine Lehrmeinung Stratenwerths wendet er sich gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach zwar die Selbstbegünstigung als solche straflos bleibe, nicht aber ein allfälliges weiteres mit ihr verbundenes Delikt. Diese Einschränkung sei formal und unbehelflich, zumal die Begünstigung praktisch immer in der Behinderung von Amtshandlungen, nämlich solchen, die der Strafverfolgung oder dem Straf- oder Massnahmenvollzug dienten, bestehe. Aus der Straflosigkeit der Selbstbegünstigung ergebe sich mithin, dass die Hinderung einer Amtshandlung, die eine blosse Selbstbegünstigung darstelle, nicht strafbar sei. Eine andere Auffassung verletze auch
Art. 1 StGB
, da
BGE 124 IV 127 S. 129
sich die Rechtsadressaten darauf verlassen dürften, dass das Strafgesetzbuch widerspruchsfrei angewendet werde und eine Handlung, die gemäss
Art. 305 StGB
straflos sei, nicht nach
Art. 286 StGB
mit einer strafrechtlichen Sanktion geahndet werde.
b) Die Vorinstanz verweist für die rechtliche Würdigung der für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen Feststellungen (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
) vorab auf die Erwägungen des Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichts Affoltern. Hinsichtlich der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Hinderung einer Amtshandlung verneinte sie einen Sachverhaltsirrtum sowie eine notstandsähnliche Situation und führte aus, das Obergericht habe bereits im Jahre 1974 und in einem nichtveröffentlichten Beschluss vom 30. April 1990 erkannt, dass sich der Hinderung einer Amtshandlung auch schuldig mache, wer als Fahrzeuglenker einem Polizeibeamten das Vorweisen des Führer- oder Fahrzeugausweises verweigere und davonfahre. Obwohl Selbstbegünstigung als solche straflos bleibe, lasse die Kontrollfunktion der Polizei in Anbetracht der Gefahren im Strassenverkehr, namentlich auch im Hinblick auf die Aufdeckung von Autodiebstählen etc., die Ausweiskontrolle als unausweichlich erscheinen. Diese erweise sich deshalb als wesentliche Begleithandlung für den Vollzug einer amtlichen Aufgabe und falle daher unter den Begriff der Amtshandlung im Sinne von
Art. 286 StGB
. Der ebenfalls den Strassenverkehr betreffenden Straftatbestand der Vereitelung der Blutprobe im Sinne von Art. 91 Abs. 3 des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr (SVG; SR 741.01) lasse überdies erkennen, dass auch der Gesetzgeber die Selbstbegünstigung nicht konsequent für straflos erkläre.
3.
a) Gemäss
Art. 286 StGB
wird mit Gefängnis bis zu einem Monat oder mit Busse bestraft, wer eine Behörde, ein Mitglied einer Behörde oder einen Beamten an einer Handlung hindert, die innerhalb ihrer Amtsbefugnisse liegt. Der Tatbestand der Hinderung einer Amtshandlung ist ein Erfolgsdelikt. Dabei ist nicht erforderlich, dass der Täter die Handlung einer Amtsperson überhaupt verunmöglicht; es genügt, dass er deren Ausführung erschwert, verzögert oder behindert. Nicht nach
Art. 286 StGB
strafbar ist indes, wer den mit der Amtshandlung angestrebten Erfolg vereitelt, ohne dieselbe als solche zu behindern. Die Bestimmung unterscheidet sich von
Art. 285 StGB
dadurch, dass der Täter weder Drohungen ausstösst noch Gewalt anwendet. Die Abgrenzung gegenüber dem Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen im Sinne von
Art. 292 StGB
erfolgt dadurch, dass eine blosse Unfolgsamkeit nicht genügt. Die Hinderung
BGE 124 IV 127 S. 130
einer Amtshandlung erfordert vielmehr eine Widersetzlichkeit, die sich in gewissem Umfang in einem aktiven Tun ausdrückt. Wer die Amtshandlung weder gewaltsam noch durch Drohung behindert, sondern sich bloss darauf beschränkt, einer amtlichen Aufforderung nicht Folge zu leisten oder am Ort der Ausführung gegen die Art der Amtshandlung Einsprache zu erheben, ohne tatsächlich in diese einzugreifen, erfüllt den Tatbestand nicht (
BGE 120 IV 136
E. 2a mit zahlreichen Hinweisen).
b) Der Beschwerdeführer anerkennt, dass sein Verhalten grundsätzlich den Tatbestand von
Art. 286 StGB
objektiv und subjektiv erfüllt. Er macht indessen geltend, der Schuldspruch wegen Hinderung einer Amtshandlung verletze Bundesrecht, weil sich aus
Art. 305 StGB
e contrario ergebe, dass die Begünstigung der eigenen Person nicht strafbar sei.
aa) Nach
Art. 305 Abs. 1 StGB
wird mit Gefängnis bestraft, wer jemanden der Strafverfolgung, dem Strafvollzug oder einer im Gesetz vorgesehenen Massnahme entzieht. Aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt sich, dass der Täter einen andern als sich selbst begünstigen muss. Nach unbestrittener Auffassung von Lehre und Rechtsprechung bleibt daher die Selbstbegünstigung als solche straflos. Ist allerdings mit der Selbstbegünstigung ein allfälliges weiteres Delikt verbunden, so bleibt dieses nach der Rechtsprechung strafbar (
BGE 118 IV 254
E. 5 S. 260;
115 IV 230
E. 1 je mit Hinweisen).
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Frage der Selbstbegünstigung im Zusammenhang mit der Hinderung einer Amtshandlung bildet der Umstand, dass der Täter, welcher sich durch Flucht einer Strafverfolgung zu entziehen versucht, sich selbst begünstigt, unter dem Gesichtspunkt des
Art. 286 StGB
keinen Grund für Straffreiheit. Zwar trifft zu, dass derjenige, der sich der Strafverfolgung oder dem Vollzug einer Strafe entzieht, nicht nach
Art. 305 StGB
bestraft wird. Das bedeutet indes nicht, dass er in jedem Fall in den Genuss der Straffreiheit kommt. Denn seine Handlung kann zusätzlich einen anderen Straftatbestand erfüllen, was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Flucht - vom Flüchtigen beabsichtigt - bewirkt, dass ein Beamter an der Vornahme einer ihm obliegenden Amtshandlung gehindert wird. So macht sich etwa der Verurteilte nach
Art. 286 StGB
strafbar, welcher, um dem mit seiner Überführung ins Gefängnis betrauten Polizeibeamten zu entkommen, die Flucht ergreift und jenen derart an der Erfüllung seines Auftrages hindert. Die Gründe, die in einem solchen Fall der Anwendung von
Art. 305 StGB
entgegenstehen, gelten im Hinblick
BGE 124 IV 127 S. 131
auf
Art. 286 StGB
nicht (
BGE 85 IV 142
E. 2;
BGE 120 IV 136
E. 2a a.E.).
cc) Diese Rechtsprechung ist in der Literatur mehrheitlich auf Ablehnung gestossen. So meint etwa schon Schwander, die blosse Flucht des Strafverfolgten könne nicht geahndet werden, auch wenn dadurch die Verhaftung erschwert werde; denn Selbstbegünstigung sei straffrei (SCHWANDER, Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Zürich 1964, S. 489 N. 745). STRATENWERTH führt aus, dass die Begünstigung praktisch immer in der Behinderung von Amtshandlungen bestehe, nämlich solchen, die der Strafverfolgung oder dem Straf- oder Massnahmenvollzug dienten. Wenn die Selbstbegünstigung straflos sein solle, dürfe
Art. 286 StGB
folglich auf die Erschwerung von derartigen Amtshandlungen, wie der Zuführung zum Strafvollzug oder der Durchsuchung eines Autos auf Deliktsspuren, durch den Betroffenen gerade keine Anwendung finden (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil II, 4. Aufl., Bern 1995, § 49 N. 12; vgl. auch TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, N. 6 zu
Art. 286 StGB
, der die Rechtsprechung als zirkelschlüssig bezeichnet). Mit derselben Begründung wird die Rechtsprechung (entgegen der Auffassung von CORBOZ, Les principales infractions, S. 348 N. 16) schliesslich auch von Rehberg kritisiert (REHBERG, Strafrecht IV, 2. Aufl., Zürich 1996, S. 357 letzter Satz und 358 oben).
LOGOZ (Commentaire du Code pénal Suisse, partie spéciale II, S. 718 N. 3c) - auf den sich
BGE 85 IV 142
E. 2 beruft -, HAFTER (Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil, 2. Hälfte S. 711 und 784 ff.) und THORMANN/VON OVERBECK (Das Schweizerische Strafgesetzbuch, Band II S. 407 und 432 ff.) äussern sich nicht ausdrücklich zur Frage der Selbstbegünstigung im Rahmen der Hinderung einer Amtshandlung. Demgegenüber referiert CASSANI (Commentaire du droit pénal suisse, partie spéciale, Bd. 9, Art. 305 N. 24) lediglich die Rechtsprechung des Bundesgerichts (vgl. auch SCHUBARTH, Geldwäscherei - Neuland für das traditionelle kontinentale Strafrechtsdenken, in: Festschrift für Günter Bemmann, S. 435, nach welchem ein konsensfähiges Selbstbegünstigungsprinzip bisher nicht entwickelt wurde).
dd) An der Rechtsprechung gemäss
BGE 85 IV 142
ist trotz der in der Lehre vorgebrachten Kritik festzuhalten. Ob die Begünstigung tatsächlich praktisch immer mit der Hinderung einer Amtshandlung einhergeht, die bei einer einfachen Selbstbegünstigung nicht bestraft werden könne, erscheint als fraglich. So sind etwa der Ausbruch aus
BGE 124 IV 127 S. 132
der Untersuchungshaft oder die Flucht ins Ausland, bevor die Polizei zur Verhaftung geschritten ist, Fälle reiner Selbstbegünstigung, mit welcher als solche keine konkrete amtliche Handlung behindert wird (vgl. ANDREAS HAUSWIRTH, Die Selbstbegünstigung im schweizerischen Strafrecht, Diss. Bern 1984, S. 168 ff., 170 mit weiteren Beispielen). Die Strafbarkeit der in Selbstbegünstigung begangenen Widersetzung führt somit nicht zu einem generellen, sondern nur zu einem beschränkten Fluchtverbot, wobei sich die Beschränkung aus der ausnahmslosen Pflicht ergibt, rechtmässige amtliche Anordnungen zu befolgen (ANDREAS HAUSWIRTH, a.a.O., S. 163). Selbst wenn die einfache Selbstbegünstigung regelmässig in der Behinderung von Amtshandlungen bestünde, hätte dies, wie Hauswirth zu Recht ausführt, nicht notwendig zur Folge, dass Selbstbegünstigung stets straflos bliebe. Ob das Widersetzungsverbot für den Selbstbegünstiger nicht gilt oder ob die Straflosigkeit der Selbstbegünstigung ihre Grenze am Tatbestand des
Art. 286 StGB
findet, ist vielmehr eine Frage wertender Abwägung (ANDREAS HAUSWIRTH, a.a.O., S. 163). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach der Systematik des Strafgesetzbuches die beiden Tatbestände der Hinderung einer Amtshandlung und der Begünstigung verschiedene Rechtsgüter schützen, nämlich
Art. 286 StGB
den Schutz der öffentlichen Gewalt und
Art. 305 StGB
den Schutz der Strafrechtspflege (HAUSWIRTH, a.a.O., S. 165/166; a.M. TRECHSEL, a.a.O., Art. 286 N. 6).
Art. 286 StGB
stellt daher genauso ein "anderes Delikt" dar wie etwa die Anstiftung einer Drittperson zu falschem Zeugnis, falsche Anschuldigung eines andern oder Irreführung der Rechtspflege. Das blosse Motiv der Selbstbegünstigung stellt aber nach allgemeiner Ansicht keinen Rechtfertigungsgrund für solche und weitere Straftaten dar (vgl. etwa REHBERG, a.a.O., S. 357 sowie TRECHSEL, a.a.O., N. 13 zu
Art. 305 StGB
). Kann demnach zwischen Begünstigung und Hinderung einer Amtshandlung echte Idealkonkurrenz angenommen werden (vgl. THORMANN/VON OVERBECK, a.a.O., N. 6 zu
Art. 305 StGB
), folgt daraus, dass die in Selbstbegünstigungsabsicht verübte Widersetzung nicht straffrei bleiben kann. Denn die Begünstigung deckt den Unrechtsgehalt einer Widersetzung nicht ab. Wollte man anders entscheiden, hiesse dies,
Art. 305 StGB
zu einer Schutznorm des Selbstbegünstigers zu machen. Die Bestimmung von
Art. 286 StGB
käme so in einer Vielzahl von Fällen nicht zur Anwendung. Die Straflosigkeit der Selbstbegünstigung darf aber nicht als Freibrief verstanden werden, jegliche Art von Amtshandlungen, insbesondere solche von Strafuntersuchungsbehörden, zu erschweren oder gar
BGE 124 IV 127 S. 133
zu verunmöglichen (vgl. HAUSWIRTH, a.a.O., S. 167). Zu Recht hat die Vorinstanz daher unter Verweisung auf einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich aus dem Jahre 1974 (SJZ 70/1974, S. 333 f.) angenommen, die Ausweiskontrolle bilde eine notwendige Vorbereitungshandlung für den Entscheid darüber, ob eine Verzeigung zu erfolgen habe oder nicht. Sie sei deshalb mindestens eine wesentliche Begleithandlung für den Vollzug einer amtlichen Aufgabe und falle damit unter den Begriff der Amtshandlung im Sinne von
Art. 285 und 286 StGB
. Die klare Verweigerung des Vorzeigens der Ausweise, insbesondere das Wegfahren zur Verunmöglichung der Kontrolle, müsse daher immer nach
Art. 286 StGB
bestraft werden.
Unbehelflich ist schliesslich der Hinweis auf den Tatbestand der Vereitelung einer Blutprobe. Mit der Schaffung von
Art. 91 Abs. 3 SVG
, der als lex specialis der Anwendung von
Art. 286 StGB
vorgeht, wollte der Gesetzgeber die Vorschrift betreffend Hinderung einer Amtshandlung nicht ausser Kraft setzen. Aus dem Umstand, dass das Gesetz mit dieser Bestimmung explizit eine besondere positive Mitwirkungspflicht statuiert, lässt sich für den Tatbestand der Hinderung einer Amtshandlung nichts ableiten. Im übrigen ist
Art. 91 Abs. 3 SVG
strenger gefasst als
Art. 286 StGB
und macht sich nach dieser Bestimmung bereits derjenige Fahrzeuglenker strafbar, welcher sich der Anordnung einer Blutprobe entzieht, mit der er nach den Umständen des Falles rechnete oder mit hoher Wahrscheinlichkeit rechnen musste, während
Art. 286 StGB
erst mit Eintritt der Störung, also mit der Erschwerung des reibungslosen Vollzugs der Amtshandlung, zum Tragen kommt. Wer somit die Flucht ergreift, bevor er durch die Polizei aufgefordert wurde, sich auszuweisen, begeht keinen Verstoss gegen
Art. 286 StGB
.
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet.
4.
(Kostenfolgen) | null | nan | de | 1,998 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2e7e7d5e-f087-4a58-870c-3576b3c923bc | Urteilskopf
135 I 49
7. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Gemeinderat A. (subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
1D_19/2007 vom 16. Dezember 2008 | Regeste
Nichteinbürgerung wegen Sozialhilfeabhängigkeit einer behinderten Bewerberin; Diskriminierungsverbot;
Art. 8 Abs. 2 BV
.
Bürgerrechtserteilung nach kantonalem Recht (E. 3).
Bedeutung des Diskriminierungsverbots (E. 4).
Frage offengelassen, ob der Kreis der Sozialhilfeabhängigen eine nach
Art. 8 Abs. 2 BV
geschützte Gruppe bildet (E. 5).
Das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit für Einbürgerungen trifft Personen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung in spezifischer Weise (E. 6.1). Gewichtung der finanziellen Interessen der Gemeinde; lang andauernder Status der vorläufigen Aufnahme; Bedeutung der Einbürgerung. Verletzung des Diskriminierungsverbotes (E. 6.3). | Sachverhalt
ab Seite 50
BGE 135 I 49 S. 50
Die 1986 geborene angolanische Staatsangehörige X. reiste im März 1995 mit ihrer Mutter von Angola her in die Schweiz ein. Sie wohnte zunächst in den Gemeinden C. und B. und hat seit Mai 2002 Wohnsitz in der Gemeinde A. (Kanton Zürich). Seit Mitte 2004 weilt sie in einem Heim, wo sie eine geeignete Ausbildung und berufliche Förderung erhält und einen geschützten Arbeitsplatz innehat. Mit Erreichen der Volljährigkeit wurde sie wegen Geistesschwäche unter Vormundschaft gestellt (
Art. 369 ZGB
). Über das Asylverfahren lassen sich dem Dossier keine Angaben entnehmen. X. befindet sich nach wie vor im Status der vorläufigen Aufnahme. Sie ist vollumfänglich von der eidgenössischen Asylfürsorge unterstützt worden.
X. ersuchte um Einbürgerung. Mit Beschluss vom 13. Dezember 2005 lehnte die Bürgerliche Abteilung des Gemeinderates A. die Aufnahme in das Bürgerrecht von A. ab. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass die Bewerberin die Einbürgerungsvoraussetzungen nicht erfülle und mangels Erhalts von IV-Leistungen nicht in der Lage sei, wirtschaftlich für sich selber aufzukommen. Angefügt wurde, dass keine Strafuntersuchungen, Strafregistereinträge und Betreibungen bestünden.
Der Bezirksrat Affoltern hiess einen Rekurs von X. am 21. September 2006 gut und forderte den Gemeinderat A. auf, das Einbürgerungsverfahren wieder aufzunehmen und die Bewerberin im Sinne der Erwägungen ins Gemeindebürgerrecht aufzunehmen.
Die Gemeinde A. focht den Bezirksratsentscheid beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich an. Dieses hiess die Beschwerde mit Urteil vom 24. Oktober 2007 gut, hob den Beschluss des Bezirksrates auf und stellte den negativen Beschluss der Bürgerlichen Abteilung des Gemeinderates wieder her. Es führte aus, das kantonalrechtliche
BGE 135 I 49 S. 51
Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit sei geeignet, fürsorgeabhängige Personen im Sinne von
Art. 8 Abs. 2 BV
in spezifischer Weise rechtsungleich zu behandeln. Eine solche Ungleichbehandlung könne indes durch eine qualifizierte Begründung gerechtfertigt werden. Eine solche Rechtfertigung liege im Umstand, dass die Gemeinde A. infolge einer Einbürgerung der Bewerberin in hohem Masse Fürsorgeleistungen zu übernehmen hätte. Die Nichteinbürgerung sei für die Bewerberin zumutbar, da sie weder ihren Wohnsitz verliere noch der Unterstützungsleistungen verlustig gehe.
Gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichts hat X. beim Bundesgericht subsidiäre Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie beantragt die Aufhebung des Verwaltungsgerichtsurteils, die Bestätigung des Entscheides des Bezirksrates sowie die Anweisung an die Gemeinde A., sie ins Gemeindebürgerrecht aufzunehmen. Sie rügt im Wesentlichen Verletzungen von
Art. 8 Abs. 2 BV
und ruft die Achtung der Menschenwürde im Sinne von
Art. 7 BV
an.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts auf und weist die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurück.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Vorerst ist die Regelung der Bürgerrechtserteilung nach dem kantonalen Recht darzustellen:
Nach § 21 Abs. 1 des Gesetzes vom 6. Juni 1926 über das Gemeindewesen des Kantons Zürich (Gemeindegesetz; LS 131.1; im Folgenden: GemeindeG) sind die politischen Gemeinden verpflichtet, jeden (seit mindestens zwei Jahren in der Gemeinde wohnenden)
Schweizer
Bürger auf sein Verlangen in ihr Bürgerrecht aufzunehmen, sofern er sich und seine Familie selber zu erhalten vermag (und weitere Voraussetzungen gegeben sind). Gemäss Abs. 2 werden in der Schweiz geborene
Ausländer
im Recht auf Einbürgerung den Schweizer Bürgern gleichgestellt. Ferner werden nach Abs. 3 nicht in der Schweiz geborene Ausländer zwischen 16 und 25 Jahren den in der Schweiz geborenen Ausländern in diesem Alter gleichgestellt, sofern sie nachweisen können, dass sie in der Schweiz während mindestens fünf Jahren den Unterricht auf Volks- oder Mittelschulstufe in einer der Landessprachen besucht haben.
In § 5 der Bürgerrechtsverordnung des Kantons Zürich vom 25. Oktober 1978 (BüV; LS 141.11) werden die wirtschaftlichen
BGE 135 I 49 S. 52
Verhältnisse als Erfordernis der Einbürgerung gemäss § 21 Abs. 1 GemeindeG umschrieben: Die Fähigkeit zur wirtschaftlichen Selbsterhaltung gilt als gegeben, wenn die Lebenskosten und Unterhaltsverpflichtungen des Bewerbers voraussichtlich in angemessenem Umfang durch Einkommen, Vermögen und Rechtsansprüche gegen Dritte gedeckt sind. Zu den Rechtsansprüchen gegen Dritte gehören alle Forderungen gegenüber Versicherungsgesellschaften, Vorsorgeeinrichtungen oder dem Staat (im Falle der Arbeitslosenversicherung oder Invalidenversicherung); die wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit ist nicht gegeben, wenn ein Bewerber (ausschliesslich) von der Fürsorge lebt (vgl. Handbuch des Gemeindeamtes des Kantons Zürich, Ziff. 3.3.1). Der Begriff der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit stimmt somit weitgehend überein mit dem Ausländerrecht, wo Bewilligungen bzw. Niederlassungsbewilligungen widerrufen werden können, wenn die betreffende Person auf Sozialhilfe, allenfalls dauerhaft und in erheblichem Masse, angewiesen ist (vgl. hinsichtlich Art. 10 Abs. 1 lit. d des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAG; AS 1949 223] die Urteile 2C_448/2007 vom 20. Februar 2008 E. 3.4, 2P.101/2006 vom 16. Mai 2006 E. 2.2.6 und
BGE 123 II 529
E. 4 S. 533; vgl. zu Art. 62 lit. e bzw. Art. 63 Abs. 1 lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG; SR 142.20]) MARC SPESCHA, in: Migrationsrecht, Spescha und andere [Hrsg.], 2008, N. 10 zu
Art. 62 AuG
). Auf die Erfüllung der Voraussetzung der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit kann nach § 22 Abs. 2 GemeindeG und § 7 BüV im Einzelfall ganz oder teilweise verzichtet werden (vgl. auch Handbuch, a.a.O. Ziff. 3.3.2, wo insbesondere darauf verwiesen wird, dass in einzelnen Gemeinden auch Fürsorgeempfänger im Falle von Invalidität eingebürgert werden).
In Übereinstimmung mit dem Bezirksrat und entgegen der Auffassung der Gemeinde A. hat das Verwaltungsgericht unter Verweis auf seine Praxis ausgeführt, dass die allgemeine Eignung (vgl.
Art. 14 des Bundesgesetzes vom 29. September 1952 über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts [BüG; SR 141.0]
) bei dem auf § 21 GemeindeG gestützten Anspruch auf Verleihung des Gemeindebürgerrechts nicht von Bedeutung sei und daher nicht auf das Kriterium der (ungenügenden) kulturellen und politischen Integration abgestellt werden dürfe (kritisch PETER KOTTUSCH, in: Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, Häner und andere [Hrsg.], 2007, N. 9 zu
Art. 21
BGE 135 I 49 S. 53
KV/ZH
). Von der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung ist auch im vorliegenden Verfahren auszugehen.
Daraus ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin, welche den erforderlichen Schulbesuch aufweist, gestützt auf das
kantonale Recht
im Grundsatz unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus einen Anspruch auf Einbürgerung hat (TOBIAS JAAG, Aktuelle Entwicklungen im Einbürgerungsrecht, ZBl 106/2005 S. 113/122; KOTTUSCH, a.a.O., N. 5 zu
Art. 20 KV/ZH
). Zu prüfen ist daher ausschliesslich, ob der (behinderten) Beschwerdeführerin vor diesem Hintergrund die mangelnde wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit entgegengehalten werden kann und ihre Nichteinbürgerung im vorliegenden Fall vor dem Diskriminierungsverbot gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
standzuhalten vermag.
Im Übrigen ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin nicht in der Lage ist, wirtschaftlich für sich aufzukommen, wie bereits der Bezirksrat und nunmehr das Verwaltungsgericht angenommen haben. Die Beschwerdeführerin hat in den vorangehenden beiden Verfahren nicht geltend gemacht, dass sie Anspruch auf IV- und allenfalls Ergänzungsleistungen habe und aus diesem Grunde im Sinne von § 21 GemeindeG und § 5 BüV für sich selber aufkommen könne. Auf das entsprechende Vorbringen ist mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht einzutreten.
4.
Zur Hauptsache rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
.
4.1
Gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen seiner Herkunft und der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung. Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch oder in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder als minderwertig behandelt wird. Die Diskriminierung stellt eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteilung von Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an Unterscheidungsmerkmalen anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen ausmachen; insofern beschlägt das Diskriminierungsverbot auch Aspekte der Menschenwürde nach
Art. 7 BV
. Das Diskriminierungsverbot gemäss
BGE 135 I 49 S. 54
Art. 8 Abs. 2 BV
schliesst indes die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal - wie beispielsweise Herkunft, Rasse, Geschlecht, soziale Stellung oder religiöse Überzeugung - nicht absolut aus. Eine solche begründet zunächst lediglich den blossen Verdacht einer unzulässigen Differenzierung. Diese kann indes durch eine qualifizierte Rechtfertigung umgestossen werden. - Eine indirekte oder mittelbare Diskriminierung liegt demgegenüber vor, wenn eine Regelung, die keine offensichtliche Benachteiligung von spezifisch gegen Diskriminierung geschützten Gruppen enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe besonders benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre (
BGE 126 II 377
E. 6 S. 392;
BGE 134 I 49
E. 3 S. 53;
BGE 132 I 49
E. 8.1 S. 65,
BGE 129 I 167
E. 3 S. 169;
BGE 129 I 217
E. 2.1 S. 223,
BGE 129 I 392
E. 3.2.2 S. 397;
BGE 126 V 70
E. 4c/bb S. 73, mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Doktrin; vgl. ferner KIENER/KÄLIN, Grundrechte, 2007, S. 359 ff.; ANNE PETERS, Diskriminierungsverbote, in: Handbuch der Grundrechte - Grundrechte in der Schweiz und in Liechtenstein, Heidelberg 2007, § 211 Rz. 7-24 S. 259 ff.; vgl. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 687 ff.).
4.2
Das Verwaltungsgericht führt im angefochtenen Entscheid aus, das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit gemäss § 21 Abs. 1 GemeindeG knüpfe an die Fürsorgeunabhängigkeit von Personen an. Die Bestimmung schliesse damit fürsorgeabhängige Personen von der Einbürgerung aus und treffe damit eine Gruppe von Menschen, welche tendenziell ausgegrenzt werde und deshalb dem Schutzbereich von
Art. 8 Abs. 2 BV
zuzurechnen sei. Indem das Gemeindegesetz direkt am Kriterium der Fürsorgeabhängigkeit anknüpfe, sei es geeignet, eine direkte Diskriminierung zu bewirken.
4.3
Die Bestimmung von
Art. 8 Abs. 2 BV
verbietet, wie dargelegt, Diskriminierungen namentlich wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Dieser Katalog von verpönten Anknüpfungspunkten ist nicht abschliessend, was sich aus der "namentlichen" Aufzählung ergibt und in der Lehre unbestritten ist (vgl. MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 711; PETERS, a.a.O., Rz. 31; RAINER J. SCHWEIZER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, 2. Aufl. 2008, N. 55 f. zu
Art. 8 BV
). Die Verfassungsbestimmung fällt allgemein in Betracht, wenn eine mehr
BGE 135 I 49 S. 55
oder weniger bestimmbare Gruppe von gesellschaftlicher Herabwürdigung und Abwertung oder Ausgrenzung nach stereotypen Vorurteilen bedroht ist (vgl.
BGE 132 I 49
E. 8.2 S. 66 und hierzu WALTER KÄLIN, ZBJV 143/2007 S. 654 f.; eingehend JÖRG PAUL MÜLLER, Die Diskriminierungsverbote nach Art. 8 Abs. 2 der neuen Bundesverfassung, in: Die neue Bundesverfassung, Berner Tage für die juristische Praxis [BTJP], 2000, S. 106 und 117; MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 684 f.).
Die Konturen betreffend die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbotes sind in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bisher nur in Ansätzen umschrieben worden. Gleichermassen findet sich in der Doktrin bisher keine einhellige Auffassung über die wesentlichen Elemente, Anknüpfungspunkte und Hintergründe des direkten oder indirekten Diskriminierungsverbotes (vgl. MARKUS SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 2005, S. 245 f.; vgl. die Übersicht über die Lehrmeinungen bei PETERS, a.a.O., Rz. 17 ff.; eingehend ANDREAS RIEDER, Form oder Effekt?
Art. 8 Abs. 2 BV
und die ungleichen Auswirkungen staatlichen Handelns, 2003, S. 52 ff., 67 ff. und 98 ff.; ferner MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 687 ff.; vgl. auch WALTER KÄLIN, ZBJV 138/2002 S. 624 zu
BGE 126 II 377
). Von einer indirekten oder mittelbaren Diskriminierung wird etwa gesprochen, wenn ein Rechtsakt nicht der Form nach, sondern aufgrund der Auswirkungen für eine bestimmte geschützte Personengruppe eine qualifiziert rechtsungleiche Schlechterstellung zur Folge haben kann. Gleichermassen wird eine solche angenommen, wenn eine Norm neutrale Differenzierungen aufweist und besonders geschützte Personengruppen in spezifischer Weise rechtsungleich trifft oder aber wenn mangels erforderlicher Differenzierung eine des Schutzes bedürftige Gruppe besonders benachteiligt wird (vgl. RIEDER, a.a.O., S. 100 ff. und 210 ff.; PETERS, a.a.O., Rz. 60). Im Übrigen fällt die Abgrenzung der direkten von der indirekten Diskriminierung im Einzelfall nicht leicht (vgl. PETERS, a.a.O., Rz. 60 und 62).
4.4
Für den vorliegenden Zusammenhang kann auf die folgenden Urteile des Bundesgerichts zum Diskriminierungsverbot gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
hingewiesen werden:
Dem Verbot der Diskriminierung wegen körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung wurde Rechnung getragen im Zusammenhang mit der Übernahme von Kosten für behindertengerechte Wohnungsanpassungen (
BGE 134 I 105
) oder der Ermöglichung eines
BGE 135 I 49 S. 56
behindertengerechten Schulunterrichts (
BGE 130 I 352
). Die Beschränkung des Anspruchs auf invaliditätsbedingte Abänderungen an Motorfahrzeugen auf volljährige Versicherte war mit der Verfassung nicht vereinbar (
BGE 126 V 70
E. 4c S. 73). Keine Bedeutung kam diesem Ansatzpunkt aufgrund der konkreten Sachumstände in einem Einbürgerungsverfahren zu (Urteil 1P.760/2006 vom 7. Juni 2006).
Unter dem Gesichtswinkel der sozialen Stellung im Sinne von
Art. 8 Abs. 2 BV
konnte bei den aus dem Bahnhof Bern Weggewiesenen nicht von einer bestimmbaren Minderheit oder Gruppe gesprochen werden, die sich durch spezifische Eigenheiten oder durch besondere, nicht frei gewählte oder schwer aufgebbare Merkmale auszeichnete und aus solchen Gründen eines besondern verfassungsmässigen Schutzes bedurfte (
BGE 132 I 49
E. 8 S. 65).
Eine indirekte Diskriminierung verneinte das Bundesgericht im Zusammenhang mit einer auf eine Krankheit zurückzuführenden vorzeitigen Pensionierung, bei der, wie im Falle von anders begründeten vorzeitigen Pensionierungen, dem Umstand des bisherigen Beschäftigungsgrades Rechnung getragen worden ist (Urteil 2P.24/2001 vom 29. Juni 2001).
5.
Vor diesem Hintergrund ist vorerst zu prüfen, ob Fürsorgeabhängige eine spezifische, von
Art. 8 Abs. 2 BV
mit dem Merkmal der sozialen Stellung erfasste Gruppe bilden, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat.
Zum Merkmal der sozialen Stellung gehört neben andern Elementen auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, welcher für Ansehen bzw. Missachtung von Personen Bedeutung zukommen mag (vgl. MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 727; PETERS, a.a.O., Rz. 42). In diesem Sinne kann Armut und wirtschaftliche Abhängigkeit insoweit zu Herabminderung und Stigmatisierung führen, als diese oftmals auf stereotyper Auffassung beruhen, die Lage der Betroffenen sei Ausdruck persönlichen Versagens oder gründe auf selbstverschuldetem Scheitern oder gar moralischer Schwäche (vgl. KATHRIN AMSTUTZ, Das Grundrecht auf Existenzsicherung, 2002, S. 76 f.). Die Betroffenen werden bisweilen als "Sozial- und Fürsorgefälle" bezeichnet, welche auf Kosten des Staates leben und sowohl Fürsorge als auch sozialversicherungsrechtliche Leistungen beziehen. Insofern wird vereinzelt angenommen, die Betroffenen seien einer erhöhten Gefahr der Ausgrenzung ausgesetzt und bildeten unter dem Merkmal der
BGE 135 I 49 S. 57
sozialen Stellung gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
eine Gruppe, die des verfassungsmässigen Diskriminierungsschutzes bedürfe (in diesem Sinne AMSTUTZ, a.a.O., S. 350 f.).
Im vorliegenden Fall knüpft die Nichteinbürgerung der Beschwerdeführerin am Kriterium der Sozialhilfeabhängigkeit an. Nach § 21 Abs. 1 GemeindeG können von der Aufnahme ins Bürgerrecht Personen ausgeschlossen werden, welche Fürsorgeleistungen beziehen. Diese Personen können gleichwohl kaum als Gruppe verstanden werden, die im vorliegenden Zusammenhang gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
spezifisch gegen Diskriminierung geschützt wird. Die wirtschaftliche Lage dieser Personen bildet vorab einen Umstand, der Ausgangspunkt für Hilfeleistungen etwa in Form von Sozialhilfe bildet und letztlich im Sinne von
Art. 12 BV
zum Anspruch auf Hilfe und Betreuung sowie auf die Mittel führt, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Es sind in erster Linie solche Förderungsmassnahmen, welche der möglichen Diskriminierung von Personen in entsprechender finanzieller Lage begegnen sollen (vgl. MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 701 ff.). Von Bedeutung ist ferner, dass die Fürsorgeabhängigkeit auf unterschiedlichsten Faktoren und Gegebenheiten beruhen kann. Ausgangspunkt können etwa bilden Langzeitarbeitslosigkeit nach Beendigung der Arbeitslosenunterstützung, Arbeitsscheu und Liederlichkeit, mangelnde Fähigkeiten zu einer Berufsausübung, Ungenügen des wirtschaftlichen Einkommens trotz Arbeitstätigkeit (working poor), anhaltende Krankheit, verschiedenste Formen der Invalidität und anderes mehr. Bei dieser Sachlage kann nicht gesagt werden, die Sozialhilfeabhängigkeit stelle zwingend einen wesentlichen Bestandteil der Identität und ein eigentliches Merkmal der Persönlichkeit der betroffenen Personen dar. Sie kann nur vorübergehend bestehen und unter Umständen wieder abgelegt werden, wenn beispielsweise eine arbeitslose und ausgesteuerte Person erneut zu einem Erwerbseinkommen gelangt.
Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung können keine Anzeichen entnommen werden, dass der Kreis der Fürsorgeabhängigen eine vom Diskriminierungsverbot geschützte Gruppe darstellen könnte. Insbesondere ist eine entsprechende Frage auch im Zusammenhang mit
Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG
(bzw.
Art. 62 lit. e und
Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG
) - ungeachtet der Bestimmung von
Art. 190 BV
und der Möglichkeit einer hinreichenden qualifizierten Rechtfertigung - nie aufgeworfen oder auch nur angedeutet worden (vgl.
BGE 126 II 377
E. 6b S. 393). Im Ausländerrecht im Allgemeinen wie auch
BGE 135 I 49 S. 58
vor dem Hintergrund des Freizügigkeitsabkommens mit der EU wird das Kriterium der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit als Erfordernis einer Aufenthaltsberechtigung allgemein anerkannt (vgl. unter dem Blickwinkel des Diskriminierungsverbotes ausdrücklich PETERS, a.a.O., Rz. 42). Demgegenüber wird die genannte ANAG-Bestimmung in der Literatur vereinzelt als im Gegensatz zu
Art. 8 Abs. 2 BV
stehend kritisiert (vgl. AMSTUTZ, a.a.O., S. 352; ferner BERNHARD PULVER, L'interdiction de la discrimination, 2003, S. 262).
Wie es sich letztlich mit der Frage verhält, ob der Kreis der Fürsorgeabhängigen eine Gruppe bildet, die von
Art. 8 Abs. 2 BV
in spezifischer Weise geschützt wird, kann im vorliegenden Fall offenbleiben. Der Hintergrund der vorliegenden Sache zeigt, dass unter dem Gesichtswinkel einer allfälligen Diskriminierung nicht so sehr die Frage der Fürsorgeabhängigkeit als vielmehr die Behinderung der Beschwerdeführerin im Vordergrund steht. Damit ist in erster Linie zu fragen, wie die Beschwerdeführerin in ihrer konkreten Situation unter dem Gesichtswinkel von
Art. 8 Abs. 2 BV
durch das Erfordernis von § 21 Abs. 1 GemeindeG betroffen wird und ob für ihre Nichteinbürgerung rechtfertigende Gründe namhaft gemacht werden können. Für die konkrete Beurteilung ist dabei nicht ausschlaggebend, ob es sich um einen Tatbestand der direkten oder der indirekten Diskriminierung handelt. Wie dargelegt (oben E. 4.3), können sich die beiden Bereiche überschneiden und lassen sich im Einzelfall nicht leicht auseinanderhalten.
6.
6.1
Das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit im Sinne von § 21 Abs. 1 GemeindeG wirkt sich auf alle sozialhilfeabhängigen Personen als Hindernis einer Einbürgerung aus und gilt gleichermassen für Schweizer wie für Ausländer. Die mangelnde wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit kann, wie dargetan (E. 5), auf verschiedenartigsten Faktoren beruhen und unterschiedlichste Gruppen von Personen betreffen.
Unter solchen Personen bilden jene mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung eine spezifische, von
Art. 8 Abs. 2 BV
speziell genannte Gruppe. Es zählen dazu Personen, die in ihren körperlichen, geistigen oder psychischen Fähigkeiten auf Dauer beeinträchtigt sind und für welche die Beeinträchtigung je nach ihrer Form schwerwiegende Auswirkungen auf elementare Aspekte der Lebensführung hat (MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 756). Diese
BGE 135 I 49 S. 59
Personen werden durch das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit für die Einbürgerung wegen eines nicht selbstverschuldeten und nicht aufgebbaren Merkmals in spezifischer Art betroffen und gegenüber "gesunden" Bewerbern in besonderer Weise benachteiligt und rechtsungleich behandelt. Sie mögen nicht in der Lage sein, aus eigenen Stücken eine wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit zu erlangen. Es wird ihnen dauernd und eben nicht nur vorübergehend verunmöglicht, sich überhaupt einbürgern zu lassen. Insoweit liegt eine Konstellation einer (indirekten) Diskriminierung vor, die einer qualifizierten Rechtfertigung bedarf, um vor
Art. 8 Abs. 2 BV
bestehen zu können. Unter diesem Gesichtswinkel ist daher zu prüfen, ob die beanstandete Massnahme ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse verfolgt, als geeignet und erforderlich betrachtet werden kann und sich gesamthaft als verhältnismässig erweist (vgl. KIENER/KÄLIN, a.a.O., S. 362 f.; PETERS, a.a.O., Rz. 55 f.; MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 693 f. und 696 f.).
6.2
Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Entscheid - vor dem Hintergrund eines direkten Diskriminierungstatbestandes - zur Rechtfertigung der rechtsungleichen Behandlung auf die finanziellen Folgen einer Einbürgerung für die Gemeinde A. abgestellt. Dabei ist es - in Anlehnung an BERNHARD WALDMANN (Das Diskriminierungsverbot von
Art. 8 Abs. 2 BV
als besonderer Gleichheitssatz, 2003, S. 327 ff.) - davon ausgegangen, dass es in der vorliegenden Konstellation nicht erforderlich sei, an die Rechtfertigung einen besonders strengen Massstab anzulegen.
Es hat im Einzelnen ausgeführt, bei der finanziellen Entlastung von Gemeinwesen handle es sich um eine zulässige Zielsetzung. Der mit § 21 Abs. 1 GemeindeG verfolgte Zweck, die Ausgaben der öffentlichen Hand reduzieren zu können, sei legitim. Soweit bei Sozialhilfebedürftigkeit nach einer Verhältnismässigkeitsprüfung selbst niedergelassene Ausländer aus der Schweiz oder einem Kanton ausgewiesen werden könnten (
Art. 10 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie
Art. 11 Abs. 3 ANAG
; vgl. heute
Art. 62 lit. e und
Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG
), könne derselbe Grund diskriminierungsrechtlich gleichermassen die Verweigerung des Gemeindebürgerrechts rechtfertigen. Die Nichteinbürgerung sei geeignet und erforderlich, die Gemeinde A. über eine lange und unbestimmte Zeit von Unterstützungen im hohen Ausmasse von rund 100'000 Franken pro Jahr zu verschonen. Schliesslich erscheine die Nichteinbürgerung wegen Fürsorgeabhängigkeit für die Beschwerdeführerin als zumutbar, weil
BGE 135 I 49 S. 60
diese - im Unterschied zur fremdenpolizeilichen Wegweisung - weder von ihrem Wohnsitz vertrieben werde noch die Unterstützungsleistungen verliere.
6.3
Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin zur Zeit ihres Einbürgerungsgesuches von der eidgenössischen Asylfürsorge unterstützt worden ist und im Falle der Einbürgerung der Fürsorge durch die Gemeinde A. zur Last fallen würde. Gleichermassen wird nicht in Frage gestellt, dass entsprechende Fürsorgeleistungen einen jährlichen Betrag von rund 100'000 Franken ausmachen würden. Somit ist zu prüfen, ob dieser finanziellen Belastung der Gemeinde vor dem Hintergrund der konkreten Verhältnisse das erforderliche verfassungsmässige Gewicht zur Rechtfertigung der nachteiligen Behandlung der Beschwerdeführerin zukommt.
Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass die Gemeinde A. ein legitimes Interesse an einem gesunden Finanzhaushalt hat, und demnach ist verständlich, dass sie sich gegen die Übernahme von beträchtlichen Sozialleistungen zur Wehr setzt. Derartige finanzielle Interessen können nicht von vornherein als unerheblich bezeichnet werden (vgl. MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 694). Gerade der Vergleich mit dem Ausländerrecht zeigt, dass das öffentliche Interesse, keine Personen aufnehmen zu müssen, welche - evtl. dauerhaft und in erheblichem Ausmasse - auf Sozialhilfe angewiesen sind (vgl.
Art. 62 lit. d AuG
zum Widerruf von Bewilligungen im Allgemeinen und
Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG
zum Widerruf von Niederlassungsbewilligungen im Speziellen), allgemein anerkannt ist. Gleichwohl wird dieses Interesse relativiert im Falle von Personen, die sich während mehr als 15 Jahren in der Schweiz aufgehalten haben; diesfalls ist der Widerruf einer Niederlassungsbewilligung wegen Sozialhilfeabhängigkeit ausgeschlossen (
Art. 63 Abs. 2 AuG
). Gilt das öffentliche Interesse, keine Sozialleistungen übernehmen zu müssen, demnach im Ausländerrecht nicht absolut, so ist im gleichen Sinne das finanzielle Interesse der Gemeinde A. an einer Nichteinbürgerung in Anbetracht der konkreten Verhältnisse auf seine Bedeutung hin zu prüfen.
In dieser Hinsicht ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin zurzeit vorläufig aufgenommen ist und dieser Status der vorläufigen Aufnahme bereits viele Jahre andauert. Der Status der vorläufigen Aufnahme ist indessen grundsätzlich nicht auf Dauer angelegt. Daher sieht
Art. 84 Abs. 5 AuG
vor, dass Gesuche um
BGE 135 I 49 S. 61
Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung von vorläufig aufgenommenen Personen, die sich seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz aufhalten, unter Berücksichtigung der Integration, der familiären Verhältnisse und der Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Herkunftsstaat vertieft geprüft werden müssen. Damit mag sich die Situation von Personen, die über längere Zeit vorläufig aufgenommen sind, verbessern und wird die Erlangung einer Aufenthaltsbewilligung daher eher möglich sein (vgl. PETER BOLZLI, in: Migrationsrecht, Spescha und andere [Hrsg.], 2008, N. 10 ff. zu
Art. 84 AuG
). Vor diesem Hintergrund fällt eine Regularisierung des Aufenthaltsstatus der Beschwerdeführerin und damit eine Aufenthaltsbewilligung in einem früheren oder späteren Zeitpunkt tatsächlich in Betracht, wenn die Beschwerdeführerin darum ersucht. Sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit des Verwaltungsgerichts nehmen denn auch an, dass die Beschwerdeführerin in Anbetracht der konkreten Verhältnisse kaum mehr weggewiesen werden könne (vgl.
Art. 10 Abs. 1 lit. d und
Art. 11 Abs. 3 ANAG
) bzw. die entsprechende Bewilligung kaum mehr wiederrufen werden könnte (vgl. Art. 62 lit. e i.V.m.
Art. 96 AuG
). Dem steht nicht entgegen, dass sich nach der Rechtsprechung aus
Art. 8 EMRK
und
Art. 13 Abs. 1 BV
grundsätzlich kein Recht auf Aufenthalt oder gar auf eine Aufenthaltsbewilligung ableiten lässt (
BGE 130 II 281
E. 3 S. 284;
BGE 126 II 377
E. 2b und 2c S. 382 ff.; Urteil 2C_190/2008 vom 23. Juni 2008 E. 2.3); gleichwohl ist ein entsprechender Anspruch auf ein Anwesenheitsrecht in einem spezifischen Fall einer Aufenthaltsdauer von mehr als zwanzig Jahren anerkannt worden (
BGE 130 II 281
E. 3.3 S. 289). Vor diesem Hintergrund fällt für die Beschwerdeführerin, die nun bereits seit 13 Jahren in der Schweiz weilt, eine Aufenthaltsbewilligung bei einem entsprechenden Gesuch in einem früheren oder späteren Zeitpunkt tatsächlich in Betracht. Dies wiederum hätte zur Folge, dass die Gemeinde A., wo die Beschwerdeführerin ihren Wohnsitz hat, die Fürsorge ohnehin früher oder später zu übernehmen hätte. Insofern kann - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - nicht gesagt werden, dass die Gemeinde A.
allein
wegen der umstrittenen Einbürgerung die Unterstützung der Beschwerdeführerin
auf Dauer
und für sehr lange Zeit zu übernehmen hätte. Bei dieser Sachlage erscheint die mit der Einbürgerung verbundene finanzielle Belastung der Gemeinde A. in Form der Sozialhilfe in einem andern Lichte. Das öffentliche Interesse zur Rechtfertigung der (indirekten) Diskriminierung ist insoweit von geringerem
BGE 135 I 49 S. 62
Gewicht. Hinzuweisen ist ferner auf ein Rundschreiben des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO und des Bundesamtes für Migration BFM vom 30. November 2007, wonach ab dem 1. Januar 2008 die finanzielle Zuständigkeit von vorläufig aufgenommenen Personen sieben Jahre nach der Einreise in die Schweiz vom Bund an die Kantone wechselt und der Bund unter anderem in Form einer Integrationspauschale neu einen Beitrag an die Integrationskosten ausrichtet; Ziel ist eine verbesserte Integration von vorläufig aufgenommenen Personen.
Dem sind die Interessen der Beschwerdeführerin gegenüberzustellen. Die Frage der Einbürgerung ist für diese von grosser Bedeutung. Sie hat an der Erlangung des Bürgerrechts im Kanton Zürich, wo sie den grössten Teil ihres Lebens verbracht hat, ein gewichtiges Interesse. Dieses ist nicht nur ideeller Natur - wie die Minderheit des Verwaltungsgerichts angenommen hat -, sondern auch rechtlich von Bedeutung. Die Einbürgerung würde der Beschwerdeführerin einen gesicherteren Status in der Schweiz einräumen als der bisherige der vorläufigen Aufnahme. Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass die Beschwerdeführerin gemäss dem Verwaltungsgericht kaum mehr weggewiesen werden könnte (vgl.
Art. 10 Abs. 1 lit. d und
Art. 11 Abs. 3 ANAG
bzw. Art. 62 lit. e i.V.m.
Art. 96 AuG
). Zudem würde die - nunmehr 22-jährige - Beschwerdeführerin mit Erreichen des 25. Lebensjahres einen Anspruch auf Einbürgerung nach § 21 Abs. 3 GemeindeG verlieren und könnte sich nur noch im Rahmen von § 22 GemeindeG ohne rechtlichen Anspruch einbürgern lassen. Weiter kommt dem Umstand Gewicht zu, dass die Beschwerdeführerin angesichts ihrer Behinderung kaum mehr je in der Lage sein wird, ihre finanzielle Abhängigkeit aus eigenen Stücken zu beheben, eine wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit zu erlangen und so die Voraussetzungen von § 21 Abs. 1 GemeindeG von sich aus zu schaffen. Ferner mag es unter dem Gesichtswinkel des Diskriminierungsverbotes, das auch Aspekte der Menschenwürde im Sinne von
Art. 7 BV
beschlägt, als stossend empfunden werden, dass die Beschwerdeführerin - die bis heute von der Asylfürsorge unterstützt worden ist und im Falle der Einbürgerung von der Gemeinde A. zu unterstützen wäre - einzig wegen der Frage, aus welchem "Kässeli" die ihr zukommende Unterstützung geleistet wird, nicht eingebürgert würde.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich gesamthaft, dass die Beschwerdeführerin wegen ihrer aktuellen und fortdauernden Behinderung
BGE 135 I 49 S. 63
im Einbürgerungsverfahren gegenüber "gesunden" Bewerbern auf unbestimmte Zeit hinaus benachteiligt wird. Diese Benachteiligung kann in Anbetracht des Umstandes, dass die finanzielle Belastung der Gemeinde A. nicht allein wegen der Einbürgerung auf lange Dauer angelegt ist, nicht wegen der finanziellen Aspekte in qualifizierter Weise gerechtfertigt werden. Der Annahme einer verfassungswidrigen Diskriminierung im vorliegenden Fall steht auch
BGE 126 II 377
nicht entgegen, wo in erster Linie am Entfallen der wirtschaftlichen Erwerbstätigkeit als Bedingung der Aufenthaltsbewilligung und nicht so sehr an der körperlichen Behinderung des Betroffenen angeknüpft worden ist (
BGE 126 II 377
E. 6 S. 392 ff.). Der Berücksichtigung der besondern Umstände und der Invalidität der Beschwerdeführerin steht im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung des Gemeindegesetzes, welches den kommunalen Behörden einen Beurteilungsspielraum einräumt (oben E. 3), nichts im Wege.
Damit erweist sich die Rüge der Verletzung von
Art. 8 Abs. 2 BV
als begründet. (...) | public_law | nan | de | 2,008 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2e831db0-0452-451d-b2a0-2482176a6937 | Urteilskopf
82 III 94
26. Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Mai 1956 i.S. Peter gegen Signer. | Regeste
Streitwert der Kollokationsklage im Konkurs.
Worüber hat sich die Berufungsschrift in dieser Hinsicht auszusprechen?
Art. 250 SchKG
,
Art. 55 Abs. 1 lit. a OG
. | Sachverhalt
ab Seite 94
BGE 82 III 94 S. 94
A.-
Im Konkurs der Hinterlassenschaft des Jakob Signer, Mels, meldete Karl Peter eine Forderung an, die mit Fr. 11'004.80 kolloziert wurde. Auf Klage eines Miterben und Gläubigers der Hinterlassenschaft, Jakob Signer, der mit einer Forderung von Fr. 7500.-- rechtskräftig kolloziert ist, hob das Kantonsgericht von St. Gallen jene Kollokation der Forderung von Peter auf, mit der Begründung, ein Anspruch Peters könne nur gegen die Witwe des Erblassers persönlich, nicht gegen die Erbengemeinschaft bzw. die Hinterlassenschaft entstanden sein.
B.-
Mit der vorliegenden Berufung gegen das kantonsgerichtliche Urteil vom 9. März 1956 stellt Peter den Antrag, dieses sei aufzuheben und die Klage Signers abzuweisen. Er beharrt somit auf dem Begehren um Kollokation seiner Forderung von Fr. 11'004.80.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Den Streitwert bezeichnet der Berufungskläger, ohne Begründung, mit Fr. 11'004.80, d.h. mit dem vollen Betrag seiner Forderung. Indessen handelt es sich um eine
BGE 82 III 94 S. 95
Kollokationsklage nach
Art. 250 SchKG
, deren Streitwert dem voraussichtlich auf den umstrittenen Anspruch (Forderungsbetrag, Klassenvorrang nach
Art. 219 SchKG
, Pfandrecht usw.) entfallenden Konkursbetreffnis bzw. Mehrbetreffnis entspricht, wie in
BGE 65 III 28
von der II. Zivilabteilung und in
BGE 65 II 41
daran anschliessend von der I. Zivilabteilung des Bundesgerichtes entschieden worden ist. Für den Kollokationskläger Signer geht der Streit um den Dividendenanteil, den er je nach Wegweisung oder Zulassung der Forderung Peters gewinnt oder verliert; für den Beklagten Peter um den Wert der Konkursdividende, die er bei endgültiger Kollokation seines Anspruchs erhält. Da bei Obsiegen des Klägers ihm allein die dem Beklagten entgehende Dividende zufällt (
Art. 250 Abs. 3 SchKG
), sind diese Werte übereinstimmend. Streitwert ist also die vom Beklagten angestrebte, ihm vom Kläger in vollem Betrag streitig gemachte Dividende.
Diese Berechnungsweise wird allerdings von GULDENER, Schw. Zivilprozessrecht 1947, I S. 84 N. 22, c, beanstandet, in der Meinung, es wäre richtiger - nach frührerer Praxis - auf die Höhe der Forderung abzustellen, da auch bei Wegfall jeder Dividende der Gläubiger doch ein Interesse habe, einen Verlustschein zu erhalten. Das Bundesgericht hat jedoch die neuere Praxis seither bestätigt (
BGE 79 III 173
,
BGE 81 II 474
und III 73). Daran ist festzuhalten. Im Kollokationsprozesse selbst geht es nur um die Kollokation und um die ihr entsprechende Teilnahme am Konkursergebnis. Das in einem solchen Prozess ergehende Urteil hat gar keine Rechtskraftwirkung über den Konkurs hinaus, dem Gemeinschuldner gegenüber. Dieser kann, wenn er auf Grund des Konkursverlustscheins betrieben wird, die Forderung neuerdings bestreiten, und hierauf muss, sofern gegen ihn noch kein Urteil vorliegt, ein solches nun erst erstritten werden. Deshalb ist denn auch nach
Art. 265 Abs. 1 SchKG
im Verlustschein anzugeben, ob die Forderung vom Gemeinschuldner anerkannt oder bestritten worden war. Nur im erstern Falle gilt der Verlustschein
BGE 82 III 94 S. 96
(kraft der Erklärung des Schuldners, nicht auch kraft eines Kollokationsurteils) als Schuldanerkennung im Sinne von
Art. 82 SchKG
, wobei gegenüber provisorischer Rechtsöffnung auch hier die Aberkennungsklage vorbehalten bleibt. Angesichts der beschränkten Rechtskraftwirkung eines Kollokationsurteils ist nach wie vor als eigentlicher Streitgegenstand nur die Art der Teilnahme an der Liquidation zu betrachten. Freilich ist ein Kollokationsstreit wegen der Wirkungen des Verlustscheins auch dann zulässig, wenn das auf den bestrittenen Anspruch entfallende Konkursbetreffnis voraussichtlich Null sein wird. In diesem Fall ist aber nur ein minimaler Streitwert, entsprechend dem mehr nur symbolischen, jedenfalls ausserhalb des unmittelbaren Prozesserfolges liegenden Streitinteresse, anzunehmen. Die geringe Möglichkeit, dass der zu Verlust kommende Betrag sich später doch noch einbringen lasse, kann nur in solcher Weise berücksichtigt werden.
Ob nun der Berufungskläger bei Kollokation seiner Forderung von Fr. 11'004.80 eine Dividende von wenigstens Fr. 4000.-- zu erwarten hätte, ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil nicht, und die Berufungsschrift enthält nichts zu dieser Frage. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen besteht eine solche Aussicht kaum. Der Konkurs wurde ja zunächst mangels Aktiven eingestellt und wird nun erst nach Vorschussleistung durchgeführt. Jedenfalls ist es nicht Sache des Bundesgerichtes, von Amtes wegen darüber Nachforschungen anzustellen. Vielmehr hätte der Berufungskläger gemäss
Art. 55 Abs. 1 lit. a OG
diese Frage abklären und eine in sachentsprechender Weise kurz begründete Streitwertangabe machen müssen (
BGE 79 III 173
,
BGE 81 II 74
ff.).
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Berufung wird nicht eingetreten. | null | nan | de | 1,956 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e8615ff-b802-4a4d-a4a9-6b2ded8bd5ec | Urteilskopf
80 IV 15
5. Urteil des Kassationshofes vom 12. Februar 1954 i. S. Weyeneth und Flückiger gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt. | Regeste
Art. 157, 18, 20 StGB
.
1. Wucher, begangen durch Ausbeutung der Notlage einer juristischen Person (Erw. 1). Vorübergehende Notlage genügt
2. Wucher durch Diskontierung von Wechseln, die mit gefälschten Akzepten versehen sind; offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (Erw. 2).
3. Vorsatz des Wuchers. Bewusstsein der Rechtswidrigkeit gehört nicht dazu. Zureichende Gründe für Rechtsirrtum verneint (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 15
BGE 80 IV 15 S. 15
A.-
Hans Weyeneth, der ein Lichtspieltheater führt, stand in den Monaten Februar bis Mai 1948 der schwer überschuldeten Eos Film AG, die keine Bankkredite mehr erhielt, finanziell bei und liess sich dafür von ihr sechs Wechsel von je Fr. 20'000.-- mit Laufzeiten von durchschnittlich zwei bis zweieinhalb Monaten ausstellen und übergeben. Jeder Wechsel trug die Unterschrift eines dem Wechselnehmer als zahlungsfähig bekannten Akzeptanten. Auf den beiden ersten Wechseln war sie echt. Auf den andern vier hatte Gertrud Bachthaler, die Leiterin der
BGE 80 IV 15 S. 16
Eos Film AG, sie hingesetzt, was Weyeneth nicht wusste. Weyeneth liess die Wechsel von Banken diskontieren. Der Ausstellerin der Wechsel leistete er nur Beträge, die um 10% unter den Wechselsummen blieben. In einem Falle zog er ausserdem seine Diskontspesen ab, und in einem anderen Falle liess er sich über den erwähnten Einschlag hinaus versprechen, dass er einen bestimmten Film während unbestimmter Zeit unentgeltlich in seinem Theater aufführen dürfe, wodurch er an Mietgeld mindestens Fr. 2000.-- einsparen konnte. Bei Verfall eines der beiden ersten Wechsel nahm er an Stelle der Zahlung einen Erneuerungswechsel mit knapp zwei Monaten Laufzeit an. Dafür liess er sich von der Eos Film AG 10% ihrer Einnahmen aus der Vermietung eines bestimmten Filmes versprechen und ausserdem das Recht einräumen, diesen Film während vierzehn Tagen unentgeltlich in seinem Theater aufzuführen, Vorteile, die er und Frau Bachthaler auf zusammen mindestens Fr. 7000.-- schätzten. Weyeneth wusste von Anfang an, dass Gertrud Bachthaler, die für die Eos Film AG handelte, die erwähnten Geschäfte nur einging, weil die Gesellschaft finanziell sehr bedrängt war und sich das dringend benötigte Geld nicht anders verschaffen konnte.
Johann Flückiger liess sich in den Monaten März bis Mai 1948 von der Eos Film AG fünf Wechsel von je Fr. 20'000.--, zwei Wechsel von je Fr. 25'000.-- und einen Wechsel von Fr. 30'000.-- mit Laufzeiten von einem bis drei Monaten ausstellen und übergeben und bezahlte ihr dafür, um ihr finanziell beizustehen, Beträge aus, die in fünf Fällen um 10%, in zwei Fällen um 11, 1% und in einem Falle (bei einer Laufzeit von einem Monat und einer Wechselsumme von Fr. 25'000.--) um 20% unter der Wechselsumme blieben. Für jenen Wechsel, den er gegen 20% Einschlag erhielt, nahm er bei Verfall einen Erneuerungswechsel mit einer Laufzeit von einem Monat an, wobei die Wechselsumme von Fr. 25'000.-- auf Fr. 27'000.-- erhöht wurde. Als der Erneuerungswechsel verfiel, liess er
BGE 80 IV 15 S. 17
sich einen zweiten solchen an Zahlungsstatt geben, mit zwei Monaten Laufzeit und einer Wechselsumme von Fr. 30'000.--. Alle Wechsel trugen die gefälschte Unterschrift eines zahlungsfähigen Akzeptanten, doch hatte Flückiger von den Fälschungen keine Kenntnis. Er war sich bei der Annahme der Wechsel bewusst, dass Gertrud Bachthaler nur deshalb für die Eos Film AG zu den erwähnten Bedingungen Geld aufnahm, weil die Gesellschaft infolge finanzieller Schwierigkeiten, die er freilich nur für vorübergehend hielt, anderswo günstiger keines mehr erhielt.
Am 29. September 1948 wurde über die Eos Film AG der Konkurs eröffnet.
B.-
Am 23. September 1953 verurteilte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt Weyeneth und Flückiger wegen wiederholten Wuchers zu bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafen von je einem Monat, unter Auferlegung von zwei Jahren Probezeit, Weyeneth ausserdem zu einer Busse von Fr. 1000.-- und Flückiger zu einer solchen von Fr. 600.--.
C.-
Die Verurteilten führen Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und die Sache zu ihrer Freisprechung an das Appellationsgericht zurückzuweisen.
Sie machen geltend, es sei fraglich, ob eine juristische Person, wie hier die Eos Film AG, Opfer des Wuchers nach
Art. 157 StGB
sein könne; jedenfalls seien die gesetzlichen Merkmale der Notlage, Abhängigkeit, Geistesschwäche, Unerfahrenheit, Charakterschwäche nicht gleich zu werten wie bei der natürlichen Person, und namentlich sei eine Notlage nicht ohne weiteres anzunehmen, da die
Art. 725, 817 und 903 OR
den Eintritt einer solchen verhindern sollten. Zudem seien die gefälschten Wechsel in Wirklichkeit wertlos gewesen, weshalb ein offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung jedenfalls nicht zu Ungunsten der Eos Film AG bestanden habe. Den Beschwerdeführern habe auch der Vorsatz gefehlt.
BGE 80 IV 15 S. 18
Sie hätten nicht den Eindruck gehabt, dass sich die Eos Film AG in einer Notlage befinde; denn sie hätten an den Bestand und den Wert der Akzepte geglaubt, die sie für echt hielten. Sie hätten auch keine Notlage "ausbeuten" wollen. Das Bewusstsein eines "offenbaren Missverhältnisses" zwischen den gewährten oder versprochenen Vermögensvorteilen und der eigenen Leistung habe ihnen ebenfalls gefehlt; aus den Äusserungen der Frau Bachthaler, deren unglaubliche Überredungskunst die Vorinstanzen zu wenig berücksichtigt hätten, hätten sie annehmen dürfen, der Einschlag von 10% sei durchaus üblich.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 157 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
macht sich strafbar, wer die Notlage, die Abhängigkeit, die Geistesschwäche, die Unerfahrenheit, die Charakterschwäche oder den Leichtsinn einer Person ausbeutet, um sich oder einem andern für eine Vermögensleistung Vermögensvorteile gewähren oder versprechen zu lassen, die mit der Leistung in einem offenbaren Missverhältnis stehen.
Diese Bestimmung schützt das Vermögen (vgl. die Überschrift zum zweiten Titel und den Randtitel zu Art. 148 ff.) und kommt daher auch einer juristischen Person als Träger von Vermögensrechten zugute, gleichgültig ob sie selber oder ob vielmehr das für sie handelnde Organ sich in einer vom Täter ausgebeuteten Notlage, Abhängigkeit usw. befunden hat. Nach dem Wortlaut ist nicht nötig, dass die Person, deren Lage oder Eigenschaften der Täter ausbeutet, mit dem Geschädigten identisch sei; es genügt, dass die Ausbeutung überhaupt zum Mittel gemacht werde, um einen auf Austausch von Vermögensleistungen gerichteten Vertrag, in welchem Leistung und Gegenleistung in einem offenbaren Missverhältnis stehen, zustande zu bringen. Selbst der französische Text, der im Gegensatz zum deutschen und italienischen verlangt, dass der Täter sich (oder einem andern) den Vermögensvorteil
BGE 80 IV 15 S. 19
durch die sich in Not usw. befindende Person ("par elle") habe gewähren oder versprechen lassen, ist nicht anders auszulegen; denn damit ist nicht gesagt, dass diese Person die Leistung oder das Versprechen im eigenen Namen erbracht bzw. abgegeben haben müsse, nicht auch als Organ einer juristischen Person habe handeln können. Wucher kann daher z.B. begangen werden, indem der Täter die Geistesschwäche des Verwaltungsrates oder Geschäftsführers einer Aktiengesellschaft ausbeutet, um sich zu Lasten der Gesellschaft Leistungen versprechen zu lassen, die zu den Gegenleistungen in einem offenbaren Missverhältnis stehen.
So verhält es sich hier freilich nicht. Den Beschwerdeführern wird nicht vorgeworfen, sie hätten, um die Eos Film AG zu bewuchern, die Notlage der Geschäftsführerin Gertrud Bachthaler ausgebeutet, sondern die Gesellschaft selber soll sich in der ausgebeuteten Notlage befunden haben. Die Person, deren Lage ausgebeutet wurde, ist hier mit der Geschädigten identisch; nur ist sie nicht eine natürliche, sondern eine juristische Person. Aber auch dieser Tatbestand wird von Art. 157 Ziff. 1 Abs. 1 erfasst. Diese Bestimmung spricht von einer Person schlechthin, nicht von einer natürlichen Person. Wenn und soweit auch eine juristische Person sich in einer Lage befinden oder eine Eigenschaft aufweisen kann, wie sie in der erwähnten Norm umschrieben sind, zieht die wucherische Ausbeutung dieser Lage oder Eigenschaft Strafe nach sich.
Im vorliegenden Falle geht es nur um die Frage der "Notlage". In einer solchen kann sich auch die juristische Person befinden. Daran ändert die Anzeigepflicht bei Kapitalverlust und bei Überschuldung (
Art. 725, 817, 903 OR
) nichts. Abgesehen davon, dass man sich fragen kann, ob nicht schon der die Anzeigepflicht auslösende Tatbestand die Voraussetzungen einer "Notlage" im Sinne des
Art. 157 StGB
erfüllt, kann in Fällen, in denen die Anzeigepflicht verletzt worden ist und die Lage sich dadurch verschlimmert hat, die Notlage nicht deshalb
BGE 80 IV 15 S. 20
verneint werden, weil sie durch Erfüllung dieser Pflicht hätte gemildert oder vermieden werden können.
Art. 157 StGB
frägt nicht nach den Ursachen der Notlage; es genügt, dass sie bestand und der Täter sie ausbeutete.
2.
Die Mehrzahl der Wechsel enthielten ein gefälschtes Akzept. Das schliesst Wucher in diesen Fällen nicht aus. Die Fälschungen ändern nichts daran, dass die Beschwerdeführer sich von der Eos Film AG - übrigens auch wechselrechtlich durchaus gültig - im Sinne des
Art. 157 StGB
Vermögensvorteile "versprechen" und "gewähren" liessen. Auch kann nicht gesagt werden, diese hätten objektiv zu den Leistungen der Beschwerdeführer in keinem offenbaren Missverhältnis gestanden, weil die Fälschung der Akzepte die Gefahr, dass die Wechselnehmer zu Verlust kommen könnten, erhöht habe. Die Vergütungen, welche die Eos Film AG versprach, um von den Beschwerdeführern für kurze Zeit Geld zu erhalten, entsprachen einem Jahreszins von 60 und mehr Prozent. Selbst das hohe Verlustrisiko, das wegen der hoffnungslosen finanziellen Lage der Eos Film AG objektiv bestand, rechtfertigte so masslose Überforderung nicht.
Art. 157 StGB
wäre sonst gerade in den Fällen, in denen der Bewucherte wegen seiner verzweifelten Lage des Schutzes am meisten bedurfte, toter Buchstabe.
3.
Vorsatz setzt unter anderem voraus, dass den Beschwerdeführern die Notlage der Eos Film AG bekannt war. Dieses Wissen ist von der Vorinstanz verbindlich festgestellt worden (Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277 bis Abs. 1 BStP). Dass die Beschwerdeführer meinten, der Eos Film AG fehlten nur vorübergehend die nötigen Mittel, ist unerheblich; eine Notlage kann auch in vorübergehenden finanziellen Schwierigkeiten bestehen, weshalb der Vorsatz, sich solche zunutze zu machen, genügt.
Zum Vorsatz gehört ferner, dass die Beschwerdeführer wussten, in welchem Verhältnis Leistung und Gegenleistung zueinander standen. Auch dieses Wissen steht fest. Die irrige Vorstellung über die Gültigkeit der Akzepte
BGE 80 IV 15 S. 21
schliesst es nicht aus; denn die Beschwerdeführer stellten sich nicht einen Sachverhalt vor, der für sie günstiger, sondern einen solchen, der für sie ungünstiger gewesen wäre, wenn er der Wirklichkeit entsprochen hätte. Nicht nötig ist, dass die Beschwerdeführer das bestehende Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung als "offenbares Missverhältnis" würdigten, wie der Richter es tut; denn das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit, ja Strafbarkeit einer Handlung gehört nicht zum Vorsatz; ein Irrtum in dieser Hinsicht wäre nach
Art. 20 StGB
zu berücksichtigen; doch entfällt die Anwendung dieser Bestimmung hier schon deshalb, weil die Beschwerdeführer sich auf keinen zureichenden Grund zu berufen vermöchten, der ihnen das Gefühl hätte nehmen können, so skrupellose Ausnützung der Notlage einer Aktiengesellschaft verstosse nicht zum mindesten irgendwie gegen das, was recht ist.
Endlich war den Beschwerdeführern auch bekannt, dass die Eos Film AG die Wechselverpflichtungen nur wegen ihrer Notlage zu den vereinbarten Bedingungen einging. Sie waren sich also bewusst, dass sie durch den Abschluss der Geschäfte zu diesen Bedingungen die Notlage ausbeuteten.
Indem sie trotz ihres Wissens die Geschäfte abschlossen, und zwar, wie nicht bestritten wird, aus freiem Willensentschlusse, hatten sie notwendigerweise auch den zum Vorsatz gehörenden Willen, die den Wuchertatbestand ausmachenden Merkmale zu verwirklichen.
Die Vorinstanz hat den Vorsatz somit zu Recht bejaht.
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,954 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2e86db2e-8924-49fd-a4d5-b6be872811a5 | Urteilskopf
135 III 640
93. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour de droit civil dans la cause X. SA contre Y. (recours en matière civile)
4A_354/2009 du 23 décembre 2009 | Regeste
Personalverleihunternehmen, das einem allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag unterstellt ist; Verpflichtungen des Verleihers gemäss
Art. 20 Abs. 1 AVG
.
Die Klausel eines allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrags, die den Arbeitgeber verpflichtet, den freien Übertritt aus einer kollektiven Erwerbsausfallversicherung für Krankheit in eine Einzelversicherung zu gewähren, ist keine Lohnbestimmung im Sinne von
Art. 20 Abs. 1 AVG
(E. 2). | Sachverhalt
ab Seite 641
BGE 135 III 640 S. 641
A.
En juillet 2003, X. SA, entreprise de travail temporaire, a engagé Y. comme collaborateur auquel des missions seraient confiées. Le chiffre 4.4 du contrat prévoit que, lorsque l'entreprise locataire de services est soumise à une convention collective de travail étendue, X. SA, en tant que bailleresse de services, appliquera au travailleur temporaire les dispositions conventionnelles qui concernent le salaire et la durée du travail.
La convention collective de travail (CCT) entrant en ligne de compte en l'espèce est la CCT romande du second oeuvre du 11 novembre 2000. Son champ d'application a été étendu par arrêtés du Conseil fédéral jusqu'au 31 décembre 2003, puis jusqu'au 31 décembre 2005. Cette convention comprend une annexe V, intitulée "Dispositions d'application relatives à l'assurance de l'indemnité journalière en cas de maladie et de maternité dans le canton de Vaud".
Selon le contrat liant X. SA et Y., ce dernier est assuré contre la perte de gain en cas de maladie auprès de l'assureur A. SA. En 2001, X. SA avait conclu avec cette société une assurance-maladie collective d'indemnités journalières selon la LCA, destinée au personnel temporaire. En dérogation à l'art. 6 des conditions générales d'assurance (CGA), une clause du contrat passé avec l'assureur supprime le droit de transfert de l'assuré de l'assurance collective à l'assurance individuelle, sauf pour les chômeurs au sens de l'
art. 10 LACI
.
Y. a accompli des missions de peintre en bâtiment pendant deux semaines à partir du 11 juillet 2003, ainsi que du 20 août au 17 septembre 2003. Le 4 septembre 2003, il a subi un accident professionnel, qui a provoqué une extension arrière de son bras gauche. Le travailleur a effectué une nouvelle mission du 29 septembre au 10 octobre 2003. Par la suite, il a chuté sur le côté où il avait été victime de l'étirement du 4 septembre 2003. Il a repris une mission le 20 octobre 2003, mais a dû être mis en incapacité de travail trois jours plus tard. Toutes les missions ont été effectuées auprès d'entreprises situées dans le canton de Vaud.
En décembre 2003, X. SA a résilié le contrat de travail pour le 26 décembre 2003. Elle a informé le collaborateur que son dossier avait été transmis à la SUVA et que, comme il était au bénéfice d'une CCT étendue, il avait droit, en cas d'accident, à un maximum de 720 jours indemnisés sur une période de 900 jours.
BGE 135 III 640 S. 642
Y. a bénéficié de prestations de l'assurance-accidents jusqu'au 20 juin 2004. A cette date, la SUVA a supprimé les prestations au motif que les troubles qui subsistaient n'étaient plus dus à l'accident, mais relevaient exclusivement de la maladie. Y. s'est alors adressé à X. SA et à A. SA, qui ont refusé de lui verser un quelconque montant. Il a été totalement incapable de travailler du 21 juin 2004 au 31 janvier 2006; son incapacité de travail a été de 50 % du 1
er
février au 31 mai 2006.
B.
Y. a ouvert action contre X. SA, concluant en dernier lieu au paiement de 99'716 fr. 50 plus intérêts. Le montant réclamé correspond aux indemnités perte de gain en cas de maladie qui, selon le demandeur, ne lui ont pas été versées par la faute de la défenderesse.
Dans un premier jugement, le Tribunal civil de l'arrondissement de l'Est vaudois a rejeté la demande.
Statuant sur recours du travailleur, la Chambre des recours du Tribunal cantonal du canton de Vaud a annulé le jugement de première instance et renvoyé la cause à l'autorité inférieure pour nouvelle instruction dans le sens des considérants et nouveau jugement. En substance, la cour cantonale a jugé qu'en n'offrant pas au travailleur le libre passage dans l'assurance perte de gain individuelle lors de la résiliation du contrat de travail, X. SA avait violé les obligations découlant de la CCT du second oeuvre et devait réparer le préjudice subi par le collaborateur.
Dans son nouveau jugement, le tribunal d'arrondissement a condamné X. SA à payer à Y. la somme de 99'403 fr. 20 avec intérêts à 5 % dès le 1
er
septembre 2005.
Le recours interjeté par X. SA contre cette décision a été partiellement admis par la Chambre des recours, qui a réduit à 61'223 fr. 25 le capital à verser par X. SA à Y.
C.
X. SA a formé un recours en matière civile, concluant au rejet de l'action en paiement de Y.
(résumé)
Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
En premier lieu, la recourante conteste avoir été soumise à l'obligation conventionnelle d'offrir au travailleur intérimaire licencié le libre passage de l'assurance collective à l'assurance individuelle de perte de gain.
BGE 135 III 640 S. 643
2.1
Pour son personnel temporaire, la recourante a conclu avec A. SA une assurance-maladie collective d'indemnités journalières selon la LCA (RS 221.229.1). L'art. 6 des CGA accorde à tout assuré domicilié en Suisse le droit de demander son transfert dans l'assurance individuelle s'il quitte le cercle des assurés, s'il est considéré comme chômeur au sens de l'
art. 10 LACI
(RS 837.0) ou si le contrat cesse de produire ses effets. En dérogation à cette disposition, une clause du contrat d'assurance exclut ce droit de transfert, sauf pour les chômeurs. Cette exception s'explique par l'
art. 100 al. 2 LCA
, lequel déclare l'
art. 71 LAMal
(RS 832.10) applicable par analogie aux assurés réputés chômeurs au sens de l'
art. 10 LACI
. Or, l'
art. 71 al. 1 LAMal
prévoit précisément un droit de transfert dans l'assurance individuelle en cas de sortie de l'assurance collective.
En l'espèce, après la fin des rapports de travail, l'intimé n'était pas en recherche d'emploi, mais percevait des indemnités de l'assurance-accidents. N'étant pas chômeur, il ne pouvait pas, sur la base du contrat d'assurance, demander son transfert dans l'assurance individuelle à la fin des rapports de travail.
Il convient dès lors de se demander si, selon la CCT du second oeuvre, l'employeur doit conclure une assurance collective perte de gain en cas de maladie, prévoyant un droit de passage dans l'assurance individuelle lorsque le travailleur quitte le cercle des assurés et, le cas échéant, si la recourante, bailleresse de services, est liée par une telle obligation envers l'intimé et doit supporter les conséquences de l'absence de libre passage.
2.2
Aux termes de l'art. 33 ch. 1 de la CCT du second oeuvre, le travailleur est assuré contre la perte de gain résultant de la maladie et de la maternité; les conditions d'assurance doivent être au moins équivalentes à celles de la LAMal (art. 67 ss). Les art. 67 à 77 LAMal forment le titre 3 de la loi, relatif à l'assurance facultative d'indemnités journalières. L'
art. 71 al. 1 LAMal
accorde à l'assuré le droit de passer dans l'assurance individuelle de l'assureur lorsqu'il sort de l'assurance collective parce qu'il cesse d'appartenir au cercle des assurés défini par le contrat ou parce que le contrat est résilié. Pour le canton de Vaud, l'
art. 33 al. 1 let
. c de la CCT du second oeuvre renvoie au surplus à l'annexe V dont le chiffre 9 traite du "passage en assurance individuelle". Selon la première phrase de cette disposition, le travailleur assuré doit être informé sur ses droits de passage dans une autre assurance ou dans l'assurance individuelle de
BGE 135 III 640 S. 644
l'assureur gérant l'assurance collective de l'entreprise. Sur le vu de ce qui précède, l'employeur soumis à la CCT du second oeuvre et à son annexe V doit conclure pour ses employés une assurance perte de gain en cas de maladie, dont les conditions doivent notamment prévoir le droit de passer de l'assurance collective à l'assurance individuelle lorsque le travailleur cesse d'appartenir au cercle des assurés.
2.3
Le chiffre 4.4 du contrat liant les parties correspond à la première phrase de l'art. 20 al. 1 de la loi fédérale du 6 octobre 1989 sur le service de l'emploi et la location de services (LSE; RS 823.11), dont la teneur n'a pas été modifiée par l'art. 2 ch. 4 de l'arrêté fédéral du 17 décembre 2004, entré en vigueur le 1
er
avril 2006 (RO 2006 981, 994). Ainsi, lorsqu'une entreprise locataire de services est soumise à une convention collective de travail étendue, le bailleur de services doit appliquer au travailleur celles des dispositions de la convention qui concernent le salaire et la durée du travail. La CCT du second oeuvre est une convention avec déclaration d'extension. Il sied dès lors d'examiner si l'obligation de garantir le libre passage de l'assurance collective à l'assurance individuelle de perte de gain en cas de maladie résulte d'une disposition concernant le salaire au sens de l'
art. 20 al. 1 LSE
.
2.3.1
Selon la jurisprudence, la loi s'interprète en premier lieu d'après sa lettre (interprétation littérale). Si le texte n'est pas absolument clair, si plusieurs interprétations de celui-ci sont possibles, il convient de rechercher quelle est la véritable portée de la norme, en la dégageant de tous les éléments à considérer, soit de sa relation avec d'autres dispositions légales (interprétation systématique), du but poursuivi, de l'esprit de la règle, des valeurs sur lesquelles elle repose, singulièrement de l'intérêt protégé (interprétation téléologique), ainsi que de la volonté du législateur telle qu'elle ressort notamment des travaux préparatoires (interprétation historique). Le sens que prend la disposition dans son contexte est également important (
ATF 135 II 243
consid. 4.1 p. 251;
ATF 132 III 18
consid. 4.1 p. 20/21;
ATF 131 II 361
consid. 4.2 p. 368).
2.3.2
A l'occasion d'une modification de l'ordonnance du 16 janvier 1991 sur le service de l'emploi (OSE; RS 823.111) en vigueur depuis le 1
er
décembre 1999, le Conseil fédéral a introduit l'art. 48a dont l'alinéa 1 précise quelles sont les dispositions concernant le salaire au sens de l'
art. 20 LSE
; entrent dans cette définition notamment les dispositions régissant le salaire en cas d'empêchement du
BGE 135 III 640 S. 645
travailleur sans faute de sa part selon l'
art. 324a CO
(let. f) ou la part des primes à l'assurance-maladie (assurance pour perte de gain) selon l'
art. 324a al. 4 CO
(let. g).
Auparavant, le Tribunal fédéral avait déjà eu l'occasion d'interpréter l'
art. 20 al. 1 LSE
(
ATF 124 III 126
). Il a ainsi jugé que les dispositions concernant le salaire incluaient celles relatives au salaire en cas d'empêchement de travailler, notamment pour cause de maladie (
art. 324a CO
). Comme la CCT appliquée dans l'arrêt en cause prescrivait une assurance perte de gain en cas de maladie (
art. 324a al. 4 CO
), il incombait au bailleur de services d'assurer le travailleur, la police devant garantir dès le premier jour d'emploi, conformément aux exigences de la CCT, le versement d'indemnités journalières correspondant à 80 % du salaire, pendant 720 jours dans une période de 900 jours consécutifs. Cette conclusion se révélait conforme au but visé par l'
art. 20 LSE
, qui est de rendre loyales les conditions de concurrence, en particulier sur le plan des salaires. En effet, les coûts salariaux comprennent le coût de la protection du travailleur contre la perte de gain en cas d'incapacité de travail. Or, si le bailleur de services pouvait accorder au travailleur intérimaire, en matière de salaire en cas d'empêchement de travailler, des droits inférieurs à ceux prévus par la CCT, cela provoquerait une sous-enchère salariale nuisible aux employeurs qui appliquent la CCT à leurs propres travailleurs. Le Tribunal fédéral a également relevé que la conclusion par l'employeur d'une assurance perte de gain en cas de maladie, au bénéfice d'un travailleur intérimaire, n'est nullement étrangère au statut de ce dernier, contrairement à des dispositions de CCT relatives par exemple aux caisses de pension (arrêt précité, consid. 1b/bb et consid. 1c p. 129 ss).
En l'espèce, l'enjeu ne porte pas sur un salaire ou une indemnité d'assurance à verser en cas de maladie, mais sur la possibilité, pour le travailleur intérimaire, de passer à l'assurance perte de gain individuelle, une fois que les rapports de travail ont pris fin et qu'il a quitté le cercle des personnes affiliées à l'assurance collective. De manière générale, le libre passage facilite le changement d'assurance. Il s'agit du droit de l'affilié de contracter une nouvelle assurance pour des prestations identiques à celles dont il bénéficiait dans l'assurance collective, sans nouvel examen de santé et sans qu'une réserve puisse être formulée; le libre passage implique également que la nouvelle prime est calculée selon l'âge d'entrée dans l'assurance collective, mais elle sera fixée selon le tarif - plus élevé
BGE 135 III 640 S. 646
- des primes individuelles et ne sera plus payée en partie par l'employeur (THOMAS MATTIG, Freizügigkeit in der Krankentaggeldversicherung nach VVG, in Krankentaggeldversicherung: Arbeits- und versicherungsrechtliche Aspekte, 2007, p. 99 et p. 102; NORDMANN/THONNEY, Les effets de la fin des rapports de travail sur les indemnités journalières en cas de maladie dans l'assurance collective LCA, Colloques et journées d'étude organisées par l'IRAL, 2002, p. 846). Ainsi défini, le libre passage d'une assurance à une autre ne constitue manifestement pas un "salaire" pris au sens littéral.
La question se pose dès lors de savoir, lorsqu'il existe une CCT instituant un régime dérogatoire au sens de l'
art. 324a al. 4 CO
, si les dispositions concernant le salaire selon l'
art. 20 LSE
comprennent toutes les dispositions concernant l'assurance perte de gain figurant dans la CCT.
A cet égard, on ne saurait tirer des conclusions catégoriques de la mention du libre passage dans l'
ATF 124 III 126
déjà cité (consid. 3 p. 133); il s'agit en effet d'un bref raisonnement par surabondance, qui reconnaît incidemment au travailleur,
encore lié au bailleur de services par un contrat de travail
, le droit de passer dans l'assurance individuelle au cas où l'employeur voudrait le priver du bénéfice de l'assurance collective au motif que la CCT n'était plus étendue au moment où le salarié est tombé malade. Pour sa part, l'
art. 48a al. 1 OSE
mentionne l'
art. 324a al. 4 CO
, base des régimes dérogatoires mettant en oeuvre l'assurance perte de gain,
uniquement
en rapport avec la part des primes à l'assurance-maladie perte de gain, insérée à ce titre dans la définition du salaire (let. g). Dans ses directives et commentaires relatifs à la LSE, à l'OSE et à la TE-LSE (accessibles sur
http://www.seco.admin.ch/dokumentation/publikation
), le Secrétariat d'Etat à l'économie (SECO) range dans les dispositions concernant le salaire au sens de l'
art. 20 LSE
, de manière générale, "les dispositions des CCT étendues relatives aux assurances pour perte de gain et aux différents cas de maintien du salaire". Mais, plus loin, il cite le droit du travailleur intérimaire, reconnu dans l'
ATF 124 III 126
, à obtenir la prestation prévue par l'assurance perte de gain conforme à la CCT, puis la couverture d'assurance, les délais d'attente ainsi que la différence entre les taux de cotisation des employeurs et ceux des salariés. Or, ces éléments concernent toujours l'indemnité destinée à se substituer au salaire, qu'il s'agisse de son montant, des conditions de son versement ou de son financement.
BGE 135 III 640 S. 647
Il convient de rappeler à ce propos que, notamment pour les cas de maladie de ses employés, l'employeur peut conclure une assurance d'indemnités journalières, au lieu de supporter lui-même le paiement du salaire pendant un temps limité conformément au régime de base de l'
art. 324a al. 1 et 2 CO
. Ce régime dérogatoire, admis par l'
art. 324a al. 4 CO
, suppose un accord des parties sur les points essentiels suivants: le pourcentage du salaire assuré; les risques couverts; les restrictions de couverture; la durée des prestations; les modalités de financement des primes; la durée du délai d'attente. Il faut en plus que les prestations soient au moins équivalentes au régime de base. Ce sera le cas si l'assurance est financée à parts égales par employeur et travailleur et si elle prend effet dès le premier jour d'emploi, garantissant au travailleur absent pour cause de maladie des indemnités correspondant aux 80 % du salaire, versées pendant 730 jours dans une période de 900 jours consécutifs, sous déduction d'un délai d'attente de deux jours (PHILIPPE CARRUZZO, Le contrat individuel de travail, 2009, p. 210/211). Un éventuel libre passage de l'assurance collective à l'assurance individuelle n'apparaît ainsi ni comme un élément essentiel de l'accord des parties dérogeant au régime de base, ni comme un facteur permettant d'apprécier l'équivalence des prestations. Comme l'
art. 48a al. 1 let
. f OSE l'indique expressément, les dispositions concernant le salaire au sens de l'
art. 20 LSE
sont notamment les dispositions régissant le salaire en cas d'empêchement du travailleur pour cause de maladie (
art. 324a CO
). Parmi celles-ci, l'
art. 324a al. 4 CO
permet l'instauration d'un régime dérogeant au régime de base, par exemple lorsqu'une CCT impose la conclusion d'une assurance perte de gain. Dans la logique du système, les dispositions conventionnelles concernant le salaire en cas de maladie ne peuvent alors être que celles qui ont trait, directement (mode de calcul, durée, délai d'attente) ou indirectement (taux de cotisation), à l'indemnité remplaçant le salaire. Il s'ensuit qu'une disposition d'une CCT relative à l'assurance perte de gain qui n'a rien à voir avec l'indemnité elle-même, comme celle offrant sur demande le libre passage de l'assurance collective à l'assurance individuelle, ne saurait être classée dans les dispositions concernant le salaire au sens de l'
art. 20 LSE
. Il n'y a pas de raison de s'écarter en l'espèce de l'interprétation littérale.
2.4
Sur le vu de ce qui précède, la cour cantonale a violé le droit fédéral en mettant à la charge de la recourante une obligation conventionnelle de garantir à l'intimé le libre passage de l'assurance collective à l'assurance individuelle. Dans ces conditions, le
BGE 135 III 640 S. 648
travailleur intérimaire ne saurait prétendre à la réparation du dommage qu'il aurait subi pour n'avoir pas bénéficié d'indemnités journalières en cas de maladie faute d'avoir pu demander son transfert dans l'assurance individuelle. Le recours doit être admis sans qu'il soit nécessaire d'examiner l'argumentation subsidiaire de la recourante. L'arrêt attaqué sera annulé et la demande en paiement de l'intimé sera rejetée. | null | nan | fr | 2,009 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2e8db4a2-c4b7-4019-b8b6-8830761ab966 | Urteilskopf
88 II 111
17. Extrait de l'arrêt de la Ie Cour civile du 20 février 1962 dans la cause Spalni contre Heimgartner et consorts. | Regeste
1. Anrechnung der Leistungen der SU VA auf die dem Geschädigten auf Grund des Zivilrechts zustehenden Schadenersatzanprüche (KUVG Art. 100). Frage der Gleichartigkeit der auf Grund des Zivilrechts und der gemäss dem Sozialversicherungsrecht zu vergütenden Schadensposten (Erw. 4).
2. Bemessung des Genugtuungsanspruches (Erw. 6).
3. Schuldpflicht des Versicherers für Verzugszinsen, die über die maximale Deckungssumme hinausgehen. Zahlungsangebot unter Bedingungen, die eine befreiende Wirkung ausschliessen (Erw. 7). | Sachverhalt
ab Seite 111
BGE 88 II 111 S. 111
Résumé des faits:
Pierre Spaini, né le 25 novembre 1889, fut renversé, le 17 mai 1957, par une voiture automobile appartenant à Michel Heimgartner et conduite par dame Hélène Schmid. Blessé à la tête, il subit une forte commotion cérébrale et dut être hospitalisé. Depuis lors, il est atteint d'une incapacité de travail totale et ne peut plus exercer sa profession.
BGE 88 II 111 S. 112
La Caisse nationale d'assurance en cas d'accident lui sert une rente.
Heimgartner était assuré contre la responsabilité civile auprès de l'Assurance mutuelle vaudoise qui fit différents versements à Spaini. Le 30 septembre 1959, elle lui offrit encore 14 723 fr. 50 moyennant signature d'une quittance aux termes de laquelle il renonçait à tout droit de réclamation ultérieure quelconque du chef de son accident et donnait quittance et décharge définitive, et sans aucune réserve, à l'Assurance mutuelle vaudoise contre les accidents, ainsi qu'à quiconque. Spaini ayant refusé de signer cette quittance telle quelle, il ne reçut pas le montant indiqué. Le 14 octobre 1959, il fit assigner l'Assurance en conciliation.
Spaini a, par la suite, actionné Heimgartner, dame Schmid et l'Assurance mutuelle vaudoise en réparation du solde de sa perte de gain et de son tort moral. Par arrêt du 3 octobre 1961, la Cour de justice du canton de Genève a fixé les dommages-intérêts encore dus à 10 471 fr. 30 en capital et l'indemnité pour tort moral à 5000 fr. Spaini, Heimgartner et dame Schmid ont recouru en réforme au Tribunal fédéral.
Erwägungen
Extrait des considérants:
4.
Aux termes de l'art. 100 LAMA, la Caisse nationale est subrogée, pour le montant de ses prestations, dans les droits de l'assuré contre tout tiers responsable de l'accident. Dans cette mesure, la victime ne peut donc réclamer la réparation de son préjudice à celui qui en répond civilement.
En l'espèce, la Cour de justice a calculé que, pour la période du 17 mai 1957 au 19 septembre 1961, la Caisse nationale avait payé 21 462 fr. 37 au demandeur à titre d'indemnité de chômage et de rente d'invalidité. Elle a déduit ce montant de l'indemnité de 39 210 fr. 19 due en vertu du droit civil. En outre, elle a soustrait les acomptes, de 7276 fr. 50 au total, versés par l'Assurance mutuelle
BGE 88 II 111 S. 113
vaudoise et elle a alloué à Spaini la différence, soit 10 471 fr. 30. En ce qui concerne la perte de gain future, les juges cantonaux ont considéré que la valeur de la rente servie par la Caisse nationale était supérieure de 2200 fr. à l'indemnité due d'après les règles du droit civil. Mais ils n'ont pas imputé cette différence sur le montant de 10 471 fr. 30 dû pour la période antérieure à l'arrêt cantonal.
Heimgartner et dame Schmid critiquent ce mode de procéder. A leur avis, on ne doit pas, en appliquant l'art. 100 LAMA, distinguer différentes périodes dans la perte de gain; il faut faire une seule masse des prestations dues à ce titre par la Caisse nationale et une autre des indemnités dues en vertu du droit civil, puis imputer le montant de la première sur celui de la seconde.
Pour que la Caisse nationale soit subrogée dans les droits du lésé et que, par conséquent, les montants payés par cette institution doivent être imputés sur les dommages-intérêts dus par les tiers responsables, il suffit en tout cas, d'après la jurisprudence du Tribunal fédéral (RO 85 II 258 et suiv.), que ces prestations couvrent des dommages de la même espèce. En revanche, il n'est pas nécessaire que ceux-ci coïncident. C'est ainsi que la Caisse nationale a également un droit de recours pour ses prestations afférentes à une période pour laquelle la victime ne peut prétendre à aucune indemnité d'après le droit civil.
Or les prestations dues par la Caisse nationale et les tiers civilement responsables en raison de l'incapacité de travail de la victime couvrent le même dommage, qu'elles concernent la pérìode antérieure au jugement cantonal ou le préjudice futur. Dans les deux cas, il s'agit en effet de réparer la perte de gain subie par le lésé. Sans doute fait-on, dans la jurisprudence, une distinction entre le préjudice antérieur à la décision cantonale (lequel est calculé concrètement) et le préjudice postérieur (qui est établi abstraitement, sur la base de tables d'activité). Mais cette distinction, qui a du reste été abandonnée en matière de
BGE 88 II 111 S. 114
perte de soutien (RO 84 II 300 consid. 7), ne touche pas à la nature du dommage; elle tend simplement à le calculer aussi exactement que possible. Du reste, si l'on suivait la méthode adoptée par la Cour de justice, l'importance du droit de recours de la Caisse nationale dépendrait fréquemment de la date du jugement cantonal ou de celle de la liquidation extrajudiciaire du sinistre, c'est-à-dire d'éléments que, le cas échéant, la victime et le tiers responsable pourraient influencer au préjudice de cette institution.
Ainsi, Heimgartner et dame Schmid soutiennent avec raison, en l'espèce, qu'on doit imputer, sur la somme des dommages-intérêts dus par les défendeurs pour réparer la perte de gain subie par Spaini, la valeur totale des prestations faites ou encore dues par la Caisse nationale à titre d'indemnité de chômage et de rente d'invalidité. Il faut donc déduire le montant de 2200 fr. des 10 471 fr. 30 dus pour la période antérieure à la décision cantonale, de sorte que les dommages-intérêts auxquels le demandeur peut encore prétendre en raison de sa perte de gain s'élèvent à 8271 fr. 30.
6.
Spaini critique le montant de l'indemnité qui lui a été allouée pour tort moral. A son avis, elle devrait être fixée à 10 000 fr.
Il est constant que l'accident a été causé par la seule faute de dame Schmid. D'autre part, il a eu pour Spaini des conséquences extrêmement graves. Alors que celui-ci, grâce à sa robuste santé, pouvait compter jouir encore d'une existence normale pendant de nombreuses années, il a vu sa vie brisée prématurément. Il ressort en effet du dossier qu'il subsiste, sur le plan physique comme sur la plan psychique, des séquelles importantes de la commotion cérébrale subie le 17 mai 1957. En particulier, le demandeur souffre de céphalées, de vertiges, de troubles mnésiques et d'angoisses.
Dans ces conditions, le montant qu'il réclame à titre d'indemnité pour tort moral n'est pas excessif. Il y a lieu de
BGE 88 II 111 S. 115
le lui allouer, avec l'intérêt à 5% dès le jour de l'accident. 7. - L'Assurance mutuelle vaudoise ne répond du dommage corporel et du tort moral subis par Spaini que pour 50 000 fr. au maximum et elle a déjà payé 35 276 fr.50. Aussi les juges cantonaux ont-ils prononcé qu'elle n'était tenue des indemnités alloués au demandeur qu'à concurrence de 14 723 fr. 50. Celui-ci prétend qu'elle doit en plus l'intérêt à 5% dès le 14 octobre 1959 au plus tard.
D'après la jurisprudence du Tribunal fédéral (RO 82 II 463; cf. également RO 81 II 519 consid. 6), les intérêts mis à la charge de l'assureur ne peuvent dépasser la somme assurée que s'il s'agit d'intérêts moratoires. Il faut donc que l'assureur ait été lui-même mis en demeure, conformément aux art. 41 LCA et 102 CO. En revanche, l'intérêt destiné à placer le lésé dans la situation où il se trouverait si le préjudice avait été réparé immédiatement (Schadenzins) fait partie des dommages-intérêts ou de la réparation morale et ne peut donc être alloué en plus de la somme assurée.
En l'espèce, les juges cantonaux ont constaté que l'Assurance mutuelle vaudoise n'avait jamais reçu de mise en demeure formelle et avait offert la somme de 14 723 fr. 50 le 30 septembre 1959. Ils en ont conclu qu'elle ne devait pas d'intérêt moratoire.
Cette argumentation est erronée. Sans doute, l'Assurance mutuelle vaudoise a offert 14 723 fr. 50. Mais elle a subordonné le paiement de ce montant à la signature d'une quittance par laquelle Spaini donnait décharge définitive à elle et à quiconque. Or elle n'avait pas droit à une telle déclaration. En vertu de l'art. 88 al. 1 CO, le débiteur qui paie sa dette intégralement peut seulement exiger une quittance et la remise ou l'annulation du titre. Il ne peut faire dépendre son paiement d'une renonciation à toute autre réclamation. L'exigence de l'Assurance était d'autant moins admissible en l'espèce que, selon la quittance, Spaini aurait dû donner une décharge à "quiconque", c'est-à-dire également à Heimgartner et à dame
BGE 88 II 111 S. 116
Schmid, alors que le paiement offert par l'Assurance ne libérait ces derniers qu'en partie. Dès lors, l'Assurance n'ayant pas régulièrement offert sa prestation, Spaini n'a pas été mis en demeure de l'accepter (art. 91 CO). C'est au contraire l'Assurance mutuelle vaudoise qui a été mise en demeure de payer par la citation du 14 octobre 1959. Partant, elle doit l'intérêt à 5% dès cette date. | public_law | nan | fr | 1,962 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e91969a-c426-4d36-a53f-4fa22f401d58 | Urteilskopf
101 II 323
54. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 17. September 1975 i.S. Wildberger gegen Müller. | Regeste
Bürgschaft oder selbständiges Schuldversprechen?
1.
Art. 111 und 492 OR
. Erklärung eines Verwaltungsratspräsidenten und Hauptaktionärs, für eine Darlehensschuld der Gesellschaft persönlich haften zu wollen. Auslegung der Erklärung nach den gesamten Umständen, die für eine selbständige Verpflichtung sprechen (Erw. 1).
2.
Art. 260 SchKG
. Im Konkurs der Gesellschaft können die Konkursgläubiger nur auf Ansprüche verzichten, die der Masse zustehen (Erw. 2). | Sachverhalt
ab Seite 323
BGE 101 II 323 S. 323
A.-
Mit Vertrag vom 16. Januar 1967 gewährte Josef Müller der Arplan AG, die durch ihren einzelunterschriftsberechtigten Verwaltungsratspräsidenten Eugen Wildberger vertreten war, ein Darlehen von Fr. 115'000.--. Wildberger versprach, das Darlehen für die Vollendung von vier Ferienhäusern in Oberterzen zu verwenden und für die Schuld der Gesellschaft persönlich zu haften, bis vier Grundpfandverschreibungen, die auf den Bauparzellen lasteten, in Schuldbriefe
BGE 101 II 323 S. 324
umgewandelt würden (Ziff. 1 des Vertrages). Zur Sicherstellung des Darlehens räumte die Arplan AG Müller an den vier Hypothekarforderungen, die ihr gehörten und zusammen Fr. 115'000.-- ausmachten, ein Faustpfandrecht ein (Ziff. 3). Die Rückzahlung sollte so erfolgen, dass die Gesellschaft nach der Umwandlung der Grundpfandverschreibungen in Schuldbriefe ihre vier Hypothekarforderungen an Müller abtrat (Ziff. 4). Bis dahin sollte die Arplan AG das Darlehen mit 5 1/2% verzinsen (Ziff. 5).
Im November 1967 wurde über die Arplan AG der Konkurs eröffnet. Von den vier Grundpfandverschreibungen konnte Müller nur eine, lautend auf Fr. 25'000.--, in einen Schuldbrief umwandeln lassen. Bei den übrigen von je Fr. 30'000.-- erhielt er von den Schuldnern, die gegen die Arplan AG Gegenforderungen erhoben, vergleichsweise insgesamt Fr. 22'982.15. Seine ungedeckte Darlehensforderung belief sich nach dem Konkurs der Gesellschaft noch auf Fr. 44'340.85.
B.-
Im Juli 1973 klagte Müller gegen Wildberger auf Zahlung dieses Betrages nebst 5% Zins seit verschiedenen Verfalldaten.
Das Bezirksgericht Baden wies die Klage ab. Auf Appellation des Klägers hiess das Obergericht des Kantons Aargau sie dagegen am 7. März 1975 dahin gut, dass es den Beklagten zur Zahlung von Fr. 44'340.85 nebst 5% Zins seit 7. November 1968 verurteilte.
Das Obergericht ist der Auffassung, die in Ziff. 1 des Vertrages enthaltene Wendung, dass das Darlehen "mit persönlicher Haftbarkeit" Wildbergers gewährt werde, sei entgegen der Annahme des Bezirksgerichtes nicht als Bürgschaft, sondern als eine formlos gültige Garantieerklärung oder kumulative Mitverpflichtung auszulegen.
C.-
Der Beklagte hat die Berufung erklärt. Er beantragt, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben und die Klage abzuweisen. Er macht geltend, es sei weder eine Garantie- noch eine Solidarschuldverpflichtung gewollt und versprochen worden; einem allfälligen Anspruch des Klägers könnte er übrigens die Saldoabmachung vom 7./12. November 1969 entgegenhalten.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für richtig; er beantragt, es vollumfänglich zu bestätigen.
BGE 101 II 323 S. 325
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Dem Wortlaut des Vertrages ist nicht zu entnehmen, ob die Parteien eine Bürgschaftsverpflichtung, die akzessorischer Natur ist und bei natürlichen Personen der öffentlichen Beurkundung bedarf (
Art. 492 und 493 OR
), oder ein selbständiges Schuldversprechen, d.h. eine Garantieerklärung oder eine Schuldmitübernahme des Beklagten beabsichtigt haben. Die Wendung, das Darlehen werde "mit persönlicher Haftbarkeit" Wildbergers gewährt, lässt nicht erkennen, was die Parteien sich unter dieser Verpflichtung des Beklagten im Verhältnis zur Darlehensschuld der Arplan AG vorstellten. Wie die im Vertrag niedergelegte Willensäusserung zu verstehen ist, muss daher durch Auslegung ermittelt werden. Welchen Sinn sie hat, beurteilt sich nicht bloss nach ihrem Wortlaut, sondern auch nach dem Zusammenhang, in dem die Äusserung steht, und nach den gesamten Umständen, unter denen sie abgegeben worden ist (
BGE 69 II 322
/3,
BGE 81 II 525
,
BGE 83 II 307
,
BGE 90 II 454
Erw. 3,
BGE 94 II 104
,
BGE 95 II 437
).
a) Zu diesen Umständen gehörte hier insbesondere, dass der Beklagte nach dem angefochtenen Urteil Hauptaktionär und einzelzeichnungsberechtigter Verwaltungsratspräsident der Arplan AG war und dass die Gesellschaft das Darlehen zur Vollendung von vier Ferienhäusern benötigte. Diese Feststellungen über tatsächliche Verhältnisse binden das Bundesgericht, weshalb der Beklagte mit seiner erneut erhobenen Behauptung, die Arplan AG sei faktisch von einem Architekten beherrscht worden, nicht gehört werden kann. Schon nach seiner Stellung in der Gesellschaft hatte der Beklagte im Januar 1967 aber ein erhebliches eigenes Interesse, dass der Darlehensvertrag zwischen dem Kläger und der Arplan AG zustande kam. Mit dem Darlehen konnte die Gesellschaft ihren finanziellen Schwierigkeiten begegnen, den Konkurs jedenfalls vorübergehend vermeiden. Dass der Beklagte daran unmittelbar selber interessiert war, ergibt sich auch aus seiner Vereinbarung vom 7./12. November 1969 mit der Konkursverwaltung und dem Gläubigerausschuss. Nach dem Sinn und Zweck der Vereinbarung rechnete er damit, im Konkurs der Arplan AG zivil- oder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.
Ein unmittelbares eigenes Interesse des Promittenten am
BGE 101 II 323 S. 326
Geschäft, für dessen Erfüllung er einzustehen verspricht, ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ein gewichtiger Anhaltspunkt dafür, dass keine akzessorische, sondern eine selbständige Verpflichtung vorliegt (
BGE 56 II 381
Erw. 2 und 3, 64 II 346, 72 II 24, 75 II 53, 81 II 526/7). Nach der herrschenden Lehre kommt diesem Interesse des Promittenten für die Frage, ob sein Versprechen als Bürgschaft oder als unabhängige Verpflichtung auszulegen sei, ebenfalls entscheidende Bedeutung zu (Becker, N. 17 zu
Art. 111 OR
, OSER/SCHÖNENBERGER, N. 50 zu
Art. 492 OR
, VON TUHR/ESCHER, OR Bd. II S. 302).
b) Für ein eigenes Interesse und damit für eine selbständige Verpflichtung des Beklagten spricht ferner, dass er sich persönlich verpflichtete, das Darlehen für die Vollendung der vier Ferienhäuser zu verwenden. Seine Behauptung, er habe bloss versprochen, die richtige Verwendung des Darlehens durch die Gesellschaft zu überwachen, widerspricht dem Wortlaut des Vertrages, der in diesem Punkte keiner Auslegung bedarf. Hätte er im Falle einer vertragswidrigen Verwendung des Geldes aber auch hiefür persönlich einstehen müssen, so ist nicht zu beanstanden, dass das Obergericht darin ein weiteres wichtiges Indiz für eine selbständige Verpflichtung des Beklagten erblickt hat.
An den Vertragsverhandlungen nahm der Treuhänder Dr. Adolf Keller als Berater des Beklagten teil. Er sagte als Zeuge aus, er habe die umstrittene Wendung gekannt, sie aber "als nicht sehr glücklich" betrachtet; er habe sie in den Vertrag aufgenommen, weil damals noch keine richtige Sicherheit vorhanden gewesen sei und der Kläger die persönliche Haftbarkeit des Beklagten verlangt habe; die Arplan AG sei wegen Liquiditätsschwierigkeiten an einem raschen Abschluss des Vertrages interessiert gewesen. Beide Parteien wollten somit die Erfüllung des Vertrages nicht durch eine ungültige Abrede gefährden. In der von ihnen gewählten einfachen Schriftform war die Vereinbarung über die persönliche Haftbarkeit des Beklagten aber nur gültig, wenn sie den Sinn einer Garantieerklärung oder einer kumulativen Schuldübernahme hatte. Die einfache Schriftlichkeit hätte, was Dr. Keller als Jurist wissen musste, für eine Bürgschaft nicht genügt, die Aufnahme der Wendung folglich Treu und Glauben widersprochen und den Gläubiger über die Gültigkeit der Verpflichtung getäuscht.
BGE 101 II 323 S. 327
Eine selbständige Verpflichtung des Beklagten entsprach auch dem wirtschaftlichen Zweck, den die Parteien mit dem Vertrag verfolgten. Nach der Feststellung des Obergerichtes war das Darlehen nur als Übergangslösung gedacht, da es dem Kläger um den Erwerb von Schuldbriefen ging. Der Beklagte bezeichnet die Zeit bis zur Umwandlung der Grundpfandverschreibungen denn auch selber als Zwischenphase. Es wäre daher nicht sinnvoll gewesen, die Verpflichtung des Beklagten vom Bestand der Darlehensschuld abhängig zu machen.
c) Dass das Obergericht aus dem Wortlaut des Vertrages folgerte, die persönliche Haftbarkeit des Beklagten erstrecke sich auf den Darlehensbetrag, nicht aber auf den Zins, schliesst weder eine Schuldmitübernahme noch eine Garantieverpflichtung aus. Ein selbständiges Schuldversprechen kann nach dem Willen der Beteiligten auf die Kapitalschuld beschränkt, die Zinsschuld also beim ursprünglichen Schuldner belassen werden. Der Bürge haftet dagegen, wenn nichts anderes vereinbart ist, bis zu dem in der Bürgschaftsurkunde angegebenen Höchstbetrag auch für einen allfälligen Vertrags- oder Verzugszins (
Art. 499 OR
). Es kann deshalb offen bleiben, ob der Beklagte nach dem Vertrag nur für die Darlehensschuld, nicht aber für den Zins Haftung versprochen habe, wie das Obergericht annimmt.
Dass der Kläger zuerst gegen die Grundpfandschuldner vorging, er sich der Subsidiarität des Schuldversprechens also bewusst war, steht einer selbständigen Verpflichtung des Beklagten ebenfalls nicht entgegen. Der Kläger begründete sein Vorgehen damit, er habe in erster Linie Schuldbriefe erhalten wollen, vom Beklagten aber nur Geld erwarten dürfen. Diese Begründung leuchtet ein; sie deckt sich mit dem Zweck des beabsichtigten Geschäftes, das von Anfang an auf den Erwerb von Schuldbriefen ausgerichtet war. Dass der Kläger auf dem Umweg über ein Darlehen an die Arplan AG eine langfristige Kapitalanlage anstrebte, erhellt auch aus dem Vertrag. Im übrigen ist selbst die Leistungspflicht des Garanten in dem Sinne subsidiär, als er erst in Anspruch genommen werden darf, wenn feststeht, ob und in welchem Umfang die Leistung des Dritten entfällt.
d) Die streitige Wendung über die persönliche Haftbarkeit des Beklagten erweist sich somit nach den Umständen nicht
BGE 101 II 323 S. 328
als akzessorische, sondern als selbständige Verpflichtung, die keiner besonderen Form bedarf und daher gültig ist, gleichviel ob sie als Garantiezusage oder als kumulative Mitverpflichtung aufgefasst wird. Damit bleibt für die vom Bundesgericht aufgestellte Vermutung, wonach zur Verwirklichung des vom Bürgschaftsrecht angestrebten Schutzes des Verpflichteten eher auf eine Bürgschaft zu schliessen ist, kein Raum mehr; denn die Vermutung gilt nur für den Fall, dass weder aus dem Wortlaut, noch aus dem Zweck und den gesamten Umständen ein sicherer Schluss gezogen werden kann (
BGE 66 II 28
/9, 81 II 525 Erw. 3).
2.
Der Beklagte macht geltend, dass er jedenfalls nach der Vereinbarung vom 7./12. November 1969, die er mit der Konkursverwaltung und dem Gläubigerausschuss im Konkurs der Arplan AG getroffen habe, nicht mehr belangt werden dürfe. Der Beklagte verpflichtete sich damals, vergleichsweise und per Saldo aller Ansprüche Fr. 165'000.-- an die Konkursmasse zu zahlen, wenn Konkursverwaltung und Gläubigerausschuss "sowohl als Behörde wie auch als Privatpersonen" darauf verzichteten, weitere Schritte gegen ihn zu unternehmen.
Richtig ist, dass die Konkursgläubiger beim Abschluss der Vereinbarung durch den Obmann ihres Ausschusses vertreten waren und durch die Genehmigung der Vereinbarung verpflichtet wurden, diese einzuhalten. Der Beklagte übersieht indes, dass die Konkursgläubiger nur auf Ansprüche verzichten konnten, die der Konkursmasse zustanden. Die Forderung, um die es hier geht, gehörte nicht dazu, sondern ist eine persönliche des Klägers, der sie folglich unbekümmert darum, ob er der Vereinbarung zustimmte oder nicht, einklagen durfte. Es kann deshalb offen bleiben, ob der Verzicht der Mitglieder des Gläubigerausschusses, den Beklagten zu belangen, sich bloss auf Ansprüche, welche die Masse ihnen gemäss
Art. 260 SchKG
abtreten konnte, oder auch auf private Forderungen bezogen habe. Der Eventualstandpunkt des Beklagten erweist sich so oder anders als unbegründet.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes (I. Zivilabteilung) des Kantons Aargau vom 7. März 1975 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,975 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2e943ce6-b251-4755-882e-b7ccacbabd09 | Urteilskopf
139 I 72
8. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Publigroupe SA und Mitb. gegen Wettbewerbskommission (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_484/2010 vom 29. Juni 2012 | Regeste
Art. 30, 32 und 96 BV
,
Art. 6 und 7 EMRK
,
Art. 15 UNO-Pakt II
, Art. 2 Abs. 1bis, Art. 4 Abs. 2, Art. 7 Abs. 1 und 2 lit. b,
Art. 26 ff. und 49a KG
.
Kartellrechtliche Sanktionen nach
Art. 49a KG
haben einen strafrechtlichen
bzw. strafrechtsähnlichen Charakter. Die Garantien von
Art. 6 und 7 EMRK
sowie
Art. 30 und 32 BV
sind bei solchen Sanktionen anwendbar (E. 2).
Anforderungen von
Art. 6 EMRK
können in einem Kartellsanktionsverfahren auch erst im Verwaltungsgerichtsverfahren erfüllt werden; Anforderungen an die Kognition des Verwaltungsgerichts (E. 4).
Frage der genügenden Bestimmtheit von Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. b KG für Sanktionen nach
Art. 49a KG
(E. 8).
Relevanter Markt und marktbeherrschende Stellung (E. 9).
Diskriminierung von Handelspartnern bei Preisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen als missbräuchliches Verhalten (Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. b KG; E. 10). | Sachverhalt
ab Seite 73
BGE 139 I 72 S. 73
A.
A.a
Die Publigroupe SA ist ein internationaler Werbekonzern mit Sitz in Lausanne. Die Gesellschaft bezweckt, direkt oder durch
BGE 139 I 72 S. 74
Beteiligung an anderen Gesellschaften, die Entwicklung und Vermarktung von Werbung, Inseraten und Reklamen aller Art, die Herausgabe von Zeitungen und Publikationen sowie die Ausübung aller Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Werbung. Nebst anderen Geschäftssegmenten führt die Publigroupe SA die so genannten "Media Sales", worin alle Medien-Vermarktungsaktivitäten der Gruppe vereint sind; dazu zählen auch die Printmedienaktivitäten, die im Bereich Publipresse zusammengefasst sind, der rund drei Viertel des jährlichen Gesamtumsatzes der Gesellschaft von durchschnittlich rund zwei Milliarden Franken erwirtschaftet.
A.b
Dem Bereich Publipresse gehören vier Tochtergesellschaften (zu 100 %) an: Die Publicitas SA ist über ein Netz von mehr als 100 Filialen und Agenturen in der ganzen Schweiz als Pächterin und Universalvermittlerin für die Vermittlung von insbesondere lokalen und regionalen Anzeigen tätig. Die Publicitas Publimag AG betreut vor allem Grosskunden und für solche tätige Werbe- und Medienagenturen für überregionale oder nationale Anzeigekampagnen. Die Publicitas Publimedia AG betreut hauptsächlich mandatsorientiert Anzeigenkunden für regional oder überregional verbreitete Pressemagazine oder Fachzeitschriften. Die Publicitas Mosse AG bearbeitet schliesslich Anzeigen für Kunden aus den Tourismus-, Freizeit- und Ausbildungsbranchen in allen Printmedien.
A.c
Die vier genannten, zum Bereich Publipresse gehörenden Tochtergesellschaften der Publigroupe SA sind wiederum im Verein Schweizerischer Werbegesellschaften VSW (nachfolgend: Verband VSW) zusammengeschlossen. Der Verband VSW erstellt Branchenstatistiken, unterhält eine Printdatenbank, ist in der Lehrlingsausbildung tätig und nimmt die Interessen der Branche bei anderen Verbänden wahr. Darüber hinaus ist er Anerkennungsstelle für die Kommissionierung für Berufsvermittler. In dieser letzten Funktion erstellt er entsprechende Richtlinien (Richtlinien für die Kommissionierung von Berufsvermittlern [nachfolgend: VSW-Kommissionierungsrichtlinien]).
B.
B.a
Das Sekretariat der Wettbewerbskommission (nachfolgend: WEKO Sekretariat) erhielt erstmals im Jahre 1997 eine Anzeige im Zusammenhang mit den VSW-Kommissionierungsrichtlinien. In seiner Antwort vom 28. Januar 1998 sowie in einem Schreiben vom 28. Oktober 1998 an den Rechtsvertreter des Verbands VSW hielt das WEKO Sekretariat fest, die angezeigte Ungleichbehandlung von Universal- und anderen Vermittlern lasse sich betriebswirtschaftlich
BGE 139 I 72 S. 75
rechtfertigen und werde erst bei missbräuchlichem Verhalten kartellrechtlich problematisch. Das WEKO Sekretariat behielt sich ein Eingreifen vor, sollte ein solcher Missbrauch auftreten.
B.b
Nach einer weiteren Anzeige am 12. Juli 2001 und ersten Untersuchungen leitete das WEKO Sekretariat am 19. Dezember 2001 eine Vorabklärung zur kartellrechtlichen Zulässigkeit der Kommissionierungspraxis im Zusammenhang mit dem Verband VSW ein. Am 6. November 2002 eröffnete das WEKO Sekretariat, insbesondere wegen den VSW-Kommissionierungsrichtlinien, eine Untersuchung gemäss dem Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG; SR 251) gegen die Publigroupe SA (BBl 2002 7596).
Am 16. November 2004 stellte das WEKO Sekretariat der Publigroupe SA einen Verfügungsentwurf betreffend die Kommissionierung der Anzeigenvermittler zu. Mit Eingabe vom 30. März 2005 meldeten die Publigroupe SA und der Verband VSW dem WEKO Sekretariat gemäss der Übergangsregelung zur kartellrechtlichen Sanktionierungsbestimmung von
Art. 49a KG
eine möglicherweise unzulässige Wettbewerbsbeschränkung. Das WEKO Sekretariat bestätigte den Eingang dieser Meldung am 6. April 2005, hielt dazu aber fest, es sei derzeit offen, inwiefern ein bereits hängiges Verfahren noch gemeldet werden könne.
Mit Schreiben vom 14. November und 13. Dezember 2005 teilte das WEKO Sekretariat der Publigroupe SA unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. das Urteil 2A.287/2005 vom 19. August 2005) mit, sie unterstehe der direkten Sanktionierbarkeit nach
Art. 49a Abs. 1 KG
, falls die Wettbewerbskommission (nachfolgend: WEKO) zum Schluss gelange, es liege darin eine Wettbewerbsbeschränkung gemäss
Art. 7 KG
, dass die Publigroupe SA auf die ihr im Verfügungsentwurf vorgehaltenen Verhaltensweisen nicht verzichtet habe.
B.c
Am 5. März 2007 traf die WEKO folgende Verfügung (vgl. Recht und Politik des Wettbewerbs [RPW] 2007/2 S. 190 ff.):
"1. Es wird festgestellt, dass Publigroupe SA mittels ihrer Tochtergesellschaften Publicitas SA, Publimedia AG, Publimag AG und Mosse Media AG sowie des Verbandes Schweizerischer Werbegesellschaften im Markt für die Vermittlung und den Verkauf von Inserate- und Werberaum in Printmedien in der Schweiz eine marktbeherrschende Stellung innehat.
2. Es wird festgestellt, dass die Publigroupe mittels Publicitas SA, Publimedia AG, Publimag AG, Mosse Media AG und dem Verband
BGE 139 I 72 S. 76
Schweizerischer Werbegesellschaften ihre marktbeherrschende Stellung gemäss Ziff. 1 missbrauchte, indem sie sich durch Ziff. 2.2 Abs. 1, Ziff. 2.2 Abs. 2 und Ziff. 2.5 der Richtlinien des VSW über die Kommissionierung von Berufs-Inseratevermittlern weigerte, Vermittler zu kommissionieren und diese dadurch nach
Art. 7 Abs. 1 KG
in der Aufnahme und der Ausübung des Wettbewerbs behinderte und gegenüber anderen unabhängigen Vermittlern diskriminierte.
3. Publigroupe SA wird für das unter Ziff. 2 dieses Dispositivs genannte Verhalten gestützt auf
Art. 49a Abs. 1 KG
mit einem Betrag von CHF 2,5 Mio. belastet.
4. Die Wettbewerbskommission genehmigt im Sinne einer einvernehmlichen Regelung die nachstehende Verpflichtungserklärung der Publigroupe SA, Publicitas SA, Publimedia AG, Mosse Media AG und dem Verband Schweizerischer Werbegesellschaften vom 30. November 2005: (...)
(...)
7. Die Verfahrenskosten von insgesamt CHF 148'754.- werden den Adressatinnen der Verfügung unter solidarischer Haftung auferlegt. (...)"
Grundlage der Verfügung bildete folgender Sachverhalt: Verleger von Zeitungen oder Zeitschriften haben für die Inserateakquisition grundsätzlich die Wahl zwischen Pacht- oder Eigenregie.
Pachtregieverlage
sind diejenigen Verlage, die mit Vermittlungsunternehmen einen Pachtvertrag abgeschlossen haben. Gegenstand dieses Vertrags ist die Verpflichtung des Vermittlungsunternehmens, den Geschäftsbereich Inserateakquisition integral für die Zeitung zu übernehmen. Bei der Vermarktung von Titeln in
Eigenregie
betreibt der Verlag die Inserateakquisition und die damit zusammenhängenden Tätigkeiten selbst oder bedient sich unabhängiger Vermittler. Publigroupe SA ist sowohl Pächterin als auch Vermittlerin. Als Pächterin übernimmt Publigroupe SA für ca. 600 schweizerische Zeitungen und Zeitschriften exklusiv die Vermarktung des Inserate- und Werberaumes. Als normale Vermittlerin vermittelt sie nicht exklusiv Anzeigen für Eigenregieverlage. Daneben sind auch unabhängige Vermittler auf dem Markt tätig, welche Werbung und Inserate an Eigenregietitel und auch an Pachtregietitel vermitteln. Wie das nachfolgende, der Verfügung entnommene Schaubild zeigt, kann der Werbeauftraggeber grundsätzlich auf fünf verschiedenen Wegen (Bst. a-e) seine Inserate in Verlagen platzieren. Welcher Weg gangbar ist, hängt davon ab, ob der Verlag ein Pacht- oder Eigenregieverlag ist. Gegenstand der hier strittigen Verfügung bildet die Situation (Bst. e im Schaubild), gemäss welcher der Werbeauftraggeber
BGE 139 I 72 S. 77
in eine Pachtregie-Zeitung inserieren möchte und seine Anzeige über unabhängige Vermittler aufgibt. Diese können allerdings wegen des exklusiven Pachtvertrags die Anzeige nur an die Publigroupe SA weiterleiten. Der Vermittler erhält für diese Vermittlungsleistung von der Publigroupe SA eine Kommission, sofern er die Voraussetzungen der VSW-Kommissionierungsrichtlinien erfüllt.
Folgende vier Kommissionierungsvoraussetzungen der VSW-Kommissionierungsrichtlinien erweckten kartellrechtliche Bedenken: Die Forderung in Ziff. 2.2 Abs. 1, dass die Inserate von mehreren juristisch und wirtschaftlich voneinander unabhängigen Auftraggebern stammen müssen; die Bestimmung in Ziff. 2.2 Abs. 2, wonach nur Universalvermittler, nicht aber Spartenvermittler oder Vermittler in Nebentätigkeit kommissioniert werden; die Bestimmung in Ziff. 2.2 Abs. 3, wonach Werbe-, PR- oder Mediaberater oder -Agenturen nicht sowohl die Beraterkommission als auch die Vermittlungskommission erhalten dürfen; sowie die Voraussetzungen betreffend das Geschäftsvolumen in Ziff. 2.5. Im dritten Punkt verneinte die WEKO einen Kartellrechtsverstoss, bejahte aber einen solchen im ersten, zweiten und vierten Punkt.
C.
Gegen die Verfügung der WEKO vom 5. März 2007 erhoben die Publigroupe SA, die Publicitas SA, die Publicitas Publimedia AG, die Publicitas Publimag AG, die Publicitas Mosse AG sowie der Verband VSW am 2. Mai 2007 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht, das diese am 27. April 2010 abwies.
D.
Vor Bundesgericht beantragen die Publigroupe SA, die Publicitas SA, die Publicitas Publimedia AG, die Publicitas Publimag AG, die Publicitas Mosse AG sowie der Verband VSW, u.a. das Urteil
BGE 139 I 72 S. 78
des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 aufzuheben. Die WEKO schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht weist in der öffentlichen Beratung vom 29. Juni 2012 die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach
Art. 49a Abs. 1 KG
kann unter anderem ein Unternehmen, das sich nach
Art. 7 KG
(Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung [Marktmissbrauch]) unzulässig verhält, mit einem Betrag von bis zu zehn Prozent des in den letzten drei Geschäftsjahren in der Schweiz erzielten Umsatzes belastet werden. Der Betrag bemisst sich nach der Dauer und der Schwere des Verhaltens; zudem ist der mutmassliche Gewinn angemessen zu berücksichtigen, den das Unternehmen dadurch erzielt hat (vgl.
BGE 135 II 60
E. 2.1 S. 63;
BGE 137 II 199
E. 3.2 S. 206).
2.2
Die Rechtsnatur der kartellrechtlichen Sanktion nach
Art. 49a KG
blieb bisher höchstrichterlich ungeklärt. Gemäss den Beschwerdeführern handelt es sich von der Tragweite her um eine Sanktion mit Strafcharakter, welche die entsprechenden Anforderungen von
Art. 6 und 7 EMRK
sowie von
Art. 30 und 32 BV
zu erfüllen hat. Auch das Bundesverwaltungsgericht geht vom strafrechtlichen Charakter von
Art. 49a KG
aus, wenn auch mit leicht unterschiedlichen Einschätzungen der entsprechenden rechtlichen Auswirkungen als die Beschwerdeführer. Da diese etliche Rügen erheben, die an den behaupteten Strafcharakter anknüpfen, ist darauf vorweg einzugehen.
2.2.1
Nach
Art. 30 Abs. 1 BV
und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
, die in dieser Hinsicht dieselbe Tragweite besitzen, hat der Einzelne bei strafrechtlichen Anklagen Anspruch darauf, dass seine Sache von einem durch Gesetz geschaffenen, zuständigen, unabhängigen und unparteiischen Gericht ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Ob diese Garantie verletzt ist, prüft das Bundesgericht frei (vgl.
BGE 135 I 14
E. 2 S. 15;
BGE 133 I 1
E. 5.2 S. 3 mit Hinweisen).
2.2.2
Gemäss einer gefestigten, langjährigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) handelt es sich um eine strafrechtliche Anklage, wenn alternativ entweder das nationale Recht eine staatliche Massnahme dem Strafrecht
BGE 139 I 72 S. 79
zuordnet oder wenn die Natur des Vergehens oder wenn die Art und Schwere des Vergehens und/oder der Sanktionen für den strafrechtlichen Charakter spricht (so genannte Engel-Kriterien, zurückgehend auf das Urteil des EGMR
Engel
gegen
Niederlande
vom 8. Juni 1976, Serie A Bd. 22; vgl. auch die Urteile
Öztürk gegen Deutschland
vom 21. Februar 1984, Serie A Bd. 73;
Belilos gegen Schweiz
vom 29. April 1988, Serie A Bd. 132;
Jussila gegen Finnland
vom 23. November 2006, Nr. 73053/01,
Recueil CourEDH 2006-XIV S. 27
; JENS MEYER-LADEWIG, EMRK, Handkommentar, 3. Aufl. 2011, N. 23 ff. zu
Art. 6 EMRK
; FROWEIN/PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 25 ff. zu
Art. 6 EMRK
; GRABENWARTER/PABEL, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, S. 393 ff.; CHRISTOPH TAGMANN, Die direkten Sanktionen nach Art. 49a Abs. 1 Kartellgesetz, 2007, S. 90 ff.; LUZIUS WILDHABER, EMRK, Wettbewerbsrecht und Verwaltungsstrafen, in: Jusletter vom 4. Juli 2011, Rz. 6; NIGGLI/RIEDO, Eine Lösung, viele Probleme, einige Beispiele und kein Märchen, in: Verwaltungsstrafrecht und sanktionierendes Verwaltungsrecht, 2010, S. 51 ff., 58).
Die Massnahme nach
Art. 49a KG
zeichnet sich durch den ihr zugeschriebenen abschreckenden sowie vergeltenden Charakter (vgl. Botschaft vom 7. November 2001 über die Änderung des Kartellgesetzes [nachfolgend: Botschaft KG II], BBl 2002 2022, 2052) und eine die Schwere des Vergehens belegende erhebliche Sanktionsdrohung aus, die zur Auferlegung einer finanziellen Belastung in der Höhe von etlichen Millionen Franken führen kann. Unabhängig davon, dass die Massnahme ihre Grundlage im Kartell- und nicht im (Kern-) Strafrecht findet, verfügt sie daher über einen strafrechtlichen bzw. "strafrechtsähnlichen" (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 15. Dezember 2011 i.S. Lukasz Marcin Bonda [Rechtssache C-489/10] Titel vor Rz. 32) Charakter. Davon sind bereits der Bundesrat 2001 in seiner Botschaft KG II (BBl 2002 2052 Ziff. 5) und die Literatur ausgegangen (vgl. etwa TAGMANN, a.a.O., S. 92 ff.; DANIEL ZIMMERLI, Zur Dogmatik des Sanktionssystems und der "Bonusregelung" im Kartellrecht, 2007, S. 449 ff.; DAVID/FRICK/KUNZ/STUDER/ZIMMERLI, Der Rechtsschutz im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, in: SIWR Bd. I/2, 3. Aufl. 2011, S. 479; NIGGLI/RIEDO, a.a.O., S. 59 ff.; PETER REINERT, in: Kartellgesetz, 2007, N. 4 ff. zu
Art. 49a KG
; JÜRG BORER, Wettbewerbsrecht, Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2011, N. 2 zu
Art. 49a KG
; WILDHABER, a.a.O., Rz. 7 ff.; NIGGLI/RIEDO, in: Basler Kommentar, Kartellgesetz, 2010, N. 25 ff.
BGE 139 I 72 S. 80
vor
Art. 49a-53 KG
; ANDREA DOSS, Vertikalabreden und deren direkte Sanktionierung nach dem schweizerischen Kartellgesetz, 2009, S. 157). Diese Auffassung ist auch nunmehr durch oberste "europäische" Gerichte bestätigt worden (vgl. Urteil des EGMR
Menarini
Diagnostics
S.R.L. gegen
Italien
vom 27. September 2011, Nr. 43509/08, § 44; Urteil des EFTA Court
Posten Norge AS gegen EFTA Sur
veillance Authority
vom 18. April 2012 [E-15/10], Nr. 84 ff.; Urteil des EuGH vom 8. Dezember 2011 C-389/10 P,
KME
, Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen, Randnrn. 118 ff. [dazu WEITBRECHT/MÜHLE, Die Entwicklung des Europäischen Kartellrechts im Jahre 2011, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht [EuZW] 2012 S. 290 ff., 294; bereits früh in diese Richtung SCHWARZE/WEITBRECHT, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, S. 139 ff.; ZIMMERLI, a.a.O., S. 416 ff.; anders noch [verwaltungsrechtliche Sanktion] etwa WALTER FRENZ, Handbuch Europarecht, Bd. II: Europäisches Kartellrecht, 2006, S. 594 f.; BECHTOLD/BOSCH/BRINKER/HIRSBRUNNER, EG-Kartellrecht, Kommentar, 2. Aufl. 2009, S. 336 f. Rz. 90; zu Art. 47 Grundrechte-Charta [Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht] etwa HANS-PETER FOLZ, in: Europäisches Unionsrecht - EUV, AEUV, Grundrechte-Charta, Handkommentar, 2012, passim zu Art. 47 Grundrechte-Charta]). Auch das Bundesgericht hat dies in
BGE 135 II 60
(E. 3.2.3 S. 71) nebenbei so vermerkt. Die entsprechenden Garantien von
Art. 6 und 7 EMRK
und Art. 30 bzw. 32 BV sind demnach grundsätzlich anwendbar. Über ihre Tragweite ist bei der Prüfung der einzelnen Garantien zu befinden.
(...)
4.
4.1
Die Beschwerdeführer sind der Ansicht, das Bundesverwaltungsgericht habe seine Kognition in unzulässiger Weise beschränkt.
4.2
Da
Art. 6 EMRK
und
Art. 30 BV
auf das Sanktionsverfahren von
Art. 49a KG
anwendbar sind (vgl. oben E. 2.2.2), untersteht dieses den entsprechenden Anforderungen. Dazu zählt insbesondere die Beurteilung durch ein unabhängiges und unparteiliches Gericht in einem fairen Verfahren. Die Vorinstanz liess die Frage offen, ob es sich bei der WEKO um ein
Art. 6 EMRK
bzw.
Art. 30 BV
konformes Gericht handelt, da das Bundesverwaltungsgericht, das deren Sanktionsentscheide überprüfe, die entsprechenden Voraussetzungen erfülle, was genüge.
BGE 139 I 72 S. 81
4.3
Die WEKO wird vom Bundesrat bestellt (
Art. 18 Abs. 1 KG
), ist aber von diesem und der Verwaltung unabhängig (
Art. 19 Abs. 1 KG
) und lediglich administrativ dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement zugeordnet (
Art. 19 Abs. 2 KG
). Sie zählt zu den so genannten Behördenkommissionen (Art. 8a Abs. 1 und 3 der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November 1998 [RVOV; SR 172.010.1]; vgl. dazu statt aller STEFAN VOGEL, Einheit der Verwaltung - Verwaltungseinheiten, 2008, S. 255 ff., insbes. 257 ff.). Diese werden von der Rechtsprechung, soweit das zu beurteilen war, nicht als richterliche Behörden anerkannt (vgl.
BGE 138 I 154
E. 2.7 S. 158 m.w.H.). Auch in der Literatur werden sie nicht zur Justiz, sondern zur dezentralen Bundesverwaltung (vgl.
Art. 178 Abs. 3 BV
) gerechnet (vgl. WEBER/BIAGGINI, Rechtliche Rahmenbedingungen für verwaltungsunabhängige Behördenkommissionen, 2002, S. 58 ff. und 77 f.; PETER UEBERSAX, Unabhängige Verwaltungsinstanzen und offene Gesetze im öffentlichen Wirtschaftsrecht des Bundes - ein rechtliches Risiko?, in: Risiko und Recht, 2004, S. 688 ff.). Abgesehen davon bestehen auch Hindernisse in Bezug auf die Gewaltenteilung (Einsitz von "Chefbeamten" in die WEKO) und die Unabhängigkeit (Einsitz von Interessenvertretern in die WEKO). Das Sanktionsverfahren vor der WEKO erfüllt insofern die Anforderungen von
Art. 6 EMRK
und
Art. 30 BV
nicht
. Da entsprechend der oben dargestellten Rechtslage das Sanktionsverfahren nach
Art. 49a KG
diesen beiden Bestimmungen zu genügen hat, stellt sich die Frage, ob bereits im nichtstreitigen Verfahren, d.h. im Verwaltungsverfahren, die Anforderungen des
Art. 6 EMRK
Anwendung finden müssen oder ob dies auch erst im Rechtsmittelverfahren erfolgen kann.
4.4
Mit Urteil
Menarini Diagnostics S.R.L.
(§§ 57 ff.) hat nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - wie bereits früher in anderem Zusammenhang (vgl. etwa GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 419 Rz. 58, 477 Rz. 153 i.f.; CHRISTOPH GRABENWARTER, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit [nachfolgend: Verfahrensgarantien], 1997, S. 359 ff. mit umfassenden Hinweisen; sieheauch Urteil des EGMR
Mamidakis gegen Griechenland
vom 11. Januar 2007, Nr. 35533/04) - erstmals in einem Kartellverfahren (mit hohen Bussgeldern) festgehalten, dass die Anforderungen von
Art. 6 EMRK
auch erst im Verwaltungs
gerichts
verfahren erfüllt werden können; insoweit lässt die EMRK zu, dass die Verwaltung im Verwaltungsverfahren Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter
BGE 139 I 72 S. 82
aussprechen kann. Voraussetzung für die Zulässigkeit dieser Situation bilde aber, dass im nachfolgenden Gerichtsverfahren die Vorgaben von
Art. 6 EMRK
eingehalten werden. Zudem könne der Sinn einer "procédure administrative" Abweichungen von einer "procédure pénale au sens strict du terme" so weit zulassen, als damit die staatlichen Verpflichtungen, die Anforderungen von
Art. 6 EMRK
einzuhalten, nicht obsolet werden. Insoweit wiederholt der Gerichtshof die bereits andernorts geäusserte differenzierte Betrachtungsweise (vgl. Urteile des EGMR
Sigma Radio Television Ltd gegen Zypern
vom 21. Juli 2011, Nr. 32181/04 und 35122/05, § 151;
Jussila
,
§ 43; grundlegend:
Albert und Le Compte gegen Belgien
vom 10. Februar 1983, Nr. 7299/75, § 29; siehe auch EFTA Court
Posten Norge AS
, Nr. 89; vgl. auch bereits ANDREAS HEINEMANN, Direkte Sanktionen im Kartellrecht [nachfolgend:Sanktionen], Jusletter vom 21. Juni 2010, Rz. 27 ff.).Auch der EFTA Court (
Posten Norge AS
) und der EuGH (
KME
, Randnrn. 118 ff.; siehe auch ANDREAS HEINEMANN, Kriminalrechtliche Individualsanktionen im Kartellrecht?, in: Wirtschaftsrecht in Theorie und Praxis, Festschrift für Roland von Büren, 2009, S. 595 ff., 598 f.) haben in Bezug auf
Art. 6 EMRK
bzw. den diesem gleichkommenden Art. 47 Charta der Grundrechte der Europäischen Union gleich entschieden wie der Gerichtshof in Strassburg.
Insoweit bedarf es somit aus Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention keiner institutioneller Strukturänderung des schweizerischen Kartellverfahrens, wie sie etwa der Bundesrat in seiner Botschaft vom 22. Februar 2012 zur Änderung des Kartellgesetzes und zum Bundesgesetz über die Organisation der Wettbewerbsbehörde ([nachfolgend: Botschaft KG III] BBl 2012 3905) vorgeschlagen hat.
4.5
Der gerichtliche Entscheid über die kartellrechtliche Sanktion muss - entsprechend
Art. 6 EMRK
und den diesbezüglichen Ausführungen des EGMR sowie
Art. 30 BV
- mit voller Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erfolgen (vgl. CHRISTOPH GRABENWARTER, in: Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Textsammlung und Kommentar, Bd. III: Kommentar zu den Grundrechten, 8. Lieferung 2007, N. 46 zu
Art. 6 EMRK
; GRABENWARTER, Verfahrensgarantien, a.a.O., S. 414 ff., 420 ff.; FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N. 89 zu
Art. 6 EMRK
; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 400). Dazu gehört, dass das Organ die für das Verfahren rechtserheblichen Tatsachen selbst ermitteln und den so festgestellten Sachverhalt unter die entsprechenden Rechtsvorschriften subsumieren können muss. Auch
BGE 139 I 72 S. 83
die Rechtsfolge, also die Sanktion selbst, muss uneingeschränkt auf Vereinbarkeit mit dem massgeblichen Recht unter Einschluss des Verfassungsrechts und den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns (vgl.
Art. 5 BV
), namentlich des Verhältnismässigkeitsprinzips, überprüfbar sein. Auch wenn dem Gericht volle Kognitionsbefugnisse in Rechts- und Tatsachenfragen zukommen muss, ist indessen nicht ausgeschlossen, dass das den Verwaltungsentscheid überprüfende Gericht in Bereichen des Sachverständigenermessens (dazu
BGE 135 II 384
Regeste i.V.m. E. 2.2 S. 384 i.V.m. 390;
BGE 133 II 232
E. 4.1 S. 244;
BGE 131 II 680
E. 2.3 S. 683 ff.; je mit Hinweisen; BENJAMIN SCHINDLER, Verwaltungsermessen, 2010, S. 341 ff.), vor allem in besonderen Rechtsbereichen, seine Kognition zurücknehmen kann (vgl. Urteil des EGMR
Sigma Radio Television Ltd
§ 153; PHILIPP EGLI, Rechtsverwirklichung durch Sozialversicherungsverfahren, 2012, S. 105; GRABENWARTER, Verfahrensgarantien, a.a.O., S. 426 ff.). Ob die Kognitionsbeschränkung den Anforderungen von
Art. 6 EMRK
genügt, ist anhand des Verfahrensgegenstandes (ist professionelles Wissen bzw. Erfahrung notwendig), der Art und Weise, in welcher der Verwaltungsentscheid unter Berücksichtigung der vor Verwaltungsbehörden zugestandenen Verfahrensgarantien zustande kam und des Streitgegenstandes (geltend gemachten und tatsächlich geprüften Rügen) zu prüfen (Urteil
Sigma Radio Television Ltd
§ 154; zu diesen Kriterien GRABENWARTER, Verfahrengarantien, a.a.O., S. 426 ff. mit Hinweisen auf ältere Fälle). Massgebend ist der Einzelfall und ob sich das überprüfende Gericht "point by point" mit den Argumenten bzw. Rügen der Beschwerdeführer auseinandergesetzt hat (vgl. Urteil
Sigma Radio Television Ltd
§ 156). Insofern anerkennt der EGMR, dass die Rechtsprechung in den Mitgliederstaaten den Gerichten oftmals erlaubt, sich bei der Beurteilung von ausgesprochenen Fachfragen Zurückhaltung aufzuerlegen (vgl. Urteil
Sigma Radio
Television Ltd
§ 153 i.i.). Das Sachverständigenermessen bezweckt die Fruchtbarmachung spezialisierten Sachverstands bei der Umsetzung des gesetzgeberischen Normprogramms, um damit die interdisziplinäre Richtigkeit des Verwaltungshandelns sicherzustellen (vgl. SCHINDLER, a.a.O., N. 451 f.). Nicht anders verhält es sich bei verwaltungsrechtlichen Fällen, welche in Bezug auf gewisse Sanktionen strafrechtsähnlich sind; entscheidend ist, dass die Voraussetzungen von
Art. 6 EMRK
erfüllt werden. Massgebend bleibt demnach der Einzelfall, die aufgelisteten drei Kriterien und die Abarbeitung der Rügen Punkt für Punkt. Insofern ist die "Effektivität der Überprüfung" (MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen
BGE 139 I 72 S. 84
Menschenrechtskonvention [EMRK], 2. Aufl. 1999, S. 271) dasentscheidende Moment ("sufficient jurisdiction": vgl. Urteile des EGMR
Steininger
gegen Austria
vom 17. April 2012, Nr. 21539/07 § 49 i.f.;
Sigma Radio Television Ltd
§§ 151 f.; GRABENWARTER, Verfahrensgarantien, a.a.O., S. 431 oben, 444 f.). Es lässt sich - wie auch das Urteil des EGMR
Sigma Radio Television Ltd
§§ 129, 147 i.V.m. 151 f. zeigt - demnach auch nicht generell festhalten, dass
nicht
auf die fachtechnischen Ausführungen der die Untersuchungs- und Anklagefunktion mitübernehmenden erstentscheidenden WEKO abgestellt werden dürfte.
4.6
4.6.1
Im angefochtenen Entscheid beruft sich das Bundesverwaltungsgericht auf ein solches technisches Ermessen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die rein theoretische Darstellung der fraglichen Rechtsfigur für sich allein noch keinen Verstoss gegen
Art. 6 EMRK
bzw.
Art. 30 BV
darstellt; massgebend ist allein die Begründung in der Sache (vgl. MEYER-LADEWIG, a.a.O., N. 35 zu
Art. 6 EMRK
). Daraus hat sich zu ergeben, ob sich das Bundesverwaltungsgericht eine
Art. 6 EMRK
entsprechende Zurückhaltung auferlegt hat, was anhand der oben dargelegten Kriterien zu beurteilen ist.
4.6.2
Die Beschwerdeführer sehen eine angeblich unzulässige Zurückhaltung darin, dass die Vorinstanz verschiedentlich ausgeführt habe, eine bestimmte Beurteilung der WEKO sei nachvollziehbar, so etwa bei der sachlichen und räumlichen Marktabgrenzung, bei der Bestimmung des Marktanteils der Beschwerdeführer sowie bei der Beurteilung des Vorliegens bzw. Fehlens potenziellen Wettbewerbs. In all diesen Fällen interpretieren die Beschwerdeführer jedoch das von der Vorinstanz verwendete Wort "nachvollziehbar" falsch. Das Bundesverwaltungsgericht hat nicht einfach ohne weitere Prüfung die Auffassung der WEKO übernommen, sondern jeweils, teilweise sogar recht ausführlich, dargelegt und begründet, weshalb es sich der Auffassung derselben anschliesst. Es hat sich dabei nicht auf reine Plausibilitätsüberlegungen beschränkt und sich nicht eine unzulässige Zurückhaltung auferlegt.
4.6.3
Die Beschwerdeführer sehen sodann eine unzulässige Zurückhaltung des Bundesverwaltungsgerichts bei dessen Darstellung der Verfahrensgeschichte. Insofern ist aber erst recht nicht ersichtlich, inwieweit damit eine unzulässige Kognitionsbeschränkung verbunden sein sollte. Die Vorinstanz hat sich bei der Verfahrensgeschichte keiner rechtlichen oder fachtechnischen Zurückhaltung bedient.
BGE 139 I 72 S. 85
(...)
8.
8.1
Den Beschwerdeführern wird ein verbotenes Verhalten nach
Art. 7 Abs. 1 KG
vorgeworfen. Danach verhalten sich marktbeherrschende Unternehmen unzulässig, wenn sie durch den Missbrauch ihrer Stellung auf dem Markt andere Unternehmen in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs behindern oder die Marktgegenseite benachteiligen. Zu solchen unzulässigen Verhaltensweisen zählt nach
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
insbesondere die Diskriminierung von Handelspartnern bei Preisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen (dazu AMSTUTZ/CARRON, in: Basler Kommentar, Kartellgesetz, 2010, N. 17 ff. zu
Art. 7 KG
; EVELYNE CLERC, in: Droit de la concurrence, Tercier/Bovet [Hrsg.], 2002, N. 55 ff. zu
Art. 7 KG
).
8.2
Die Beschwerdeführer machen geltend, der Straftatbestand von
Art. 7 Abs. 1 KG
sei sowohl für sich allein als auch in Verbindung mit
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
nicht genügend bestimmt als rechtsgenügliche gesetzliche Grundlage für eine Sanktionierung der Beschwerdeführerin 1.
8.2.1
Nach
Art. 7 EMRK
und Art. 15 des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II; SR 0.103.2) darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war ("Nulla poena sine lege" [
Art. 1 StGB
; dazu etwa
BGE 138 IV 13
E. 4.1 S. 19 f.;
BGE 138 I 367
E. 5.2 f. S. 372 ff.]; vgl. auch
Art. 5 Abs. 1 BV
). Die Straftat muss im Gesetz klar umrissen sein (vgl. MEYER-LADEWIG, a.a.O., N. 5 zu
Art. 7 EMRK
; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 462 ff.; WALTER GOLLWITZER, Menschenrechte im Strafverfahren, 2005, N. 1 zu Art. 7 MRK/Art. 15 IPBPR; FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N. 2 zu
Art. 7 EMRK
; VILLIGER, a.a.O., S. 338 ff.). So ist etwa der Grundsatz verletzt, wenn jemand wegen eines Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet wird, wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht subsumiert werden kann, oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt wird, die rechtlich keinen Bestand hat (vgl.
BGE 138 IV 13
E. 4.1 S. 20; siehe auch
BGE 138 I 367
E. 5.3 S. 373 f.).
Art. 7 EMRK
und
Art. 15 UNO-Pakt II
enthalten neben dem Rückwirkungs
verbot
vor allem ein Bestimmtheits- und Klarheits
gebot
für
BGE 139 I 72 S. 86
gesetzliche Straftatbestände (vgl.
BGE 138 I 367
E. 5.3 S. 373; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 468 ff.; GOLLWITZER, a.a.O., N. 8 zu Art. 7 MRK/Art. 15 IPBPR; FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N. 4, 6 zu
Art. 7 EMRK
; MEYER-LADEWIG, a.a.O., N. 7 ff. zu
Art. 7 EMRK
). Nur ein hinreichend klar und bestimmt formuliertes Gesetz darf einen Straftatbestand bilden und eine Strafe androhen. Allerdings bedürfen auch Strafgesetze der Auslegung, und die beiden Vorschriften - wie auch
Art. 1 StGB
und
Art. 5 Abs. 1 BV
(vgl.
BGE 138 IV 13
E. 4.1 S. 20;
BGE 138 I 367
E. 5.3 S. 373 f.) - enthalten kein Verbot der schrittweise erfolgenden Klärung der Vorschriften durch richterliche Auslegung; es ist gerade die Aufgabe der Gerichte, verbleibende Auslegungszweifel zu beheben (Urteile des EGMR
Kafkaris
gegen Cyprus
vom 12. Februar 2008, Nr. 21906/04, § 141;
S.W. und
C.R. gegen United Kingdom
vom 22. November 1995, Nr. 20166/92 bzw. 20190/92, § 36 bzw. 34; MEYER-LADEWIG, a.a.O., N. 8 zu
Art. 7 EMRK
; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 469; VILLIGER, a.a.O., S. 339 [N. 535 f.]; WILDHABER, a.a.O., Rz. 75 ff.; GOLLWITZER, a.a.O., N. 8 zu Art. 7 MRK/Art. 15 IPBPR). Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt festlegen. Er hängt unter anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und der Vorhersehbarkeit der im Einzelfall erforderlichen Entscheidung, von den Normadressaten, von der Schwere des Eingriffs in Verfassungsrechte und von der erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten Entscheidung ab (
BGE 138 IV 13
E. 4.1 S. 20;
BGE 132 I 49
E. 6.2 S. 58 f.;
BGE 128 I 327
E. 4.2 S. 339 ff., je mit Hinweisen; Urteil des EGMR
Larissis Dimitrios gegen Griechenland
vom 24. Februar 1998,
Recueil CourEDH 1998-I S. 362
; siehe auch GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I: Die Straftat, 4. Aufl. 2011, S. 90 ff.; POPP/LEVANTE, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 31 ff. zu
Art. 1 StGB
). Technische oder relativ unbestimmte Begriffe, die im Allgemeinen zu unbestimmt sein mögen, können als Bestandteile von Straftatbeständen im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht noch die Bestimmtheitserfordernisse erfüllen (vgl. GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 470 f.; Urteil des EGMR
Cantoni gegen Frankreich
vom 15. November 1996, §§ 26 ff., in: EuGRZ 1999 S. 193 ff., 196 ff.). So hat der EGMR etwa den Begriff "verwerflich" in § 240 Abs. 2 des deutschen StGB als mit
Art. 7 EMRK
konform betrachtet (vgl. Urteil des EGMR
Witt gegen Deutschland
vom 8. Januar 2007, Nr. 18397/03, § 1; siehe dazu auch LEIBHOLZ/RINCK, Grundgesetz, Rechtsprechung des BVerfG, Kommentar, 7. Aufl. 2012, N. 1316 ff. zu
BGE 139 I 72 S. 87
Art. 103 GG; PHILIP KUNIG, in: Grundgesetzkommentar, von Münch/Kunig [Hrsg.], Bd. III, 5. Aufl. 2003, N. 27 ff., 34 ff. zu Art. 103 GG; GEORG NOLTE, in: Kommentar zum Grundgesetz, von Mangoldt/Klein/Starck [Hrsg.], Bd. III, 5. Aufl. 2005, N. 139, 141 ff., 144 ff. [Entscheidungsleitende Gesichtspunkte] zu Art. 103 Abs. 2 GG; HELMUTH SCHULZE-FIELITZ, in: Grundgesetz-Kommentar, Dreier [Hrsg.], Bd. III, 2. Aufl. 2008, N. 7 i.f. [zur grundsätzlichen Parallelität mit
Art. 7 EMRK
], 38 ff., 46 ff.).
8.2.2
Es trifft zu, dass
Art. 7 Abs. 1 KG
einige unbestimmte Rechtsbegriffe wie denjenigen der marktbeherrschenden Stellung oder denjenigen des Missbrauchs dieser Stellung enthält, die durch die Praxis zu interpretieren sind (vgl. WILDHABER, a.a.O., Rz. 81 ff.). Ob diese Norm für sich allein als hinreichend bestimmt zu beurteilen ist (so etwa HEINEMANN, Sanktionen, a.a.O., Rz. 24; a.M. WILDHABER, a.a.O., Rz. 87), kann hier letztlich offenbleiben, wobei immerhin darauf zu verweisen ist, dass es auch im ordentlichen Strafrecht Bestimmungen mit mehreren auslegungsbedürftigen Begriffen gibt wie etwa den Betrug gemäss
Art. 146 StGB
oder die Misswirtschaft nach
Art. 165 StGB
(vgl. dazu allgemein STRATENWERTH, a.a.O., S. 91; POPP/LEVANTE, a.a.O., N. 33 zu
Art. 1 StGB
). Zu berücksichtigen ist hingegen, dass
Art. 7 Abs. 1 KG
zusammen mit Abs. 2 derselben Bestimmung zu lesen ist (vgl. dazu ZÄCH/HEIZMANN, Markt und Marktmacht, in: Schweizerisches und europäisches Wettbewerbsrecht, Handbücher für die Anwaltspraxis, Bd. IX, 2005, S. 29 ff., 57), worin die verpönten Verhaltensweisen beispielhaft genannt werden. Obwohl diese Aufzählung nicht abschliessend ist (vgl.
BGE 137 II 199
E. 4.3.4 S. 210 f.), womit ein gewisser davon unabhängiger Spielraum für die Grundregel von Abs. 1 verbleibt, führt sie diese doch näher aus. Insbesondere ergibt sich aus der Verknüpfung von Art. 7 Abs. 1 mit
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
, wie sie hier zur Diskussion steht, ein klareres Bild (vgl. RHINOW/BIAGGINI, Verfassungsrechtliche Aspekte der Kartellgesetzrevision, in: Grundfragen der schweizerischen Kartellrechtsreform, 1995, S. 93 ff., 140; RHINOW/GUROVITS, Gutachten vom 5. Juli 2001 über die Verfassungsmässigkeit der Einführung von direkten Sanktionen im Kartellgesetz, Recht und Politik des Wettbewerbs [RPW] 2001/3 S. 592 ff., 611).
8.2.3
Es stellt sich mithin die Frage, ob der Tatbestand von
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
genügend bestimmt
ist, damit dieser Grundlage für Sanktionen bilden kann. Der fragliche Tatbestand stellt nur ein Beispiel des
Verhaltens
nach
Art. 7 Abs. 1 KG
dar; ob dieses schliesslich
BGE 139 I 72 S. 88
missbräuchlich ist, ist im Zusammenhang mit
Art. 7 Abs. 1 KG
zu beurteilen (
BGE 137 II 199
E. 4.3.4 S. 211; Botschaft vom 23. November 1994 zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen [Kartellgesetz, KG] [nachfolgend: Botschaft KG I], BBl 1995 I 468, 570; ZÄCH/HEIZMANN, a.a.O., S. 57; DÄHLER/KRAUSKOPF/STREBEL, Aufbau und Nutzung von Marktpositionen, in: Schweizerisches und europäisches Wettbewerbsrecht, 2005, S. 267 ff., 303; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 25 zu
Art. 7 KG
; BORER, a.a.O., N. 4 zu
Art. 7 KG
; CLERC, a.a.O., N. 109 zu
Art. 7 KG
; MICHAEL TSCHUDIN, Rabatte als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gemäss
Art. 7 KG
, 2011, S. 79). Insofern müssen selbstverständlich auch die Elemente der marktbeherrschenden Stellung und die dabei massgebliche Vorfrage der Marktabgrenzung genügend bestimmt sein; dies trifft zu:
Art. 4 Abs. 2 KG
für den Begriff "marktbeherrschend" und Art. 11 Abs. 3 der Verordnung vom 17. Juni 1996 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (VKU; SR 251.4) für die Marktabgrenzung. Schwieriger zu beantworten ist, ob mit dem Begriff "Diskriminierung" i.V.m.
Art. 7 Abs. 1 KG
das verpönte Verhalten genügend klar umrissen ist. Zunächst ist festzuhalten, dass identisches Verhalten je nach den konkreten Umständen wettbewerbskonform oder wettbewerbswidrig sein kann (vgl. AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 24 zu
Art. 7 KG
; ROGER ZÄCH, Schweizerisches Kartellrecht [nachfolgend: Kartellrecht], 2. Aufl. 2005, S. 304 f.). Insofern kann nur einzelfallweise eruiert werden, ob ein Verhalten diskriminierend ist. Wie im Kernstrafrecht müssen auch im Wirtschaftsstrafrecht angesichts vielfältiger Problemstellungen und der Komplexität der zu ordnenden Sachverhalte offene Normen verwendet werden. Allerdings schadet das nicht: Hier wie dort ist eine Auslegung der Norm und sind Konkretisierungen der Gerichte und der Behörden zulässig (vgl. oben E. 8.2.1). So ist beispielsweise auch im Strafrecht eine komplexe Auslegung notwendig, um zu bestimmen, ob im Cache gespeicherte pornographische Daten als strafbarer Besitz im Sinne von
Art. 197 StGB
gelten (
BGE 137 IV 208
), was überhaupt Pornographie ist (
BGE 131 IV 64
E. 10.1.1 [entscheidend ist der Gesamteindruck]; siehe auch
BGE 133 II 136
E. 5.3 S. 144 ff.) oder ob eine inhaltlich unwahre Rechnung eine Falschbeurkundung i.S. von
Art. 251 Ziff. 1 StGB
oder eine straffreie schriftliche Lüge darstellt (
BGE 138 IV 130
). Nicht anders verhält es sich im Kartellrecht: Diskriminierung ist Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Markt; dieser Missbrauch besteht darin, dass andere Unternehmen in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs behindert
BGE 139 I 72 S. 89
oder die Marktgegenseite benachteiligt wird. Missbräuchlich heisst wettbewerbswidrig (vgl. ZÄCH/HEIZMANN, a.a.O., S. 57). Zur Bestimmung, ob Verhalten wettbewerbswidrig oder wettbewerbskonform ist, haben Lehre und Rechtsprechung verschiedene Beurteilungskriterien entwickelt: Legitimate business reasons (sachliche Gründe), Vorliegen einer Behinderungs- oder Verdrängungsabsicht, Schwächung der Wettbewerbsstruktur, Nichtleistungswettbewerb, normzweckorientierte Interessenabwägung, Gleichbehandlungsprinzip und Abschottung des schweizerischen Marktes (vgl. dazu ZÄCH/HEIZMANN, a.a.O., S. 58; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 305 ff.; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 27-71, 179 ff., 198 ff. zu
Art. 7 KG
; CLERC, a.a.O., N. 61 ff. zu
Art. 7 KG
). Diskriminierend sind in jedem Fall Verhaltensweisen von marktbeherrschenden Unternehmen, die Handelspartner ohne sachliche Gründe unterschiedlich behandeln (vgl. etwa OLAF KIENER, Marktmachtmissbrauch, 2002, S. 242; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 326) und diese damit im Wettbewerb bzw. in ihrer wirtschaftlichen Freiheit spürbar behindern (vgl.
BGE 129 II 497
E. 6.4.2 S. 538,
BGE 129 II 18
E. 5.2.1 S. 24; DAVID/JACOBS, Schweizerisches Wettbewerbsrecht, 2012, S. 247 Rz. 718, S. 251; siehe dazu auch unten E. 10). Da das schweizerische Kartellgesetz sich stark am europäischen Wettbewerbsrecht orientiert (vgl. Botschaft KG I, BBl 1995 I 471, 494, insbes. 531 ["Parallelen bestehen beispielsweise bei der Formulierung der Tatbestände des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung"]), ist auch die Praxis zu Art. 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV; ABl. C 115/47 vom 9. Mai 2008; vgl. dazu statt aller PETER-CHRISTIAN MÜLLER-GRAFF, in: Europäisches Unionsrecht [...], a.a.O., passim zu Art. 102 AEUV; vormals Art. 82 EGV) zu berücksichtigen (vgl. jetzt MONIQUE STURNY, Der Einfluss des europäischen Kartellrechts auf das schweizerische Kartellrecht, in: Die Europakompatibilität des schweizerischen Wirtschaftsrechts: Konvergenz und Divergenz, 2012, S. 107 ff., 113 ff. i.V.m. 112, 124 Fn. 90 und S. 127; siehe auch AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 198 zu
Art. 7 KG
; CLERC, a.a.O., N. 64 zu
Art. 7 KG
; KÖCHLI/REICH, in: Kartellgesetz, 2007, N. 32 zu
Art. 4 KG
; dazu auch MARC AMSTUTZ, Evolutorische Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, Zur richtlinienkonformen Auslegung und ihren Folgen für den autonomen Nachvollzug des Gemeinschaftsprivatrechts in der Schweiz, in: Das schweizerische Privatrecht im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, 2004, S. 105 ff.; ROBERTO DALLAFIOR, in: Kommentar zum schweizerischen Kartellgesetz, 1996, 2. Lieferung 1997, N. 96 zu
Art. 7 KG
). Diesbezüglich lassen sich bereits
BGE 139 I 72 S. 90
Erkenntnisse über den Normsinn und damit auch
Rechtssicherheit
(vgl. STURNY, a.a.O., S. 124, 125) gewinnen. Wie bereits ausgeführt hat der EGMR die Tragweite des Begriffs der Vorhersehbarkeit in grossem Mass von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und der Vorhersehbarkeit der im Einzelfall erforderlichen Entscheidung, von den Normadressaten, von der Schwere des Eingriffs in Verfassungsrechte und von der erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten Entscheidung abhängig gemacht. Dabei steht es dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit nicht entgegen, wenn das betroffene Unternehmen in einem vernünftigen, den Umständen entsprechenden Masse
rechtlichen Rat einholen
muss
, um die möglichen Folgen eines bestimmten Handelns zu ermitteln (vgl. Urteil des EGMR
Cantoni
, § 35, in: EuGRZ 1999 S. 193 ff., 198; ähnlich AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 38 i.f. zu
Art. 7 KG
). Der schweizerische Gesetzgeber hat - gestützt (vgl. Botschaft KG II, BBl 2002 2036) auf ein Rechtsgutachten (RHINOW/GUROVITS, a.a.O., S. 592 ff.) - eine solche Möglichkeit, rechtlichen Rat einzuholen, institutionalisiert. Besteht bei einem Unternehmen Unsicherheit darüber, ob ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten unter
Art. 7 KG
fällt, soll ihm die Möglichkeit offenstehen, dieses der Wettbewerbskommission zu melden, bevor es Wirkung entfaltet (vgl.
Art. 49a Abs. 3 lit. a KG
). Damit wird sichergestellt, dass die Unternehmen das Risiko einer Fehlbeurteilung des eigenen Verhaltens nicht selbst tragen müssen (vgl. Botschaft KG II, BBl 2002 2039; RHINOW/GUROVITS, a.a.O., S. 612;
BGE 135 II 60
E. 3.2.1 S. 70). Mit diesem Instrument hat es jede Unternehmung in der Hand, die materielle Rechtslage im Zweifelsfall abklären zu lassen und damit der Gefahr einer Sanktion zu entgehen (vgl. RHINOW/GUROVITS, a.a.O., S. 612). Insoweit stellt die Vorabmeldung ein notwendiges Korrektiv der Unbestimmtheit des Normtextes dar und insoweit ist auch Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. b KG hinreichend bestimmt, um als gesetzliche Grundlage für eine Sanktionierung zu dienen (vgl. auch RHINOW/SCHMID/BIAGGINI/UHLMANN, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, S. 414 f.; DOSS, a.a.O., S. 72).
Angesichts der Vorgeschichte in den späten 90er Jahren und dem damaligen Hinweis des WEKO Sekretariats, dass ein gewisses Diskriminierungspotenzial der Kommissionierungspraxis der Beschwerdeführer bestehe und sie sich deshalb vorbehalte, ein formelles Untersuchungsverfahren zu eröffnen, musste die Beschwerdeführerin bereits zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass ihre
BGE 139 I 72 S. 91
Verhaltensweise unter den Tatbestand des
Art. 7 KG
fallen könnte. Sie hätte deshalb die materielle Rechtslage vorteilhafterweise zu diesem Zeitpunkt abklären lassen sollen(vgl. Urteil des EGMR
Cantoni
,§ 35, in: EuGRZ 1999, S. 193 ff., 198).
8.3
Die Beschwerdeführer sind der Auffassung, bei der Anwendung von
Art. 7 KG
sei mit Blick auf allfällige Unklarheiten, etwa bei der Marktdefinition bzw. beim Verständnis der marktbeherrschenden Stellung, nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" vorzugehen.
8.3.1
Die Beschwerdeführer verwechseln teilweise die Regeln der Beweislast und -würdigung, die in tatsächlicher Hinsicht gelten (vgl.
BGE 127 I 38
E. 2a S. 40 f.), mit den anwendbaren Auslegungsgrundsätzen. Lediglich sachverhaltsmässige Unklarheiten sind aufgrund der Unschuldsvermutung nach
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
bzw.
Art. 32 Abs. 1 BV
zu Gunsten der Beschwerdeführer zu werten. Allfällige Unschärfen bei den Rechtsbegriffen unterliegen demgegenüber den Regeln der Gesetzesinterpretation. Der Grundsatz "in dubio pro reo" hat insofern keine Bedeutung.
8.3.2
Die Beschwerdeführer bringen vor, für die Würdigung der tatsächlichen Voraussetzungen bei der Beurteilung der Marktstellung sei zu verlangen, dass eine solche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliege. Es ist indessen nicht zu übersehen, dass die Analyse der Marktverhältnisse komplex und die Datenlage oft unvollständig und die Erhebung ergänzender Daten schwierig ist. So ist etwa bei der Marktabgrenzung die Substituierbarkeit aus der Sicht der Marktgegenseite mit zu berücksichtigen. Die Bestimmung der massgeblichen Güter sowie die Einschätzung des Ausmasses der Substituierbarkeit ist kaum je exakt möglich, sondern beruht zwangsläufig auf gewissen ökonomischen Annahmen. Die Anforderungen an den Nachweis solcher Zusammenhänge dürfen mit Blick auf die Zielsetzung des Kartellgesetzes, volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern und damit den Wettbewerb im Interesse einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung zu fördern (vgl.
Art. 96 BV
und
Art. 1 KG
), nicht übertrieben werden (vgl. dazu STEFAN BILGER, Das Verwaltungsverfahren zur Untersuchung von Wettbewerbsbeschränkungen, 2002, S. 305 f.; PAUL RICHLI, Kartellverwaltungsverfahren, in: Kartellrecht, SIWR Bd. V/2, 2000, S. 417 ff., 454; TSCHUDIN, a.a.O., S. 142 f.; DAVID/FRICK/KUNZ/STUDER/ZIMMERLI, a.a.O., S. 465 ff. [zurückhaltender]; siehe auch AMSTUTZ/KELLER/REINERT, "Si unus cum una ...": Vom Beweismass im Kartellrecht,
BGE 139 I 72 S. 92
Baurecht [BR] 2005 S. 114 ff., 118 f., 119 f.; zur Beweiswürdigung und zum Beweismass allgemein siehe KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Öffentliches Verfahrensrecht, 2012, S. 168 f.; RHINOW/KOLLER/KISS/THURNHERR/BRÜHL-MOSER, Öffentliches Prozessrecht, 2010, S. 268; AMSTUTZ/KELLER/REINERT, a.a.O., S. 116 f.). In diesem Sinne erscheint eine strikte Beweisführung bei diesen Zusammenhängen kaum möglich. Eine gewisse Logik der wirtschaftlichen Analyse und Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit müssen aber überzeugend und nachvollziehbar erscheinen (BILGER, a.a.O., S. 305 [zur Begründungsdichte]). Der vorliegende Sanktionstatbestand unterscheidet sich insoweit nicht von komplexen Wirtschaftsdelikten des ordentlichen Strafrechts.
8.3.3
Die WEKO nahm im vorliegenden Fall umfangreiche tatsächliche Abklärungen zur Marktabgrenzung und zur Marktstellung vor. Dabei wurden auch die Argumente der Beschwerdeführer einlässlich geprüft. Nicht zuletzt deshalb benötigte das Verfahren eine gewisse Zeit. Dass diese von der Vorinstanz nach entsprechender Würdigung übernommenen ökonomischen Zusammenhänge, die im angefochtenen Entscheid ausführlich begründet werden, nicht verlässlich sein sollten, ist nicht ersichtlich.
9.
9.1
Als marktbeherrschend gelten gemäss
Art. 4 Abs. 2 KG
einzelne oder mehrere Unternehmen, die auf dem Markt als Anbieter oder Nachfrager in der Lage sind, sich von andern Marktteilnehmern (Mitbewerbern, Anbietern oder Nachfragern) in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten (dazu KÖCHLI/REICH, a.a.O., N. 26 ff. zu
Art. 4 KG
; REINERT/BLOCH, in: Basler Kommentar, Kartellgesetz, 2010, N. 94 ff. zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; TAGMANN, a.a.O., S. 53 ff.; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 258 ff.; PATRIK DUCREY, in: Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2008, Rz. 1478 i.V.m. 1331 ff.). Bevor sich die Marktmacht beurteilen lässt, ist der relevante Markt zu definieren. Dieser beurteilt sich analog Art. 11 Abs. 3 VKU nach einer sachlichen und räumlichen Komponente (dazu etwa ZÄCH/HEIZMANN, a.a.O., S. 34). Hinzu kommt die zeitliche Dimension.
9.2
9.2.1
Der räumliche Markt umfasst das Gebiet, in dem die Marktgegenseite die den sachlichen Markt bestimmenden Waren oder Leistungen nachfragt oder anbietet (Art. 11 Abs. 3 lit. b VKU; siehe dazu etwa RETO A. HEIZMANN, Der Begriff des marktbeherrschenden Unternehmens im Sinne von Art. 4 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 7 KG
, 2005, S. 143 ff.). Dass es vorliegend um das Gebiet der ganzen Schweiz geht, wird nicht bestritten.
BGE 139 I 72 S. 93
9.2.2
In zeitlicher Hinsicht ist im Wesentlichen von den Verhältnissen in der massgeblichen Zeitperiode, hier also vom 1. April 2004 bis zum 30. November 2005, auszugehen (vgl. nicht publ. E. 5.3). Die Berücksichtigung nachträglicher Entwicklungen, wie das die Beschwerdeführer geltend machen, ist nur bedingt möglich, nämlich dann, wenn diese zwingende Schlüsse auf die frühere Situation zulassen. Im Übrigen ist entscheidend, dass es um die kartellrechtliche Sanktionierung eines in der Vergangenheit liegenden und abgeschlossenen Marktverhaltens geht. Gerade mit Blick auf den strafrechtlichen Charakter des Sanktionsverfahrens verbietet sich eine zeitliche Vermischung der massgeblichen Umstände mit Ereignissen aus anderen Zeitperioden.
9.2.3
9.2.3.1
Der sachliche Markt umfasst alle Waren und Leistungen, die von der Marktgegenseite hinsichtlich ihrer Eigenschaften und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als substituierbar angesehen werden (Art. 11 Abs. 3 lit. a VKU; siehe rechtsvergleichend dazu Ziff. 7 der Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. C 372 vom 9. Dezember 1997, S. 5 ff.). Die Definition des sachlichen Marktes erfolgt somit aus Sicht der Marktgegenseite; massgebend ist, ob aus deren Optik Waren oder Dienstleistungen miteinander im Wettbewerb stehen. Dies hängt davon ab, ob sie vom Nachfrager hinsichtlich ihrer Eigenschaften und des vorgesehenen Verwendungszwecks als substituierbar erachtet werden (
BGE 129 II 18
E. 7.3.1 S. 33; HEIZMANN, a.a.O., S. 105 ff.; REINERT/BLOCH, a.a.O., N. 102 ff. zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; CLERC, in: Droit de la concurrence, 2002, N. 54 ff. zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., Rz. 538 ff.; BORER, a.a.O., N. 10 ff. zu
Art. 5 KG
; KÖCHLI/REICH, a.a.O., N. 42 f. zu
Art. 4 KG
). Entscheidend ist somit die
funktionelle Austauschbarkeit
(Bedarfsmarktkonzept) von Waren und Dienstleistungen aus Sicht der Marktgegenseite (vgl. etwa BORER, a.a.O., N. 10 zu
Art. 5 KG
; HEIZMANN, a.a.O., S. 106). Daneben bestehen weitere Methoden zur Bestimmung der Austauschbarkeit der Waren und Dienstleistungen aus Nachfragersicht. Dabei ist stets vom Untersuchungsgegenstand auszugehen (vgl. HEIZMANN, a.a.O., S. 106).
9.2.3.2
Die WEKO und die Vorinstanz bestimmten den Markt für die Vermittlung und den Verkauf von Inserate- und Werberaum in den Printmedien als sachlich relevanten Markt. Das unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilende Marktverhalten ist die
BGE 139 I 72 S. 94
Kommissionierungspraxis der Beschwerdeführer gegenüber den unabhängigen Vermittlern im Rahmen des Pachtregiesystems. Insofern steht das entsprechende Dienstleistungsangebot im Vordergrund.
9.2.3.3
Die Beschwerdeführer sind der Ansicht, die Vorinstanz habe die Substitutionsverhältnisse falsch definiert. Der sachlich relevante Markt umfasse nicht nur die Printmedien, sondern auch die anderen Werbeträger, insbesondere die Plakatwerbung (Aussenwerbung), die Direktwerbung und die elektronischen Medien. Dabei seien klare Substitutionsbewegungen von der Presse hin zu den anderen Medien festzustellen, denen eine höhere Beweiskraft zukomme als den von den Vorinstanzen bewerteten Marktbefragungen.
9.2.3.4
Vorweg ist die Auffassung der Beschwerdeführer, dass die Marktabgrenzung "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen" werden muss, zurückzuweisen. Wie bereits oben (E. 8.3.2) festgehalten worden ist, ist eine strikte Beweisführung bei der Marktabgrenzung kaum möglich, da u.a. auch auf Erfahrungssätze, Marktbeobachtungen und Marktteilnehmerbefragungen abzustellen ist (vgl. HEIZMANN, a.a.O., S. 104, 109, 111; MANI REINERT, Ökonomische Grundlagen zur kartellrechtlichen Beurteilung von Alleinvertriebsverträgen, 2004, S. 26, 28, 38 f.; ZÄCH/ZWEIFEL, Plädoyer für das neue Kartellgesetz, in: Grundfragen der schweizerischen Kartellrechtsreform, 1995, S. 19 ff., 24; REINERT/BLOCH, a.a.O., N. 16 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; TAGMANN, a.a.O., S. 57 f.; ROGER ZÄCH, Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen [nachfolgend: Verhaltensweisen], in: Kartellrecht, SIWR Bd. V/2, 2000, S. 137 ff., 149; ADRIAN KÜNZLER, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur Frage nach den Aufgaben des Rechts gegen private Wettbewerbsbeschränkungen, 2008, S. 80 ff.).
9.2.3.5
Es ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dass neue Technologien auch das Werbeverhalten beeinflussen werden (vgl. KASPAR ANDREAS HEMMELER, Die kartellrechtliche Bestimmung von Medienmärkten, 2007, passim). Bei alledem darf indes nicht übersehen werden, dass die Eigenschaften und Gestaltoptionen der Werbeträger sowie die anzusprechende Zielgruppe (vgl. WEBER/VOLZ, Online-Werbemarkt und Kartellrecht - Innovation vs. Marktmacht [nachfolgend: Online-Werbemarkt], sic! 2010 S. 777 ff., 780; siehe auch DOSS, a.a.O., S. 18) die massgebenden Kriterien für die Feststellung des sachlich relevanten Marktes sind, ist doch auf die Sicht der Marktgegenseite abzustellen (ZÄCH, Verhaltensweisen, S. 150; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 259; DOSS, a.a.O., S. 18 [Rz. 24]). So
BGE 139 I 72 S. 95
wird deshalb zu Recht davon ausgegangen, dass Radio-, Fernseh- und Pressewerbung unterschiedliche Märkte darstellen. Die Werbung in den unterschiedlichen Medientypen unterscheidet sich wesentlich aufgrund der Gestaltungsoptionen und des Adressatenkreises; jedes Medium weist hinsichtlich der Werbemöglichkeiten zudem unterschiedliche Eigenschaften und Vorteile auf (vgl. WEBER/VOLZ, Online Marketing und Wettbewerbsrecht[nachfolgend: Online Marketing], 2011, S. 96 f.;WEBER/VOLZ, Online-Werbemarkt, a.a.O., S. 779 f.; HARALD MAAG, Medienkonzentration - zur Reichweite des fusionskontrollrechtlichen Instrumentariums, 2002, S. 116 ff., 137, 147; HEMMELER, a.a.O., S. 56 f.). Angesichts dieses Umstands ist auch von einem eigenen Online-Werbemarkt, d.h. einem eigenen Werbemarkt im Internet, auszugehen (vgl. WEBER/VOLZ, Online Marketing, a.a.O., S. 97), der in gewissen Bereichen zudem noch weiter abgestuft werden kann (vgl. WEBER/VOLZ, Online Marketing, a.a.O., S. 97). Für den Printbereich hat das Bundesgericht bereits ähnliche Werbe
teil
märkte akzeptiert (vgl. Urteil 2A.327/2006 vom 22. Februar 2007 E. 7.3.2). Insofern sind die Vorinstanzen zu Recht davon ausgegangen, dass es sich um unterschiedliche Märkte handelt und die verschiedenen Werbeträger eher komplementär zur Anwendung kommen.
Die Beschwerdeführer heben allerdings hervor, dass eine Substituierung zwischen Printbereich und Internet bestehe. Sie beziehen sich dabei insbesondere auf verschiedene Online-Plattformen in den Rubriken "Fahrzeuge", "Immobilien" und "Stellen". Auch die Vorinstanz anerkennt vor allem in Bezug auf crossmediale Werbestrategien (Mediamix bei Werbekampagnen) eine gewisse Substitutionswirkung, doch werden die Werbeträger vor allem komplementär eingesetzt. Sie hat zudem zu Recht darauf hingewiesen, dass Online- und Printwerbung u.a. unterschiedliche Nachfrager bedienen sowie unterschiedlichen Kosten und Produktionsbedingungen unterliegen (dazu MATTHIAS AMANN, Zeitungsfusionskontrolle, 2000, S. 133; MAAG, a.a.O., S. 112 f.). Kommt hinzu, dass entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer die Frage weniger lautet, ob es Substitutionsangebote gibt, sondern vielmehr bis zu welchem Grad die fraglichen Güter austauschbar sind. Diese Frage ist daher auch nicht mit Ja oder Nein zu beantworten, sondern sie ist gradueller Art (vgl. CLERC, a.a.O., N. 63 zu
Art. 4 KG
; SILVIO VENTURI, in: Droit de la concurrence, 2002, N. 31 zu
Art. 10 KG
; MAAG, a.a.O., S. 112 f.; siehe auch AMANN, a.a.O., S. 132 ff.), wie sich anhand der Methode der Kreuzpreiselastizität der Nachfrage, wonach hinreichende
BGE 139 I 72 S. 96
Austauschbarkeit zweier Produkte vorliegt, wenn relativ geringe Preiserhöhungen für das eine Produkt eine Abwanderung der Nachfrage zum anderen Produkt bewirkt (dazu etwa CLERC, a.a.O., N. 63 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; HEIZMANN, a.a.O., S. 116 ff.; REINERT/BLOCH, a.a.O., N. 114 zu
Art. 4 KG
; MANI REINERT, a.a.O., S. 27 ff.), und auch nach dem der Kreuzpreiselastizitätsmethode sehr ähnlichen SSNIP-Test (small but significant and nontransitory increase in price), wonach untersucht wird, wie die Unternehmen der Marktgegenseite oder Konkurrenten auf eine kleine, aber spürbare und dauerhafte Preiserhöhung eines Monopolisten reagieren (dazu HEIZMANN, a.a.O., S. 118 ff; AMANN, a.a.O., S. 137 ff.; MANI REINERT, a.a.O., S. 29 ff.; CLERC, a.a.O., N. 63 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; TSCHUDIN, a.a.O., S. 29), zeigen lässt. Angesichts dieses Umstandes ist eine strikte Beweisführung weder möglich (siehe oben E. 8.3.2) noch überhaupt zu rechtfertigen, ansonsten eine "objektive Berechenbarkeit vorgetäuscht und das Erfordernis von Werturteilen verdeckt wird" (WALTER R. SCHLUEP, in: KG + PüG, Schürmann/Schluep [Hrsg.], 1988, S. 260; KÜNZLER, a.a.O., S. 80 ff.).
Gestützt auf diese Methoden werden Substitutionsbeziehungen einerseits innerhalb des relevanten Produkte- bzw. Leistungsmarktes (Marktwettbewerb) und andererseits zwischen Gütern des relevanten Marktes und solchen, die im marktnahen Bereich liegen (Substitutionswettbewerb), unterschieden (vgl. MAAG, a.a.O., S. 113; AMANN, a.a.O., S. 134 ff.). Die teilweise Substituierbarkeit von Produkten, welche dem Substitutionswettbewerb und nicht dem Marktwettbewerb unterliegen, wird indes nicht als ausreichend angesehen, damit diese zum sachlich relevanten Markt hinzugerechnet werden können (für den Medienmarkt: AMANN, a.a.O., S. 132 ff.; MAAG, a.a.O., S. 111 ff., 194 ff.). Ihnen kommt aber disziplinierende Wirkung zu (vgl. Urteil 2A.327/2006 vom 22. Februar 2007 E. 7.3.5).
9.2.3.6
Die Vorinstanz hat anhand der von der WEKO durchgeführten Abklärungen festgestellt, dass die Preiselastizität gering ist. An die Feststellung dieses Sachverhalts ist das Bundesgericht gebunden (
Art. 105 Abs. 1 BGG
). Diese kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG
beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG
). Dabei sind strenge Anforderungen an die Begründungspflicht der Beschwerde gerechtfertigt; entsprechende Beanstandungen sind vergleichbar mit den in
Art. 106 Abs. 2 BGG
genannten Rügen (vgl.
BGE 133 II 249
E. 1.4.3 i.V.m. E. 1.4.2 S. 255 i.V.m. 254).
BGE 139 I 72 S. 97
Die Beschwerdeführer stellen den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt nicht qualifiziert in Frage. Insbesondere genügen die Hinweise auf die drei Rubriken "Fahrzeuge", "Stellen" und "Immobilien" den strengen Anforderungen nicht: Die Vorinstanz hat bereits in ihrem Entscheid die den Sachverhalt betreffenden Rügen gründlich erörtert. Die Beschwerdeführer setzten sich diesbezüglich nicht vertieft damit auseinander und unterlassen es, auch qualifiziert darzulegen, inwiefern die Rückläufigkeit der Werbung in den Printmedien nicht auf die Pressekrise zurückgeführt werden kann. Insofern erweist sich der vorinstanzlich bestimmte sachlich relevante Markt als bundesrechtskonform.
9.3
Nachdem der sachlich, örtlich und zeitlich relevante Markt bestimmt worden ist, gilt es zu eruieren, ob die Beschwerdeführer marktbeherrschend waren.
9.3.1
Nach
Art. 4 Abs. 2 KG
gelten als marktbeherrschende Unternehmen einzelne oder mehrere Unternehmen, die auf einem Markt als Anbieter oder Nachfrager in der Lage sind, sich von anderen Marktteilnehmern (Mitbewerbern, Anbietern oder Nachfragern) in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten, insbesondere wenn diese keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten haben; entscheidend ist die Möglichkeit des unabhängigen Verhaltens eines Unternehmens in einem bestimmten Markt (vgl.
BGE 129 II 497
E. 6.3.1 S. 536; ZÄCH, Verhaltensweisen, a.a.O., S. 172; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 281; DUCREY, a.a.O., S. 326; KÖCHLI/REICH, a.a.O., N. 31, 34 zu
Art. 4 KG
). Marktbeherrschende Unternehmen können in wichtigen Belangen entscheidende Wettbewerbsparameter ohne Rücksicht auf Mitbewerber bzw. Kunden nach eigenem Gutdünken festlegen (vgl. DUCREY, a.a.O., S. 326). Mit der Änderung des Kartellgesetzes im Jahre 2003 hat der Gesetzgeber zudem verdeutlicht, dass nicht allein auf Marktstrukturdaten abzustellen ist, sondern auch konkrete Abhängigkeitsverhältnisse zu prüfen sind (vgl. Botschaft KG II, BBl 2002 2045; DUCREY, a.a.O., S. 326; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 280; KÖCHLI/REICH, a.a.O., N. 30, 36 zu
Art. 4 KG
). Eine marktbeherrschende Stellung lässt sich nicht anhand fixer Kriterien bestimmen, sondern ist im Einzelfall mit Blick auf die konkreten Verhältnisse auf dem relevanten Markt zu entscheiden (dazu etwa KÜNZLER, a.a.O., S. 423; DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 238 [Rz. 696 i.f.]; KÖCHLI/REICH, a.a.O., N. 33, 37 zu
Art. 4 KG
; PHILIPP CANDREIA, Konzerne als marktbeherrschende Unternehmen nach
Art. 7 KG
, 2007, S. 160). Die Lehre hat dazu verschiedene Beurteilungskriterien entwickelt (vgl.
BGE 139 I 72 S. 98
DUCREY, a.a.O., S. 326 ff.; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 284 ff.; REINERT/BLOCH, a.a.O., N. 258 ff. zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; TSCHUDIN, a.a.O., S. 114 ff.).
9.3.2
9.3.2.1
Zur Marktstellung machen die Beschwerdeführer - wie bereits bei der Marktabgrenzung - zu Unrecht geltend, dass die Tatbestandselemente des
Art. 7 KG
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden müssen. Diesbezüglich kann auf die bereits oben aufgeführten Argumente verwiesen werden (vgl. E. 8.3.2 und 9.2.3.4).
9.3.2.2
Die Beschwerdeführer führen sodann aus, dass der Gegenstand der zu beurteilenden Untersuchung die Kommissionierungspraxis der Beschwerdeführer im Rahmen des Pachtregiesystems sei; in Bezug auf diese Praxis sei zu prüfen, ob die Beschwerdeführer sich missbräuchlich verhalten hätten. Konsequenz hieraus sei, dass die Möglichkeit eines unabhängigen Verhaltens der Beschwerdeführer bezüglich dieser Verhaltensweise geprüft werden müsse. Mit anderen Worten gehen die Beschwerdeführer davon aus, dass für das Tatbestandsmerkmal "marktbeherrschendes Unternehmen" nicht der relevante Markt der notwendige Bezugspunkt sei, sondern lediglich der Markt, wo die strittige Kommissionierungspraxis erfolgt sei, mithin also ein engerer Markt. Folglich sei ihr Marktanteil wesentlich tiefer als von der WEKO festgestellt und von der Vorinstanz bestätigt (63 %). Er betrage lediglich 42,5 %; dieser entspreche dem durch die Beschwerdeführerinnen 2-5 in Pachtregie erwirtschafteten Umsatz.
Die Vorinstanz hatte in ihrem Urteil bereits festgehalten, dass für die Beurteilung der "Marktbeherrschung" der ausgeschiedene relevante Markt massgebend sei. Die Beschwerdeführer verfügten deshalb im hier fraglichen Zeitraum über einen Marktanteil von über 63 %, da einerseits zahlreiche Verlage mit den Beschwerdeführern exklusive Pachtverträge abgeschlossen hätten, wo die Beschwerdeführer praktisch konkurrenzlos waren, und andererseits die Eigenregieverlage rund 40-50 % mit von den Beschwerdeführern vermittelten Inseraten generiert hätten.
9.3.3
9.3.3.1
Die Beschwerdeführer nehmen für die Begründung der Marktbeherrschung auf die strittige Kommissionierungspraxis Bezug. Sie setzen sich allerdings wenig begründet mit der vorinstanzlichen
BGE 139 I 72 S. 99
Auffassung auseinander.
Art. 4 Abs. 2 KG
hält klar fest: Der Markt, auf welchem Unternehmen "herrschen", ist derjenige Markt, wo diese sich von anderen Marktteilnehmern in wesentlichem Umfang unabhängig verhalten können (vgl. DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 237 Rz. 696 i.i.; CANDREIA, a.a.O., S. 159; MARKUS RUFFNER, Unzulässige Verhaltensweisen marktmächtiger Unternehmen, AJP 1996 S. 834 ff., 836 ["zweistufiger Marktbeherrschungstest"]; so auch für die identische Regelung auf EU-Ebene: MÜLLER-GRAFF, a.a.O., N. 11 zu Art. 102 AEUV). Würde keine Marktübereinstimmung bestehen, könnten sich einerseits die Marktteilnehmer bezüglich der Waren bzw. Dienstleistungen ohnehin unabhängig verhalten, weshalb eine diesbezügliche Regelung in
Art. 4 Abs. 2 KG
sinnlos wäre, und andererseits wäre auch die Frage der funktionellen Substituierbarkeit obsolet. Zudem wäre auch das Beurteilungskriterium des Marktverhaltens, worin auch die Reaktion der Marktgegenseite einzubeziehen ist (vgl. ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 288; HEIZMANN, a.a.O., S. 200 ff.; CANDREIA, a.a.O., S. 166 f.), die wiederum für die Bestimmung des relevanten Marktes massgebend ist (vgl. etwa ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 259), seines Inhaltes entleert. Die von den Beschwerdeführern in den Vordergrund geschobene strittige Kommissionierungspraxis bildet erst Gegenstand bei der Beurteilung der Frage, ob diese, sofern sie marktbeherrschend sind, sich unzulässig verhalten haben (
Art. 7 KG
; zum möglichen engeren Markt beim Missbrauch so auch für die EU: vgl. MARKUS M. WIRTZ, in: Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl. 2011, N. 37 zu 6. Kapitel [S. 293]).
9.3.3.2
Angesichts dieses Befundes ist von einem Marktanteil von 63 % auszugehen, welcher von den Beschwerdeführern nicht bestritten wird. Im Gegensatz zur Praxis in der EU (vgl. hierzu etwa die Hinweise bei CANDREIA, a.a.O., S. 161 f.; CLERC, a.a.O., N. 111 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
) folgert die schweizerische Praxis und Lehre aus einem hohen Marktanteil nicht per se eine marktbeherrschende Stellung (vgl. CLERC, a.a.O., N. 108 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; REINERT/BLOCH, a.a.O., N. 270, 277 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; CANDREIA, a.a.O., S. 163; BORER, a.a.O., N. 20 zu
Art. 4 KG
; RUFFNER, a.a.O., S. 837). Allerdings bildet der Marktanteil von 50 % Indiz für eine marktbeherrschende Stellung ("kritische Schwelle": vgl. BORER, a.a.O., N. 19 zu
Art. 4 KG
; REINERT/BLOCH, a.a.O., N. 277 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; CLERC, a.a.O., N. 116, siehe auch 108-110 zu
Art. 4 Abs. 2 KG
; HEIZMANN, a.a.O., S. 168, 171, 172). Insofern spricht bei einem Marktanteil von 63 % viel dafür, dass die Beschwerdeführer eine
BGE 139 I 72 S. 100
marktbeherrschende Stellung innehaben. Diese "Vermutung" wird durch die Erhebungen und Abklärungen der WEKO, welche die Vorinstanz bestätigt hat, nicht widerlegt, sondern vielmehr bekräftigt.
Was die Beschwerdeführer dagegen vorbringen, vermag daran nichts zu ändern: Es genügt nicht, lediglich geltend zu machen, dass die Ausführungen der Vorinstanz falsch, nicht ausreichend begründetoder nicht nachvollziehbar sind. Hier wäre vielmehr eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem vorinstanzlichen Entscheid unter Darstellung der eigenen Auffassung notwendig. Zudem wird - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer - in der Beurteilung der Vorinstanz berücksichtigt, dass es neben den Beschwerdeführern auch grössere andere Eigenregieverlage gab. Die von den Beschwerdeführern angerufenen angeblichen Verschiebungen in den letzten Jahren sind für den hier fraglichen Zeitraum nur bedingt wesentlich und belegen keine massgebliche Fehleinschätzung durch die Vorinstanz. Das gilt insbesondere für die behauptete disziplinierende Wirkung durch potenziellen Wettbewerb. Schliesslich ist nicht ersichtlich, dass die Verlage und die alternativen Werbeträger das Verhalten der Beschwerdeführer im Markt der Vermittlung und dem Verkauf von Anzeige- und Werberaum in Printmedien sowie ihr Verhalten gegenüber den Vermittlern effektiv hätten beeinflussen können. Schliesslich legen die Beschwerdeführer ihrer Argumentation auch einen falschen Massstab zugrunde, wenn sie ausführen, dass sie sich von anderen Marktteilnehmern nie unabhängig verhalten können; sie wären abhängig von diversen anderen Marktteilnehmern (z.B. [Print-] Verlage).
Art. 4 Abs. 2 KG
verlangt nicht, dass sie sich von anderenMarktteilnehmern vollständig unabhängig verhalten können, sondern vielmehr, dass sie sich von anderen Marktteilnehmern nur
in wesentlichen Umfang
unabhängig verhalten können. Dies trifft im vorliegenden Fall zu.
9.3.4
Insofern hat die Vorinstanz zu Recht auf eine marktbeherrschenden Stellung der Beschwerdeführerin 1 im Markt für die Vermittlung und den Verkauf von Inserate- und Werberaum in Printmedien erkannt.
10.
10.1
10.1.1
Nach
Art. 7 Abs. 1 KG
verhalten sich marktbeherrschende Unternehmen unzulässig, "wenn sie durch Missbrauch ihrer Stellung auf dem Markt andere Unternehmen in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs behindern oder die Marktgegenseite
BGE 139 I 72 S. 101
benachteiligen". Das Kartellrecht verbietet eine marktbeherrschende Stellung nicht (vgl.
BGE 137 II 199
E. 4.3.4 S. 211;
BGE 129 II 497
E. 6.5.1 und 6.5.8 S. 538 bzw. 542; Botschaft KG I, BBl 1995 I 547; ZÄCH/HEIZMANN, a.a.O., S. 56), und eine solche ist für sich allein auch nicht missbräuchlich (
BGE 129 II 497
E. 6.5.1 und 6.5.8 S. 538 bzw. 542; CLERC, a.a.O., N. 1 zu
Art. 7 KG
; TAGMANN, a.a.O., S. 58; BORER, a.a.O., N. 1, 2 zu
Art. 7 KG
; ZÄCH/HEIZMANN, a.a.O., S. 56; CANDREIA, a.a.O., S. 186; KÜNZLER, a.a.O., S. 453; TSCHUDIN, a.a.O., S. 101, 140 f.; HUBERT STÖCKLI, Ansprüche aus Wettbewerbsbehinderung, 1999, S. 58, 67, 122; für die EU siehe etwa WOLFGANG WEISS, in: EUV/EGV, Kommentar, 3. Aufl. 2007, N. 1 zu Art. 82 EGV; INGO BRINKER, in: EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, N. 1 zu Art. 102 AEUV), besteht doch der Sinn des Wettbewerbs gerade darin, durch Markterfolg und internes Wachstum eine dominierende Stellung zu erreichen (vgl. Botschaft KG I, BBl 1995 I 569; CHRISTIAN J. MEIER-SCHATZ, Unzulässige Wettbewerbsbeschränkungen, Art. 5-8, in: Das neue schweizerische Kartellgesetz, 1996, S. 21 ff., 53; TSCHUDIN, a.a.O., S. 79; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 38 zu
Art. 7 KG
; DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 245). Marktbeherrschung - insofern trägt das marktbeherrschende Unternehmen eine besondere Verantwortung für sein Marktverhalten (vgl. DIRKSEN, in: Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. II: Europäisches Kartellrecht, 10. Aufl. 2006, N. 75 zu Art. 82 EGV) - wird allerdings dann problematisch, wenn - wie
Art. 7 Abs. 1 KG
festhält - als qualifizierendes Element eine unzulässige Verhaltensweise hinzutritt (vgl.
BGE 129 II 497
E. 6.5.1 S. 538; TSCHUDIN, a.a.O., S. 141; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 1, 2, 37 zu
Art. 7 KG
). Solche Verhaltensweisen setzen einen Missbrauch voraus: Missbraucht wird danach die marktbeherrschende Stellung, welche es einem Unternehmen erlaubt, sich unabhängig von anderen Marktteilnehmern zu verhalten (TSCHUDIN, a.a.O., S. 136). Das missbräuchliche Verhalten richtet sich entweder gegen andere Unternehmen oder gegen die Marktgegenseite (d.h. Lieferanten oder Abnehmer des behindernden Unternehmens). Gestützt darauf unterscheidet
Art. 7 Abs. 1 KG
zwei Behinderungsformen: Durch den Missbrauch werden
einerseits
andere Unternehmen (i.d.R. aktuelle oder potentielle Konkurrenten; in einem ersten Schritt allerdings auch andere Marktteilnehmer: vgl. AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 43 zu
Art. 7 KG
)
in der Aufnahme
(d.h. durch Errichtung von Marktzutrittsschranken: vgl. AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 45 i.f. zu
Art. 7 KG
) oder
Ausübung
des Wettbewerbs behindert
BGE 139 I 72 S. 102
(Behinderungsmissbrauch); unter den Begriff der Behinderung der Ausübung des Wettbewerbs lassen sich eine Vielzahl von Formen subsumieren: disziplinierende Behinderung, die marktliche Errungenschaften von Konkurrenten zu zerstören sucht, die preisliche Behinderung und die strategische Behinderung, die andere Wettbewerbsparameter als den Preis betrifft (vgl. AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 45 zu
Art. 7 KG
). Bei der
Behinderung
sowohl der Aufnahme als auch der Ausübung des Wettbewerbs
spielt es keine Rolle, ob sich diese auf dem Markt des
Marktbeherrschers oder auf einem vor- bzw. nachgelagerten Markt
aktualisiert
(vgl. AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 45 i.f. zu
Art. 7 KG
). Durch den Missbrauch wird sodann
andererseits
die Marktgegenseite (d.h. Lieferanten oder Abnehmer des behindernden Unternehmens) benachteiligt (
Benachteiligungs- bzw. Ausbeutungsmissbrauch
), indem dieser ausbeuterische Geschäftsbedingungen oder Preise aufgezwungen werden (dazu etwa ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 303 ff.;
ders.
, Verhaltensweisen, a.a.O., S. 186 ff., 198 ff., 213 ff.; TAGMANN, a.a.O., S. 58 ff.; RUFFNER, a.a.O., S. 838; KÜNZLER, a.a.O., S. 452 f.; STÖCKLI, a.a.O., S. 121 ff.); einen typischen Ausbeutungsmissbrauch stellt deshalb die Erzwingung unangemessener Preise oder sonstiger unangemessener Geschäftsbedingungen (
Art. 7 Abs. 2 lit. c KG
) dar (vgl. ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 336; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 46 i.f. zu
Art. 7 KG
). Charakteristisch für die Kategorie des Ausbeutungsmissbrauchs ist das Streben des marktbeherrschenden Unternehmens nach ökonomischen Vorteilen durch eine Beeinträchtigung der Interessen von Handelspartnern und Verbrauchern unter Ausnutzung seiner marktbeherrschenden Stellung (vgl. etwa Botschaft KG I, BBl 1995 569; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 46 zu
Art. 7 KG
; JUNG, in: Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, 2010, 48. Ergänzungslieferung, August 2012, N. 166 zu Art. 102 AEUV; DIRKSEN, a.a.O., N. 77 zu Art. 82 EGV). Behinderungsmissbrauch umfasst dagegen sämtliche Massnahmen beherrschender Unternehmen ausserhalb eines fairen Leistungswettbewerbs,die sich unmittelbar gegen aktuelle und potentielle Wettbewerber (Konkurrenten und Handelspartner: Botschaft KG I, BBl 1995 569) richten und diese in ihren Handlungsmöglichkeiten auf dem beherrschten Markt oder benachbarten Märkten einschränken (vgl. JUNG, a.a.O., N. 214 zu Art. 102 AEUV; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 43 zu
Art. 7 KG
). Gewisse Verhaltensweisen von marktbeherrschenden Unternehmen können zugleich behindernd und benachteiligend (ausbeutend) sein (vgl. RUFFNER, a.a.O., S. 840; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O.,
BGE 139 I 72 S. 103
S. 316; ZÄCH, Verhaltensweisen, a.a.O., S. 198; TSCHUDIN, a.a.O., S. 147; CANDREIA, a.a.O., S. 191; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., z.B. N. 53 zu
Art. 7 KG
); insofern ist es grundsätzlich irrelevant, ob eine zu beurteilende Verhaltensweise dem Begriff Behinderungs- bzw. Ausbeutungsmissbrauch zugewiesen werden kann, welchen ohnehin nur heuristischer Wert zukommt (so auch AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 42 zu
Art. 7 KG
). Massgebend ist aber allemal, dass die Missbräuchlichkeit (einschliesslich der Wettbewerbsschädigung) der strittigen Verhaltensweise aufgrund der Einzelfallanalyse festgestellt wird (vgl. CANDREIA, a.a.O., S. 191; so auch JUNG, a.a.O., N. 165 zu Art. 102 AEUV). Praktiken von marktbeherrschenden Unternehmen können zudem mehrere Tatbestände von
Art. 7 Abs. 2 KG
betreffen (ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 316; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 107 ff. zu
Art. 7 KG
).
10.1.2
Missbrauch umfasst zunächst alle denkbaren Verhaltensweisen mit volkswirtschaftlich schädigendem Effekt und sodann solche, welche die wirtschaftliche Freiheit der betroffenen Unternehmen behindern (vgl.
BGE 129 II 497
E. 6.4.2 S. 538,
BGE 129 II 18
E. 5.2.1 S. 24; DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 190, 247). Verdeutlicht werden die Behinderung und Benachteiligung nach
Art. 7 Abs. 1 KG
durch einen Beispielkatalog in
Art. 7 Abs. 2 KG
. Ob die darin aufgeführten Verhaltensweisen missbräuchlich sind, ist allerdings im Zusammenhang mit
Art. 7 Abs. 1 KG
zu beurteilen. Mit anderen Worten ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine Verhaltensweise nach
Art. 7 Abs. 2 KG
eine Behinderung bzw. Benachteiligung i.S. des
Art. 7 Abs. 1 KG
darstellt (
BGE 129 II 497
E. 6.5.1 S. 538; TSCHUDIN, a.a.O., S. 137; DUCREY, a.a.O., S. 333; CLERC, a.a.O., N. 109 zu
Art. 7 KG
; KIENER, a.a.O., S. 211). Insofern indizieren die Tatbestände von Abs. 2 nicht per se eine unzulässige Verhaltensweise, weshalb anhand des dualen Prüfungsmusters zu eruieren ist, ob unzulässiges Verhalten vorliegt: In einem ersten Schritt sind die Wettbewerbsverfälschungen (d.h. Behinderung bzw. Benachteiligung von Marktteilnehmern) herauszuarbeiten und in einem zweiten Schritt mögliche Rechtfertigungsgründe ("legitimate business reasons") zu prüfen. Unzulässiges Verhalten liegt dann vor, wenn kein sachlicher Grund für die Benachteiligung bzw. Ausbeutung oder die Behinderung vorliegt (vgl. Botschaft KG I, BBl 1995 I 569, 572; CLERC, a.a.O., N. 162 zu
Art. 7 KG
; PETER REINERT, in: Kartellgesetz, 2007, N. 5 zu
Art. 7 KG
; BORER, a.a.O., N. 9 zu
Art. 7 KG
; RUFFNER, a.a.O., S. 838, 840; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 57 ff., 155 zu
Art. 7 KG
; ZÄCH, Verhaltensweisen, a.a.O., S. 206;
BGE 139 I 72 S. 104
TSCHUDIN, a.a.O., S. 144 ff.). Solche Gründe liegen insbesondere dann vor, wenn sich das betreffende Unternehmen auf kaufmännische Grundsätze (z.B. Verlangen der Zahlungsfähigkeit des Vertragspartners) stützen kann (vgl. Botschaft KG I, BBl 1995 I 569; RUFFNER, a.a.O., S. 838; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 305; TSCHUDIN, a.a.O., S. 160 ff.). Andere sachliche Gründe sind etwa veränderte Nachfrage, Kosteneinsparungen, administrative Vereinfachungen, Transport- und Vertriebskosten, technische Gründe (vgl. TSCHUDIN, a.a.O., S. 145, 157; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 305 f.; PETER REINERT, a.a.O., N. 7 zu
Art. 7 KG
). Daneben anerkennt die Lehre auch weitere Kriterien, wie etwa die Behinderungs- oder Verdrängungsabsicht, die Schwächung der Wettbewerbsstruktur, den Nichtleistungswettbewerb, die normzweckorientierte Interessenabwägung (vgl. statt aller ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 307 ff.). Massstab für die Frage, ob es sich um zulässige oder nichtzulässige Verhaltensweisen handelt, bildet einerseits der Institutionen- und andererseits der Individualschutz (
BGE 129 II 18
E. 5.2.1 i.i. S. 24,
BGE 129 II 497
E. 6.4.2 S. 538; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 304; YVO HANGARTNER, Selektive Vertriebssysteme als Problem des Wettbewerbsrechts, sic! 2002 S. 321 ff., 322 ff., 324 ff.; DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 190, 247; so auch für die EU DIRKSEN, a.a.O., N. 75 zu Art. 82 EG) oder mit anderen Worten die Gewährleistung von wirksamem Wettbewerb (dazu ROGER ZÄCH, Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Zweck des Kartellgesetzes, Konsequenzen für die Gesetzgebung und die Rechtsanwendung, in: Revision des Kartellgesetzes, Kritische Würdigung der Botschaft 2012 durch Zürcher Kartellrechtler, 2012, S. 45 ff., passim; KÜNZLER, a.a.O., passim).
10.2
10.2.1
Nach
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
fällt insbesondere als Verhaltensweise nach
Art. 7 Abs. 1 KG
die Diskriminierung von Handelspartnern bei Preisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen in Betracht, mithin Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens, die bestimmte Dritte im Vergleich zu anderen ohne objektiven Grund benachteiligen (vgl. Botschaft KG I, BBl 1995 I 572; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 155, 155 ff. zu
Art. 7 KG
; PETER REINERT, a.a.O., N. 7 zu
Art. 7 KG
; CLERC, a.a.O., N. 162 ff. zu
Art. 7 KG
).
10.2.2
Nach
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
bildet die Diskriminierung von Handelspartnern bei Preisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen eine potentiell missbräuchliche Verhaltensweise von marktbeherrschenden Unternehmen. Diese Verhaltensweise ist dann missbräuchlich, wenn sie eine Ausbeutung bzw. Behinderung i.S. des
Art. 7
BGE 139 I 72 S. 105
Abs. 1 KG
darstellt und keine sachlichen Gründe zur Rechtfertigung vorliegen (ZÄCH, Verhaltensweisen, a.a.O., S. 206 i.V.m. 198; TSCHUDIN, a.a.O., S. 144; CLERC, a.a.O., N. 79 ff. zu
Art. 7 KG
; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 198, 221 ff. zu
Art. 7 KG
). Diskriminiert werden Handelspartner - vertraglich oder durch anderes Verhalten des marktbeherrschenden Unternehmens (vgl. AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 205 zu
Art. 7 KG
). Handelspartner sind Personen, die im Verhältnis zum Marktbeherrscher auf einer vor- oder nachgelagerten Wirtschaftsstufe stehen und mit diesem im geschäftlichen Kontakt sind.
Diskriminierungen enthalten für den Handelspartner regelmässig ungünstige, aufgezwungene Bedingungen und führen hinsichtlich der Wettbewerbsstruktur zu Verfälschungen auf verschiedenen Ebenen: Dabei ergibt sich der Missbrauchscharakter diskriminierender Verhaltensweisen aus einem Ausbeutungsaspekt und aus Wettbewerbsbehinderungsaspekten. Diskriminierung bedeutet zunächst eine sachwidrige Benachteiligung der Handelspartner eines beherrschenden Unternehmens, ohne dass ihnen adäquate Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Damit wird deren Stellung im Wettbewerb auf vor- oder nachgelagerten Märkten beeinträchtigt, worin der hauptsächliche Schutzzweck von
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
gesehen wird (so vor allem AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 204 zu
Art. 7 KG
; differenzierend RUFFNER, a.a.O., S. 842; siehe auch SCHRÖTER, in: Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2003, N. 221 zu Art. 82 EG; DIRKSEN, a.a.O., 145 zu Art. 82 EGV). Allerdings darf nicht vergessen werden, dass diskriminierende Bedingungen neben Benachteiligungen der einen stets eine
Begünstigung
der anderen Gruppe von Handelspartnern bewirken. Damit lässt sich deren Interesse für Angebote von Wettbewerbern des Marktbeherrschers gezielt ausschalten, was eine Behinderung des Wettbewerbs auf dessen
eigener Wirtschaftsstufe
darstellt (vgl. JUNG, a.a.O., N. 188 zu Art. 102 AEUV; grundsätzlich KOCH, in: Kommentar zum EWG-Vertrag, 1984, 4. Lieferung 1990, N. 53, 68, 69 zu Art. 86; so wohl auch ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 326 ff; siehe auch RUFFNER, a.a.O., S. 842 rechte Spalte; CLERC, a.a.O., N. 166 zu
Art. 7 KG
; so wohl auch DIRKSEN, a.a.O., N. 147 zu Art. 82 EGV). Behinderungsmissbrauch richtet sich auch gegen potentielle Konkurrenten (vgl. DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 246). Eine Diskriminierung von Handelspartnern kann zudem auch deshalb eine Behinderung eines potentiellen Konkurrenten darstellen. Insofern ist nicht unbedingt eine Beeinträchtigung der "second level
BGE 139 I 72 S. 106
competition" erforderlich, um diskriminierende Preise und Geschäftsbedingungen als missbräuchlich erscheinen zu lassen.
10.2.3
In der Sache bedeutet Diskriminierung Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte oder auch Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte (vgl. DALLAFIOR, a.a.O., N. 109 zu
Art. 7 KG
; PETER REINERT, a.a.O., N. 15 zu
Art. 7 KG
; BORER, a.a.O., N. 16 zu
Art. 7 KG
; RUFFNER, a.a.O., S. 842; AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 205 ff. zu
Art. 7 KG
). Diskriminierungsgegenstand sind Preis- oder Geschäftsbedingungen; dabei ist der Begriff "sonstige Geschäftsbedingungen" weit zu verstehen (vgl. Botschaft KG I, BBl 1995 I 572). Keine Diskriminierung bzw. keinen Missbrauch stellt die unterschiedliche Behandlung dar, wenn sie sich durch
sachliche Gründe
, wie etwa durch unterschiedliche Transport- oder Vertriebskosten rechtfertigen lässt (vgl. etwa ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 326; DUCREY, a.a.O., S. 333).
10.3
10.3.1
Den Beschwerdeführern wird vorgeworfen, dass sie sich mit ihrer Kommissionierungspraxis gestützt auf die VSW-Kommissionierungsrichtlinien gegenüber Handelspartnern (d.h. Vermittlern) missbräuchlich verhalten hätten. Es geht somit - wie bereits oben dargelegt - um folgenden Sachverhalt: Ein Werbeauftraggeber, der in einer Pachtregie-Zeitung inserieren möchte, gibt seine Anzeige über einen unabhängigen Vermittler auf. Aufgrund des exklusiven Pachtvertrags kann dieser nicht direkt an den Verlag gelangen, sondern muss die Anzeige zwingend über die Pächterin (d.h. die Beschwerdeführerin 1) weiterleiten. Für diese Vermittlungsleistung wird dem unabhängigen Vermittler durch die Beschwerdeführerin 1 eine Kommission entrichtet, sofern dieser die Voraussetzungen der VSW-Richtlinien erfüllt. Gewisse Regeln dieser Richtlinien sollen missbräuchliche Verhaltensweisen sein bzw. sollen Handelspartner bei Preisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen diskriminieren. Dies ist nachfolgend zu prüfen.
10.3.2
Die WEKO hat als gesetzliche Grundlage ihres Entscheids einerseits
Art. 7 Abs. 1 KG
und andererseits
Art. 7 Abs. 2 lit. b KG
aufgeführt. Bei der Analyse wurde der Missbrauch jedoch vorwiegend als Behinderungstatbestand im Sinne der Generalklausel von
Art. 7 Abs. 1 KG
geprüft (so auch AMSTUTZ/CARRON, a.a.O., N. 165 i.f. zu
Art. 7 KG
). Die Vorinstanz kommt zum Schluss, dass der Sachverhalt eine Diskriminierung i.S.von Art. 7 Abs. 2 lit. b i.V.m.
Art. 7 Abs. 1 KG
darstellt.
BGE 139 I 72 S. 107
10.4
10.4.1
Die Beschwerdeführer machen vorab geltend, dass das Kommissionierungssystem von seiner Ausgestaltung her mit einem selektiven Vertriebssystem vergleichbar wäre. Dies haben sie bereits vor der WEKO und der Vorinstanz geltend gemacht, weshalb sich Letztere auch vertieft mit dem selektiven Vertrieb auseinandergesetzt hat. Ob diese Ausführungen nicht zutreffend bzw. ungenau sind und daraus die falschen Schlussfolgerungen gezogen wurden, kann offengelassen werden. Hier geht es nicht um mögliche unzulässige Wettbewerbsabreden nach
Art. 5 KG
, sondern um die Frage, ob das in den VSW-Kommissionierungsrichtlinien ausgedrückte
Verhalten
der Beschwerdeführer, welche zuvor als marktbeherrschend qualifiziert worden sind, missbräuchlich ist: Die Richtlinien sind Richtlinien des Verbandes Schweizerischer Werbegesellschaften; Mitglieder sind die Beschwerdeführer 2 bis 5. Die Richtlinien legen Rechte und Pflichten von Dritten (Berufsvermittlern) fest und engen damit i.S. von
Art. 4 Abs. 1 KG
das Wettbewerbsverhalten der Wettbewerbsteilnehmer gegenseitig
nicht
ein (vgl. dazu KRAUSKOPF/RIESEN
,
Selektive Vertriebsverträge, in: Das revidierte Kartellgesetz in der Praxis, 2006, S. 83 ff., 87). Abredepartner sind auch
nicht
die Berufsvermittler; angesichts des Konzernprivilegs stellen die Richtlinien auch keine Abrede i.S. von
Art. 4 Abs. 1 KG
unter den Beschwerdeführern dar (vgl. DOSS, a.a.O., S. 101 f.; HEIZMANN, a.a.O., S. 92 ff.). Mithin liegt keine Wettbewerbsabrede nach
Art. 4 Abs. 1 KG
(zwischen dem Verband und den Berufsvermittlern) vor und insofern fragt sich auch, worin denn die behauptete Vergleichbarkeit liegt. Im vorliegenden Fall ist lediglich die Frage zu beantworten, ob der noch verbliebene Wettbewerb durch
missbräuchliche Verhaltensweisen
der marktbeherrschenden Beschwerdeführer beeinträchtigt wurde (
Art. 7 KG
). Angesichts dieses Befundes erübrigen sich weitere Ausführungen zum selektiven Vertriebssystem (vgl. dazu etwa HANGARTNER, a.a.O., passim; ZÄCH, Kartellrecht, a.a.O., S. 29 f., 170 ff., 173 f., 197 ff.; DOSS, a.a.O., S. 103 ff., insbes. 111 ff., insbes. 112 ff.; KRAUSKOPF/RIESEN, a.a.O., passim). Allerdings sind die Ausführungen der Beschwerdeführer in Bezug auf "selektive vertriebsvertragsähnliche"
Verhaltensweisen
bei den einzelnen strittigen Normen der Kommissionierungsrichtlinie zu prüfen, soweit sie sich dazu überhaupt noch eignen. Dabei ist zu beachten, dass nicht die vermeintliche Abrede gerechtfertigt werden muss, sondern dasjenige Verhalten, das vom marktbeherrschenden Unternehmen gerade wegen seiner starken Stellung gezeigt worden ist.
BGE 139 I 72 S. 108
10.4.2
Erster Streitpunkt bildet Ziff. 2.2 Abs. 1 der damaligen VSW-Kommissionierungsrichtlinien. Dabei geht es um die von den Beschwerdeführern auf Seiten der Vermittler verlangte Unabhängigkeit. Die erwähnte Bestimmung lautete wie folgt:
"Als Berufs-Inseratevermittler kommissioniert werden nur Unternehmen, die im Hauptzweck als Universalvermittler in der Disposition in eigenem Namen und auf eigene Rechnung von Inseraten, Werbebeilagen und Beiheften (Inserate) mehrerer juristisch und wirtschaftlich voneinander unabhängiger Auftraggeber in verschiedenen Printmedien voneinander wirtschaftlich und juristisch unabhängiger Verlage tätig sind."
Kommissioniert werden durch diese Regelung nur Inseratevermittler, welche Inserate von mehreren juristisch und wirtschaftlich voneinander unabhängigen Auftraggebern vermitteln. Die pauschale Nichtkommissionierung von Vermittlern, die nicht für mehrere juristisch und wirtschaftlich unabhängige Inserenten tätig sind bzw. nicht in verschiedenen Printmedien voneinander wirtschaftlich unabhängiger Verlage vermitteln, stellt eine Marktzutrittsschranke auf dem vorgelagerten Vermittlungsmarkt dar und beeinträchtigt die Wettbewerbspotentiale der nicht kommissionierten Vermittler in erheblichem Mass. Angesichts fehlender Kommissionen sind sie auch gegenüber ihren direkten Konkurrenten in Bezug auf die Akquirierung von Werbeaufträgen benachteiligt. Entsprechend den Ausführungen der Beschwerdeführer, wonach "die Inseratekunden [...] von den Vermittlungsleistungen der Beschwerdeführer[...] überzeugt [seien] und wenig Bedarf darin [sähen], die Verkaufsanstrengungen noch eines weiteren Untervermittlers (Berufsvermittler) zu nutzen", muss davon ausgegangen werden, dass Handelspartner zudem diskriminiert werden, um die eigenen Vermittlungsdienste gegenüber missliebigen Konkurrenten zu begünstigen (siehe oben E. 10.2.2). Diesbezüglich handelt es sich sowohl um einen Behinderungs- als auch Ausbeutungsmissbrauchstatbestand. Insofern sind die von Ziff. 2.2 Abs. 1 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien betroffenen nicht kommissionierten Vermittler im Wettbewerb bzw. in ihrer wirtschaftlichen Freiheit (vgl.
BGE 129 II 497
E. 6.4.2 S. 538,
BGE 129 II 18
E. 5.2.1 S. 24; DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 247 Rz. 718, S. 251) spürbar behindert worden.
Das wettbewerbsbeeinträchtigende Verhalten der Beschwerdeführer ist dann missbräuchlich, wenn keine sachlichen Gründe dieses Verhalten rechtfertigen können. Die von den Beschwerdeführern bereits in den vorinstanzlichen Verfahren vorgebrachten sachlichen Gründe, welche sich allerdings auf das hier nicht vorliegende selektive
BGE 139 I 72 S. 109
Vertriebssystem bezogen, haben die Vorinstanzen ausführlich analysiert sowie sachgemäss und -gerecht beurteilt, dass diese eine Wettbewerbsbeschränkung nicht zu rechtfertigen vermögen. Diesbezüglich erübrigt sich eine Wiederholung dieser Ausführungen, und es kann auf den Entscheid der Vorinstanz verwiesen werden. Die schliesslich vor Bundesgericht vorgebrachten Gründe vermögen nicht zu überzeugen: Die Beschwerdeführer gehen implizit davon aus, dass ihre dem selektiven Vertriebssystem angepasste Strategie, wonach eine professionelle Verkaufsorganisation zu fördern sei, ohne weiteres zulässig sei. Dies trifft indes nur dann zu, wenn selektive Vertriebssysteme - in der Ausdrucksweise der Bundesverfassung - keine volkswirtschaftlich oder sozial schädlichen Auswirkungen haben bzw. - in der Sprache des Kartellgesetzes - nicht missbräuchlich sind, sofern es sich um ein marktbeherrschendes Unternehmen handelt. Vertikalabreden schränken den Wettbewerb ein und sind deshalb volkswirtschaftlich in der Regel nachteilig (vgl. HANGARTNER, a.a.O., S. 325; KRAUSKOPF/RIESEN, a.a.O., passim; DOSS, a.a.O., S. 103 ff.; Ausnahme aus Gründen der wirtschaftlichen Effizienz [vgl. dazu
Art. 6 KG
und Vertikalbekanntmachung der Wettbewerbskommission (zuletzt) vom 28. Juni 2010, in: BBl 2010 5078]). Ob in casu indes eine Schädigung bzw. ein Missbrauch vorliegt, ist unter Berücksichtigung sachlicher Gründe zu bestimmen. Detaillierte sachliche Gründe, warum die oben ausgewiesenen wettbewerbsnachteiligen Beeinträchtigungen nicht wettbewerbsschädlich und damit missbräuchlich sind, führen die Beschwerdeführer vor Bundesgericht allerdings nicht an; eine pauschale Aussage genügt diesbezüglich nicht.
Den Ausführungen entsprechend ist Ziff. 2.2 Abs. 1 der damaligen VSW-Kommissionierungsrichtlinien gestützt auf Art. 7 Abs. 2 lit. b i.V.m.
Art. 7 Abs. 1 KG
i.S. eines Ausbeutungs- und Behinderungsmissbrauchstatbestands diskriminierend.
10.4.3
Zweitens beanstanden die Wettbewerbsbehörden und mit ihnen die Vorinstanz das Erfordernis der Universalvermittlung. Die entsprechende Ziff. 2.2. Abs. 2 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien hatte folgenden Wortlaut:
"Unternehmen, die nicht als Universalvermittler tätig sind, d.h. ihre Vermittlungstätigkeit auf einen oder auch mehrere spezielle Rubriken beschränken oder diese Tätigkeit nur nebenher betreiben oder einen anderen Hauptzweck haben, werden nicht kommissioniert. Andere Hauptzwecke sind zum Beispiel die Personal-, Werbe-, Unternehmens- oder Finanzberatung, die Vermittlung von Immobilien oder anderen Kauf- oder Mietobjekten sowie Treuhandfunktionen."
BGE 139 I 72 S. 110
Nach dieser Vorschrift ist nur kommissionsberechtigt, wer zweierlei erfüllt: Einerseits muss der Vermittler Universalvermittler sein und andererseits die Vermittlungstätigkeit als Haupttätigkeit oder als Hauptzweck betreiben. Die Fokussierung auf Sparten sowie die Betreibung der Vermittlungstätigkeit als Nebentätigkeit oder als Nebenzweck sind nicht erlaubt. Kommissionsberechtigt ist somit kein Vermittler, der sich auf eine Marktnische konzentriert bzw. in diesem Markt noch nicht etabliert ist. Auch hier handelt es sich auf nachgelagerten Märkten wiederum um eine erhebliche Markteintrittsschranke und gegenüber den Universalvermittlern um Wettbewerbsbehinderungen. Zudem werden auch hier Handelspartner diskriminiert, um sich selbst als Universalvermittler gegenüber allfälligen Konkurrenten zu begünstigen (siehe oben E. 10.2.2). Wie die empirischen Erhebungen gezeigt haben, hat diese Strategie funktioniert: Nicht-Universalvermittler konnten sich auf dem relevanten Markt nicht etablieren. Insofern sind auch die von Ziff. 2.2 Abs. 2 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien betroffenen nicht kommissionierten Vermittler im Wettbewerb bzw. in ihrer wirtschaftlichen Freiheit (vgl.
BGE 129 II 497
E. 6.4.2 S. 538,
BGE 129 II 18
E. 5.2.1 S. 24; DAVID/JACOBS, a.a.O., S. 247 Rz. 718, S. 251) spürbar behindert worden.
Ebenso bedarf es hier sachlicher Gründe, um das wettbewerbsbeeinträchtigende Verhalten der Beschwerdeführer nicht als diskriminierend bzw. als missbräuchlich erscheinen zu lassen. Rechtfertigend beziehen sich die Beschwerdeführer - wie bereits vor der Vorinstanz - wiederum auf ihr Geschäftsmodell des selektiven Vertriebs, welches die Universalvermittlung im Blick habe. Vor Bundesgericht ergeben sich aus den noch verbliebenen (vgl. oben E. 10.4.1) Argumenten der Beschwerdeführer - auch unter Berücksichtigung des fehlenden selektiven Vertriebssystems - keine neuen Aspekte, welche das wettbewerbsbeeinträchtigende Verhalten der Beschwerdeführer rechtfertigen würden, weshalb auf die Ausführungen der Vorinstanz und der Verfügung der WEKO verwiesen werden kann, die die verschiedenen Argumente für bzw. gegen den Ausschluss von Spartenvermittlern und den Ausschluss der Vermittler in Nebentätigkeiten überzeugend analysiert sowie sachgemäss und -gerecht beurteilt haben.
Den Ausführungen entsprechend ist Ziff. 2.2 Abs. 2 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien gestützt auf Art. 7 Abs. 2 lit. b i.V.m.
Art. 7 Abs. 1 KG
i.S. eines Ausbeutungs- und Behinderungsmissbrauchstatbestands diskriminierend.
BGE 139 I 72 S. 111
10.4.4
Drittens steht das Kriterium des erforderlichen Geschäftsvolumens bzw. einer genügenden Umsatzschwelle in Frage. Die entsprechende Ziff. 2.5 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien lautete wie folgt:
"Als Berufs-Inseratevermittler kommissioniert werden nur Unternehmen, die nachweisen, dass sie entweder im Inserateverkauf ein Geschäftsvolumen von total 1 Million Franken pro Jahr in Pressemedien erreichen oder mit Pachtorganen von VSW-Mitgliedfirmen einen Nettoumsatz von mindestens Fr. 100'000.- pro Jahr erzielen. In beiden Fällen muss mindestens die Hälfte des Umsatzes von kommerziellen Inseraten stammen."
Kommissioniert werden Berufsvermittler nach Ziff. 2.5 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien somit nur dann, wenn sie zwei weitere Kriterien kumulativ erfüllen: Zum einen muss mindestens die Hälfte des Umsatzes von kommerziellen Inseraten stammen. Diese Vorschrift hängt eng mit der bereits oben behandelten Ziff. 2.2 Abs. 2 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien zusammen, gemäss welchen Spartenvermittler von einer Kommission ausgeschlossen sind; dasselbe Ziel soll nun auf einem anderen Weg erreicht werden. Insofern sind hier auch die gleichen Wettbewerbsbeeinträchtigungen wie dort gegeben (siehe E. 10.4.3). Zum anderen wird ein Anzeigenumsatz von 1 Mio. Franken oder ein Nettoumsatz von mindestens Fr. 100'000.- bei den Beschwerdeführern verlangt. Dieses quantitative Kriterium stellt vor allem in Bezug zum Gesamtvolumen des Schweizer Marktes und zum Marktanteil von 5 % aller unabhängiger Vermittler eine erhebliche Marktzutrittsschranke auf dem vorgelagerten Vermittlungsmarkt dar und beeinträchtigt die Wettbewerbspotentiale der nicht kommissionierten Vermittler in erheblichem Mass. Für das Kriterium eines Nettoumsatzes von mindestens Fr. 100'000.- haben die Beschwerdeführer und die Wettbewerbsbehörden in der einvernehmlichen Regelung eine Karenzfrist von zwei Jahren für neu eintretende Vermittler vereinbart. Insofern wird den Beschwerdeführern diesbezüglich auch kein Kartellrechtsverstoss vorgeworfen.
Als rechtfertigende sachliche Gründe, um ihr wettbewerbsbeeinträchtigendes Verhalten nicht als diskriminierend bzw. als missbräuchlich erscheinen zu lassen, nennen die Beschwerdeführer - wie bereits vor der Vorinstanz - wiederum ihr Geschäftsmodell des selektiven Vertriebs. Nähere Begründungen vor Bundesgericht fehlen. Es kann deshalb auf die Ausführungen der Vorinstanz und der Verfügung der WEKO verwiesen werden, die die verschiedenen Argumente überzeugend analysiert sowie sachgemäss und -gerecht beurteilt haben.
BGE 139 I 72 S. 112
Den Ausführungen entsprechend ist Ziff. 2.5 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien gestützt auf Art. 7 Abs. 2 lit. b i.V.m.
Art. 7 Abs. 1 KG
i.S. eines Ausbeutungs- und Behinderungsmissbrauchstatbestands diskriminierend.
10.5
Zusammenfassend
ist somit festzuhalten, dass die Beschwerdeführer - als marktbeherrschende Unternehmen - sich i.S. von Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. b KG unzulässig verhalten haben, indem sie durch die Ziff. 2.2 Abs. 1 und 2 sowie Ziff. 2.5 der VSW-Kommissionierungsrichtlinien andere Unternehmen sowohl in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs behindert als auch die Marktgegenseite benachteiligt haben.
Art. 7 KG
ist erfüllt, und die Vorinstanz hat das Verhalten der Beschwerdeführer bundesrechtskonform beurteilt. | public_law | nan | de | 2,012 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
2e98e1cc-cd7e-43fa-a239-3f0b8bd96fbe | Urteilskopf
98 IV 252
51. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. Dezember 1972 i.S. Müller gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | Regeste
Art. 148 Abs. 1 StGB
, Betrug.
Ein Vermögensschaden ist auch dann zu bejahen, wenn die vom Getäuschten erbrachte Leistung, zu deren Erbringung er sich nach der vertraglichen Abrede bereit erklärt hat, nicht für den darin vorgespiegelten, sondern für einen andern Zweck verwendet wurde, für welchen jener jedoch nicht bereit gewesen wäre, die vermögenswerte Leistung zu erbringen. | Sachverhalt
ab Seite 252
BGE 98 IV 252 S. 252
A.-
Zur Zeit des Baus der Abwasserreinigungsanlage (ARA) Neubrück der Einwohnergemeinde Bern übte Müller als Bauführer die örtliche Bauleitung aus. Nachdem 1966 die ARA-Baukommission beschlossen hatte, für den Auftrag, die Innenwände und Böden der Ölfang- und Schlammeindickerbecken mit einem Schutzanstrich zu versehen, ein beschränktes Submissionsverfahren durchzuführen, holte Müller entsprechende Offerten ein. Nachdem er sich zunächst von der Firma Winkler ein Angebot hatte vorlegen lassen, wandte er sich an den ihm bekannten Wenger, von dem er erfahren hatte, dass sich die Firma Meynadier in Zürich beklagt hatte, in den letzten Jahren von der Stadt Bern keine Aufträge mehr erhalten zu haben. Er ersuchte Wenger, "unter der Hand" an den Leiter der Berner Filiale der Firma Meynadier zu gelangen, der ein guter Bekannter Wengers war, und diesen zur Offertstellung zu veranlassen. Müller bemerkte dabei, dass im Falle eines Zustandekommens des Geschäftes für ihn "etwas herausschauen" müsse. Als er kurz darauf von Wenger erfuhr, dass der Kostenansatz pro Quadratmeter der Firma Meynadier mit Fr. 8.80 wesentlich unter den Ansätzen der Firma Winkler lag, liess
BGE 98 IV 252 S. 253
er den Leiter der Berner Filiale der Firma Meynadier durch Wenger auffordern, den Quadratmeterpreis um je Fr. 3.- zu erhöhen, weil er damit immer noch tiefer als derjenige der Firma Winkler liege. Gleichzeitig machte Müller den Wenger darauf aufmerksam, dass der aus der Offerterhöhung sich ergebende Mehrerlös dann ihm, Müller, zufliessen solle. In der Sitzung der ARA-Baukommission vom 30. März 1966 befürwortete Müller die zuvor von der Firma Meynadier eingereichte Offerte mit dem um Fr. 3.- pro Quadratmeter erhöhten Kostenansatz. Im Juni 1966 wurde der Auftrag auf der Grundlage dieses Angebots der genannten Firma zugesprochen. Nach Beendigung der Arbeiten stellte die Firma Meynadier Rechnung, welche u.a. durch Müller visiert wurde. Nach Bezahlung der Rechnung ersuchte dieser den Wenger, die Firma Meynadier zu veranlassen, ihm den Mehrerlös auszurichten. Da die Direktion der genannten Firma Verdacht schöpfte, weigerte sie sich, die Summe an Müller auszuzahlen. Auf Rat ihres Anwalts erstattete sie der Einwohnergemeinde Bern einen Betrag von Fr. 13'792.80 zurück.
B.-
Mit Urteil vom 13. Oktober 1971 sprach das Strafamtsgericht Bern Müller des Betruges schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von acht Monaten, abzüglich drei Tage Untersuchungshaft.
Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte diesen Entscheid.
C.-
Müller führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung zurückzuweisen. Er bestreitet u.a. den Vermögensschaden.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens bestreitet der Beschwerdeführer mit der Begründung, dass die Stadt Bern gestützt auf den mit der Firma Meynadier abgeschlossenen Vertrag genau die erwartete Gegenleistung erhalten habe, und zwar erst noch zu einem nicht nur angemessenen, sondern auch zu einem niedrigen Preis. Das ergebe sich aus einem Vergleich mit der Offerte der Firma Kaspar Winkler. Die Stadt Bern verfüge übrigens im Stab ihrer Tiefbaudirektion über genügend Fachleute, die dies hätten erkennen können und auch erkannt hätten. Darin liege aber ein wesentlicher und ausschlaggebender
BGE 98 IV 252 S. 254
Unterschied zu dem in
BGE 72 IV 126
beurteilten Tatbestand, der deshalb von der Vorinstanz zu Unrecht als Präjudiz herangezogen worden sei. Im übrigen stelle sich die Frage, ob nicht jene Praxis, der zufolge eine Schädigung schon vorliege, wenn Leistung und Gegenleistung in einem für den Getäuschten ungünstigeren Wertverhältnis stehen, als sie nach dem vorgespiegelten Sachverhalt stehen müssten, einer Überprüfung bedürfe.
Dem Beschwerdeführer ist insoweit beizupflichten, als im vorliegenden Fall nicht gesagt werden kann, die Stadt Bern habe von der Firma Meynadier eine Leistung erhalten, die nach objektiver Schätzung den bezahlten Preis nicht wert gewesen wäre. Das scheint auch die Vorinstanz mit ihrer Erwägung nicht gemeint zu haben, wenn sie ausführte, die Stadt Bern habe sich mit dem Vertragsabschluss geschädigt, indem sie eine übersetzte Verpflichtung eingegangen sei, die der Gegenleistung der Firma Meynadier nicht entsprochen habe. Nach dem Zusammenhang mit den übrigen Urteilsgründen, namentlich soweit diese auf
BGE 72 IV 130
Bezug nehmen, ist jene Feststellung vielmehr dahin zu deuten, dass die Stadt Bern für ihre Leistung nicht den Gegenwert erhalten hat, den sie nach ihrer berechtigten Erwartung nach dem Vertrag erhalten sollte. Indessen trifft auch diese Begründung nicht das Richtige. Wie der Beschwerdeführer mit Fug geltend macht, kann der genannte Entscheid in seinen auf den damaligen Sachverhalt bezogenen Aussagen nicht unmittelbar als Präjudiz für den vorliegenden Fall gelten. Damals verhielt es sich so, dass dem Käufer eines Buches vom Verkäufer vorgespiegelt wurde, ein Teil des Preises würde für wohltätige Zwecke verwendet werden und es würde nur der restliche Teil als Entgelt für das Buch dienen. Es war damit der Käufer um den Teil seiner Zahlung geprellt worden, die er als Spende hatte leisten wollen. Hier liegen jedoch die Verhältnisse gerade umgekehrt, indem der Stadt Bern vorgespiegelt wurde, der von ihr zu leistende Betrag sei insgesamt als Gegenleistung für die Anstrichsarbeiten der Firma Meynadier bestimmt, während in Wahrheit ein Teil davon zur Deckung einer "Provision" dienen sollte, welche der Beschwerdeführer unter der Hand und ohne Wissen der Leitung jener Firma in die Offerte hatte einbeziehen lassen. Dieser Unterschied scheint der Vorinstanz entgangen zu sein. Damit ist indessen nicht gesagt, dass ihr Entscheid auch im
BGE 98 IV 252 S. 255
Ergebnis nicht standhalte. Geht man nämlich den in
BGE 72 IV 130
ausgesprochenen Überlegungen auf den Grund, so ergibt sich, dass das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens letztlich deswegen bejaht wurde, weil die vom Getäuschten erbrachte Leistung, zu deren Erbringung er sich nach der vertraglichen Abrede bereit erklärt hatte, nicht für den darin vorgespiegelten, sondern für einen anderen Zweck verwendet wurde, für welchen jener jedoch nicht bereit gewesen wäre, die vermögenswerte Leistung zu erbringen. Dieser Grundgedanke trifft nun aber in seiner vollen Bedeutung auch hier zu. Wegen der Machenschaft des Beschwerdeführers war der Stadt Bern eine Offerte eingereicht worden, deren Kostenansatz nur zum Teil Entgelt für die Anstrichsarbeiten der Firma Meynadier darstellte, zum Teil eine verkappte "Provision" für den Beschwerdeführer war. Indem sie die Offerte annahm und den darin genannten Preis bezahlte, hat deshalb die Getäuschte im Umfang des Zuschlags von Fr. 3.- pro m2 eine Leistung erbracht, die zur vertraglichen Gegenleistung keine Beziehung hatte und die sie bei Kenntnis des wahren Sachverhalts nicht erbracht hätte. Insoweit wurde sie zu einer Ausgabe veranlasst, der überhaupt kein Gegenwert gegenüberstand und die deshalb in ihrer Wirkung als Vermögensschaden im Sinne des
Art. 148 StGB
anzusprechen ist. | null | nan | de | 1,972 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2e9c9e47-d066-4ceb-bd77-2930482ea9c9 | Urteilskopf
141 V 557
61. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour de droit social dans la cause C. SA contre A. (recours en matière de droit public)
9C_201/2015 du 22 septembre 2015 | Regeste a
Art. 89 Abs. 1 KVG
; Zuständigkeit des kantonalen Schiedsgerichts.
Im Rechtsstreit zwischen einem Arzt und einer Krankenkasse, die ihn im Rahmen einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers im Sinne von Art. 41 Abs. 4 und 62 Abs. 1 KVG nicht als Hausarzt anerkennen will, entscheidet das kantonale Schiedsgericht in Angelegenheiten der Krankenversicherung (E. 2).
Regeste b
Art. 1a KVG
;
Art. 35 Abs. 2 BV
; öffentliche Aufgaben des Krankenversicherers.
Die Durchführung von besonderen Formen der Versicherung wie derjenigen mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers richtet sich nach den Bestimmungen des KVG und des öffentlichen Rechts. Handlungen des Krankenversicherers gegenüber dem Leistungserbringer müssen Verfassung und Gesetz beachten (E. 5).
Regeste c
Art. 27 BV
; Einschränkung der Wirtschaftsfreiheit des Leistungserbringers.
Frage offengelassen, ob die Nichtzulassung eines Arztes als Leistungserbringer in einem Hausarztmodell dessen Wirtschaftsfreiheit beeinträchtigt (E. 8).
Regeste d
Art. 41 Abs. 4 KVG
; eingeschränkte Wahl des Leistungserbringers.
Die Weigerung des Krankenversicherers, einen Arzt in das Hausarztmodell mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers aufzunehmen, bloss weil dieser sowohl Allgemeinmediziner wie auch Facharzt ist, lässt sich unter dem Aspekt einer kostengünstigen Versorgung nicht objektiv begründen. Die Nichtzulassung ist rechtswidrig (E. 9). | Sachverhalt
ab Seite 558
BGE 141 V 557 S. 558
A.
A. est médecin indépendant à B.; il dispose des titres postgrades de médecine interne générale, d'allergologie et immunologie clinique et de pratique du laboratoire au cabinet médical. S'étant aperçu que la caisse-maladie C. SA l'avait enlevé de sa liste des "médecins de famille agréés", le médecin l'a invitée à le faire figurer à nouveau sur la liste, par courrier du 27 juin 2013. Le 8 juillet suivant, la caisse-maladie a indiqué à A. que compte tenu de ses nouvelles conditions d'assurance valables dès le 1
er
janvier 2012, elle ne pouvait pas l'agréer
BGE 141 V 557 S. 559
comme médecin de premier recours pour ses modèles alternatifs d'assurance de base, vu sa spécialisation en allergologie et immunologie clinique.
B.
Le 22 juillet 2013, A. a saisi le Tribunal arbitral de l'assurance-maladie de la République et canton de Neuchâtel d'une demande dirigée contre la société D. SA. Il a conclu à ce qu'il soit dit que "les soins du Docteur A. doivent être couverts par D. pour ses assurés modèle 'médecin de famille' dans la mesure où les honoraires facturés correspondent au tarif des médecins généralistes" et à ce que, en conséquence, D. SA soit condamnée à faire figurer le médecin sur ses listes de médecin de famille.
Proposant qu'elle soit substituée, en tant que partie intimée, à D. SA, dont les activités se limitaient au seul domaine des assurances complémentaires de droit privé, C. SA a conclu au rejet du recours.
Par jugement du 17 février 2015, le Tribunal arbitral de l'assurance-maladie neuchâtelois a déclaré irrecevable la demande en tant qu'elle est dirigée contre D. SA, mais recevable en tant qu'elle est dirigée contre C. SA. Il a ordonné "à celle-ci de faire figurer le Dr A. dans sa 'liste des médecins de famille agréés' dans son modèle d'assurance de base 'médecin de famille'".
C.
Agissant par la voie du recours en matière de droit public, C. SA demande au Tribunal fédéral, principalement, de réformer ce jugement en ce sens que la demande dirigée par le docteur A. contre la caisse-maladie est déclarée irrecevable, subsidiairement, rejetée, de sorte qu'elle n'est pas tenue de faire figurer le médecin dans sa "liste des médecins de famille agréés" dans son modèle d'assurance de base. A titre subsidiaire, la caisse-maladie demande l'annulation du jugement arbitral et conclut au renvoi de la cause à l'autorité judiciaire de première instance pour nouveau jugement dans le sens des considérants du Tribunal fédéral.
A. conclut au rejet du recours dans la mesure où il est recevable. L'Office fédéral de la santé publique (OFSP) a renoncé à se déterminer.
Le recours a été rejeté.
Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
Dans un premier grief, la recourante conteste la compétence ratione materiae du Tribunal arbitral des assurances. Elle soutient que l'OFSP est exclusivement compétent pour approuver les formes
BGE 141 V 557 S. 560
particulières d'assurance au sens des art. 41 al. 4 et 62 al. 1 et 3 LAMal, ainsi que le tarif des primes correspondant. L'assureur-maladie qui propose un produit d'assurance avec des primes réduites mais impliquant un choix limité des fournisseurs de prestations pour l'assuré est tenu de soumettre à l'approbation de l'autorité fédérale de surveillance les tarifs des primes et de lui transmettre les conditions d'assurance y relatives. Selon la recourante, en validant les primes correspondant à une forme particulière d'assurance, l'OFSP valide également le modèle d'assurance en question et les conditions d'assurance. Dès lors que tant le modèle d'assurance que les primes y relatives ont été approuvés par l'OFSP, ils ne peuvent être revus par le tribunal arbitral cantonal, à la demande et en faveur d'un tiers.
2.1
Selon l'
art. 89 al. 1 LAMal
, les litiges entre assureurs et fournisseurs de prestations sont jugés par un tribunal arbitral. La notion de litige susceptible d'être soumis au tribunal arbitral doit être entendue au sens large. Il est nécessaire, cependant, que soient en cause des rapports juridiques qui résultent de la LAMal ou qui ont été établis en vertu de cette loi. Sont ainsi considérées comme litige dans le cadre de la LAMal les contestations portant sur des questions relatives aux honoraires ou aux tarifs. Il doit par ailleurs s'agir d'un litige entre un assureur-maladie et la personne appelée à fournir des prestations, ce qui se détermine en fonction des parties qui s'opposent en réalité. En d'autres termes, le litige doit concerner la position particulière de l'assureur ou du fournisseur de prestations dans le cadre de la LAMal (
ATF 132 V 303
consid. 4.1 p. 303 et les arrêts cités). La compétence du tribunal arbitral doit être déterminée au regard des prétentions que fait valoir la partie demanderesse et de leur fondement (arrêt du Tribunal fédéral des assurances K 5/03 du 15 avril 2004 consid. 2.2, in RAMA 2004 p. 238).
2.2
Le litige porté par l'intimé devant le Tribunal arbitral de l'assurance-maladie du canton de Neuchâtel oppose un assureur-maladie à un médecin, en sa qualité de fournisseur de prestations (
art. 35 al. 1 let. a LAMal
). Celui-ci a requis du tribunal qu'il condamne la recourante à le faire figurer sur sa "liste des médecins de famille", dans le cadre de la possibilité dont elle a fait usage de proposer une forme d'assurance impliquant pour l'assuré un choix limité du fournisseur de prestations.
2.3
2.3.1
Conformément à l'
art. 41 al. 1 LAMal
, en cas de traitement ambulatoire, l'assuré a le libre choix entre les fournisseurs de
BGE 141 V 557 S. 561
prestations admis et aptes à traiter sa maladie. En vertu de l'
art. 41 al. 4 LAMal
, "l'assuré peut, en accord avec l'assureur, limiter son choix aux fournisseurs de prestations que l'assureur désigne en fonction de leurs prestations plus avantageuses (art. 62, al. 1 et 3). L'assureur ne prend en charge que les coûts des prestations prodiguées ou ordonnées par ces fournisseurs; l'al. 2 est applicable par analogie. Les prestations que la loi rend obligatoires sont en tout cas garanties".
Selon l'
art. 62 al. 1 LAMal
, l'assureur peut réduire les primes d'assurance impliquant un choix limité du fournisseur de prestations d'après l'art. 41 al. 4. Avec l'
art. 62 al. 3 LAMal
, le législateur a donné au Conseil fédéral la compétence de régler en détail les formes particulières d'assurance, ce que celui-ci a fait notamment en ce qui concerne les assurances impliquant un choix limité des fournisseurs de prestations en édictant les art. 99 à 101a OAMal (RS 832.102), relatifs à l'adhésion et la sortie, ainsi que les primes.
2.3.2
Dans le cadre de l'
art. 41 al. 4 LAMal
, des formes particulières d'assurance sont admises, comme par exemple les réseaux de soins (Health Maintenance Organizations, HMO) ou le modèle du médecin de famille. Avec ce modèle, les assurés s'engagent à choisir leur médecin de famille parmi un nombre de praticiens généralistes désignés par l'assureur. Les médecins choisis constituent toujours pour les assurés le premier interlocuteur pour les prestations médicales. Ils dispensent les soins médicaux de base à leurs patients et les orientent, sur indication médicale, vers des spécialistes ou des hôpitaux. Hormis en cas d'urgence, les patients doivent nécessairement d'abord se rendre chez leur médecin de famille (arrêt du Tribunal fédéral des assurances K 58/02 du 6 février 2003 consid. 2.1 et les références, in RAMA 2003 p. 74).
Le sens et le but de la limitation du libre choix du fournisseur de prestations prévue par l'
art. 41 al. 4 LAMal
consistent à ce que les assureurs puissent, en tant que mesure visant à réduire les coûts, accorder une réduction de primes aux assurés qui sont prêts à restreindre leur choix du fournisseur de prestations (
art. 61 al. 1 LAMal
). Les assureurs peuvent ainsi passer des conventions avec des fournisseurs de prestations sélectionnés et particulièrement avantageux afin de pouvoir offrir à leurs assurés - qui doivent déclarer se limiter à ces fournisseurs-là - une prime réduite (arrêt K 58/02 cité consid. 2.2; Message du 6 novembre 1991 concernant la révision de l'assurance-maladie, FF 1992 I 77, 111 ch. 222).
BGE 141 V 557 S. 562
2.3.3
La recourante propose à ses assurés une assurance obligatoire des soins avec modèle "médecin de famille", dont le fonctionnement, l'adhésion et la sortie des assurés ressortissent aux art. 41 al. 2 et 4, ainsi que 62 al. 1 et 3 LAMal, et aux art. 99 à 101 OAMal (art. 23.5 des conditions spéciales d'assurance catégorie B - "Basis", dans leur teneur en vigueur à partir du 1
er
janvier 2012; ci-après: CSA).
Selon l'art. 23.1 CSA, "en souscrivant au modèle 'médecin de famille', l'assuré accepte de se conformer aux conditions particulières décrites ci-après sous 23.2 à 23.4". Aux termes de l'art. 23.2 CSA, "sauf cas d'urgence établie, l'assuré s'engage à consulter en premier recours le médecin de famille qu'il aura choisi parmi tout médecin généraliste, interniste sans autre spécialisation ou pédiatre pour les enfants et dont il aura communiqué les coordonnées à D. Le médecin de famille est l'interlocuteur de référence de l'assuré. Il coordonne toutes les questions médicales. Il décide également s'il peut poursuivre le traitement ou s'il doit recourir à un spécialiste. En cette occurrence, il remet à l'assuré un avis de délégation dûment complété et signé, qui devra être joint à la facture du spécialiste". Les termes "parmi tout médecin généraliste, interniste sans autre spécialisation ou pédiatre pour les enfants" ne figuraient pas à l'art. 23.2 CSA dans sa teneur en vigueur jusqu'au 31 décembre 2011.
Les CSA ne prévoient pas une liste de praticiens parmi lesquels l'assuré devrait choisir son médecin de famille, ni ne renvoient à une telle liste. Néanmoins, sur son site Internet (sous http://fr.c.sa.ch/assurance-maladie/la-liste-des-medecins-de-famille-agrees, consulté le 26 août 2015), parmi les informations données sur le modèle d'assurance "médecin de famille", C. SA invite les intéressés à consulter la "liste des médecins de famille agréés" par elle et à vérifier que leur médecin de premier recours y figure. Sous le numéro postal x (B.), l'intimé ne figure pas dans la liste mise en place par la recourante.
2.4
Au regard des art. 41 al. 4, 62 al. 1 et 3 LAMal, ainsi que des CSA prévues par la recourante, il est manifeste que le litige a pour objet des rapports juridiques résultant de la LAMal. Vu la demande introduite par l'intimé en première instance, est en cause le refus de la caisse-maladie recourante d'admettre le médecin intimé à pratiquer en tant que fournisseur de prestations désigné par l'assureur en fonction de ses prestations plus avantageuses, au sens de l'
art. 41 al. 4 LAMal
. En tant qu'elle tend à obliger la recourante à accepter
BGE 141 V 557 S. 563
l'intimé comme fournisseur de prestations dans le cadre de la forme particulière d'assurance que constitue le modèle "médecin de famille" proposé par C. SA à ses assurés, la demande du 22 juillet 2013 constitue une action formatrice visant à la création, respectivement au maintien (compte tenu de la modification des CSA à partir du 1
er
janvier 2012) d'un rapport de droit fondé sur la LAMal. La situation est ici comparable à celle d'un médecin qui s'était vu refuser son admission sur une liste des "médecins de famille pour les requérants d'asile" et où le Tribunal fédéral avait reconnu la possibilité pour le fournisseur de prestations de s'en plaindre par la voie d'une action formatrice devant le Tribunal arbitral de l'assurance-maladie (cf. arrêt du Tribunal fédéral des assurances K 66/02 du 17 août 2004 consid. 5; arrêt K 7/07 du 13 juin 2007 consid. 5.2, non publié in
ATF 133 V 353
).
Contrairement à ce que fait valoir la recourante, il ne s'agit pas, en l'occurrence, d'un litige portant sur l'approbation "des formes particulières d'assurance et le tarif des primes y relatives", approbation pour laquelle l'OFSP est compétent (cf.
art. 92 al. 1 OAMal
). Il n'est pas question ici d'examiner le tarif des primes instauré par la recourante et qu'elle a dû soumettre à l'approbation de l'OFSP (cf.
art. 61 al. 5 LAMal
), en joignant les conditions d'assurance relatives aux formes particulières d'assurance prévues à l'
art. 62 LAMal
(
art. 92 al. 4 OAMal
). Il en va uniquement du rapport entre l'assureur-maladie et l'intimé, qui conteste le refus de la caisse-maladie de l'accepter comme médecin habilité à fournir des prestations à la charge de l'assurance obligatoire des soins, selon les modalités de la forme particulière d'assurance impliquant un choix limité du fournisseur de prestation pour l'assuré au sens des art. 41 al. 4 et 62 al. 1 LAMal. Le Tribunal arbitral cantonal neuchâtelois n'a du reste statué ni sur le modèle d'assurance "médecin de famille" proposé par la recourante, ni sur les primes qu'elle applique dans ce cadre. Mais il s'est prononcé sur le point de savoir si la caisse-maladie était en droit d'exclure l'intimé du cercle des médecins désignés pour fournir des prestations selon ce modèle d'assurance, en y répondant par la négative.
2.5
Il suit de ce qui précède que le grief tiré de l'incompétence du tribunal arbitral cantonal prévu par l'
art. 89 LAMal
est mal fondé.
3.
Dans un motif d'ordre formel, qu'il convient d'examiner préalablement à l'argumentation sur le fond (
ATF 137 I 195
consid. 2.2 p. 197), la recourante se plaint à double titre d'une violation de son
BGE 141 V 557 S. 564
droit d'être entendue. Elle allègue avoir été privée de la possibilité de se déterminer sur une pièce importante, à savoir la "liste des médecins agréés" disponible sur son site internet. Les juges arbitraux avaient consulté cette liste sans l'interpeller pour lui demander des explications et retenu que celle-ci avait été établie de manière arbitraire. Le jugement attaqué serait ensuite et surtout insuffisamment motivé, parce que le tribunal arbitral n'aurait pas exposé en quoi l'assureur-maladie était tenu de respecter les droits fondamentaux de l'intimé, ni en quoi le modèle du médecin de famille ne serait justifié par aucun intérêt public et l'intimé désavantagé; de plus, la recourante ignorerait par rapport à quels concurrents celui-ci serait désavantagé.
3.1
La jurisprudence a déduit du droit d'être entendu (
art. 29 al. 2 Cst.
), en particulier, le droit pour le justiciable de s'expliquer avant qu'une décision ne soit prise à son détriment, celui de fournir des preuves quant aux faits de nature à influer sur le sort de la décision, celui d'avoir accès au dossier, celui de participer à l'administration des preuves, d'en prendre connaissance et de se déterminer à leur propos (
ATF 135 I 279
consid. 2.3 p. 282;
ATF 135 II 286
consid. 5.1 p. 293;
ATF 132 V 368
consid. 3.1 p. 370).
En tant que les juges arbitraux ont procédé à des constatations de fait relatives aux titres de médecine dont disposaient les praticiens agréés par la recourante comme médecins de famille en consultant la "liste des médecins de famille" (consid. 2.3.3 supra), ils ont fait usage d'un moteur de recherche mis à disposition par la caisse-maladie sur son site internet et accessible à tout intéressé qui se rend à l'adresse électronique correspondante. Leurs constatations reposent donc sur une source établie par la recourante elle-même et dont elle avait, partant, connaissance. Aussi, la juridiction arbitrale pouvait-elle, sans violation du droit d'être entendu, consulter le site internet de la recourante et s'appuyer sur les informations données par ce biais au public, sans requérir d'explication de sa part. L'argumentation de l'assureur-maladie tombe dès lors à faux.
3.2
Sous l'angle de la violation du droit d'être entendu pour défaut de motivation, le grief de la recourante n'est pas davantage fondé.
3.2.1
La jurisprudence a déduit du droit d'être entendu (
art. 29 al. 2 Cst.
) le devoir pour le juge de motiver sa décision, afin que le justiciable puisse la comprendre, la contester utilement s'il y a lieu et exercer son droit de recours à bon escient. Pour répondre à ces
BGE 141 V 557 S. 565
exigences, le juge doit mentionner, au moins brièvement, les motifs qui l'ont guidé et sur lesquels il a fondé sa décision, de manière à ce que l'intéressé puisse se rendre compte de la portée de celle-ci et l'attaquer en connaissance de cause. Il n'a toutefois pas l'obligation d'exposer et de discuter tous les faits, moyens de preuve et griefs invoqués par les parties, mais peut au contraire se limiter à l'examen des questions décisives pour l'issue du litige (
ATF 134 I 83
consid. 4.1 p. 88 et les arrêts cités). Dès lors que l'on peut discerner les motifs qui ont guidé la décision de l'autorité, le droit à une décision motivée est respecté même si la motivation présentée est erronée. La motivation peut d'ailleurs être implicite et résulter des différents considérants de la décision (arrêt 2C_23/2009 du 25 mai 2009 consid. 3.1, in RDAF 2009 II p. 434). En revanche, une autorité se rend coupable d'un déni de justice formel prohibé par l'
art. 29 al. 2 Cst.
si elle omet de se prononcer sur des griefs qui présentent une certaine pertinence ou de prendre en considération des allégués et arguments importants pour la décision à rendre (cf.
ATF 133 III 235
consid. 5.2 p. 248;
ATF 126 I 97
consid. 2b p. 102;
ATF 125 III 440
consid. 2a p. 441).
3.2.2
En l'espèce, la motivation du jugement entrepris permet de comprendre les éléments qui ont été retenus et pourquoi ils l'ont été. En particulier, il ressort de ses considérations que la juridiction arbitrale retient que la caisse-maladie n'a pas traité l'intimé de la même manière que d'autres médecins au bénéfice d'une spécialisation s'ajoutant au titre de médecine interne, qu'elle a agréés en tant que fournisseurs de prestations dans le modèle de médecin de famille. La pratique de la recourante constitue donc, aux yeux des juges arbitres, une intervention dans la concurrence qui n'est pas justifiée par un intérêt public. La référence qu'ils ont ensuite faite à la jurisprudence du Tribunal fédéral sur la liberté économique des médecins dans le cadre de l'assurance-maladie obligatoire (
ATF 130 I 26
consid. 4 p. 40 ss) explique, certes de manière implicite, pourquoi la recourante était tenue, selon eux, au respect des droits fondamentaux de l'intimé.
4.
La juridiction arbitrale neuchâteloise a examiné le refus de la recourante de reconnaître l'intimé comme médecin de famille dans ce modèle d'assurance, motif pris du titre de spécialiste en allergologie et immunologie clinique s'ajoutant à celui de médecine interne générale, à la lumière de la liberté économique garantie par l'
art. 27 Cst.
et des conditions d'une restriction à un droit fondamental prévues par l'
art. 36 Cst.
Retenant que la restriction appliquée par la recourante était fondée sur une base légale (
art. 41 al. 4 LAMal
) et
BGE 141 V 557 S. 566
que le modèle d'assurance en cause revêtait un intérêt public (maîtriser l'augmentation des coûts de la santé et, partant, des primes d'assurance-maladie), elle a considéré que la pratique de la recourante créait une inégalité de traitement inadmissible entre concurrents, dans la mesure où elle constituait une intervention dans la concurrence non justifiée par un intérêt public.
En premier lieu, alors que la plupart des assureurs-maladies proposant le modèle de "médecin de famille" n'en excluait pas les médecins généralistes ou internistes titulaires d'une autre spécialité (intégrant l'intimé comme médecin de famille), la recourante appliquait de manière inconstante l'art. 23.2 CSA. Elle admettait comme médecins de famille pour son modèle du même nom certains praticiens généralistes ou internistes au bénéfice de la même spécialisation que l'intimé, alors qu'elle avait exclu celui-ci. En second lieu, toujours selon les juges arbitres, la pertinence du critère retenu par la recourante pour définir les "prestations plus avantageuses" de l'
art. 41 al. 4 LAMal
était critiquable. La caisse-maladie n'avait en effet pas prouvé, au moyen de données de facturation et de prescription en sa possession, que l'activité professionnelle de l'intimé était plus coûteuse que celle d'autres médecins agissant aussi comme médecins de premier recours. En conséquence, le tribunal arbitral a admis la demande du docteur A. (en tant qu'elle était dirigée contre C. SA) et ordonné à la recourante de le faire figurer dans sa "liste des médecins de famille agréés".
5.
5.1
Dans une série de griefs fondés sur les
art. 27 et 36 Cst.
, la recourante soutient tout d'abord qu'elle n'est pas tenue, lorsqu'elle propose le modèle d'assurance "médecin de famille" de respecter les droits fondamentaux de l'intimé. Elle n'agit pas en tant qu'autorité administrative exerçant une tâche de l'Etat et susceptible de rendre une décision administrative, mais propose librement un service qu'elle ne serait pas obligée d'offrir à ses assurés.
5.2
La recourante est une société anonyme, dont l'organisation relève du droit privé. Dans le domaine de l'assurance-maladie obligatoire, une caisse-maladie assume toutefois des tâches étatiques (
art. 1a LAMal
) et intervient de ce fait comme organe de l'Etat, détenteur de compétences de la puissance publique. Aussi, dans l'exécution de ses tâches publiques, l'assureur-maladie est-il tenu de respecter les droits fondamentaux et de contribuer à leur réalisation (
art. 35 al. 2 Cst.
;
ATF 140 I 338
consid. 6 p. 343 et l'arrêt cité). En particulier, les
BGE 141 V 557 S. 567
rapports juridiques entre l'assureur-maladie et le fournisseur de prestations au sens de la LAMal sont en principe soumis au droit public (
ATF 139 V 82
consid. 3.1.1 p. 83). L'assureur-maladie intervient à l'égard du fournisseur de prestations également en tant qu'organe d'exécution d'une branche de l'assurance sociale; il lui incombe, par exemple, de vérifier si les prestations effectuées par le fournisseur de prestations sont efficaces, appropriées et économiques au sens de l'
art. 32 LAMal
. Il est donc tenu dans ses relations avec celui-ci de mettre en oeuvre l'assurance-maladie obligatoire selon les principes et les règles de l'Etat de droit. Ses actes à l'égard du fournisseur de prestations doivent être effectués en conformité avec la Constitution et la loi (EUGSTER, Wirtschaftlichkeitskontrolle ambulanter ärztlicher Leistungen mit statistischen Methoden, 2003, p. 136 ch. 361).
5.3
Contrairement à ce que soutient la recourante, la mise en oeuvre des formes particulières d'assurance, dont celle qui limite le libre choix de l'assuré s'agissant des fournisseurs de prestations, constitue une tâche soumise aux règles de la LAMal et du droit public. Le fait que les assureurs-maladies sont libres de proposer ou non les formes particulières d'assurance ne soustrait pas leur activité dans ce cadre au droit public. Les conditions auxquelles ils peuvent convenir avec les assurés d'une forme particulière d'assurance sont prévues en particulier par les
art. 41 al. 4 et 62 LAMal
, ainsi que les
art. 93 ss OAMal
, et l'activité y relative, régie par le droit public, relève de l'exercice d'une tâche publique.
A cet égard, la recourante invoque en vain la situation de la Poste par rapport au transport de journaux qui ne sont pas en abonnement - activité qui a été jugée comme faisant partie du domaine des services libres dans lequel l'établissement autonome de droit public n'assume pas une tâche étatique (
ATF 129 III 35
) - pour tenter d'en tirer un parallèle à sa propre situation. La Poste a certes le choix de fournir ou non le service de transport de journaux qui ne sont pas en abonnement, mais ce service pourrait être fourni par n'importe quel autre entrepreneur particulier (
ATF 129 III 35
consid. 5.2 p. 40). Tel n'est pas le cas en l'espèce, où seuls les assureurs-maladie au sens des
art. 11 ss LAMal
peuvent choisir de proposer les formes particulières d'assurance, et non pas tout entrepreneur particulier. Il n'y a dès lors pas lieu de faire une différence entre ces formes de l'assurance-maladie obligatoire et la forme ordinaire sans limitation du choix du fournisseur de prestations, en fonction de la liberté laissée à l'assureur-maladie d'offrir de telles assurances particulières ou non.
BGE 141 V 557 S. 568
L'ensemble de ces formes d'assurance font partie intégrante de l'assurance-maladie obligatoire sur laquelle la Confédération a légiféré en adoptant la LAMal, conformément au mandat constitutionnel prévu à l'
art. 117 Cst.
La recourante ne peut rien déduire non plus en sa faveur des débats parlementaires relatifs à l'initiative parlementaire "Non-discrimination des médecins spécialistes en médecine interne générale titulaires d'un deuxième titre de spécialiste" (13.433), déposée par le Conseiller national Olivier Feller (BO 2014 CN 1338; Rapport de la Commission de la sécurité sociale et de la santé publique du Conseil national du 13 août 2014). Postérieures à l'adoption de l'
art. 41 al. 4 LAMal
, ces discussions ne constituent pas l'expression de la volonté du législateur sur laquelle pourrait se fonder une éventuelle interprétation de cette norme. Au demeurant, elles n'ont pas eu d'aboutissement législatif, puisque le Conseil national a décidé de ne pas donner suite à l'initiative en cause (BO 2014 CN 1341).
En conséquence, l'argumentation de la recourante tirée de la prétendue absence d'obligation de respecter les droits fondamentaux est mal fondée.
6.
Toujours sous l'angle des
art. 27 et 36 Cst.
, la recourante fait ensuite valoir que ses conditions d'assurance et sa pratique ne portent pas une atteinte injustifiée à l'égalité entre concurrents, ni ne violent, partant, la liberté économique de l'intimé. Elle expose que cette garantie constitutionnelle ne donne pas droit à une prestation positive de l'Etat et que l'intimé ne serait qu'indirectement concerné par les conditions d'assurance litigieuse, qui ne constitueraient pas une mesure administrative ou légale. En tout état de cause, les conditions de l'
art. 36 Cst.
seraient réalisées, dans la mesure, en particulier, où le modèle voulu par le législateur implique une intervention dans la concurrence, dont il appartient à l'assureur-maladie d'établir librement les critères, ceux choisis par la recourante étant, de son avis, objectifs et dénués d'arbitraire.
7.
7.1
Selon l'
art. 27 al. 1 Cst.
, la liberté économique est garantie. Elle comprend notamment le libre choix de la profession, le libre accès à une activité économique lucrative privée et son libre exercice (
art. 27 al. 2 Cst.
). Cette liberté protège toute activité économique privée, exercée à titre professionnel et tendant à la production d'un gain ou d'un revenu, telle celle de médecin (
ATF 130 I 26
consid. 4.1 p. 40 et les références).
BGE 141 V 557 S. 569
Toutefois, lorsque la liberté économique est invoquée dans le domaine de l'assurance-maladie obligatoire, il convient de partir du principe que l'admission ou la non-admission en tant que fournisseur de prestations à la charge de l'assurance obligatoire des soins survient dans un domaine qui échappe assez largement à la liberté économique, sur le plan constitutionnel et légal. Si la liberté économique ne confère aucun droit à une prestation positive de l'Etat, elle ne peut pas non plus conduire à accorder aux médecins exerçant à titre privé le droit de fournir des prestations dans la mesure de leur choix à la charge de l'assurance-maladie obligatoire (
ATF 132 V 6
consid. 2.5.2 in fine p. 14 et 2.5.3 p. 15;
ATF 130 I 26
consid. 4.3 p. 41 et 4.5 p. 43). Ainsi, le Tribunal fédéral a jugé que les médecins concernés par l'interdiction de pratiquer à la charge de l'assurance-maladie obligatoire ("Zulassungsstopp") sont touchés dans leur activité économique privée. Dès lors qu'une grande partie des prestations médicales est prise en charge par l'assurance-maladie obligatoire, un tel refus rend très difficile, en fait sinon en droit, la gestion d'un cabinet indépendant pour les médecins concernés. Aussi, le blocage du personnel médical entre dans le domaine de protection de la liberté économique. Mais compte tenu du fait que l'activité économique privée est exercée dans un système assez largement soustrait à la liberté économique, celle-ci a essentiellement pour rôle d'assurer que les restrictions d'accès soient établies selon des critères objectifs qui prennent en compte les principes de la concurrence de manière appropriée (
ATF 130 I 26
consid. 4.5 p. 42 s.).
7.2
D'après le principe de l'égalité de traitement entre personnes appartenant à la même branche économique découlant de l'
art. 27 Cst.
- lequel offre une protection plus étendue que celle de l'
art. 8 Cst.
(arrêts 2C_467/2008 du 10 juillet 2009 consid. 7.1 et 2P.94/2005 du 25 octobre 2006 consid. 4.2) -, sont interdites les mesures qui causent une distorsion de la compétition entre concurrents directs, c'est-à-dire celles qui ne sont pas neutres sur le plan de la concurrence. On entend par concurrents directs les membres de la même branche économique qui s'adressent avec les mêmes offres au même public pour satisfaire les mêmes besoins (
ATF 132 I 97
consid. 2.1 p. 100). L'égalité de traitement entre concurrents n'est cependant pas absolue et autorise des différences, à condition que celles-ci reposent sur une base légale, qu'elles répondent à des critères objectifs et résultent du système lui-même; il est seulement exigé que les inégalités ainsi instaurées soient réduites au minimum nécessaire pour atteindre le but
BGE 141 V 557 S. 570
d'intérêt public poursuivi (
ATF 125 I 431
consid. 4b/aa p. 435-436 et la jurisprudence citée; arrêt 9C_219/2010 du 13 septembre 2010 consid. 7.2).
8.
8.1
En tant que la recourante conteste que l'intimé puisse déduire quelque droit que ce soit de la liberté économique, parce qu'accéder à la demande de celui-ci et la contraindre à l'accepter sur sa liste des médecins de famille agréés conduirait à lui accorder une prestation positive de la part de l'Etat, elle ne saurait être suivie. Admettre la demande de l'intimé impliquerait en effet de lever une limitation imposée par l'assureur-maladie à l'intimé, qui est empêché de fournir des prestations à la charge de la recourante en tant que médecin de famille. Il ne s'agirait pas d'obliger l'Etat, singulièrement l'assureur-maladie obligatoire, à prendre une mesure active qui favoriserait le soutien de l'entreprise privée de l'intimé, mais de limiter ses pouvoirs en lui imposant de ne pas restreindre l'exercice de l'activité économique privée du médecin.
8.2
Cela étant, au regard des principes rappelés ci-avant (consid. 7 supra), il apparaît d'emblée que le refus de la recourante d'admettre l'intimé en tant que fournisseur de prestations dans son modèle d'assurance "médecin de famille" ne touche de loin pas le médecin dans l'exercice de son activité économique de la même manière qu'une limitation de l'admission à pratiquer au sens de l'
art. 55a LAMal
. A la différence de la situation d'un médecin qui ne serait pas admis à pratiquer en tant que fournisseur de prestations au sens de l'
art. 25 LAMal
, soit d'exercer son activité médicale à la charge de l'assurance-maladie obligatoire, le refus de la recourante n'empêche pas l'intimé de fournir des prestations qui doivent être prises en charge par la caisse-maladie dans le cadre de la forme ordinaire de l'assurance obligatoire des soins.
A défaut de toute constatation y relative du tribunal arbitral, on ignore quelle part de son activité médicale l'intimé a consacrée jusqu'au 31 décembre 2011 (date au-delà de laquelle a été applicable la modification de l'art. 23 CSA) à soigner des patients en tant que médecin de famille, dans le cadre de la forme particulière d'assurance proposée par la recourante et, en conséquence, dans quelle mesure il est effectivement touché par le refus de l'assureur-maladie. Selon les propres indications de l'intimé au dossier (fournies le 12 octobre 2011 à une autre caisse-maladie que la recourante), la moitié des
BGE 141 V 557 S. 571
patients qu'il prend en charge le consulte à titre de médecin de premier recours. Il n'est pas clair cependant si les 50 % indiqués correspondent à des patients qui auraient tous choisi le modèle de médecin de famille, ni auprès de quelle caisse-maladie ceux-ci seraient assurés.
Quoi qu'il en soit, on ne saurait considérer que le refus de la recourante de l'admettre en qualité de médecin de famille rende très difficile la gestion de son cabinet indépendant à titre privé. Les effets de la restriction en cause - dont l'ampleur n'a pas à être examinée plus avant, parce que l'issue du litige n'en serait pas modifiée (consid. 9 infra) - sur la situation effective de l'intimé ne sont en tout cas pas comparables à ceux entraînés par l'interdiction de pratiquer au sens de l'
art. 55a LAMal
. Dès lors, compte tenu du cadre restreint dans lequel la liberté économique peut être invoquée par un fournisseur de prestations au sens de l'
art. 25 LAMal
dans le domaine de l'assurance-maladie obligatoire, ainsi que de la portée limitée de la restriction à l'exercice de l'activité économique privée de l'intimé, on peut douter que la mesure en cause, prise par un seul assureur-maladie à son égard, constitue effectivement une atteinte à sa liberté économique. Ce point peut cependant rester indécis pour les raisons qui suivent.
9.
Que ce soit sous l'angle de l'interdiction de l'arbitraire, principe auquel est tenue la recourante dans l'exercice de ses tâches étatiques (cf. consid. 5.2 et 5.3 supra) ou celui de l'égalité entre concurrents en tant qu'aspect de la liberté économique (consid. 7.2 supra), on constate que le refus de la recourante de reconnaître l'intimé comme médecin de famille dans le cadre du modèle d'assurance correspondant est contraire au droit.
9.1
Selon l'
art. 41 al. 4 LAMal
, il appartient à l'assureur-maladie obligatoire, pour la forme particulière d'assurance relative au choix limité du fournisseurs de prestations, de désigner ceux-ci "en fonction de leurs prestations plus avantageuses". La loi prévoit donc un critère de désignation des fournisseurs de prestations pour la forme particulière d'assurance en cause, à savoir les coûts des prestations, qui doivent être plus avantageuses.
9.2
Pour justifier son refus d'admettre l'intimé parmi les "médecins de famille", la recourante a soutenu devant la juridiction arbitrale que l'intimé avait une pratique médicale plus onéreuse que celle des médecins généralistes ou internistes sans autre spécialisation. Le tribunal arbitral a constaté que les factures auxquelles se référait la
BGE 141 V 557 S. 572
recourante ne démontraient cependant pas les affirmations de la caisse-maladie, qui manquait ainsi d'apporter la preuve que l'intimé était objectivement plus cher comme médecin de premier recours qu'un médecin généraliste ou interniste sans autre titre de spécialisation. Or la recourante ne remet pas sérieusement ces constatations en cause lorsqu'elle se contente d'affirmer en instance fédérale qu'il est notoire que les prestations des médecins spécialistes sont en moyenne plus chères que celles des médecins généralistes, ce qui vaudrait pour l'intimé. Cet argument n'est pas pertinent au regard du fait que l'intimé a soutenu tout au long de la procédure qu'il appliquait le point tarifaire TARMED relatif à l'activité d'un médecin généraliste lorsqu'il était consulté en tant que médecin de famille. La recourante ne démontre pas le contraire, en affirmant, sans se référer du reste à une preuve concrète de ce qu'elle avance, que deux tiers des prestations effectuées par l'intimé "pour des assurés de la recourante en 2013 ont été facturés au tarif spécialiste". Elle manque également de préciser si les assurés auxquels elle se réfère avaient choisi le modèle d'assurance en cause et s'ils avaient consulté l'intimé à titre de médecin de famille ou comme spécialiste, le cas échéant, sur prescription de celui-ci comme médecin de premier recours.
Quant aux montants que la caisse-maladie invoque pour la première fois devant la Cour de céans afin d'illustrer que l'intimé coûterait "plus cher à l'assurance que la moyenne des généralistes", ils ne sont d'aucune utilité puisqu'ils se rapportent apparemment aux factures de l'intimé sans faire de distinction entre les prestations qu'il a effectuées en tant que médecin généraliste et celles relatives à son activité de spécialiste, ni ne reposent sur une pièce au dossier.
Quoi qu'en dise ensuite la recourante, qui prétend ne pas avoir à justifier au cas par cas quel médecin spécialiste serait plus cher que tel médecin généraliste, elle ne saurait motiver l'exclusion de l'intimé en invoquant de manière générale les coûts plus élevés des cabinets de spécialiste. Ce motif repose sur une simple allégation et ne suffit pas à rendre vraisemblable que l'intimé fournit concrètement des prestations en tant que médecin généraliste dont les coûts seraient supérieurs ou moins avantageux que ceux de médecin de premier recours dépourvu d'un deuxième titre de spécialisation. La recourante se réfère par ailleurs en vain à des "économies de coûts de surveillance", dont elle bénéficierait en n'ayant pas à vérifier les notes d'honoraires d'un médecin titulaire à la fois d'un titre de généraliste
BGE 141 V 557 S. 573
et de spécialiste. En tant qu'organe d'exécution de l'assurance-maladie obligatoire, la caisse-maladie est tenue de s'assurer de manière générale que les prestations effectuées par les fournisseurs de prestations répondent aux conditions de la prise en charge des coûts par l'assurance obligatoire des soins (
art. 32 LAMal
), ce qui suppose un examen (ponctuel) individuel des factures médicales de sa part. De plus, dans la mesure où la désignation des fournisseurs de prestations au sens de l'
art. 41 al. 4 LAMal
est fondée sur leurs prestations plus avantageuses, l'assureur-maladie doit connaître la pratique des médecins désignés et vérifier le caractère avantageux de leurs prestations.
On ne voit pas en quoi, enfin, le fait de se référer aux codes créanciers RCC attribués à chaque médecin fournissant des prestations à la charge de l'assurance-maladie répondrait à un critère objectif autorisant la différence que fait la recourante entre l'intimé et les médecins généralistes qui ne sont pas titulaires d'une autre spécialisation. La recourante ne prétend pas que l'attribution du code créancier RCC dépend de la structure et de la gestion des coûts du cabinet médical du médecin requérant.
9.3
Il résulte de ce qui précède qu'au vu des motifs justificatifs donnés par la recourante pour refuser l'intimé comme fournisseur de prestations dans le modèle du médecin de famille à partir du 1
er
janvier 2012, l'exclusion est entachée d'arbitraire. Elle ne repose pas sur un motif objectif, lié au caractère désavantageux, du point de vue des coûts, des prestations fournies par l'intimé.
Il en résulte que sous l'angle du principe de l'égalité entre concurrents - dût-il être appliqué (consid. 8 supra) -, si on peut admettre que la différence entre l'intimé et les médecins généralistes désignés par la recourante repose sur une base légale (
art. 41 al. 4 LAMal
) et poursuit un intérêt public (maîtrise des coûts de la santé), elle ne répond pas, en l'espèce, à des critères objectifs. | null | nan | fr | 2,015 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
2ea4947f-0af7-4dbc-8a0e-c890ff6cccc3 | Urteilskopf
99 IV 249
59. Arrêt de la Cour de cassation pénale du 2 novembre 1973, dans la cause Ministère public du canton de Neuchâtel contre Kunzi et consorts | Regeste
Art. 20 StGB
.
Rechtsirrtum ist ausgeschlossen, wenn der Täter das Empfinden hat, dass sein Verhalten den Rechtsvorstellungen seiner Rechtsgemeinschaft widerspricht, selbst wenn er diese nicht teilt.
Im Zweifel hat er sich bei der zuständigen Behörde oder vertrauenswürdigen Personen zu erkundigen (Erw. 1 und 2). | Sachverhalt
ab Seite 249
BGE 99 IV 249 S. 249
A.-
Jean-Paul Kunzi, propriétaire et exploitant du cinéma Rex, à Neuchâtel, a projeté les 3 et 4 décembre 1971, le film intitulé "Pornographie sans masque" distribué en Suisse par une société dont Adolphe Spiegel est directeur. On peut y voir, sous le prétexte de décrire les relations entre un homme et la tenancière d'une boîte de nuit, une suite de scènes intimes, présentées sans aucune retenue, mettant en présence des partenaires de même sexe ou de sexes différents, s'ébattant en groupe ou deux par deux, en toutes positions et dans les lieux les plus divers. Certaines séquences sont encore soulignées par l'emploi d'un symbole phallique. Kunzi a annoncé ce film dans la presse comme un "nouveau succès qui peut choquer, mais anéantir d'autres tabous". Considérant le film comme obscène, le Juge d'instruction en a ordonné le séquestre le 4 décembre.
Kunzi a projeté alors, les 5 et 6 décembre, un autre film distribué par une société dont Victor Rusalem est le responsable. Le sujet de ce film, qui a pour titre "Pornorama" (titre
BGE 99 IV 249 S. 250
américain "infrasexum"), consiste dans les expériences tentées par un homme d'affaires américain marié pour surmonter son impuissance sexuelle. A cette occasion sont exposées sans frein diverses dépravations, ainsi que des relations sexuelles ou analogues, mettant en présence hommes et femmes ainsi que, à une reprise, deux femmes entre elles. Ici également, les partenaires sont montrés sous les angles les plus inattendus, durant de longues minutes, avec la sonorisation appropriée. Kunzi a annoncé le film "Pornorama" en précisant: "Ce titre, correspondant au film, n'a besoin d'aucun slogan!" Le film a été séquestré le 7 décembre 1971.
La publicité parue dans la presse au sujet des deux films contenait le passage suivant: "C'est un spectacle osé et réservé qu'aux esprits murs qui ne seront pas choqués, à l'exception de tous les citoyens moyens! Cour cass. TF 14.07.61 Spectateurs prévenus: Direction réfute toute responsabilité!"B. - Statuant le 6 février 1973, le Tribunal de police du district de Neuchâtel a estimé que les deux films étaient obscènes, que leur distribution, leur mise en location et leur projection réalisaient dès lors le délit de l'art. 204 CP, mais que les accusés avaient eu des raisons suffisantes de se croire en droit d'agir au sens de l'art. 20 CP. Il a donc libéré ceux-ci des fins de la poursuite pénale, mais il a ordonné la confiscation et la destruction des films.
Le recours formé par le Procureur général contre ce jugement a été rejeté par la Cour de cassation pénale du canton de Neuchâtel le 9 mai 1973.
C.-
Le Procureur général du canton de Neuchâtel se pourvoit en nullité au Tribunal fédéral; il nie l'erreur de droit. Victor Rusalem conclut au rejet du pourvoi.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Selon une jurisprudence constante, il ne suffit pas, pour bénéficier de l'art. 20 CP, d'avoir cru à l'absence d'une sanction pénale; il faut encore avoir eu de bonnes raisons d'admettre que l'on ne commettait rien de contraire au droit (RO 98 IV 303 lit. a et arrêts cités). Il a de plus été jugé que l'erreur de droit est exclue dès que l'auteur a eu le sentiment de mal agir (RO 60 I 418, 66 I 113;
70 IV 100
, 72 IV 155, 80 IV 21 et arrêts cités plus haut). Ce sentiment n'a pas à être fondé sur une appréciation juridique exacte, telle qu'on peut l'attendre du
BGE 99 IV 249 S. 251
juge (cf. RO 80 IV 21). Il suffit que l'auteur règle sa conduite d'après les conceptions communément admises par la moyenne des habitants du pays. Peu importe à cet égard que l'auteur partage ou non ces conceptions; il suffit qu'il en ait conscience (Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, vol. 4 p. 3/5; RUDOLFI, Unrechtsbewusstsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, p. 187 et citations).
Il découle de ces principes que celui qui agit conformément aux usages et aux moeurs de la communauté à laquelle il appartient peut sans plus exciper de l'erreur de droit, le cas échéant. En revanche, celui qui se rend compte, ou qui devrait se rendre compte, de la réprobation que son acte ne manquera pas de soulever en général parmi ses concitoyens, a le devoir de se renseigner. Il ne pourra dès lors se prévaloir de l'art. 20 CP que si, après les recherches appropriées, il a eu de bonnes raisons de se croire en droit d'agir, en se fondant sur des circonstances qui auraient amené un homme consciencieux et scrupuleux à faire comme lui (RO 98 IV 303 et arrêts cités). En cas de doute il doit s'enquérir auprès de l'autorité compétente ou de personnes autorisées (RO 75 IV 153, 81 IV 196, 82 IV 17).
2.
a) En l'espèce, la Cour cantonale n'a pas indiqué, sauf peut-être implicitement - mais c'est insuffisant s'agissant d'un point pertinent et important - si les intimés ont cru agir en harmonie avec les conceptions communément admises. Elle s'est limitée à examiner s'ils ont eu des motifs suffisants d'admettre que les films n'étaient pas obscènes et que "partant leur présentation publique ne tombait pas sous le coup de l'art. 204 CO". Ce faisant elle s'est fondée sur une notion erronée de l'erreur de droit, car celle-ci ne saurait porter sur l'idée que l'auteur a du caractère punissable ou non punissable de son acte. Par ailleurs, l'argumentation de l'arrêt attaqué révèle que, selon elle, lorsque l'auteur a eu, objectivement, des raisons de se tromper, cela suffit à le disculper. On a vu qu'il n'en est rien; une explication n'est pas forcément une excuse et, par ailleurs, on peut être dans le vrai alors que l'on a toutes les raisons d'errer.
b) Contrairement à ce qu'affirme l'autorité cantonale, qui n'a du reste pas statué de visu, mais en se référant à l'appréciation de la Chambre cantonale d'accusation, les films en cause sont manifestement obscènes, ainsi que l'ont relevé les premiers juges. Or l'évidence d'une violation du droit ne constitue pas
BGE 99 IV 249 S. 252
seulement un indice important de la conscience de l'illicéité (RO 78 IV 180; BGH/Str. vol. 2 p. 234; SCHWANDER, p. 99 infra); elle doit aussi inciter l'auteur à exercer une attention accrue. Les intimés ne soutiennent même pas en avoir témoigné et, pourtant, ils en avaient toutes les raisons.
Il faut constater avec le ministère public que les titres des oeuvres présentées font nettement allusion à leur caractère pornographique. A cela s'ajoute que Kunzi, dans la presse, a insisté sur l'aspect choquant de l'un des films et que, dans une autre réclame, il a affirmé que, le titre correspondant au contenu, le film n'avait besoin d'aucun slogan. Il a par ailleurs à chaque fois attiré l'attention du public en précisant qu'il s'agissait d'un "spectacle osé, réservé aux esprits mûrs" qui ne seraient pas choqués, "à l'exception de tous les citoyens moyens". Sans même relever le cynisme de ce dernier trait, on doit admettre que ces déclarations démontrent que Kunzi a compté avec la réprobation de la plus grande partie de ses concitoyens. La publicité même du film "Pornographie sans masque" fait état de ce que la femme y est représentée comme un objet de plaisir et de ce que le sujet est partout "l'objet de scandale no 1". On ne peut être plus clair. On ne comprend dès lors pas qu'il ait cité dans ses annonces un arrêt de la Cour de cassation (RO 87 IV 74, 82), qui précisément se réfère expressément aux sentiments du citoyen moyen.
L'autorité cantonale explique les déclarations de Kunzi par le souci légitime d'avertir le public du véritable contenu des films; mais elle oublie que, ce faisant, elle reconnaît la véracité de ces déclarations et des titres présentés, et par là, implicitement, la conscience que l'intimé devait avoir de l'obscénité manifeste des oeuvres en cause.
Il convient cependant d'examiner si les éléments dont les accusés disposaient pouvaient être considérés comme de bonnes raisons d'agir pour un homme scrupuleux. Il s'agit en premier lieu de l'autorisation donnée par la Direction de justice du canton de Zurich, avec des coupures il est vrai, quant aux deux films, ainsi que de la projection de ceux-ci en plusieurs endroits. On ne saurait admettre d'une manière générale ni surtout, a fortiori, dans un cas aussi flagrant, que la décision d'une autorité cantonale puisse représenter à tout coup le sentiment du public moyen des autres cantons (cf. RO 81 IV 196 i.f.). Dès lors, pour se former une opinion, les distributeurs Rusalem et
BGE 99 IV 249 S. 253
Spiegel auraient facilement pu, comme cela se fait en d'autres occasions, soumettre les films aux autorités de censure des autres cantons. Enfin, les intimés ne sauraient se prévaloir de ce que l'un des films avait déjà été projeté, impunément, au même endroit (RO 99 IV 57; considérant non publié de l'arrêt Marti du 28 mai 1971). Ils ne pouvaient dès lors être mis au bénéfice de l'erreur de droit.
L'arrêt attaqué devant être annulé, il n'est pas nécessaire d'examiner les autres questions soulevées par le recourant.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral:
Admet le pourvoi, annule l'arrêt attaqué et renvoie la cause à l'autorité cantonale pour nouvelle décision. | null | nan | fr | 1,973 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2ead7dfc-4a00-4afe-8a60-36a791c4de92 | Urteilskopf
141 II 220
16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Strassenverkehrsamt und Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_492/2014 vom 17. April 2015 | Regeste a
Art. 16c Abs. 2 SVG
; Kaskadensystem der Mindestentzugsdauern bei schweren Widerhandlungen.
Die Mindestentzugsdauern nach einer schweren Widerhandlung verfolgen nicht nur einen warnenden, sondern auch einen sichernden Zweck (E. 3.2) und gelangen unabhängig von der Art des vorangegangenen Führerausweisentzugs zur Anwendung (E. 3.3).
Regeste b
Art. 16c Abs. 1 lit. f i.V.m.
Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG
; Fahren trotz vorsorglichen Sicherungsentzugs.
Der Tatbestand des Fahrens trotz Führerausweisentzugs setzt einen vorgängigen, von der Verfahrensart unabhängigen Entzug voraus (E. 3.4). Verbindlichkeit des vorsorglichen Führerausweisentzugs im Tatzeitpunkt (E. 3.5). Keine Verrechenbarkeit der Dauer eines vorsorglichen Sicherungsentzugs mit späteren (mit der Anlasstat sachlich nicht konnexen) Warnungsentzügen (E. 4.2). | Sachverhalt
ab Seite 221
BGE 141 II 220 S. 221
A.
Mit Verfügung vom 25. April 2012 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau X. vorsorglich den Führerausweis auf unbestimmte Zeit (mit Wirkung ab dem 22. April 2012) und ordnete ein verkehrspsychologisches Gutachten zur Abklärung der charakterlichen Fahreignung an. Es entzog einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung. X. sei von mehreren Polizisten beobachtet worden, wie er sich am 22. April 2012 mit einem Kollegen auf der Bahnhofstrasse in Frauenfeld unter Missachtung der geltenden Geschwindigkeitslimiten ein Autorennen geliefert habe. Der Abstand zum vorausfahrenden Lenker sei ungenügend gewesen. Auf Passanten oder den Beifahrer sei keine Rücksicht genommen worden. In der Entzugsverfügung wurde X. das Führen von Motorfahrzeugen bis zur Abklärung der Fahreignung untersagt. Er wurde auf die straf- und administrativrechtlichen Folgen einer allfälligen Missachtung des vorsorglichen Sicherungsentzugs hingewiesen.
B.
Mit Strafbefehl vom 9. Mai 2012 sprach die Staatsanwaltschaft Frauenfeld X. der groben sowie der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln schuldig (Art. 90 Ziff. 2 bzw. Ziff. 1 SVG) und verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je Fr. 50.- und einer Busse von Fr. 600.-. Der Strafbefehl ist unangefochten in Rechtskraft erwachsen.
C.
Am 16. Mai 2013 lenkte X. - trotz vorsorglichen Sicherungsentzugs - einen auf den Namen seines Vaters zugelassenen Personenwagen. Dabei geriet er in eine Polizeikontrolle, wo er angab, er habe dringend Geld abheben müssen, um Baumaterial für eine Baustelle zu besorgen; ansonsten sei er "eigentlich nie" gefahren.
BGE 141 II 220 S. 222
D.
Am 17. Mai 2013 hiess die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen den von X. gegen den vorsorglichen Führerausweisentzug erhobenen Rekurs teilweise gut und hob die angefochtene Verfügung vom 25. April 2012 auf. Zusammengefasst erwog die Rekurskommission, die Voraussetzungen für den Erlass eines Sicherungsentzugs seien nicht erfüllt. X. habe bisher noch nie Anlass zu Administrativmassnahmen gegeben. Der Sicherungsentzug lasse sich auch nicht mit der besonderen Art oder Schwere der konkreten Verkehrsregelverletzung begründen, zumal der Strafbefehl keine Ausführungen zu einem Autorennen enthalte. Aus seinem Verhalten könne nicht zwingend auf eine besondere Rücksichtslosigkeit oder auf eine charakterliche Fehlentwicklung geschlossen werden. Die Rekurskommission ordnete aufgrund der schweren Widerhandlung und der konkreten Umstände einen rückwirkenden Warnungsentzug von vier Monaten an (vom 22. April bis zum 21. August 2012). Dieser Entscheid ist unangefochten in Rechtskraft erwachsen.
E.
Am 11. Juni 2013 erhielt X. den Führerausweis vom Strassenverkehrsamt zurück.
F.
Mit Verfügung vom 20. August 2013 entzog das Strassenverkehrsamt X. den Führerausweis für zwölf Monate wegen Führens eines Motorfahrzeuges trotz Führerausweisentzugs.
Den dagegen von X. erhobenen Rekurs wies die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen am 12. Dezember 2013 ab. Mit Urteil vom 27. August 2014 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde von X. ab.
G.
X. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Er beantragt die Aufhebung des Entscheids des Verwaltungsgerichts sowie der Verfügung vom 20. August 2013. Es seien keine Verfahrenskosten zu erheben und die anwaltliche Vertretung in den Verfahren vor sämtlichen Instanzen zu entschädigen. Sodann ersucht er um aufschiebende Wirkung. Eventualiter sei die Entzugsdauer neu auf drei Monate festzulegen bzw. von der Entzugsdauer von 12 Monaten die frühere Entzugsdauer von 9 Monaten und 20 Tagen in Abzug zu bringen, womit 2 Monate und 10 Tage verbleiben würden. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
BGE 141 II 220 S. 223
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Rechtsprechung und Lehre unterscheiden zwischen Sicherungsentzug (retrait de sécurité, revoca a scopo di sicurezza) und Warnungsentzug (retrait d'admonestation, revoca a scopo di ammonimento). Das Gesetz verwendet dagegen nur die Begriffe "Führerausweisentzug" (vgl. z.B. die Marginalien zu
Art. 16a-16d SVG
), "Ausweisentzug" (Art. 16b Abs. 2 lit. e und Art. 16c Abs. 1 lit. f, Abs. 2 lit. d und Abs. 3 SVG) oder bloss "Entzug" (vgl. z.B. die Marginalie zu
Art. 16 SVG
und
Art. 16d Abs. 2 SVG
).
3.1.1
Führerausweise sind zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (
Art. 16 Abs. 1 SVG
). Der Führerausweis wird einer Person im Rahmen eines Sicherungsentzuges auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn die Fahreignung nicht (mehr) gegeben ist, z.B. weil sie aufgrund ihres bisherigen Verhaltens nicht Gewähr bietet, dass sie künftig beim Führen eines Motorfahrzeuges die Vorschriften beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen wird (
Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG
). Durch diese Massnahmen soll die zu befürchtende Gefährdung der Verkehrssicherheit durch einen ungeeigneten Fahrzeugführer zukünftig verhindert werden (
BGE 133 II 331
E. 9.1 S. 351). Beim Sicherungsentzug ist es nicht von Bedeutung, ob die Person eine Verkehrsregel verletzt hat oder ob ein Verschulden vorliegt (
BGE 140 II 334
E. 6 S. 339 mit Hinweis). Der Sicherungsentzug stellt einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und die Privatsphäre des Betroffenen dar (
BGE 139 II 95
E. 3.4.1 S. 103 mit Hinweisen), weil dessen grundsätzliche Fahreignung zur Diskussion steht. Fehlt diese, wird der Führerausweis auf unbestimmte Zeit entzogen (
Art. 16d Abs. 1 SVG
;
BGE 133 II 331
E. 9.1 S. 351) und erst wieder bedingt und unter Auflagen wiedererteilt, wenn eine allfällige gesetzliche oder verfügte Sperrfrist abgelaufen ist und die betroffene Person die Behebung des Mangels nachweist, der die Fahreignung ausgeschlossen hat (
Art. 17 Abs. 3 SVG
). Insofern stellt der Sicherungsentzug im Vergleich zum Warnungsentzug (dazu sogleich E. 3.1.2) für Betroffene regelmässig die einschneidendere Massnahme dar.
Der Führerausweis kann bereits vor dem Abschluss eines Administrativverfahrens betreffend Sicherungsentzug vorsorglich entzogen
BGE 141 II 220 S. 224
werden. Dabei genügen Anhaltspunkte, die den Fahrzeugführer als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und "ernsthafte Zweifel" an seiner Fahreignung erwecken (Art. 30 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51; Fassung gemäss Ziff. I der Verordnung vom 29. Nov. 2013, in Kraft seit 1. Januar 2014, AS 2013 4697]; nach der vorgängigen Fassung der Verordnung genügten "ernsthafte Bedenken"). Können die notwendigen Abklärungen nicht rasch und abschliessend getroffen werden, soll der Ausweis schon vor dem Sachentscheid selber entzogen werden können und braucht eine umfassende Auseinandersetzung mit sämtlichen Gesichtspunkten, die für oder gegen einen Sicherungsentzug sprechen, erst im anschliessenden Hauptverfahren zu erfolgen (
BGE 125 II 492
E. 2b S. 491 f. mit Hinweis).
3.1.2
Der Warnungsentzug wird bei Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsvorschriften ausgesprochen, bei denen das Verfahren nach dem Ordnungsbussengesetz vom 24. Juni 1970 (SR 741.03) ausgeschlossen ist (
Art. 16 Abs. 2 SVG
). Sie dient der Besserung des Fahrers und der Bekämpfung von Rückfällen (Spezialprävention). Der Ausweisinhaber verfügt über die nötige Fahreignung (andernfalls wäre ein Sicherungsentzug anzuordnen; vgl.
BGE 131 II 248
E. 4.2 S. 250) und hat die Verkehrsverletzung fahrlässig oder vorsätzlich verschuldet (vgl.
Art. 16 Abs. 3 SVG
). Der Warnungsentzug erweist sich als eine um der Verkehrssicherheit willen angeordnete Verwaltungsmassnahme mit primär präventivem und erzieherischem Charakter, die teilweise aber auch strafähnliche Züge aufweist (
BGE 133 II 331
E. 4.2 S. 336 mit Hinweisen; vgl. auch HANS GIGER, SVG, Kommentar, 8. Aufl. 2014, N. 15 zu
Art. 16 SVG
; BERNHARD RÜTSCHE, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 32 vor
Art. 16-17a SVG
; PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2. Aufl. 2015, N. 5 ff. zu den Vorbemerkungen zu
Art. 16 ff. SVG
).
3.2
Eines der Hauptargumente des Beschwerdeführers beruht auf der Annahme,
Art. 16c SVG
gelte nur für Warnungsentzüge und
Art. 16d SVG
nur für Sicherungsentzüge. Eine solche Dichotomie gibt es in dieser strikten Form jedoch nicht. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hat
Art. 16c SVG
nicht nur warnenden (Abs. 2 lit. b und c), sondern auch sichernden Charakter (WEISSENBERGER, a.a.O., N. 2 zu
Art. 16c SVG
; CÉDRIC MIZEL, Retrait administratif du permis de conduire: le nouveau concept de
BGE 141 II 220 S. 225
récidive et la pratique des "cascades", ZStrR 126/2008 S. 324, mit weiteren Nachweisen in Fn. 28). So handelt es sich beim Führerausweisentzug auf unbestimmte Zeit bei wiederholtem Rückfall nach
Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG
um einen Sicherungsentzug, da dieser auf einer unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung der fehlenden Fahreignung nach
Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG
beruht (
BGE 139 II 95
E. 3.4.1 und 3.4.2 S. 103 f.). Gleiches gilt erst recht für den Führerausweisentzug für immer (
Art. 16c Abs. 2 lit. e SVG
). Insofern erweist sich die Behauptung, wonach Warnungs- und Sicherungsentzug in gänzlich getrennten und in sich abgeschlossenen Gesetzesbestimmungen geregelt seien, als unzutreffend.
3.3
Die Rückfallregel nach
Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG
sieht eine Mindestentzugsdauer von zwölf Monaten vor, wenn der Ausweis in den vorangegangenen fünf Jahren einmal wegen einer schweren Widerhandlung "entzogen war". Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist diese Bestimmungen nur anwendbar, wenn der vorangegangene Ausweisentzug im Verfahren des Warnungsentzugs erfolgt ist.
3.3.1
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente (sog. Methodenpluralismus, wobei die einzelnen Auslegungselemente keiner hierarchischen Prioritätsordnung unterstehen, vgl.
BGE 140 IV 28
E. 4.3.1 S. 34;
BGE 128 I 34
E. 3b S. 41 f.). Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die Entstehungsgeschichte ist zwar nicht unmittelbar entscheidend, dient aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen (
BGE 138 IV 232
E. 3 S. 234 f.;
BGE 136 I 297
E. 4.1 S. 299 f.; je mit Hinweisen).
3.3.2
Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG
setzt lediglich eine vollzogene Massnahme voraus ("entzogen war"; vgl. Urteil 1C_180/2010 vom 22. September 2010 E. 2.2). Das Gesetz verwendet die Begriffe in allen Amtssprachen einheitlich ("entzogen", "retiré", "revocata") und erlaubt keine Rückschlüsse, die sich allenfalls aus der Mehrsprachigkeit ergeben könnten. Dem offen formulierten Wortlaut lässt sich auch nicht entnehmen, ob die Verfahrensart des vorgängigen Ausweisentzugs (Warnungs- oder Sicherungsentzug) von Bedeutung ist.
3.3.3
Mit dem Ziel der Erhöhung der Verkehrssicherheit auf Schweizer Strassen sind die Administrativmassnahmen im Strassenverkehr
BGE 141 II 220 S. 226
im Rahmen der Teilrevision des Strassenverkehrsgesetzes gemäss Bundesgesetz vom 14. Dezember 2001, in Kraft seit 1. Januar 2005, sowohl gegenüber Ersttätern als auch (insbesondere) gegenüber rückfälligen Tätern teilweise massiv verschärft worden (Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes, BBl 1999 4473 ff. Ziff. 121.3; vgl.
BGE 135 II 334
E. 2.2 S. 336). Der Gesetzgeber wollte die Administrativmassnahmen im Strassenverkehr bei Rückfällen deutlich verschärfen. Personen, die wiederholt elementare Verkehrsregeln verletzen und damit das Leben anderer Verkehrsteilnehmer aufs Spiel setzen, sollen für lange Zeit (oder sogar für immer) aus dem Verkehr gezogen werden (BBl 1999 4474 Ziff. 121.3).
Das Gesetz sieht deshalb in detaillierten Vorschriften eine Vielzahl von Mindestentzugsdauern vor, die nicht unterschritten werden dürfen (
Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG
). Unterschieden wird zwischen dem Führerausweisentzug nach einer leichten, mittelschweren und schweren Widerhandlung (
Art. 16a-16c SVG
). Letztere begeht, wer z.B. durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (
Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG
) oder wer ein Motorfahrzeug trotz Ausweisentzug führt (
Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG
). Eine schwere Widerhandlung entspricht einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von
Art. 90 Ziff. 2 SVG
(
BGE 132 II 234
E. 3 S. 237). Die gesetzliche Abstufung der Mindestdauern der Ausweisentzüge bei schweren Widerhandlungen (
Art. 16c Abs. 2 lit. a-e SVG
) trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, ob bereits früher (mittelschwere oder schwere) Widerhandlungen erfolgt sind und wie weit diese zeitlich zurückliegen (so genanntes "Kaskadensystem" der Mindestentzugsdauern).
Das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach
Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG
nur anwendbar ist, wenn in den vorangegangenen fünf Jahren der Ausweis einmal wegen einer schweren Widerhandlung im Verfahren des Warnungsentzugs entzogen war, findet in den Materialien keine Stütze.
3.3.4
In systematischer Hinsicht hängt das Kaskadensystem der Mindestentzugsdauern gemäss
Art. 16a-16c SVG
einzig von der Voraussetzung ab, dass der Ausweis "entzogen war". Dies gilt insbesondere für
Art. 16c Abs. 2 SVG
und zwar unabhängig davon, ob es sich um warnende (lit. b-c) oder sichernde (lit. d-e) Massnahmen handelt (vgl. auch
Art. 16b Abs. 2 SVG
, der dieselbe Normstruktur aufweist).
BGE 141 II 220 S. 227
3.3.5
Auch die teleologische Auslegung führt zum Schluss, dass es für die Anwendung des
Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG
keine Rolle spielt, ob der vorgängige Ausweisentzug im Verfahren des Warnungs- oder Sicherungsentzugs erfolgt ist. Wenn die Norm auf Warnungsentzüge anwendbar ist, was der Beschwerdeführer nicht bestreitet, muss sie erst recht für den (in die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen regelmässig tiefer eingreifenden) Sicherungsentzug gelten (vgl. E. 3.1.1 hiervor). Es wäre mit der ratio legis, die eine Verschärfung der Administrativmassnahmen im Strassenverkehr bei Rückfällen vorsieht, auch schwer vereinbar, wenn der Betroffene im Nachhinein durch die Aufhebung des vorsorglichen Sicherungsentzugs besser gestellt würde und der erst später ausgesprochene Warnungsentzug ihm eine günstigere Ausgangssituation beim zweiten Warnungsentzugsverfahren verschaffen würde. Der für die Dauer des Sicherungsentzugs verfügte vorsorgliche Entzug des Führerausweises kann deshalb nicht als "nicht geschehen" betrachtet werden. Der vorsorgliche Sicherungsentzug soll gewährleisten, dass mutmasslich nicht (mehr) fahrgeeignete Personen bis zur rechtskräftigen Abklärung der Fahreignung nicht am motorisierten Strassenverkehr teilnehmen. Dieser gesetzliche Zweck würde vollständig unterlaufen, wenn der vom vorsorglichen Führerausweisentzug Betroffene diese vorläufige Sicherungsmassnahme folgenlos missachten könnte, weil er auf einen günstigen Ausgang des hängigen Hauptverfahrens hofft (so bereits Urteil 1C_526/2012 vom 24. Mai 2013 E. 4).
3.3.6
Im Ergebnis gelangt das Kaskadensystem der Mindestentzugsdauern nach einer schweren Widerhandlung (
Art. 16c Abs. 2 SVG
) unabhängig von der Art des vorangegangenen Führerausweisentzugs zur Anwendung. Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob es sich beim vorgängigen Entzug um einen (vorsorglichen) Sicherungs- oder Warnungsentzug gehandelt hat.
3.4
3.4.1
Nach
Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG
muss in den vorausgegangenen fünf Jahren der Ausweis "wegen einer schweren Widerhandlung" entzogen worden sein (der Tatbestand der mittelschweren Widerhandlung ist hier ohne Belang). Der Beschwerdeführer bringt vor, bis zur Fahrt vom 16. Mai 2013 habe keine schwere Widerhandlung vorgelegen.
3.4.2
Der Beschwerdeführer musste sich nach dem Vorfall vom 22. April 2012 bewusst gewesen sein, dass diese Verfehlung als
BGE 141 II 220 S. 228
schwere Widerhandlung qualifiziert werden und daher zwingend einen Führerausweisentzug zur Folge haben würde.
Zwar trifft es zu, dass im Strafbefehl vom 9. Mai 2012 nicht mehr von einem Autorennen die Rede ist und auch der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit gegenüber Passanten und dem Beifahrer nicht mehr thematisiert wird. Dennoch wird festgehalten, der Beschwerdeführer sei "mit allermindestens 70 km/h" auf der Bahnhofstrasse in Frauenfeld gefahren, wobei der Abstand zu dem vor ihm fahrenden Kollegen nur ca. fünf bis zehn Meter betragen habe. Zudem habe er den Personenwagen beschleunigt, ohne in einen höheren Gang zu schalten, wodurch er unnötig Lärm erzeugt habe.
Gestützt auf diesen Sachverhalt wurde der Beschwerdeführer unter anderem der groben Verletzung der Verkehrsregeln für schuldig befunden (
Art. 90 Ziff. 2 SVG
), was verwaltungsmassnahmerechtlich einer schweren Widerhandlung entspricht (
BGE 132 II 234
E. 3 S. 237). Dieser Strafbefehl ist in Rechtskraft erwachsen. Das Amt erachtete die Vorgänge des 22. April 2012 aber nicht nur als ausreichenden Anlass für die Anordnung eines Warnungsentzugs wegen einer schweren Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. a i.V.m.
Art. 16c Abs. 2 lit. a SVG
), sondern vermutete zusätzlich ernsthafte Zweifel an der Fahreignung wegen Verkehrsregelverletzungen, die auf Rücksichtslosigkeit schliessen lassen (
Art. 15d Abs. 1 lit. c SVG
). Deshalb ordnete das Amt einen vorsorglichen Entzug an. Auch wenn sich dieser Vorwurf im Laufe des Verfahrens nicht erhärtete, konnte der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Fahrt ohne Berechtigung vom 16. Mai 2013 nicht davon ausgehen, dass die Vorgänge vom 22. April 2012 unberücksichtigt und sanktionslos bleiben würden (vgl. auch die Aussage des Vaters des Beschwerdeführers anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 16. Mai 2013, wonach er seinem Sohn "schon hundert Mal gesagt habe, dass er nicht fahren dürfe"). Vielmehr musste der Beschwerdeführer davon ausgehen, als Rückfalltäter zu gelten, zumal ein Sicherungsentzug (unabhängig davon, ob er endgültig oder vorsorglich erlassen wurde) im Vergleich zum Warnungsentzug eine schwerer wiegende Massnahme darstellt und der Tatbestand des Fahrens trotz Führerausweisentzugs begriffsnotwendig einen vorgängigen Entzug - und zwar unabhängig von der Verfahrensart (so auch RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. III: Die Administrativmassnahmen, 1995, N. 2490) - voraussetzt.
BGE 141 II 220 S. 229
Aus diesen Gründen beträgt die Mindestentzugsdauer zwölf Monate (Art. 16c Abs. 1 lit. f i.V.m.
Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG
). Der Antrag des Beschwerdeführers auf Neufestlegung der Entzugsdauer auf drei Monate ist daher abzuweisen.
3.5
In seiner Eventualbegründung macht der Beschwerdeführer geltend, der Tatbestand des Fahrens eines Motorfahrzeugs trotz Ausweisentzugs (
Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG
) sei nicht erfüllt, weshalb der Entzug des Führerausweises gänzlich ausser Betracht falle. Im Zeitpunkt des Vorfalls vom 16. Mai 2013 habe nämlich gar kein Führerausweisentzug mehr bestanden, da der von der Rekurskommission nachträglich angeordnete Warnungsentzug vom 22. April bis zum 21. August 2012 gedauert habe.
Nach der Rechtsprechung ist der vorsorgliche Führerausweisentzug im Tatzeitpunkt verbindlich und zieht bei Missachtung die Folgen von Art. 16c Abs. 1 lit. f und Abs. 2 lit. c SVG mit sich (Urteil 1C_526/2012 vom 24. Mai 2013 E. 4). Der Beschwerdeführer unterstand am 16. Mai 2013 noch immer dem vorsorglichen Führerausweisentzug vom 25. April 2012. Die Verbindlichkeit des Fahrverbots während der Dauer des vorsorglichen Entzugs war unmissverständlich gegeben, zumal die notwendigen Abklärungen zur Fahreignung noch nicht abgeschlossen waren. Der Beschwerdeführer wurde in der Entzugsverfügung deutlich auf die straf- und administrativmassnahmerechtlichen Folgen des Fahrens trotz Führerausweisentzuges hingewiesen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann somit der für die Dauer des Sicherungsentzugsverfahrens verfügte vorsorgliche Entzug des Führerausweises im Nachhinein nicht als "nicht geschehen" betrachtet werden.
4.
4.1
Der Beschwerdeführer bringt vor, der vorsorgliche Sicherungsentzug habe insgesamt 13 Monate und 20 Tage gedauert (von der Anlasstat des 22. April 2012 bis zur Rückgabe des Führerausweises am 11. Juni 2013). Damit seien die Taten vom 22. April 2012 und vom 16. Mai 2013 wohl ausreichend sanktioniert worden. Sollte zur Entzugsdauer von vier Monaten (für die Fahrt vom 22. April 2012) noch die Mindestentzugsdauer von zwölf Monaten hinzukommen (für die Fahrt vom 16. Mai 2013), verbliebe eine restliche Entzugsdauer von zwei Monaten und zehn Tagen (16 Monate abzüglich der 13 Monate und 20 Tage). Dies wäre für den Beschwerdeführer trotz aller Unannehmlichkeiten noch erträglicher als ein neuerlicher Führerausweisentzug für die Dauer von zwölf Monaten.
BGE 141 II 220 S. 230
4.2
4.2.1
Auch wenn es vom Beschwerdeführer anders empfunden wird, stellt der vorsorgliche Sicherungsentzug aus juristischer Sicht keine Sanktion dar (E. 3.1.1 hiervor; Urteil 1C_520/2013 vom 17. September 2013 E. 3.2). Diese Verwaltungsmassnahme bezweckt einzig den Schutz der Verkehrssicherheit durch provisorische Fernhaltung von möglicherweise ungeeigneten Lenkern (Urteil 1C_219/2011 vom 30. September 2011 E. 2.1). Der vorsorgliche Ausweisentzug soll den Behörden Zeit geben, um die Entscheidgrundlagen für die Beurteilung der vermuteten Eignungsmängel sowie für den Entscheid über einen definitiven Sicherungsentzug zu beschaffen. Aufgrund des möglicherweise drohenden Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person ist eine sorgfältige und teilweise zeitintensive Sachverhaltsabklärung vorzunehmen (
BGE 133 II 384
E. 3.1 S. 387 f.; vgl. auch
Art. 28a VZV
, wonach Fahreignungsgutachten nur von Ärzten oder Psychologen mit Fachtitel erstellt werden können). Nur wenn sich die Anhaltspunkte oder der Anfangsverdacht für einen Fahreignungsmangel nicht bestätigen, kommt es anschliessend zum Erlass eines Warnungsentzugs aufgrund einer konkreten Verkehrsregelverletzung. Dabei kann es vorkommen, dass der effektive Führerausweisentzug im Verfahren des vorsorglichen Sicherungsentzugs länger dauert als die für die tatsächlich begangene Verkehrsregelverletzung vorgesehene Warnungsentzugsdauer.
4.2.2
Die längere Dauer des vorsorglichen Sicherungsentzugsverfahrens lässt kein "Guthaben an Entzugsmonaten" entstehen, das mit späteren (mit der Anlasstat sachlich nicht konnexen) Warnungsentzügen verrechnet werden könnte. Abgesehen davon, dass es für die "Zeitgutschriftenthese" des Beschwerdeführers im Strassenverkehrsrecht keine gesetzliche Grundlage gibt (eine analoge Anwendung von
Art. 51 StGB
wird von ihm nicht verlangt und liegt auch nicht nahe), könnte sich die betroffene Person eine günstigere Ausgangssituation beim zweiten Warnungsentzugsverfahren verschaffen, was mit der ratio legis nicht vereinbar wäre (vgl. E. 3.3.5 hiervor) und falsche Anreize schaffen würde (indem z.B. eine Person, die noch über eine "verrechenbare Zeitgutschrift" aus einem vorsorglichen Sicherungsentzug verfügt, diese straflos für neue SVG-Delikte benutzen könnte).
4.2.3
Dass der rechtmässig verfügte vorsorgliche Sicherungsentzug länger dauerte als der anschliessend verfügte rückwirkende Warnungsentzug, ist demnach rechtlich nicht zu beanstanden und führt zu keinen Zeitkompensationsansprüchen für neue
BGE 141 II 220 S. 231
Warnungsentzüge. Daraus folgt, dass der von der Rekurskommission ausgesprochene und rechtskräftige Warnungsentzug für vier Monate wegen der groben Verkehrsregelverletzung vom 22. April 2012 am selbigen Tag begonnen und am 22. August 2012 geendet hat; er ist somit verbüsst. Dagegen fällt eine Anrechnung der gestützt auf
Art. 30 VZV
darüber hinaus verbliebenen Entzugsdauer von 9 Monaten und 20 Tagen (tatsächliche Entzugsdauer von 13 Monaten und 20 Tagen abzüglich 4 Monate Warnungsentzug für die Verkehrsregelverletzung vom 22. April 2012) auf den hier angefochtenen Warnungsentzug von 12 Monaten für den Vorfall vom 16. Mai 2013 ausser Betracht. | public_law | nan | de | 2,015 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2eb8ed82-b972-402e-880e-7d3afddb493b | Urteilskopf
138 III 702
106. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. Versicherung AG gegen Y. Versicherung (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_277/2012 / 4A_217/2012 vom 9. Oktober 2012 | Regeste
Anwendungsbereich des Rechtsbehelfs nach
Art. 51 Abs. 1 ZPO
.
Intertemporalrechtliche Anwendbarkeit nach
Art. 404 Abs. 1 und
Art. 405 Abs. 1 ZPO
. Zeitlicher Anwendungsbereich im Verlauf des Prozesses (
Art. 51 Abs. 3 ZPO
; E. 3.2 und 3.4). | Erwägungen
ab Seite 702
BGE 138 III 702 S. 702
Aus den Erwägungen:
3.
3.2
Die Vorinstanz verneinte die intertemporalrechtliche Anwendbarkeit von
Art. 51 ZPO
(SR 272). Sie vermochte daher den Mangel des Vorentscheids vom 1. März 2012 infolge der Mitwirkung des befangenen Handelsrichters Hablützel nicht gestützt auf diese Bestimmung zu beheben. Sie hielt dazu zunächst zutreffend und
BGE 138 III 702 S. 703
unangefochten fest, auf das vorliegende, am 21. Mai 2010 eingeleitete Verfahren sei nach
Art. 404 Abs. 1 ZPO
bis zum Endentscheid, der das vorinstanzliche Verfahren abschliesst, das frühere kantonale Prozessrecht und nicht die ZPO (einschliesslich deren Art. 51) anwendbar (vgl. dazu
BGE 138 I 1
E. 2.1 S. 2 f.). Sodann prüfte die Vorinstanz, ob die Anwendung von
Art. 51 ZPO
auf
Art. 405 Abs. 1 ZPO
gestützt werden könnte, wonach für die Rechtsmittel das Recht gilt, das bei der Eröffnung des Entscheides in Kraft ist. Sie anerkannte zwar, dass diese Bestimmung auf alle Arten von Rechtsmitteln, namentlich auch auf Rechtsbehelfe anwendbar sei. Erfasst seien indessen nur die unter dem 9. Titel der ZPO ("Rechtsmittel") genannten Rechtsbehelfe, weshalb ein Gesuch nach
Art. 51 ZPO
nicht darunterfalle.
(...)
3.4
Der Wortlaut von
Art. 405 Abs. 1 ZPO
spricht von "Rechtsmitteln" gegen einen eröffneten "Entscheid". Rechtsmittel im Sinne dieser Bestimmung richten sich damit gegen einen gerichtlichen Entscheid, mithin gegen einen formellen Entscheid des Gerichts, wenn von der Möglichkeit einer Rechtsverzögerungsbeschwerde gegen einen Nichtentscheid nach
Art. 319 lit. c ZPO
abgesehen wird (vgl. FREI/WILLISEGGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, N. 6 f. zu
Art. 405 ZPO
). Als Rechtsmittel in diesem Sinn werden in der Lehre die im 9. Titel der ZPO (Art. 308 ff.) aufgeführten Rechtsmittel bzw. Rechtsbehelfe der Berufung, der Beschwerde, der Erläuterung und der Berichtigung genannt (FREI/WILLISEGGER, a.a.O., N. 6 zu
Art. 405 ZPO
; DENIS TAPPY, in: CPC, Code de procédure civile commenté, François Bohnet und andere [Hrsg.], 2011, N. 3 zu
Art. 405 ZPO
; FREIBURGHAUS/AFHELDT, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2010, N. 7 ff. zu
Art. 405 ZPO
). Im Gegensatz zu Rechtsmitteln in diesem Sinn kann sich ein Aufhebungsantrag nach
Art. 51 Abs. 1 ZPO
gegen Amtshandlungen schlechthin richten, d.h. auch gegen Prozesshandlungen des Gerichts, die nicht in einem formellen Entscheid ergangen und eröffnet worden sind, wie z.B. die Einvernahme von Zeugen. Bei solchen handelt es sich um Realakte, bei denen der einzuschlagende Rechtsweg nicht immer einfach und klar vorgegeben ist, da eigentliche Rechtsmittel regelmässig eine Verfügung oder einen Erlass als Anfechtungsobjekt voraussetzen (vgl.
BGE 128 I 167
E. 4.5 S. 174;
BGE 121 I 87
E. 1b S. 91).
BGE 138 III 702 S. 704
Bei
Art. 51 Abs. 1 ZPO
handelt es sich um eine Spezialbestimmung, welche die Aufhebung und Wiederholung von Amtshandlungen im weitesten Sinn ermöglicht, wenn ein Ausstandsgrund vor Abschluss bzw. während des laufenden Verfahrens vor der betreffenden Instanz entdeckt wird (
Art. 51 Abs. 3 ZPO
e contrario), und die für diesen Fall die Geltendmachung des Ausstandsgrundes mittels Anfechtung eines Zwischenentscheides mit einem Rechtsmittel im eigentlichen Sinn ausschliesst. Die Ergreifung eines Rechtsmittels im Sinne von
Art. 405 Abs. 1 ZPO
kommt in zutreffender Auslegung von
Art. 51 Abs. 3 ZPO
zur Geltendmachung eines Ausstandsgrunds nur dann in Betracht, wenn der Ausstandsgrund nach Abschluss des Verfahrens vor der betreffenden Instanz (mithin nach Ergehen eines formellen Endentscheids), aber vor Ablauf der Rechtsmittelfrist, also vor der Rechtskraft des Entscheids entdeckt wird (Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006 7221 ff., 7273 Ziff. 5.2.3 zu Art. 49 E-ZPO; TAPPY, a.a.O., N. 3 und 15 f. zu
Art. 51 ZPO
; STEPHAN WULLSCHLEGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2010, N. 10 zu
Art. 51 ZPO
; MARK LIVSCHITZ, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 6 zu
Art. 51 ZPO
).
Die Vorinstanz verneinte damit zutreffend, dass
Art. 51 Abs. 1 ZPO
im vorliegenden Fall gestützt auf
Art. 405 Abs. 1 ZPO
angewendet werden kann. Da auf das Verfahren vor Handelsgericht im Übrigen das bisherige kantonale Prozessrecht anwendbar bleibt (
Art. 404 Abs. 1 ZPO
), fällt eine Anwendung von
Art. 51 ZPO
auch insoweit ausser Betracht.
3.5
Die Beschwerde 4A_277/2012 ist somit abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Nach dem Dargelegten fällt eine Aufhebung des Vorentscheids vom 1. März 2012 gestützt auf
Art. 51 Abs. 1 ZPO
intertemporalrechtlich ausser Betracht. Im Folgenden ist daher die gegen den Vorentscheid vom 1. März 2012 gerichtete Beschwerde 4A_217/2012 zu prüfen.
Für die verfassungsrechtlichen Aspekte dieses Urteils siehe die in
BGE 138 I 406
publizierten E. 5.3 und 5.4 S. 407 ff. | null | nan | de | 2,012 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2eba07f4-62b0-4472-b6ca-46f76adf44bb | Urteilskopf
84 II 653
87. Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. Dezember 1958 i.S. Strässle Söhne & Co. gegen Polstermöbel und Matratzen Uster GmbH. | Regeste
Modellschutz, Erfordernis der Neuheit.
Art. 12 Ziff. 1 MMG
.
Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage (Erw. 1).
Begriff der Neuheit (Erw. 2).
Anwendung des rechtlich massgebenden Neuheitsbegriffs auf den konkreten Streitfall (Erw. 3-5). | Sachverhalt
ab Seite 654
BGE 84 II 653 S. 654
A.-
Die Firma Strässle Söhne & Co., Polstermöbel, hinterlegte am 27. April 1955 beim eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum unter Nr. 88 931 eine Anzahl Modelle für Möbel, unter anderm das Modell eines Lehnstuhls mit der Katalog-Nr. 4501 und eines Sofas Nr. 4503.
Am 1. November 1955 hinterlegte sie ferner unter Nr. 89 647 das Lehnstuhl-Modell Nr. 101 und das Sofa-Modell Nr. 103.
Die Firma Polstermöbel und Matratzen Uster G.m.b.H. brachte Lehnstühle und Sofas auf den Markt, die nach der Ansicht der Firma Strässle unzulässige Nachahmungen der von ihr hinterlegten Modelle darstellten; insbesondere betrachtet sie die Katalog-Nr. Uster 850/1 als Nachahmung ihrer Modelle 4501/03 und die Modelle Uster 905/6 als Nachahmung ihrer Modelle 101/03.
B.-
Am 28. November 1956 erhob die Firma Strässle wegen der nach ihrer Auffassung durch die Beklagte begangenen Modellnachahmungen Feststellungs-, Unterlassungs- und Schadenersatzklage; ferner verlangte sie die Verurteilung der Beklagten zur Abänderung, eventuell Vernichtung der vorhandenen Nachahmungen, zur Vernichtung des Werbematerials für diese und zur Veröffentlichung des Urteilsdispositivs.
Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage. Sie bestritt das Vorliegen von Nachahmungen und machte überdies geltend, die Hinterlegungen der Klägerin seien mangels Neuheit ungültig.
C.-
Das Handelsgericht Zürich wies mit Urteil vom 27. Mai 1957 die Klage im vollen Umfang ab. Es verneinte schon eine Verletzung der Modelle der Klägerin durch Nachahmung und liess demgemäss die Frage der Gültigkeit der Hinterlegungen der Klägerin ungeprüft.
D.-
Auf Berufung der Klägerin hin hob das Bundesgericht mit Urteil vom 17. Dezember 1957 (
BGE 83 II 475
ff.) den Entscheid des Handelsgerichts auf. Im Gegensatz
BGE 84 II 653 S. 655
zu diesem entschied das Bundesgericht, dass die beanstandeten Sessel und Sofas der Beklagten Nachahmungen der von der Klägerin hinterlegten Modelle seien. Es wies daher die Sache zur Prüfung der Neuheit der klägerischen Modelle und gegebenenfalls zur Beurteilung der verschiedenen Klagebegehren der Klägerin an die Vorinstanz zurück.
E.-
Mit Urteil vom 30. Juni 1958 verneinte das Handelsgericht Zürich auf Grund der im früheren Verfahren vorgelegten Akten, ohne weitere Beweismassnahmen, die Neuheit aller vier streitigen Modelle der Klägerin und wies die Klage erneut ab.
F.-
Mit der vorliegenden Berufung beantragt die Klägerin wiederum Schutz ihrer vor der kantonalen Instanz gestellten Klagebegehren, eventuell nochmalige Rückweisung der Sache an die Vorinstanz.
Die Beklagte ersucht um Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils; eventuell, für den Fall, dass die Berufung grundsätzlich als begründet erachtet werden sollte, beantragt die Beklagte, die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen zur Abnahme der von ihr anerbotenen Beweise der Nicht-Neuheit der klägerischen Modelle, welche die Vorinstanz als überflüssig erachtet hatte.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Dem Bundesgericht steht lediglich die Prüfung von Rechtsfragen zu. Es ist deshalb in erster Linie abzuklären, inwieweit die Frage der Neuheit eines Modells Tatfrage und inwieweit sie Rechtsfrage ist. Tatfrage ist, was im Zeitpunkt der Hinterlegung (27. April bezw. 1. November 1955) im Inland bekannt war an Modellen oder Vorlagen, die sich nach ihrer äusseren Formgebung mit den streitigen Modellen irgendwie vergleichen lassen. Ob dagegen das derart Vorbekannte (das Vergleichsmaterial) im Sinne des MMG als neuheitsschädlich zu gelten habe, ist Rechtsfrage; denn der von Art. 12 und auch von
BGE 84 II 653 S. 656
Art. 6 MMG
verwendete Begriff der Neuheit ist ein Rechtsbegriff.
2.
Es ist daher zu untersuchen, was das MMG unter Neuheit eines Musters oder Modells versteht und ob die streitigen Modelle als neu zu gelten haben, wenn man sie an Hand des bundesrechtlichen Begriffs der Neuheit beurteilt.
a) Wer wie die Beklagte die Neuheit der streitigen Modelle bestreitet, hat den Beweis für das Nichtvorhandensein der Neuheit zu leisten. Denn gemäss
Art. 6 MMG
begründet die Tatsache der Hinterlegung eines Musters oder Modells eine (widerlegbare) Vermutung der Neuheit und der Richtigkeit der angegebenen Urheberschaft (
BGE 80 II 361
).
b) Nach
Art. 12 Ziff. 1 MMG
gilt ein Muster oder Modell als neu, solange es weder im Publikum noch in den beteiligten Verkehrskreisen bekannt ist. Damit ist die sog. formelle Neuheit gemeint, das bisherige Nichtbekanntsein des Modells in den genannten Kreisen des Inlands. Auf diese nämlich kommt es gemäss dem im schweizerischen Muster- und Modellrecht nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich geltenden Territorialitätsprinzip an (
BGE 59 II 199
Erw. 2).
c) Im weitern fragt sich, ob das formell neue Modell, um schutzfähig zu sein, auch materiell neu, d.h. unter dem Gesichtspunkt seiner Formgestaltung originell (eigenartig), in gewissem, wenn auch bescheidenem Ausmass Ausdruck einer schöpferischen Idee sein müsse.
Das erste schweizerische MMG vom Jahre 1888 (AS 11 S. 73 ff.) gewährte in Art. 1 den Rechtsschutz nur den "neuen" Mustern und Modellen. Im Gegensatz zu den Gewerbe- und Industriekreisen leitete das Bundesgericht daraus ab, das Muster müsse Originalität im Sinne einer auf besonderer Geistestätigkeit beruhenden Arbeit aufweisen, müsse also in gewissem Ausmass eine selbständige, originelle geistige Schöpfung darstellen (BGE 23 S. 1865 Erw. 3, S. 1193; 20 S. 1152 Erw. 4). Damit bekannte sich
BGE 84 II 653 S. 657
das Bundesgericht zum Erfordernis der materiellen Neuheit eines Musters.
Diesem Streit wollte der Gesetzgeber anlässlich der Revision des MMG ein Ende setzen, und zwar durch Ablehnung der vom Bundesgericht vertretenen Auffassung. Daher wurde in Art. 1 des revidierten, heute geltenden MMG das Wort "neu" gestrichen. Demgemäss spricht
Art. 1 MMG
nicht mehr von "neuen Mustern und Modellen", sondern lediglich noch von "Mustern und Modellen". Ferner wurde in
Art. 12 Ziff. 1 MMG
der Zusatz aufgenommen: "Ein Muster oder Modell gilt nach diesem Gesetz als neu, solange es weder im Publikum noch in den beteiligten Verkehrskreisen bekannt ist". Hiezu bemerkte die Botschaft des Bundesrates:
"Ziff. 1 enthält zugleich eine klare und unzweideutige Definition des Begriffes der Neuheit, die um so notwendiger ist, als damit entsprechend den Anschauungen der beteiligten Industrie- und Gewerbekreise ausdrücklich die Auffassung des Bundesgerichts, nach der im Moment der Neuheit die Originalität im Sinne einer auf besonderer Geistestätigkeit ruhenden Arbeit enthalten sein soll, abgelehnt wird" (BBl 1899 V S. 620).
Hieraus erklärt sich, dass in
BGE 29 II 362
in der Inhaltsangabe des Urteils gesagt wurde, unter Neuheit im Sinne von
Art. 12 Ziff. 1 MMG
sei "lediglich das Nichtbekanntsein im Publikum oder in den gewerblichen Kreisen zu verstehen; ein schöpferischer Gedanke ist nicht erforderlich". Dementsprechend wurde im Urteilstext (S. 366 f.) ausgeführt, der Einwand der Nichtneuheit im Sinne des Nichtvorhandenseins eines eigentümlichen, individuellen Geistesproduktes finde im neuen MMG keinen Boden mehr; das neue Gesetz habe mit vollem Bewusstsein die Erörterung der Frage, ob Neuheit in diesem Sinne vorliege, abgeschnitten. Diese Gesetzesänderung erkläre sich leicht aus praktischen Bedürfnissen, da die Untersuchung darüber, ob ein hinterlegtes Muster eine eigentümliche Geistesschöpfung sei, grosse Schwierigkeiten biete, während mit der neuen Begriffsbestimmung der Neuheit ein einfacher, objektiver Massstab gegeben sei,
BGE 84 II 653 S. 658
welcher der Natur des Musterschutzes auch vollständig entspreche.
Entgegen der in diesem Entscheid geäusserten Ansicht war aber damit der Streit über die Frage, ob und inwieweit materielle Neuheit nicht ein begriffliches Erfordernis des gewerblichen Musters oder Modells oder eine Voraussetzung seiner Schutzfähigkeit sei, in Wirklichkeit nicht aus der Welt geschafft. In
BGE 31 II 752
und
BGE 38 II 716
wurde zwar wiederum erklärt, zur Neuheit im Sinne des rev. MMG bedürfe es keiner schöpferischen Tätigkeit, aber doch dazu bemerkt, es genüge ein origineller ästhetischer Effekt. In
BGE 69 II 430
sodann wurde entschieden, die Flasche, für welche Modellschutz beansprucht wurde, sei zwar hübsch und gefällig, entbehre aber in der Formgebung dessen, was schon technisch für eine Flasche nötig ist, der Originalität und Neuheit, weil sie lediglich auf der Hand liegende Ausschmückungen aufweise. Damit war man wieder beim Erfordernis der Originalität (im Gegensatz zu dem auf der Hand Liegenden) angelangt.
So kommt denn auch TROLLER (Der schweizerische gewerbliche Rechtsschutz, 1948, S. 91) zur Auffassung, materielle Neuheit sei Voraussetzung der Schutzfähigkeit, und erklärt, indem das Bundesgericht in seinem oben erwähnten Entscheid Originalität und ebenfalls eine gewisse über das Nächstliegende hinausgehende Formgebung verlange, mache es die schöpferische, formgestaltende Idee zum Kriterium der Schutzwürdigkeit und Neuheit (im gleichen Sinne ferner TROLLER, Schweiz. Mitteilungen über gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, 1950, S. 184).
Das Handelsgericht Zürich lehnte die Auffassung TROLLERS in einem Urteil vom 28. November 1952 (BlZR 53 Nr. 30 und Schweiz. Mitteilungen 1954 S. 122 ff.) dagegen ab und führte aus:
"Nach Lehre und Rechtsprechung bedarf es ... lediglich einer "gewollten Form", ohne dass in dieser eine neue schöpferische Idee zum Ausdruck kommen müsste (
BGE 29 II 362
,
BGE 31 II 752
,
BGE 38 II 716
,
BGE 56 II 74
... ). Ist demnach eine eigene schöpferische Geistestätigkeit nicht notwendig, so kann auch nicht zwischen
BGE 84 II 653 S. 659
äusseren Formgebungen unterschieden werden, bei denen die schöpferische Tätigkeit zu bescheiden sei, und solchen, bei denen sie ein erforderliches Mindestmass erreiche, wie dies im Patentrecht bei Beurteilung der Erfindungshöhe und im Urheberrecht beim Begriff des Werkes der Literatur und Kunst der Fall ist. ...
Modelle dieser Art sind daher stets schutzfähig, sofern das Erfordernis der Neuheit gegeben ist. Die Frage, ob sie die erforderliche Originalität besitzen, stellt sich demnach lediglich im Rahmen der Beurteilung, ob sie die im Verhältnis zu schon bestehenden Modellen erforderliche Unterscheidbarkeit aufweisen, nicht aber hinsichtlich ihrer Formgebung überhaupt. ... Dabei ist die Frage der Bekanntheit oder formellen Neuheit von der Frage ihrer Unterscheidbarkeit oder materiellen Neuheit zu unterscheiden, und beide Fragen sind jeweils getrennt zu prüfen. Die Frage der materiellen Neuheit erhebt sich jedoch nur, wenn nachgewiesen ist, dass ein Vergleichsmodell im Zeitpunkte der Hinterlegung bereits vorbekannt war."
Aus den vorstehenden Ausführungen ist ersichtlich, dass der Begriff "materielle Neuheit" vom Handelsgericht Zürich (gleich wie von DÜRR, Muster- und Modellschutz, 1951, S. 15) in einem andern Sinne verwendet wird, als in
BGE 69 II 430
und auch bei TROLLER. Zudem wird als letztes Bundesgerichtsurteil dasjenige in
BGE 56 II 74
erwähnt, während das Bundesgericht in verschiedenen späteren Urteilen einen abweichenden Standpunkt eingenommen hat. Nach dieser im Rückweisungsentscheid (
BGE 83 II 477
f.) zusammengefassten neueren Rechtsprechung braucht ein Muster oder Modell, um schutzfähig zu sein, zwar nicht das Ergebnis einer eigentlichen schöpferischen Tätigkeit darzustellen, es muss aber immerhin eine gewisse, auf den Schönheitssinn ausgerichtete Originalität aufweisen und damit ein Mindestmass an schöpferischer Idee erkennen lassen, die ihm einen individuellen Charakter, ein kennzeichnendes Gepräge verleiht, sodass die Formgebung nicht im Nächstliegenden haften bleibt.
d) An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Das Schöpferische (auch wenn es nur in einem Mindestmass verlangt wird) gehört zum Wesen des Musters oder Modells und ist die letzte Rechtfertigung für die Gewährung eines besonderen Rechtsschutzes. Davon kann man nicht abweichen, und der Gesetzgeber befand sich bei der Schaffung des heutigen MMG in einem Irrtum, wenn er geglaubt hat,
BGE 84 II 653 S. 660
mit der Definition der Neuheit in
Art. 12 Ziff. 1 MMG
sei die Streitfrage über das "Schöpferische" im Muster- und Modellschutzrecht für alle Zeiten entschieden und gegenstandslos. Dieser Versuch des Gesetzgebers scheitert am Wesen des Musters und Modells und er übersieht die letzte Rechtfertigung des Muster- und Modellschutzes. Schon die Notwendigkeit, das Schützenswerte vom Nichtschützenswerten, das Eigentümliche, Individuellschöpferische vom Nichtindividuellen und vom Unschöpferischen (dem im Nächstliegenden stecken Bleibenden) zu unterscheiden, bestätigt, dass man ohne diesen Gesichtspunkt nicht auskommen kann.
Ob man das Erfordernis einer gewissen, auf den Schönheitssinn gerichteten Originalität und damit das Erfordernis eines Mindestmasses an schöpferischer Idee als Begriffserfordernis des Musters oder Modells bezeichnet oder als Voraussetzung der Schutzfähigkeit, ist gleichgültig. Gleichgültig ist auch, ob man dieses Erfordernis als "materielle Neuheit" bezeichnet oder ob man (zur Verhütung von Missverständnissen) diese Bezeichnung vermeidet. Entscheidend ist, dass man dieses Erfordernis im umschriebenen Sinn anerkennt, wie es
BGE 83 II 477
f. getan hat. Wenn das angefochtene Urteil aber sagt: "Das schweizerische Recht fordert, wie das Bundesgericht in seinem Rückweisungsentscheid ebenfalls festgestellt hat, ... freilich für die Schutzfähigkeit eines Modelles keine schöpferische Tätigkeit", so reisst es damit einen Satz aus dem Zusammenhang, der als Ganzes betrachtet einen anderen Sinn ergibt. Das angefochtene Urteil kommt dann allerdings der richtigen Auffassung doch wieder näher, wenn es weiter ausführt, es liege jedoch "im Wesen des Muster- und Modellschutzes, dass er nur dann bestehen kann, wenn gegenüber dem Vorbekannten eine neuartige geschmackliche Wirkung erzielt wird". Der Grund hiefür kann eben nur in jener gewissen Originalität, in jenem Mindestmass von schöpferischer Idee liegen, welche nach dem in
BGE 83 II 477
f. Gesagten erforderlich ist.
Für den vorliegenden Fall hat das Bundesgericht im
BGE 84 II 653 S. 661
genannten Rückweisungsurteil entschieden, dass die klägerischen Modelle diesem Erfordernis (gewisse Originalität, Mindestmass an schöpferischer Idee) grundsätzlich entsprechen, aber nur unter dem Vorbehalt, dass die Abklärung der Frage der Neuheit nicht etwas anderes ergebe. Den von der Klägerin hinterlegten Modellen würde nämlich diese Originalität nicht nur dann abgehen, wenn das Publikum und die beteiligten Verkehrskreise des Inlandes (Entwerfer, Fabrikanten usw.) sie im Zeitpunkt der Hinterlegung bereits kannten, sondern überdies dann, wenn ihnen auch bloss ähnliche Modelle bekannt waren, denen gegenüber die Besonderheiten der klägerischen Modelle nicht mehr jenes Mindestmass von schöpferischer Idee aufwiesen, das nach dem Gesagten in jedem Falle Voraussetzung der Schutzfähigkeit eines Modells ist.
e) Im Zusammenhang mit der Frage der Neuheit (in formeller wie in materieller Hinsicht) bleibt noch als letzter allgemeiner Gesichtspunkt derjenige nach dem Vergleichsmassstab festzulegen. In
BGE 83 II 482
ff. wurde eingehend dargelegt, dass es bei der Vergleichung hinterlegter Modelle mit angeblichen Nachahmungen entscheidend auf den Gesamteindruck ankomme und dass für den Betrachter vor allem die Gemeinsamkeiten der Formgebung wesentlich seien; belanglos seien insbesondere solche Unterschiede und Abweichungen, welche nur bei besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen werden können. Dasselbe gilt naturgemäss auch bei der Prüfung der Neuheit (im formellen wie im materiellen Sinn), also bei dem Nebeneinanderstellen von Vorbekanntem und hinterlegten Mustern oder Modellen. Hierin ist der Vorinstanz zuzustimmen. Auch die Klägerin gibt dies zu, indem sie bemerkt, dass ein Modell, für welches der Schutz verlangt wird, sich von den Vorbildern deutlich zu unterscheiden habe. Und zwar kommt es im vorliegenden Fall auf das Empfinden des Interessierten, vorab des sich mit Kaufsabsichten tragenden Laien an, wie in
BGE 83 II 483
ff. mit eingehender Begründung dargelegt wurde.
3.
An Hand dieser allgemeinen Gesichtspunkte ist
BGE 84 II 653 S. 662
für den vorliegenden Streitfall zu prüfen, ob auf Grund der Feststellungen der Vorinstanz über vorbekannte Modelle den klägerischen Modellen die Neuheit im Sinne von
Art. 12 Ziff. 1 MMG
abgesprochen werden kann. ...
4.
Die Vorinstanz hat gefunden, das klägerische Modell 4501 stimme mit dem Saarinensessel weitgehend überein, wenn man auf den Gesamteindruck der beiden Möbelstücke abstelle. Kleine Unterschiede, wie etwa möglicherweise ein etwas höheres Rückenpolster beim Modell Saarinen oder die spitzere Form des Überganges von diesem zum Sitz seien nach den bindenden Erwägungen des Bundesgerichts unbeachtlich, weil sie erst bei genauerer Untersuchung auffallen und sich dem unbefangenen Betrachter keineswegs aufdrängen.
Diese Ansicht der Vorinstanz hält jedoch der Überprüfung nicht stand.
Nach ihrer äusseren Formgebung haben die beiden zu vergleichenden Sessel nur das eine gemeinsam, dass sie beide zum modernen Stil gehören, also zu den Sitzmöbeln, die stilmässig den Gegensatz zu den bisher üblichen Möbeln bilden. Mit Laienaugen gesehen besteht dieser Gegensatz darin, dass moderne Sitzmöbel (dank den neuen Kunststoffen) beliebige und insbesondere auch wannenartig ausgestaltete Sitzformen aufweisen, während die Grundformen der älteren Möbel durch Holz- oder Eisengestelle, also durch die Gerade oder durch den Bogen bestimmt waren. Ein weiterer in die Augen springender Gegensatz von alt und modern besteht darin, dass moderne Möbel nicht mehr verhältnismässig massive hölzerne Beine aufweisen, sondern eigenartige dünne, häufig aus Metall bestehende Spreiz- oder Spiessfüsse.
Aber mit dieser bloss allgemeinen stilartigen Verwandtschaft ist modellrechtlich die Sache keineswegs entschieden, wie bereits im Rückweisungsurteil (
BGE 83 II 478
) festgestellt wurde. Es gibt im allgemeinen Rahmen moderner Möbelgestaltung doch zahllose Eigenprägungen von originellen und daher individuellen, sich an den Schönheitssinn
BGE 84 II 653 S. 663
wendenden Formgebungen, die das nötige Mindestmass an schöpferischer Idee aufweisen.
Bei einer gcwöhnlichen Betrachtung der nebeneinandergehaltenen Abbildungen der beiden Modelle ist schon der allererste Gesamteindruck grundverschieden. Der Lehnsessel Nr. 4501 der Klägerin erscheint im Gesamteindruck rundlich, mit einer bloss halbhohen Rückenlehne, welche breiter ist als hoch. Der Saarinensessel ist ganz anders, nämlich eckig mit klar gebrochener Rückenlinie, mit einer Rückenlehne, die höher ist als breit. Das alles springt in die Augen, ohne dass man danach suchen müsste. Überdies fällt sofort ein Zweites auf: Die Füsse, die bei modernen Sesseln ein weiteres augenfälliges Formelement darstellen, sind beim Saarinensessel und bei den Modellen der Klägerin ganz verschieden. Bei Saarinen ist der Fuss typisch als dünner Metallstab gestaltet, der unten in ein krallenförmiges Ende ausläuft. Bei der Klägerin ist der Fuss dicker, verjüngt sich nach unten und schliesst mit einer hellen Metallhülse ab.
Der Saarinensessel ist daher für das klägerische Lehnsesselmodell 4501 und folgerichtig auch für das Sofa 4503 nicht neuheitsschädlich.
5.
Hinsichtlich des klägerischen Modells 101 führt die Vorinstanz aus, es weise zwar eine breite und fast flache Armlehne sowie eine hohe Rückenlehne auf, welche dem ganzen Sessel etwas Elegantes verleihe. Doch hebe sich auch dieses Modell von seinen Vorläufern nur ungenügend ab. So sei das Modell Act. 28/12 (Modell Eams) im Gesamteindruck ähnlich und weise, soweit aus der Seitenansicht zu ersehen sei, eine entsprechende Gestaltung der Armlehnen auf. Noch deutlicher sei die Ähnlichkeit mit dem Modell Act. 28/15 (bei dem es sich um den bereits genannten Saarinensessel handelt), das sich ebenfalls durch die breite Armlehne und den hohen Rückenteil kennzeichne und darum neuheitsschädlich sei.
a) Gegenüber der angeblichen Neuheitsschädlichkeit des Schalenstuhles von Eams ist vorweg zu bemerken, dass die
BGE 84 II 653 S. 664
Vorinstanz ihre Schlussfolgerungen gar nicht näher und konkret begründet, sondern sich mit dem Pauschalurteil "Gesamteindruck ähnlich" begnügt. Die vom Bundesgericht gegebene Richtlinie, wonach es darauf ankommt, ob die Gemeinsamkeiten der zu vergleichenden Modelle überwiegen oder die Verschiedenheiten und wonach es also auf den Gesamteindruck ankommt, enthebt jedoch eine kantonale Instanz nicht von der Verpflichtung, wenigstens in grossen Strichen darzulegen, worin die wesentlichen, die vorherrschenden oder unterscheidenden Züge liegen, welche schliesslich den Gesamteindruck bedingen.
Bei einer Vergleichung des Bilds des Modells 101 der Klägerin mit dem Schalensessel von Eams wird der gewöhnliche Betrachter zwar zunächst sagen, beides seien Stühle in modernem Stil, insbesondere wegen ihrer modernen Ausbildung der Sitzpartie und der Gestaltung der Metallfüsse. Aber das ist eine bloss allgemeine stilartige Verwandtschaft, die modellrechtlich nicht entscheidend ist, wie oben dargelegt wurde.
Sieht man näher zu (ohne dabei nach kleinen Einzelheiten zu suchen), so ist der Gesamteindruck sowohl von vorn wie von der Seite ganz verschieden. Nicht die Gemeinsamkeiten herrschen vor, sondern die Verschiedenheiten. Von vorn betrachtet ist der Eams-Sessel ein hochbeiniger Stuhl mit einer im Vergleich zum Ganzen kleinen Sitzschale und einer nur wenig über die Armlehne hinaufsteigenden Rückenlehne. Beim klägerischen Sessel sind dagegen die Beine ausgesprochen niedrig, die Sitzpartie ist mehr als zweimal so hoch wie die Füsse und die Rückenlehne ragt um eine ganze Hälfte über die Armlehne hinaus. Dazu kommt, dass die Armlehnen wie waagrechte Flügel ausgestaltet sind, was für das klägerische Modell zwar nicht allein, aber sicher in diesem einen Punkte überaus kennzeichnend und eigenartig ist. Allerdings ist beim Eams-Sessel an der Armlehne auch ein kleiner flacher seitlicher Ansatz erkennbar (eine kleine Fläche muss ja begriffsmässig für eine Armlehne vorhanden sein). Aber die
BGE 84 II 653 S. 665
ausgesprochen eigenartige, mit den Ausmassen und der ganzen äusseren Formgebung des klägerischen Stuhls harmonierende Ausgestaltung dieser Flügel zu eigentlichen Schnäbeln ist etwas ganz Besonderes, Neuartiges, und gibt, zusammen mit der übrigen Form, dem Stuhl der Klägerin gegenüber dem Vorbild von Eams ein kennzeichnendes und klar unterscheidbares Gepräge. - Das Gleiche ergibt sich bei Betrachtung von der Seite. Schon die Gesamtansicht und der Verlauf der Rückenlinie (lang und gerade beim Modell der Klägerin, kurz und oben nach rückwärts geschweift beim Eams-Sessel) ergeben zwei völlig verschiedene Bilder, die überhaupt nichts gemeinsam haben. Der Eams-Sessel ist daher gegenüber dem klägerischen Modell 101 nicht neuheitsschädlich.
b) Vergleicht man das Modell 101 der Klägerin mit dem Saarinensessel, so führt schon der erste Gesamteindruck zum Ergebnis, dass die beiden Sessel als grundsätzlich verschiedene äussere Formgebungen anzusprechen sind. Gewiss sind die Rückenlehnen bei den beiden Modellen anscheinend etwa gleich hoch. Aber im übrigen ist die Form der Rücklehnen völlig anders gestaltet und anders bemessen. Dazu kommt, dass beim Saarinensessel ein oben abgerundetes Kissen an das untere Ende der Rücklehne gelegt ist, um die durch die Ausbuchtung derselben gebildete Vertiefung auszufüllen, womit gleichzeitig eine aesthetische Wirkung angestrebt und erzielt wird. Etwas derartiges - was für den Saarinensessel form- und eindrucksmässig sicher nicht nebensächlich ist - findet sich beim klägerischen Modell überhaupt nicht. Die Armlehnen sodann sind beim Saarinensessel in der Weise gestaltet, dass von unten (vom Traggestell des Sessels) her Metallstäbe als Träger für die Auflageflächen der Armlehnen bis an diese herangeführt sind. Das klägerische Modell weist nichts derartiges auf, wie dessen Vorder- und Seitenansicht einwandfrei zeigen. Auch die Rückenlinie, von hinten wie von der Seite betrachtet, ist bei den beiden Modellen ganz verschieden, ohne jede Verwandtschaft, indem sie bei der
BGE 84 II 653 S. 666
Klägerin gerade, beim Saarinensessel dagegen gebrochen ist. Prüft man schliesslich die Armlehne auf ihren Gesamteindruck, so ergibt sich, dass der Saarinensessel keine Fläche aufweist, die nach Idee und Form der ausgesprochenen Flügel- oder Schnabelformfläche der Armlehne der Klägerin an die Seite zu stellen wäre.
Das Ergebnis ist also auch hier, dass der Saarinensessel gegenüber dem klägerischen Modell 101 nicht neuheitsschädlich ist. Damit bricht das ganze vorinstanzliche Urteil zusammen.
6.
Für den nun eingetretenen Fall, dass das angefochtene Urteil nicht haltbar ist, hat die Beklagte ausdrücklich den Antrag auf Rückweisung an die Vorinstanz gestellt zur Abnahme der Beweise, welche die Beklagte unbestritten anerboten hat für ihre Behauptung, dass den im Streite liegenden klägerischen Modellen die Neuheit abgehe. Die Vorinstanz hat dazu erklärt, wenn auf diese Behauptungen der Beklagten etwas ankäme, so müsste diese zum Beweis zugelassen werden. Dass die Vorinstanz dies im Zusammenhang mit den Ausführungen über die Frage nicht der Sessel, sondern der Sofas sagt, ist belanglos. Denn es ist einmal denkbar, dass die Beklagte bei ihrem angemeldeten Material auch solches vorbringt, das die Lehnsessel betrifft; nach den Ausführungen der Beklagten soll dieses neue Material insbesondere zeigen, dass gerade das Modell 4501 der Klägerin nichts anderes sei als die genaue Kopie eines vorbekannten und dem Urheber des klägerischen Modells genau bekannten Modells. Im weiteren besteht auch die Möglichkeit, dass unter dem Material für Sofas sich Modelle finden, welche vielleicht auch als Vorbilder für Sessel bedeutsam sein könnten. Man kann zwar nicht ohne weiteres den Satz aufstellen, dass im Verhältnis von Lehnsessel und Sofa eine Lösungsidee für das eine oder das andere modellrechtlich stets eine nicht schutzwürdige Übertragung darstelle; es kommt vielmehr auf die Verhältnisse des Einzelfalls an.
Die Sache ist daher zur weiteren Abklärung der Neuheit
BGE 84 II 653 S. 667
im oben dargelegten Sinn erneut an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im weiteren wird die Vorinstanz gegebenenfalls über die verschiedenen Klagebegehren der Klägerin zu entscheiden haben.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des Handelsgerichts Zürich vom 30. Juni 1958 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird. | public_law | nan | de | 1,958 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
2ebb0a0f-ecaa-46d9-bf2e-5fe989ca1cd7 | Urteilskopf
91 IV 40
12. Urteil des Kassationshofes vom 19. März 1965 i.S. Limi gegen Statthalteramt Dielsdorf. | Regeste
Art. 1 Abs. 8 VRV
, Strassenverzweigung.
Eine Strasse, die nur als Zufahrt zu einem Werk, nicht dem Durchgangsverkehr dient, bildet beim Zusammentreffen mit der Hauptstrasse keine Verzweigung.
Entscheidend ist die Bedeutung, die der Verkehrsweg für den allgemeinen Fahrverkehr hat, nicht, ob er in privatem oder öffentlichem Eigentum steht. | Sachverhalt
ab Seite 40
BGE 91 IV 40 S. 40
A.-
Die von Regensdorf nordwärts nach Adlikon führende Adlikerstrasse, die 6,5 m breit ist, kreuzt in Regensdorf die Riedthofstrasse. Der von der Kreuzung nach Nordwesten verlaufende Teil der Riedthofstrasse steht im Eigentum der Zivilgemeinde Regensdorf und dient fast ausschliesslich als Zufahrtsstrasse zu dem rund 150 m entfernten Kieswerk Bader; das Strässchen ist auf dieser Strecke noch 4,5 m breit und geteert und geht nach dem Kieswerk als blosser Feldweg weiter.
Limi führte am 3. Juli 1964 einen Lastwagen vom Kieswerk Bader zur Kreuzung Riedthof-/Adlikerstrasse, wo er nach einem kurzen Sicherheitshalt nach links in die Adlikerstrasse einzubiegen begann. Während des Einbiegens hielt er sein Fahrzeug wegen eines aus Richtung Adlikon sich nähernden Personenautos wieder an, das nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte und mit dem Lastwagen zusammenstiess.
B.-
Der Einzelrichter des Bezirks Dielsdorf verurteilte Limi am 23. Oktober 1964 wegen Widerhandlung gegen die
Art. 36 Abs. 4 SVG
, 14 Abs. 1 und 15 Abs. 3 VRV zu einer Busse von Fr. 50.-.
BGE 91 IV 40 S. 41
C.-
Der Gebüsste führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt dem Bundesgericht, das Urteil des Einzelrichters aufzuzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Auf Strassenverzweigungen hat, wenn nicht durch Signale etwas anderes angeordnet ist, das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt (
Art. 36 Abs. 2 SVG
). Als Strassenverzweigung gelten nach
Art. 1 Abs. 8 VRV
Kreuzungen, Gabelungen oder Einmündungen von Fahrbahnen. Keine Verzweigung liegt dagegen vor beim Zusammentreffen einer Fahrbahn mit Rad- oder Feldwegen, Garage-, Parkplatz-, Fabrik- oder Hofausfahrten usw. (
Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV
). Der Benützer eines Feldweges oder einer solchen Ausfahrt ist daher nicht vortrittsberechtigt; er ist vielmehr gleich dem Führer, der sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen will, verpflichtet, den auf der Strasse verkehrenden Fahrzeugen, gleichgültig, ob sie von rechts oder links kommen, den Vortritt zu gewähren (
Art. 36 Abs. 4 SVG
,
Art. 15 Abs. 3 VRV
).
Nach den in
Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV
aufgeführten Beispielen stellt das Gesetz nicht auf die Eigentumsverhältnisse an einem Verkehrsweg ab, sondern auf die Bedeutung, die dieser für den allgemeinen Fahrverkehr, insbesondere im Vergleich mit der Strasse, mit der er zusammentrifft, hat. Feldwege haben im Verhältnis zu Strassen keine derartige Verkehrsbedeutung, und ebenso sind Verkehrswege, die nicht für den Durchgangsverkehr, sondern nur dazu bestimmt sind, den Benützern eines Parkplatzes, einer Liegenschaft, einer Fabrik und dergleichen als Zufahrtsweg zu dienen, für den allgemeinen Verkehr von untergeordneter Bedeutung. Es kann denn auch den Benützern von Durchgangsstrassen, wo diese mit Feldwegen und solchen Ausfahrten zusammentreffen, nicht die gleiche Vorsicht zugemutet werden, wie sie bei Verzweigungen von Strassen mit durchgehendem Verkehr geboten ist (
BGE 84 IV 35
).
2.
Im vorliegenden Falle ist nicht entscheidend, dass der von der Adlikerstrasse nach Nordwesten abzweigende Teil der Riedthofstrasse in privatem Eigentum steht. Auch eine dem allgemeinen Verkehr offen stehende Privatstrasse kann von erheblicher Bedeutung sein und daher beim Zusammentreffen
BGE 91 IV 40 S. 42
mit einer andern Strasse eine Verzweigung im Sinne des
Art. 1 Abs. 8 VRV
bilden (
BGE 86 IV 189
). Umgekehrt schliesst das Merkmal des öffentlichen Eigentums nicht aus, dass ein Verkehrsweg für den allgemeinen Verkehr bedeutungslos ist (
BGE 84 IV 34
).
Ausschlaggebend ist hier, dass der nordwestliche Abschnitt der Riedthofstrasse nicht für den Durchgangsverkehr bestimmt ist, sondern praktisch ausschliesslich Fahrzeugen dient, die zu dem von der Hauptstrasse 150 m entfernten Kieswerk fahren und von dort zurückkehren. Es handelt sich also um eine Werkausfahrt, deren Verkehrsbedeutung nicht grösser ist als die einer Fabrikausfahrt (
Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV
). Dass der Zufahrtsweg zum Kieswerk 4, 5 m breit und geteert ist, ändert an seinem Charakter als Werkzufahrt ohne Durchgangsverkehr nichts. Der Fall Buess (
BGE 86 IV 187
ff.), auf dessen Erwägungen sich der Beschwerdeführer beruft, wurde noch unter der Herrschaft des MFG entschieden; es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die dort angestellten Überlegungen noch aufrechterhalten werden könnten, wenn der heute geltende
Art. 1 Abs. 8 VRV
auf jene Fabrikausfahrt anzuwenden wäre.
Gilt demnach das Zusammentreffen des nordwestlichen Teils der Riedthofstrasse mit der Adlikerstrasse nicht als Verzweigung, so stand dem Beschwerdeführer gegenüber einem auf der Hauptstrasse Verkehrenden kein Vortrittsrecht zu, auch nicht, wenn er im Verhältnis zu diesem von rechts kam. Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz war sich der Beschwerdeführer der geringen Verkehrsbedeutung der Zufahrt zum Kieswerk bewusst. Er ist daher zu Recht wegen Widerhandlung gegen
Art. 36 Abs. 4 SVG
(in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 und 15 Abs. 3 VRV) verurteilt worden.
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,965 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2ebdb655-d0bf-4df6-b1d6-beab3be2932b | Urteilskopf
81 III 37
13. Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. März 1955 i. S. Konkursmasse S. Heimann gegen N. Heimann. | Regeste
Frauengutsprivileg gemäss
Art. 211 ZGB
/219 IV. Kl. SchKG.
Bei Berechnung des privilegierten Teils der Ersatzforderung ist das von der Ehefrau in natura zurückgenommene Eigentum nicht mit seinem Wert zur Zeit der Einbringung, sondern mit demjenigen zur Zeit der Rücknahme einzustellen. | Sachverhalt
ab Seite 38
BGE 81 III 37 S. 38
A.-
Bei Eheschluss im Jahre 1926 hatte die Klägerin als Frauengut Wertschriften und Barschaft im Betrage von Fr. 71'160.-- sowie Mobiliar im damaligen Anschaffungswerte von Fr. 30'000.-- in die Ehe gebracht. Im heutigen Konkurse des Ehemannes meldete die Klägerin eine Frauengutsersatzforderung von Fr. 71'160.-- an und vindizierte das von ihr eingebrachte Mobiliar, dessen heutiger Wert unbestrittenermassen noch Fr. 8000.-- beträgt. Die Konkursverwaltung anerkannte die Ersatzforderung von Fr. 71'160.-- und berechnete das Frauengutsprivileg wie folgt:
Ersatzforderung: Fr. 71'160.--
Zurückgenommenes Mobiliar, Anschaffungswert: 30'000.--
Eingebrachtes Frauengut zusammen: Fr. 101'160.--
Privilegiert die Hälfte davon = 50'580.--
abzüglich zurückgenommenes Mobiliar: 30'000.--
In IV. Klasse privilegiert Differenz: Fr. 20'580.--
(Rest in V. Klasse: 50'580.--)
Gegen diese Kollokation erhob die Klägerin die vorliegende Klage mit dem Begehren, bei der Berechnung des privilegierten Teils der Frauengutsforderung sei das zurückgenommene Mobiliar mit seinem heutigen Wert einzustellen und demgemäss seien von der Ersatzforderung Fr. 31'580.-- als privilegiert zu erklären gemäss folgender Rechnung:
BGE 81 III 37 S. 39
Ersatzforderung: Fr. 71'160.--
Zurückgenommenes Mobiliar, heutiger Wert: 8'000.--
Eingebrachtes Frauengut zusammen: Fr. 79'160.--
Privilegiert die Hälfte davon = 39'580.--
abzüglich zurückgenommenes Mobiliar: 8'000.--
In IV. Klasse privilegiert: Fr. 31'580.--
(Rest in V. Klasse: Fr. 39'580.--)
Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage ab unter Hinweis auf den in
BGE 52 II 423
ausgesprochenen Grundsatz, dass bei Ermittlung des privilegierten Teils der Ersatzforderung die in natura zurückgenommenen Gegenstände regelmässig zu dem Wert einzustellen seien, die sie zur Zeit der Einbringung in die Ehe gehabt hätten.
Auf Berufung der Klägerin hat dagegen das Obergericht die Klage gutgeheissen und die Kollokation gemäss vorstehender Berechnung angeordnet. Es führt aus, das Bundesgericht in dem zitierten Präjudiz und ihm folgend das Bezirksgericht begründeten ihre Auffassung, die zurückgenommenen Gegenstände seien nicht mit ihrem heutigen Werte, sondern mit demjenigen zur Zeit ihrer Einbringung einzustellen, mit der Argumentation, wenn man auf den heutigen, verminderten Wert abstellte, so würde das tatsächlich dazu führen, dass die Konkursmasse des Ehemannes, also dieser selber, für die Wertverminderung infolge Abnützung aufzukommen hätte. Es verhalte sich aber, sagt das Obergericht, doch gerade umgekehrt: setze man für das abgenützte Mobiliar den seinerzeitigen Anschaffungswert ein, so laufe das darauf hinaus, dass der Ehemann für diesen höheren Wert verantwortlich erklärt werde, m.a.W. Mobiliar im ursprünglichen Werte herauszugeben habe, während er doch nach Gesetz für die normale Entwertung nicht aufzukommen habe. Mit Recht habe daher das Zürcher Obergericht in einem Entscheide (BlZR 31 [1932] Nr. 20), leider ohne Auseinandersetzung
BGE 81 III 37 S. 40
mit dem zit. bundesgerichtlichen, der Berechnungsweise der Klägerin den Vorzug gegeben.
B.-
Mit der vorliegenden Berufung beantragt die Konkursmasse Abweisung der Klage. Die Klägerin trägt auf Bestätigung des angefochtenen Urteils an.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Streitwert).
2.
Zu entscheiden ist einzig die grundsätzliche Frage, ob bei Berechnung des Frauengutsprivilegs die in natura zurückgenommenen Gegenstände mit dem Wert, den sie bei der Einbringung hatten, oder mit ihrem Wert zur Zeit der Rücknahme einzustellen seien. Das Bezirksgericht hat - im Anschluss an das Bundesgericht in dem zitierten Entscheide von 1926 - das erstere, das Obergericht das letztere angenommen, beide mit der Erwägung, mit der gegenteiligen Berechnungsart werde der Ehemann für die im Laufe der Ehe eingetretene Wertverminderung der Möbel verantwortlich gemacht, was dem Gesetz widerspreche.
Diese Erwägungen gehen von der an sich richtigen Überlegung aus, dass die Bewertung der zurückgenommenen Gegenstände nicht darauf hinauslaufen dürfe, dem Ehemann eine nach Gesetz nicht bestehende Haftung für Wertverminderung infolge ordnungsgemässer Abnützung aufzubürden. Dabei wird aber auf beiden Seiten übersehen, dass weder die eine noch die andere Berechnungsart zu diesem Ergebnis führt. Sowohl nach der Rechnung des Bezirks- als nach der des Obergerichts bleibt der Gesamtbetrag der Frauengutsersatzforderung, die teilweise Anspruch auf das Privileg hat, unverändert, nämlich immer nur Fr. 71'160.-- und nicht mehr. Verschieden ist je nach dem als massgebend angenommenen Wert der zurückgenommenen Gegenstände einzig der Betrag des privilegierten Teils dieser Ersatzforderung. Das ist aber lediglich eine Frage der Aufteilung der vorhandenen Konkursaktiven
BGE 81 III 37 S. 41
unter einerseits die Ehefrau, anderseits die übrigen Gläubiger; die Gesamtschuld des Ehemannes und, falls die Aktiven nicht zur Deckung aller Konkursforderungen reichen, der Gesamtbetrag der auszustellenden Verlustscheine wird dadurch nicht berührt. Was nach der einen Berechnungsart die Ehefrau weniger an Dividende und mehr an Verlustscheinen erhält, das erhalten die übrigen Gläubiger mehr bzw. weniger. Der Totalbetrag der Schuld, der Auszahlung und der Verlustscheine bleibt gleich. Daher kann keine der beiden Berechnungsarten damit gerechtfertigt werden, dass die andere eine nach Gesetz nicht bestehende Haftung des Ehemannes voraussetze. Ein anderer Grund für die Einsetzung des Einbringungswertes der zurückgenommenen Gegenstände aber wird in dem angezogenen Urteil des Bundesgerichts nicht angeführt; ein solcher lässt sich auch nicht finden, und es kann an jener Auffassung nicht festgehalten werden.
Die von der Vorinstanz angewandte Berechnungsart dagegen ergibt sich als natürliche Folge aus dem Begriff des "eingebrachten Frauengutes" und dem bezüglichen System des Gesetzes.
Unter der "Zurücknahme ihres Eigentums" (
Art. 211 ZGB
) bzw. "Zurücknahme der noch vorhandenen Vermögenswerte" (
Art. 219 SchKG
) versteht das Gesetz die Vindikation der von der Frau eingebrachten Sachen, die während der Ehe sachenrechtlich ihr Eigentum geblieben sind. Für die in das Eigentum des Mannes übergangenen Frauengutssachen gibt es nur eine Ersatzforderung (
Art. 201 Abs. 3 ZGB
), keine "Zurücknahme".
Das in natura noch vorhandene Frauengut nun besteht nicht in einem unveränderlichen Wert, sondern in den Gegenständen selbst. Demgemäss hat die Frau auch nicht Anspruch auf Vergütung eines allfälligen - nicht vom Ehemann verschuldeten - Minderwertes oder die Pflicht zur Vergütung eines - nicht vom Ehemann herbeigeführten - Mehrwertes, sondern schlechthin auf Herausgabe der Sachen. Da nun aber nach Vorschrift der genannten Bestimmungen
BGE 81 III 37 S. 42
für die Bemessung des privilegierten Teils der Frauengutsersatzforderung das Verhältnis des zurückgenommenen Eigentums zum Gesamtanspruch aus dem ganzen ehemaligen Einbringen, Vindikation plus Ersatzforderung, massgebend ist, man aber nicht Franken und Möbel addieren und subtrahieren kann, muss zu diesem Zwecke das zurückgenommene Eigentum in einem Werte ausgedrückt werden. Dies aber kann nur der gegenwärtige Wert der Sachen sein. Wie die Vorinstanz zutreffend bemerkt, folgt dies schon aus dem der Vorschrift zu Grunde liegenden Prinzip der Deckung: die Ehefrau geniesst für die Hälfte ihrer Ersatzforderung das Konkursprivileg nur insoweit nicht, als sie durch die Zurücknahme ihres noch vorhandenen Eigentums (und allfällige Sicherheiten) dafür gedeckt ist; gedeckt wird sie aber nur mit den Werten, die sie wirklich erhält, also mit dem gegenwärtigen - in casu durch den Gebrauch auf Fr. 8000.-- verminderten - Werte des Mobiliars.
Das zurückgenommene Mobiliar nur gerade für diese Ermittlung des privilegierten Teils der Ersatzforderung mit dem früheren Einbringungswerte von in casu Fr. 30'000.-- einzusetzen, entbehrt jedes Sinnes, da doch ausser Zweifel steht, dass dieser Wert für die Frauengutsforderung selbst ohne jede Bedeutung ist, weil die Frau einfach die Sachen selbst zurücknimmt, aber weder für eine Wertverminderung vom Manne Vergütung zu fordern noch für eine Wertvermehrung ihm solche zu leisten hat.
Dies hat freilich zur Folge, dass die Höhe des privilegierten Teils einer neben dem Rücknahmeanspruch bestehenden Ersatzforderung durch den Umfang der allfälligen Entwertung der zurückgenommenen Gegenstände beeinflusst wird: je stärker die Entwertung, desto höher das Privileg. Dieser Zusammenhang erweckt bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein, als ob im Ergebnis - zwar nicht der Ehemann, aber - die Konkursmasse mit der Hälfte einer Ersatzforderung für die Entwertung belastet werde. In casu beträgt die Differenz zwischen dem
BGE 81 III 37 S. 43
vom Bezirksgericht und dem vom Obergericht angenommenen Privileg in der Tat (Fr. 31'580.-- ./. Fr. 20'580.-- =) Fr. 11'000.--, also die Hälfte der (Fr. 30'000.-- ./. Fr. 8000.-- =) Fr. 22'000.-- betragenden Entwertung. Dass damit aber nicht die Masse mit einer Ersatzforderung belastet wird, erhellt aus der Vergleichung des von der Vorinstanz errechneten Privilegs (Fr. 31'580.--) mit demjenigen, das sich bei Annahme einer Ersatzforderung für die Wertverminderung (Fr. 22'000.--) ergäbe; in diesem Falle betrüge das Privileg Fr. 42'580.--, also Fr. 11'000.-- mehr als nach der Rechnung der Vorinstanz. Dieser Mehrbetrag von Fr. 11'000.-- würde eine Belastung der Masse mit der Hälfte einer Ersatzforderung für die Entwertung darstellen; er kann also unmöglich in dem um eben diesen Betrag geringern Betrage von Fr. 31'580.-- enthalten sein; noch viel weniger freilich - entgegen der Meinung der Vorinstanz - in dem nach der Methode des bundesgerichtlichen Präjudizes sich ergebenden privilegierten Betrage von Fr. 20'580.--. Nach der letztern Berechnungsart wird vielmehr die Ehefrau mit dem von ihr zu tragenden Minderwert doppelt belastet, indem man ihr einerseits - gemäss Gesetz - eine Ersatzforderung dafür versagt und anderseits trotzdem die zurückgenommenen, auf Fr. 8000.-- entwerteten Möbel mit Fr. 30'000.-- anrechnet, mit der Wirkung, dass sich ihr Privileg um die Hälfte der Entwertung = Fr. 11'000.-- reduziert. In Wahrheit verhält es sich mithin so, dass gerade deshalb, weil die Ehefrau keine Ersatzforderung für den Minderwert hat, die zurückgenommenen Gegenstände ihr nur mit dem Wert zur Zeit des Konkurses angerechnet werden dürfen.
Dass die vom Bundesgericht seinerzeit angenommene Berechnungsart nicht stimmen kann, erhellt übrigens auch aus der Vergleichung des daraus folgenden Ergebnisses mit dem Privileg, das sich ergäbe, wenn der Ehemann das Mobiliar kurz vor Konkursausbruch veräussert hätte. Da die Ersatzforderung dem Wert zur Zeit der Veräusserung entspricht (vgl. EGGER N. 3 und GMÜR N. 12 zu
Art. 210
BGE 81 III 37 S. 44
ZGB
), ergäbe sich (beidemal bei voller Deckung in IV. Kl. und Ausfall der V) folgende Rechnung:
Ersatzforderung für Kapitaleinbringen: Fr. 71'160.--
Ersatzforderung für veräussertes Mobiliar: 8'000.--
zusammen = Fr. 79'160.--
Privilegierte Hälfte = Totalempfang: 39'580.--
Nach der erstinstanzlichen Berechnungsweise dagegen
erhielte die Frau das Privileg von: Fr. 20'580.--
und das Mobiliar im Werte von: 8'000.--
somit zusammen nur Fr. 28'580.--,
also effektiv Fr. 11'000.-- weniger, als wenn die Möbel kurz vorher veräussert worden wären. Da nun kein Grund ersichtlich ist, weshalb die Ehefrau bei Veräusserung der Möbel unmittelbar vor Konkurs besser fahren sollte als bei deren Rücknahme in natura, folgt auch daraus, dass sie nach der früheren Berechnungsweise Fr. 11'000.-- zu wenig erhält, also diejenige der Vorinstanz richtig ist.
Bei Werterhöhung des noch vorhandenen Einbringens ist aus der analogen Überlegung, dass die Ehefrau den ohne Zutun des Mannes eingetretenen Mehrwert für sich behalten darf, bei der Berechnung des Privilegs nicht der ursprüngliche geringere Wert der zurückgenommenen Sachen, sondern der zur Zeit des Konkurses gegebene höhere Wert einzustellen; andernfalls würde die Frau doppelt begünstigt: man überliesse ihr - mit Recht - den Mehrwert und würde - zu Unrecht - erst noch ihr Privileg um die Hälfte dieses Mehrwertes erhöhen.
Die Regelung des Frauengutsprivilegs kann allerdings für den gleichen Gesamtwert des Einbringens zu sehr verschiedenen Resultaten führen, je nach dem Verhältnis, in dem sich dieses aus Barkapital und dergl. (Art. 201 Abs. 3) und aus Sachwerten zusammensetzte. Die Ordnung des Art. 211 will den unterschiedlichen Risiken Rechnung tragen, denen einerseits eine Ersatzforderung, anderseits Sachwerte im Laufe der Ehe ausgesetzt sind. Während
BGE 81 III 37 S. 45
erstere zwar nominell auf einen festen Geldbetrag lautet, ihre Bonität aber von der Zahlungsfähigkeit des Mannes abhängt, sind die Sachwerte im allgemeinen der Entwertung durch den Gebrauch unterworfen, einzelne Arten aber auch der Aufwertung fähig. Zwischen diesen Gegebenheiten und Möglichkeiten will das System der Anrechnung gemäss Art. 211 einen gewissen Ausgleich herbeiführen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 16. November 1954 bestätigt. | null | nan | de | 1,955 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
2ec3320e-73d3-4ac1-a122-44fb19ef96a3 | Urteilskopf
113 IV 113
31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. Oktober 1987 i.S. Züri Woche-Verlags AG gegen Obergericht des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 61 StGB
.
Art. 61 StGB
bildet eine hinreichende Grundlage
- für die Urteilsveröffentlichung in der Zeitung, in der die verletzende Äusserung erschienen ist, und gegebenenfalls auch in einem dritten Presseerzeugnis (E. 1b),
- dafür, die Publikation an einer bestimmten Stelle im redaktionellen Teil anzuordnen (E. 1d). | Sachverhalt
ab Seite 113
BGE 113 IV 113 S. 113
A.-
Am 17. Mai 1984 erschien in der Züri Woche in der Rubrik "Notizen zu Namen", für welche Hildegard Ramspeck-Schwaninger verantwortlich zeichnete, über Monika Kaelin eine Kolumne, die mit dem Satz endet: "Und: Was ist am Namen Kaelin eigentlich noch zu ruinieren?"
B.-
Auf Klage von Monika Künzli-Kaelin wurde Hildegard Ramspeck-Schwaninger vom Obergericht des Kantons Zürich zweitinstanzlich mit Urteil vom 16. Juni 1986 der Beschimpfung im Sinne von
Art. 177 Abs. 1 StGB
schuldig gesprochen und mit einer Busse von Fr. 4'000.-- bestraft, als Zusatzstrafe zu einem
BGE 113 IV 113 S. 114
Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft Dielsdorf vom 17. Juni 1985. Weiter wurde sie verpflichtet, Monika Künzli-Kaelin eine Genugtuung von Fr. 5'000.-- zu bezahlen.
Ferner wurde in Ziffer 5 dieses Urteils erkannt:
"Dieses Urteil wird nach Eintritt der Rechtskraft im Sinne der Erwägungen auf Kosten der Angeklagten einmal in der Züri Woche auf jener Seite veröffentlicht, auf welcher in der betreffenden Ausgabe die Rubrik Notizen zu Namen erscheint."
Der zu veröffentlichende Text hat aus dem Urteilsdispositiv sowie der folgenden Kurzbegründung zu bestehen:
"In der Züri Woche vom 17. Mai 1984 hatte die Angeklagte unter der Rubrik Notizen zu Namen eine Kolumne veröffentlicht, welche sie mit der Frage abgeschlossen hat: Und: Was ist am Namen Kaelin eigentlich noch zu ruinieren? Damit hat die Angeklagte den Tatbestand der Beschimpfung gemäss
Art. 177 StGB
erfüllt und ist vom Gericht demgemäss schuldig gesprochen worden. Mit ihren weiteren damaligen Ausführungen hat sie keinen weiteren Ehrverletzungstatbestand erfüllt; sie war deshalb im übrigen freizusprechen."
Das Urteil, das in Rechtskraft erwachsen ist, wurde Monika Künzli-Kaelin und Hildegard Ramspeck-Schwaninger zugestellt, nicht aber der Züri Woche.
C.-
Mit Schreiben vom 19. November 1986 ersuchte das Obergericht des Kantons Zürich die Züri Woche um entsprechende Urteilspublikation. Am 21. Januar 1987 erkundigte sich das Obergericht telefonisch bei der Redaktion der Züri Woche, warum die Urteilspublikation noch nicht erfolgt sei. Diese antwortete, sie habe mit der Angelegenheit nichts zu tun, da sie nicht Prozesspartei gewesen sei. Die gerichtliche Anordnung, insbesondere die Plazierungsvorschrift, stelle einen schwerwiegenden Eingriff in die Pressefreiheit dar. Mit Schreiben vom 6. Februar 1987 bestätigte der Anwalt der Züri Woche diesen Standpunkt.
D.-
Am 16. Februar 1987 erliess das Obergericht des Kantons Zürich in Sachen Ramspeck-Schwaninger/Künzli-Kaelin einen Beschluss, in welchem die Züri Woche unter Strafandrohung (
Art. 292 StGB
) verpflichtet wurde, das Urteilsdispositiv samt der zitierten Kurzbegründung innert eines Monats auf Kosten von Hildegard Ramspeck-Schwaninger einmal in der Züri Woche auf jener Seite zu veröffentlichen, auf welcher in der betreffenden Nummer auch die Rubrik "Notizen zu Namen" erscheint, unter voller Namensnennung, insbesondere auch der Ledignamen.
BGE 113 IV 113 S. 115
E.-
Eine gegen diesen Beschluss von der Züri Woche eingereichte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 21. Juli 1987 abgewiesen.
Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde hat die Züri Woche gerügt, der obergerichtliche Beschluss verletze
Art. 55 BV
. Diese Beschwerde ist von der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung mit heutigem Datum abgewiesen worden, soweit darauf eingetreten werden konnte.
Schliesslich hat die Züri Woche gegen den Beschluss des Obergerichtes eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde eingereicht mit dem Antrag, den Beschluss und damit die Verpflichtung der Beschwerdeführerin zur Urteilspublikation aufzuheben, eventuell die Sache zur Neuentscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Frage, ob die Nichtigkeitsbeschwerde gemäss
Art. 268 BStP
zulässig ist, kann offenbleiben, da sie sich ohnehin als unbegründet erweist.
a) Die Beschwerdeführerin macht geltend, entgegen der Auffassung des Obergerichtes bilde
Art. 61 StGB
keine hinreichende Grundlage für die angeordnete Urteilspublikation.
Art. 61 StGB
richte sich nur gegen eine Partei im Strafverfahren. Andere Rechtsgrundlagen, gestützt auf welche die Beschwerdeführerin zur Publikation verhalten werden könnte, seien nicht ersichtlich. Eventualiter wird geltend gemacht, dass, sogar wenn eine Publikationspflicht der Beschwerdeführerin bestünde, aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falles ein öffentliches Interesse an der Publikation zu verneinen sei; subeventualiter, dass die Art und Weise, wie die Urteilspublikation angeordnet worden sei, mit
Art. 61 StGB
nicht vereinbart werden könne.
b) Gemäss
Art. 61 StGB
kann der Richter die Veröffentlichung eines Strafurteils auf Kosten des Verurteilten anordnen, wenn diese im öffentlichen Interesse oder im Interesse des Verletzten oder Antragsberechtigten geboten ist. Der Richter bestimmt Art und Umfang der Veröffentlichung. Das Gesetz spricht sich nicht ausdrücklich zur Frage aus, ob die Urteilspublikation in einer am Prozess nicht beteiligten Zeitung angeordnet werden kann. Dass diese Möglichkeit besteht, ist offenbar bisher als selbstverständlich
BGE 113 IV 113 S. 116
angenommen worden, jedenfalls soweit es die Zeitung betrifft, in welcher die ehrverletzende Äusserung erschienen ist (vgl. DUBS, ZStR 87/1971, S. 404; vgl. ferner Obergericht Luzern, SJZ 41/1945, S. 240, Nr. 108, und Beschluss des Bundesrates, VPB 16/1952, Nr. 15, wo auch weitergehend die Publikationsanordnung in Zeitungen als zulässig angesehen wird, in denen die ehrverletzende Äusserung nicht erschienen ist). Erst neuerdings wird die Frage aufgeworfen, ob wirklich eine ausreichende Rechtsgrundlage bestehe, um die Presse - abgesehen von amtlichen Publikationsorganen - zur Veröffentlichung von Strafurteilen zu verpflichten (JÖRG REHBERG, Strafrecht II, 4. Aufl., S. 79; DENIS BARRELET, Droit suisse des mass media, 2. Aufl., N. 117, vgl. aber auch N. 386).
Art. 61 StGB
schränkt nach seinem Wortlaut die Befugnis des Richters, bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäss Abs. 1 die Veröffentlichung des Urteils anzuordnen sowie Art und Umfang der Veröffentlichung zu bestimmen, in keiner Weise erkennbar ein. Die richterliche Befugnis muss demnach umfassend sein und die Möglichkeit in sich schliessen, die Urteilspublikation in irgendeinem Presseerzeugnis anzuordnen. Die Entstehungsgeschichte bestätigt, dass der so verstandene Wortlaut den Sinn der Bestimmung zutreffend wiedergibt. Der Richter soll je nach dem mit der Veröffentlichung des Urteils zu verfolgenden Ziel, d.h. der Natur der dadurch zu schützenden Interessen, die Publikation in einem amtlichen oder privaten Presseerzeugnis oder in beiden zugleich anordnen können (vgl. LOGOZ, N. 5 zu Art. 61; HAFTER, Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts, Allg. Teil, 2. Aufl., S. 426; sowie für das Ergebnis THORMANN/OVERBECK, N. 8 zu Art. 61; SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., S. 282). Nur eine solche Auslegung wird auch dem Schutzgedanken der Norm gerecht. Der Täter einer Presseehrverletzung ist in der Regel nicht Eigentümer des Publikationsorgans, in welchem die Äusserung erschienen ist. Wäre in
Art. 61 StGB
eine gesetzliche Grundlage zur Anordnung der Urteilsveröffentlichung nur gegenüber dem Verurteilten selbst zu erblicken, so würde das Institut der Urteilspublikation, dem gerade in Ehrverletzungsprozessen nicht unerhebliche Bedeutung zukommt (vgl. SCHULTZ, Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils ..., Bern 1987, S. 197), praktisch leerlaufen. Dass die Zeitung, in der die verletzende Äusserung erschienen ist, zur Urteilspublikation verpflichtet werden kann, ist für das Zivilrecht bejaht worden (
BGE 106 II 92
ff.).
BGE 113 IV 113 S. 117
Doch kann es unter Umständen geboten sein, das Urteil in einem dritten Presseerzeugnis erscheinen zu lassen, um den mit der gesetzlichen Regelung angestrebten Zweck der Urteilsveröffentlichung zu erreichen.
Der Haupteinwand der Beschwerdeführerin erweist sich somit als unbegründet.
c) Gemäss dem klaren Wortlaut von
Art. 61 StGB
ist die Veröffentlichung des Strafurteils zulässig, wenn sie im Interesse des Verletzten liegt. Ob dieses Interesse besteht, ist im Verfahren zwischen dem Verletzten und dem Verletzer zu entscheiden. Auf den Einwand der Beschwerdeführerin, die angeordnete Publikation verletze mangels eines öffentlichen Interesses
Art. 61 StGB
, ist demnach nicht einzutreten.
d) Die Beschwerdeführerin macht geltend,
Art. 61 StGB
sei jedenfalls deshalb verletzt, weil eine Anordnung, wie sie das Obergericht im vorliegenden Fall getroffen habe, eine unzumutbare Beeinträchtigung der Redaktionsfreiheit bedeute.
Gemäss
Art. 61 Abs. 4 StGB
bestimmt der Richter Art und Umfang der Veröffentlichung. Diese Bestimmung bildet eine hinreichende gesetzliche Grundlage auch dafür, die Publikation an einer bestimmten Stelle, etwa in einer bestimmten Rubrik, und im genauen Wortlaut anzuordnen. Eine solche Anordnung kann sinnvoll sein, um zu erreichen, dass die Publikation den gleichen Personenkreis erreicht wie die verletzende Äusserung, wie dies für das zivilrechtliche Gegendarstellungsrecht ausdrücklich vorgesehen ist (
Art. 28k Abs. 1 ZGB
).
Dass das Obergericht vorliegendenfalls in seiner Anordnung zu weit gegangen sei, wird mit der Beschwerde nicht substantiiert geltend gemacht. Sie erweist sich deshalb auch in diesem Punkte als unbegründet.
e) Schliesslich macht die Beschwerdeführerin auch eine Verletzung von
Art. 55 BV
geltend. Zur Rüge von Verfassungsverletzungen steht das Rechtsmittel der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde indessen nicht zur Verfügung. | null | nan | de | 1,987 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
2ec462f0-bdbc-49b0-a98a-85de579e706a | Urteilskopf
126 I 15
3. Extrait de l'arrêt de la Ie Cour de droit public du 24 novembre 1999 dans la cause N. contre Ministère public du canton de Vaud (recours de droit public) | Regeste
Art. 4 BV
; Anspruch auf rechtliches Gehör; Protokollierung wichtiger Zeugenaussagen.
Anspruch der Parteien eines Strafverfahrens darauf, dass die für den Verfahrensausgang wichtigen, während der Hauptverhandlung erfolgten Zeugenaussagen in einem Protokoll festgehalten werden. | Sachverhalt
ab Seite 15
BGE 126 I 15 S. 15
N. a été condamnée le 12 janvier 1999 par le Tribunal correctionnel du district de Lausanne à une peine de douze mois de réclusion pour diverses infractions contre le patrimoine. Elle a recouru contre ce jugement, en se plaignant notamment du fait qu'une déposition à décharge d'un témoin entendu pendant l'audience de jugement n'avait pas été transcrite dans un procès-verbal par le Tribunal correctionnel. Par arrêt du 12 février 1999, la Cour de cassation pénale du Tribunal cantonal du canton de Vaud a rejeté ce pourvoi. Agissant par la voie du recours de droit public, N. a demandé au Tribunal fédéral l'annulation de cet arrêt. Invoquant les
art. 4 Cst.
et 6 CEDH, elle se plaignait notamment d'une violation du droit d'être entendu.
BGE 126 I 15 S. 16
Le Tribunal fédéral rejette le recours dans la mesure où il est recevable.
Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
Dans un grief formel qu'il convient d'examiner en premier lieu, la recourante reproche aux juridictions cantonales d'avoir violé le droit d'être entendu, tel qu'il découle de l'
art. 4 Cst.
, en omettant de tenir un procès-verbal des déclarations du témoin A.
a) La portée du droit d'être entendu et les modalités de sa mise en oeuvre sont tout d'abord déterminées par la législation cantonale, dont le Tribunal fédéral ne revoit l'application que sous l'angle de l'arbitraire. Lorsque la protection accordée par le droit cantonal est inférieure ou équivalente aux garanties minimales déduites de l'
art. 4 Cst.
, dont le Tribunal fédéral vérifie librement le respect, le justiciable peut invoquer celles-ci directement. La recourante ne se plaignant pas de la violation de règles du droit cantonal de procédure régissant son droit d'être entendue, c'est à la lumière de l'
art. 4 Cst.
qu'il convient d'examiner son grief (
ATF 125 I 257
consid. 3a;
ATF 124 I 49
consid. 3a, 241 consid. 2;
ATF 122 I 109
consid. 2a et les arrêts cités).
aa) Le droit d'être entendu garanti par l'
art. 4 Cst.
comprend, de manière générale, le droit pour l'intéressé de prendre connaissance du dossier, d'obtenir l'administration des preuves pertinentes et valablement offertes, de participer à l'administration des preuves essentielles et de se déterminer sur son résultat lorsque cela est de nature à influer sur la décision à rendre (
ATF 124 I 49
consid. 3a, 241 consid. 2;
ATF 122 I 109
consid. 2a;
ATF 114 Ia 97
consid. 2a et les références citées). Selon la jurisprudence récente du Tribunal fédéral des assurances, le droit d'être entendu tiré de l'
art. 4 Cst.
confère également aux parties le droit d'obtenir que les déclarations de parties, de témoins ou d'experts qui sont importantes pour l'issue du litige soient consignées dans un procès-verbal, tout au moins dans leur teneur essentielle (
ATF 124 V 389
consid. 3a et 4, commenté par BERNARD ABRECHT in JdT 1999 I p. 78). Ainsi établie dans le domaine de la procédure administrative, cette règle est également pertinente en procédure pénale, où le droit d'être entendu a une portée tout à fait générale (cf.
ATF 116 Ia 455
consid. 3/cc;
ATF 101 Ia 292
consid. 1d; GÉRARD PIQUEREZ, Précis de procédure pénale suisse, Lausanne, 1994, p. 203 ss). La transcription des déclarations importantes pour l'issue du litige vise notamment à permettre aux parties de participer à l'administration de la preuve testimoniale et, surtout, de se prononcer sur
BGE 126 I 15 S. 17
son résultat (cf.
ATF 119 V 208
consid. 4c;
ATF 117 V 282
consid. 4c;
ATF 106 Ia 73
consid. 2a; arrêt non publié du 25 novembre 1987 en la cause B. c. canton de Lucerne, consid. 3a). Le droit à la verbalisation des témoignages découle également du droit à la consultation du dossier, lequel ne peut valablement être exercé que si tous les éléments pertinents y sont consignés (GEORG MÜLLER, in Commentaire de la Constitution fédérale, n. 111 ad
art. 4 Cst.
; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, Berne, 1999, p. 531 s.). Enfin, un procès-verbal des dépositions pertinentes doit permettre à l'autorité de recours de contrôler, s'il y a lieu, que les faits ont été constatés correctement, ou du moins, selon le pouvoir d'examen que lui ménage le droit cantonal, sans arbitraire (
ATF 124 V 389
consid. 4a; cf.
ATF 112 Ia 369
consid. 2b;
ATF 109 Ia 217
consid. 5c; JÖRG PAUL MÜLLER, op. cit., p. 531; BERNARD ABRECHT, L'absence de verbalisation des témoignages en procédure civile et pénale vaudoise est-elle compatible avec l'
art. 4 Cst.
? in JdT 1997 III p. 34 ss, 39 s.). A cet égard, le droit à la verbalisation apparaît aussi comme le complément de l'obligation faite au juge de motiver ses décisions, également imposée par le droit d'être entendu. Cette dernière exigence a pour but que l'intéressé comprenne la décision qui le touche et puisse le cas échéant l'attaquer utilement; elle tend également à permettre à l'autorité de recours de contrôler l'application du droit (
ATF 125 II 369
consid. 2c;
ATF 124 V 180
consid. 1a;
ATF 123 I 21
consid. 2c;
ATF 122 IV 8
consid. 2c). Dans ce contexte, l'
art. 6 CEDH
, comme l'admet la recourante, n'a pas de portée indépendante.
bb) Selon l'art. 325 du code de procédure pénale du canton de Vaud (ci-après CPP vaud.), l'instruction principale est faite aux débats et elle est orale. Par conséquent, les dépositions des témoins ne sont pas verbalisées d'office, sauf s'il y a des raisons sérieuses de penser que leurs déclarations sont fausses (
art. 339 et 351 al. 2 CPP
vaud.). Le résultat de l'appréciation des preuves ne figure ainsi que dans l'état de fait du jugement (
art. 373 al. 2 let. a CPP
vaud.), et ce qui a été dit aux débats ne laisse pas d'autres traces que celles qui pourraient figurer dans les considérants du jugement de première instance (ROLAND BERSIER, Le recours à la Cour de cassation pénale du Tribunal cantonal en procédure vaudoise, in JdT 1996 III p. 66 ss, 80).
Le Tribunal fédéral a relevé, dans deux arrêts récents, que la non-verbalisation des témoignages lors de la phase des débats était susceptible, en procédure pénale vaudoise, de consacrer une violation du droit d'être entendu (arrêts non publiés du 19 mars 1999 en la
BGE 126 I 15 S. 18
cause C., et du 28 avril 1999 en la cause B). En effet, le droit d'être entendu, en tant qu'il garantit le droit de participer à l'administration des preuves et de se déterminer à leur propos, est largement vidé de son sens si le juge du fond choisit unilatéralement les déclarations de témoins dignes d'être retenues dans le jugement, ainsi que leur formulation, sans que les parties puissent y participer. De plus, en l'absence d'un procès-verbal, l'établissement des faits, en tant qu'il repose sur l'appréciation des preuves testimoniales, ne peut faire l'objet d'aucun contrôle - ne serait-ce que sous l'angle de l'arbitraire - par l'autorité cantonale de recours, dès lors que celle-ci ignore le contenu des dépositions faites en première instance (BERNARD ABRECHT, op. cit., in JdT 1997 III p. 34 ss, 45 s.; BENOÎT BOVAY/MICHEL DUPUIS/LAURENT MOREILLON/CHRISTOPHE PIGUET, Procédure pénale vaudoise, code annoté, Lausanne 1995, ad art. 411, p. 357 s. no 10.3). Partant, la simple constatation, dans les considérants du jugement, du résultat de l'appréciation des témoignages ne saurait pallier l'absence d'un procès-verbal de ceux-ci. Le droit d'être entendu tiré de l'
art. 4 Cst.
, corollaire du droit de participer à l'administration des preuves et d'obtenir des décisions motivées, permet aux parties d'exiger du juge de première instance la verbalisation des témoignages importants, et de recourir auprès d'une juridiction supérieure - en l'espèce la Cour de cassation cantonale - contre un refus éventuel. | public_law | nan | fr | 1,999 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
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