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---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
eab62b05-1ec6-411f-992e-d766683e23ab | Urteilskopf
83 IV 191
55. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 31. Oktober 1957 i.S. Varone gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. | Regeste
Verhältnis von
Art. 133 StGB
zu den Bestimmungen über einfache und schwere Körperverletzung. | Sachverhalt
ab Seite 191
BGE 83 IV 191 S. 191
Michele Varone, der im Verlaufe einer Schlägerei zwei Gegner durch Messerstiche verletzt hatte, wurde vom
BGE 83 IV 191 S. 192
Schwurgericht des Kantons Solothurn am 28. März 1957 wegen einfacher und schwerer Körperverletzung und wegen Beteiligung an einem Raufhandel zu einer bedingt aufgeschobenen Freiheitsstrafe von zehn Monaten Gefängnis verurteilt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Michele Varone macht geltend, das Schwurgericht habe
Art. 133 StGB
verletzt. Nachdem er als Urheber der Körperverletzungen festgestellt und dafür zur Rechenschaft gezogen worden sei, könne er nicht auch noch wegen Beteiligung an einem Raufhandel bestraft werden.
Durch die Bestrafung wegen Körperverletzung wird die Beteiligung an einem Raufhandel nicht abgegolten. Zwar wurde
Art. 133 StGB
erlassen, weil es oft schwierig oder gar unmöglich ist, festzustellen, wer für den Tod oder die Körperverletzungen, welche im Raufhandel verursacht werden, verantwortlich ist. Das kann jedoch keineswegs zum Schluss führen, dass bei Feststellung des Verletzers die Anwendung von
Art. 133 StGB
entfalle. Soweit aus den Erwägungen in
BGE 71 IV 180
ff. etwas anderes abzuleiten sein sollte, kann daran nicht festgehalten werden.
Art. 133 StGB
bedroht mit Rücksicht auf die in der Körperverletzung oder Tötung hervorgetretene Gefährlichkeit der Schlägerei für Leib und Leben aller am Raufhandel Beteiligter jeden von ihnen wegen seiner blossen Teilnahme daran, gleichgültig, ob die schwere Folge der Tat von ihm irgendwie verschuldet wurde oder nicht. Damit aber greift der Tatbestand des Raufhandels als eines Gefährdungsdeliktes über denjenigen des Verletzungsdeliktes insofern hinaus, als die Gefährlichkeit einer solchen Schlägerei für sämtliche daran Beteiligten durch das Gelingen des Nachweises, wer die daraus hervorgegangene Körperverletzung oder Tötung begangen hat, nicht beseitigt wird.
Lässt aber nach dem Gesagten die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Körperverletzung für eine gleichzeitige
BGE 83 IV 191 S. 193
Anwendung von
Art. 133 StGB
Raum, so hat die Vorinstanz richtigerweise Konkurrenz zwischen dieser Bestimmung und
Art. 122 und 123 StGB
angenommen. | null | nan | de | 1,957 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eabd9455-9336-408c-9629-e36513b472ed | Urteilskopf
84 IV 3
2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. März 1958 i.S. Buri gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau. | Regeste
Art. 42 StGB
.
Zahlreiche Freiheitsstrafen; Hang zu Verbrechen oder Vergehen. | Sachverhalt
ab Seite 3
BGE 84 IV 3 S. 3
A.-
Der im Jahre 1933 geborene Rudolf Buri hat ausser drei in den Jahren 1950-1955 ausgefällten Bussen folgende Strafen erlitten:
a) am 14. Oktober 1953 sechzig Tage Gefängnis wegen Diebstahls und Widerhandlungen gegen das MFG;
b) am 28. April 1954 dreissig Tage Gefängnis wegen Diebstahls;
c) am 16. Februar 1955 hundertachtzig Tage Gefängnis wegen gewerbsmässigen Diebstahls, Betruges und Urkundenfälschung;
d) am 29. September 1955 dreissig Tage Haft wegen Führens von Motorfahrzeugen ohne Ausweis;
e) am 30. Oktober 1956 sieben Monate Gefängnis wegen versuchten und vollendeten Diebstahls, Meuterei von Gefangenen usw.;
f) am 30. Januar 1957 fünf Monate Gefängnis wegen wiederholten Diebstahls.
BGE 84 IV 3 S. 4
Am 27. November 1957 verurteilte die Kriminalkammer des Kantons Thurgau Buri erneut wegen einfachen und gewerbsmässigen Diebstahls, sowie wegen wiederholten Führens eines Motorfahrzeuges ohne Führerausweis und wegen Entwendung eines Motorfahrzeuges zum Gebrauch zu vierzehn Monaten Zuchthaus und zu einer Busse von Fr. 80.-. An Stelle der Freiheitsstrafe erkannte das Gericht auf Verwahrung im Sinne des
Art. 42 StGB
und auf zehnjährige Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit gemäss
Art. 52 Ziff. 1 Abs. 3 StGB
.
B.-
Buri greift dieses Urteil mit der Nichtigkeitsbeschwerde an. Er macht geltend, die Kriminalkammer habe ihn zu Unrecht des gewerbsmässigen Diebstahls schuldig erklärt. Weiter wendet er sich gegen die Verwahrung nach
Art. 42 StGB
, gegen die Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit auf die Dauer von zehn Jahren und gegen die Belastung mit 7/8 der Kosten der amtlichen Verteidigung.
C.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Durch das angefochtene Urteil ist der Beschwerdeführer u.a. des Diebstahls, also eines Verbrechens (Art. 137 in Verbindung mit
Art. 9 Abs. 1 StGB
) schuldig erklärt worden. Gemäss
Art. 42 Ziff. 1 StGB
kann er daher auf unbestimmte Zeit verwahrt werden, sofern er wegen Verbrechen oder Vergehen schon zahlreiche Freiheitsstrafen verbüsst hat und einen Hang zu Verbrechen oder Vergehen, zur Liederlichkeit oder Arbeitsscheu bekundet.
Entgegen der Bestreitung des Beschwerdeführers ist die erste Voraussetzung erfüllt. Wohl fallen, was die Vorinstanz offenbar übersehen hat, in diesem Zusammenhang von den neun Vorstrafen, die er bereits erlitten hat, die drei Bussen und die am 29. September 1955 wegen Widerhandlung gegen Art. 5 Abs. 2 MFG, also wegen einer Übertretung, ausgesprochene Haftstrafe ausser Betracht. Auch
BGE 84 IV 3 S. 5
dann verbleiben aber noch fünf wegen Verbrechen oder Vergehen verbüsste Freiheitsstrafen. Nach der Rechtsprechung des Kassationshofes sind das zahlreiche im Sinne des Gesetzes, zumal keine davon ausgesprochen leicht war und sich alle innert weniger Jahre in regelmässigen Abständen folgten (vgl.
BGE 69 IV 101
;
BGE 75 IV 100
). Dass der Beschwerdeführer offenbar drei dieser fünf Freiheitsstrafen in einem Zuge verbüsst hat, ändert nichts, da auch in diesem Falle jede der Strafen im Sinne von
Art. 42 StGB
als eine besondere zählt (Urteil des Kassationshofes vom 12. November 1954 i.S. Vögeli).
Da die Zahl der wegen Verbrechen und Vergehen verbüssten Gefängnisstrafen jedoch nur knapp über der Grenze liegt, die in
Art. 42 Ziff. 1 StGB
durch das Erfordernis der zahlreichen Freiheitsstrafen gezogen wird, kann aus ihr nicht ohne weiteres abgeleitet werden, dass der Beschwerdeführer einen Hang zu Verbrechen und Vergehen habe. Damit ein solcher angenommen werden könnte, müssten weitere Umstände zwingend darauf hinweisen, dass der Beschwerdeführer zufolge Charakterschwäche jeder Tatkraft ernsten Treibens ermangelt und daher keiner Versuchung zu widerstehen vermag (Botschaft zum Entwurf 1918 S. 16;
BGE 69 IV 192
,
BGE 70 IV 58
). Die rasche Folge der fünf Verurteilungen zu Gefängnisstrafen von dreissig Tagen bis zu sieben Monaten, die sich auf einen Zeitraum von nicht einmal fünf Jahren verteilen, und die lange Reihe von neuen Verbrechen, die der Beschwerdeführer kurz nach Verbüssung der letzten Strafe innert weniger Wochen begangen hat, legt zwar eine ungünstige Prognose nahe. Diese wird ferner noch verstärkt durch die - wenn auch leichte - Verminderung der Zurechnungsfähigkeit, die der Beschwerdeführer nach dem von der Vorinstanz herangezogenen psychiatrischen Gutachten vergeblich bestreitet.
Anderseits darf aber nicht übersehen werden, dass der Beschwerdeführer erst fünfundzwanzig Jahre alt ist. Bei diesem Alter erscheint als zweifelhaft, ob die fünf Gefängnisstrafen
BGE 84 IV 3 S. 6
zum Schlusse berechtigen, sie hätten genügt, ihn zu bessern, wenn er überhaupt besserungsfähig wäre. Sie beweisen nicht ohne weiteres, dass mit Strafe, auch mit der schwersten, gegen seine Neigung zu Verbrechen oder Vergehen auf die Dauer nicht aufzukommen wäre (vgl.
BGE 75 IV 100
). Der 25jährige Beschwerdeführer erscheint wegen dieser immerhin nicht besonders zahlreichen Vorstrafen noch nicht als unverbesserlicher Gewohnheitsverbrecher, auf die die schwerwiegende Massnahme einer mindestens dreijährigen und darüber hinaus noch unbestimmten Verwahrung zugeschnitten ist. Ein nochmaliger eindringlicher Besserungsversuch darf daher nicht von vorneherein als aussichtslos von der Hand gewiesen werden. Dieser Versuch drängt sich umso mehr auf, als zu den neuen Verfehlungen beigetragen haben mag, dass der Beschwerdeführer offenbar aus der letzten Strafverbüssung ohne zweckmässige moralische und materielle Stütze in die Freiheit entlassen worden ist, obwohl in seinem Alter und nach seinem Vorleben eine solche Stütze in besonderem Masse angezeigt gewesen wäre. Da der Beschwerdeführer gemäss
Art. 371 ZGB
unter Vormundschaft zu stellen ist und diese offenbar auch gestützt auf
Art. 369 ZGB
angeordnet werden muss, kann erwartet werden, dass er nach Verbüssung der neuen Strafe zweckmässig betreut werden wird. Auch der psychiatrische Experte hält es nicht für ausgeschlossen, dass sich die Widerstandskraft des Verurteilten unter sorgfältiger vormundschaftlicher Führung mit zunehmendem Alter festigen kann und damit eine Abkehr von der deliktischen Neigung erreicht wird. | null | nan | de | 1,958 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eabef0f7-1360-406b-bf61-c480c4a7309e | Urteilskopf
101 IV 238
53. Urteil des Kassationshofes vom 25. April 1975 i.S. Jucker gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich | Regeste
Art. 47 Abs. 5 VRV
.
Der Führer eines Fahrzeuges darf unter Vorbehalt der in
Art. 26 Abs. 2 SVG
genannten Fälle darauf vertrauen, dass ein Fussgänger auf einer Verkehrsinsel einen Sicherheitshalt einschaltet, bevor er die Fahrbahn betritt. Das gilt auch ausserhalb von Fussgängerstreifen und auch für Anlagen, die nicht wie eigentliche Verkehrsinseln gebaut sind, diesen jedoch faktisch entsprechen (asphaltiertes "Bödeli" im Winkel zweier spitzwinklig zusammenlaufender Strassen). | Sachverhalt
ab Seite 239
BGE 101 IV 238 S. 239
A.-
Am 5. Februar 1974, um 13.45 Uhr lenkte Jucker einen VW-Lieferwagen mit 30-40 km/Std. in Wallisellen vom Kreuzplatz her durch die Rosenbergstrasse. Unmittelbar nach der rechtsseitigen Einmündung der Kirchstrasse zweigt von der Rosenbergstrasse nach links in spitzem Winkel die Säntisstrasse ab. Die Spitze des durch diese Strassen gebildeten Winkels besteht in einer 2,30 m langen und 0,60 m breiten, über das Strassenniveau erhöhten kleinen Plattform ("Bödeli"). (Skizze nicht wiedergegeben)
Als Jucker sich der Verzweigung näherte, um nach links in die Säntisstrasse abzubiegen, überquerte die 79jährige Emma Fetz mit nach rechts abgewandtem Blick ausserhalb des Fussgängerstreifens von rechts nach links die Rosenbergstrasse bis zum "Bödeli". Danach betrat sie die Säntisstrasse, um auch diese zu überqueren. In diesem Augenblick wurde sie von Jucker angefahren. Sie erlitt dabei schwere Verletzungen, denen sie einige Stunden nach dem Unfall erlag.
BGE 101 IV 238 S. 240
B.-
Das Bezirksgericht Bülach verurteilte Jucker am 26. September 1974 wegen fahrlässiger Tötung und Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges (
Art. 93 Ziff. 2 SVG
in Verbindung mit
Art. 34 Abs. 1 BAV
) zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 500.--.
Am 17. Dezember 1974 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich den erstinstanzlichen Entscheid.
C.-
Jucker führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt Freisprechung vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Verurteilung wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges (defekte Hupe) wird vom Beschwerdeführer nicht angefochten. Zur Beurteilung steht somit nur die Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung.
2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe keine Verkehrsregeln verletzt. Frau Fetz habe für ihn überraschend und in unverständlicher Weise die Säntisstrasse in einem Zeitpunkt betreten, als der Unfall unvermeidbar gewesen sei. Sie habe die Rosenbergstrasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens überquert und auch die Säntisstrasse an einem Ort betreten, wo sich kein solcher befunden habe. Der nächste Streifen sei 14 m entfernt gewesen. Auch wenn Rosenberg- und Säntisstrasse häufig an der betreffenden Stelle überschritten würden, wozu das "Bödeli" geradezu einlade, habe Frau Fetz ihm doch gemäss
Art. 47 Abs. 5 VRV
den Vortritt lassen müssen. Das Vortrittsrecht gelte zwar nicht absolut. Vielmehr habe auch der Vortrittsberechtigte alles zu tun, um einen Unfall zu vermeiden, wenn Anzeichen für ein Fehlverhalten eines andern Strassenbenützers beständen. Solche Anzeichen müssten jedoch derart erheblich sein, dass die Gefahr eines Unfalls als "imminent" erscheine. Aus der Tatsache allein, dass ein Fussgänger trotz der Nähe eines Streifens ausserhalb eines solchen die Strasse überquere, könne und müsse noch nicht geschlossen werden, er werde einem sich nähernden Motorfahrzeug den Vortritt nicht lassen.
Im vorliegenden Fall habe die Vorinstanz zu Unrecht solche Anzeichen für ein Fehlverhalten der Frau Fetz bejaht. Diese habe die beiden Strassen nicht in einem Zuge überquert. Zuerst habe sie die Rosenbergstrasse überschritten und diese Phase mit dem Erreichen des "Bödelis" abgeschlossen. Dieses sei
BGE 101 IV 238 S. 241
eine Anlage, welche dem Fussgänger das gefahrlose Überqueren der beiden Strassen ermöglichen solle. Indessen müsse er auf dem Bödeli stehen bleiben und sich vor dem Betreten der zweiten Strasse neu orientieren. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach er als Fahrzeugführer dem entgegen nicht mit einem Sicherheitshalt habe rechnen dürfen, weil das Bödeli keine Fussgängerinsel sei, treffe daher nicht zu. Wenn schon nach
BGE 94 IV 142
der Motorfahrzeugführer nicht verpflichtet sei, bei einem von links kommenden Fussgänger seine Geschwindigkeit herabzusetzen, weil er davon ausgehen dürfe, dieser werde in der Strassenmitte anhalten, so habe der Beschwerdeführer umso mehr damit rechnen dürfen, Frau Fetz werde auf der kleinen Plattform anhalten und sich vergewissern, ob ein Überqueren der Säntisstrasse möglich sei.
Mit einem andern Verhalten habe er auch nicht deswegen rechnen müssen, weil die Fussgängerin nur nach rechts geblickt habe. Dass sie dies auf der zweiten Hälfte der Rosenbergstrasse getan habe, sei durchaus vernünftig gewesen, da sie einen allfälligen Verkehr aus jener Richtung habe erwarten müssen. Auf dem Bödeli habe sich dann auch die zuvor verdeckte Sicht nach rechts in die Säntisstrasse geöffnet, sodass ihr Verhalten auch in diesem Zeitpunkt natürlich gewesen sei. Die Dauer, während welcher sie unverwandt nach rechts geblickt habe, sei von der Vorinstanz selber mit 2,7 Sekunden angegeben worden, was nicht aussergewöhnlich lange gewesen sei.
Sodann könne auch aus dem Umstand, dass er Bremsbereitschaft erstellt habe, nichts für ihn Nachteiliges gefolgert werden. Schliesslich habe die Vorinstanz nicht geprüft, ob er hätte erkennen können, dass es sich bei der Fussgängerin um eine alte Frau gehandelt habe. Er hätte dies tatsächlich nicht tun können, weil die Fussgängerin während der Zeit, da er sie beobachtet habe, nicht nach seiner Seite hin geblickt habe. Ihr Gang aber sei normal gewesen und habe nicht auf ihr hohes Alter schliessen lassen. Auch Zeugen hätten sie nicht als alte Frau erkannt. Er habe deshalb keinen Grund gehabt, seine an sich geringe Geschwindigkeit noch zu mässigen oder ein Warnsignal zu geben.
3.
Der Beschwerdeführer war gegenüber der Fussgängerin, welche die beiden Strassen ausserhalb eines Fussgängerstreifens zu überqueren beabsichtigte, unzweifelhaft vortrittsberechtigt
BGE 101 IV 238 S. 242
(
Art. 47 Abs. 5 VRV
;
BGE 97 IV 127
). Er musste deshalb die Geschwindigkeit von 30 km/Std., welche auch von der Vorinstanz als an sich angemessen bezeichnet wird, nicht wegen der die Rosenbergstrasse in Richtung auf das "Bödeli" überquerenden Fussgängerin zum vorneherein herabsetzen. Dazu bestand auch nicht deswegen Anlass, weil Frau Fetz auf der zweiten Hälfte der Rosenbergstrasse nach rechts blickte. Wie der Beschwerdeführer mit Fug geltend macht, war dieses Verhalten durchaus vernünftig, weil jener Raum dem für die Fussgängerin von rechts kommenden Verkehr zustand. In dieser Phase des Geschehens lag deshalb im Verhalten der Fussgängerin noch kein Indiz dafür, dass sie in der Folge in die Bahn des Beschwerdeführers hineinlaufen würde.
4.
Dagegen stellt sich die Frage, ob in deren Benehmen nach Erreichen der kleinen Plattform ein solches Anzeichen zu erblicken war.
Die Auffassung der Vorinstanz, wonach es sich bei dem "Bödeli" nicht um eine der in verkehrsreichen Strassen üblicherweise zum Schutz der Fussgänger angelegte Schutzinsel handle und sich der Beschwerdeführer deshalb nicht darauf habe verlassen dürfen, dass die Geschädigte auf jener Plattform vor dem Betreten der Säntisstrasse einen Sicherheitshalt machen und sich vergewissern werde, ob aus der Anfahrtsrichtung des Beschwerdeführers nicht Fahrzeuge herannahen würden, vermag nicht zu überzeugen. Wohl trifft es zu, dass das besagte "Bödeli" nicht durch Fussgängerstreifen mit den gegenüberliegenden Strassenrändern verbunden ist und damit nicht dem entspricht, was üblicherweise als Fussgängerschutzinsel gilt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die den Winkel zwischen den beiden Strassen ausfüllende Rabatte von den Behörden selber so ausgestaltet worden ist, dass deren Spitze nicht wie der übrige Teil bepflanzt, sondern geteert ist. Damit aber - und insoweit ist dem Beschwerdeführer beizupflichten - wurde faktisch eine Anlage geschaffen, die derjenigen einer üblichen Schutzinsel entspricht (BUSSY/RUSCONI, N. 3 zu
Art. 7 VRV
), bzw. von den Strassenbenützern als solche verstanden werden konnte, zumal das Gesetz den Begriff der Verkehrsinsel (
Art. 7 Abs. 3 VRV
) nicht näher umschreibt. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden, der Automobilist dürfe (immer unter Vorbehalt anderer Gefahrenzeichen) sich nicht darauf verlassen, dass ein Fussgänger, der
BGE 101 IV 238 S. 243
sich von der einen Seite auf eine solche Plattform hinbewegt, auf dieser einen Sicherheitshalt einschalte, bevor er die Insel nach der andern Seite hin verlässt, um die andere Fahrbahn zu überqueren. Eine solche Betrachtungsweise liesse ausser acht, dass es in erster Linie Pflicht des wartepflichtigen Fussgängers ist, in solcher Lage besondere Vorsicht an den Tag zu legen, und dass deshalb der Motorfahrzeugführer - mit Ausnahme der in
Art. 26 Abs. 2 SVG
genannten Fälle - als selbstverständlich voraussetzen darf, der Fussgänger werde erst recht auf der Plattform anhalten und sich nach dem Verkehr auf der vor ihm durchgehenden Fahrbahn umsehen, da er die Strasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens überquert (s.
BGE 94 IV 142
,
BGE 97 IV 127
). Der Beschwerdeführer musste somit nicht schon deswegen, weil das "Bödeli" nicht den üblichen Anlagen einer Schutzinsel entsprach, mit der nahen Möglichkeit rechnen, dass Frau Fetz, die zuvor keine besondere Eile gezeigt hatte, ihren Weg nach Erreichen der Plattform praktisch in einem Zuge fortsetze, wie das die Vorinstanz annahm (
BGE 96 IV 132
,
BGE 97 IV 127
).
Unter diesen Umständen genügte der Beschwerdeführer seiner Vorsichtspflicht, wenn er in diesem Moment, d.h. als sich die Fussgängerin noch auf dem "Bödeli" befand, bloss Bremsbereitschaft erstellte. In dieser Phase des Geschehens war er demnach nicht verpflichtet, sein Fahrzeug bereits abzubremsen, da er damit rechnen durfte, Frau Fetz werde vor dem Betreten der Säntisstrasse noch nach links blicken. Das Bremsmanöver musste er erst dann beginnen, als die Fussgängerin das "Bödeli" verliess und auf die Säntisstrasse hinaustrat.
5.
Da die fahrlässige Tötung ein Erfolgsdelikt ist, stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer zeitlich überhaupt in der Lage war, sein Fahrzeug vor der Fussgängerin anzuhalten. Die Vorinstanz hat das bejaht, jedoch aufgrund einer zeitlichen Berechnung, die von dem Augenblick ausging, in welchem der Beschwerdeführer Frau Fetz zum ersten Mal erblickte, m.a.W., als diese noch auf der Rosenbergstrasse 1,50 m vom "Bödeli" entfernt war. Wie bereits ausgeführt, hat jedoch der Beschwerdeführer in diesem Zeitpunkt allein deswegen, weil Frau Fetz stets nach rechts blickte, noch keine Veranlassung gehabt, mit einem Fehlverhalten der Fussgängerin zu rechnen (Erw. 3 oben). Anders wäre es nur dann, wenn
BGE 101 IV 238 S. 244
anzunehmen wäre, der Beschwerdeführer habe schon in jenem Zeitpunkt erkennen können, dass es sich um eine betagte Frau gehandelt hat, die sich infolge ihres Alters nicht mehr verkehrsgerecht verhalten werde. Wie es sich damit verhielt, hat das Obergericht offen gelassen. Die Frage ist indessen zu entscheiden.
Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie zu diesem Punkt Stellung nehme. Sollte sie nach Anhörung des Beschwerdeführers (
BGE 74 I 10
, 98 IV 59) zu einer positiven Beantwortung der Frage gelangen, dann hätte dieser schon als er sah, dass Frau Fetz ausserhalb eines Fussgängerstreifens die Rosenbergstrasse überquerte, alles zur Vermeidung des Unfalls vorkehren müssen, denn "alten" Leuten gegenüber kann sich der Führer nicht auf das Vertrauensprinzip berufen (
Art. 26 Abs. 2 SVG
; v. WERRA, ZWR 1970, S. 200 Ziff. 2 und S. 203). Diesfalls müsste es auch bei der von der Vorinstanz auf den Seiten 11/12 des angefochtenen Urteils angestellten Berechnung sein Bewenden haben und der Beschwerdeführer wäre erneut der fahrlässigen Tötung schuldig zu erklären.
Im Falle einer negativen Antwort wird die Vorinstanz abzuklären haben, ob der Beschwerdeführer zeitlich in der Lage war, sein Fahrzeug rechtzeitig anzuhalten, als die Fussgängerin die Säntisstrasse betrat. Insbesondere wird zu prüfen sein, in welcher Entfernung sich das Fahrzeug des Beschwerdeführers von Frau Fetz befand, als diese vom "Bödeli" auf die Strasse hinaustrat und in welchem Zeitpunkt der Beschwerdeführer zu bremsen begann. Zeigt es sich anhand der erneut anzustellenden Berechnungen, dass dieser vom Moment an, wo die Fussgängerin das "Bödeli" verliess, auch bei Vollbremsung einen Zusammenstoss nicht mehr vermeiden konnte, so wird er vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freizusprechen sein, zumal ihm keine Anzeichen den Eindruck vermittelten, die Fussgängerin werde sich unkorrekt verhalten und ihm den Vortritt nicht lassen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. | null | nan | de | 1,975 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eac1bad7-af59-4d2a-89da-e1bba05f0005 | Urteilskopf
116 V 161
29. Urteil vom 22. März 1990 i.S. L. gegen Bundesamt für Militärversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft | Regeste
Art. 12 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 MVG
,
Art. 5 VwVG
: Bedeutung des Vorschlages auf Erledigung und des dagegen erhobenen Einspruches. Rechtsfolgen bei unterbliebener Annahme.
- Der innert Frist nicht ausdrücklich angenommene Vorschlag auf Erledigung im Sinne von
Art. 12 Abs. 1 MVG
weist keinen Verfügungscharakter auf. Deshalb stellt auch das durch einen Einspruch ausgelöste, in
Art. 12 Abs. 3 MVG
vorgesehene weitere Verfahren kein eigentliches Einspracheverfahren dar.
- Kündigt die Direktion der Militärversicherung nach erhobenem Einspruch und erneuter Prüfung eine Verschlechterung der Rechtsstellung im Vergleich zu der im Vorschlag enthaltenen Regelung an (wozu sie zur Wahrung des rechtlichen Gehörs vor Erlass einer entsprechenden Verfügung verpflichtet ist), kann der Betroffene daher durch nachträglichen Rückzug des Einspruchs nicht mehr bewirken, dass der ursprüngliche Vorschlag rechtskräftig wird, und damit die drohende Schlechterstellung abwenden. | Sachverhalt
ab Seite 162
BGE 116 V 161 S. 162
A.-
Das Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) teilte dem 1928 geborenen Peter L. im Rahmen eines Rentenrevisionsverfahrens mit Vorschlag vom 12. April 1985 mit, dass die laufende Invalidenrente von 40% per 31. Mai 1985 aufgehoben und ab 1. Juni 1985 durch eine Invalidenrente von 15% und eine Integritätsrente ersetzt werde. Auf Einspruch des Versicherten hin hob das BAMV die Invalidenrente von 40% mit Verfügung vom 11. Oktober 1985 indessen auf den 1. Juni 1985 vollumfänglich auf und sprach Peter L. mit Wirkung ab 1. Juni 1985 eine Integritätsrente zu.
Beschwerdeweise liess der Versicherte beantragen, unter Aufhebung der Verfügung vom 11. Oktober 1985 sei die Militärversicherung zu verpflichten, ihm ab 1. Juni 1985 weiterhin eine Invalidenrente von 40% auf unbestimmte Zeit auszurichten. - Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft hob die angefochtene Verfügung mit Entscheid vom 10. September 1986 ohne materielle Prüfung auf und wies die Sache an das BAMV zurück, damit es dem Versicherten vor Erlass einer neuen Verfügung Gelegenheit einräume, sich zu einer allfälligen sich zu seinen Ungunsten auswirkenden Änderung des Vorschlages vom 12. April 1985 zu äussern. Dabei vertrat das kantonale Versicherungsgericht die Auffassung, es sei der Militärversicherung grundsätzlich nicht verwehrt, die in einem Vorschlag enthaltene Regelung zuungunsten des Versicherten abzuändern, doch dürfe eine solche Verschlechterung der Rechtsstellung nicht ohne vorherige Anhörung des Betroffenen erfolgen. - Das Eidg. Versicherungsgericht wies die vom BAMV gegen den kantonalen Entscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit Urteil vom 10. August 1987 ab.
Am 21. September 1987 teilte das BAMV Peter L. mit, es halte an der Aufhebung der Invalidenrente fest, und verwies zur Begründung auf die Verfügung vom 11. Oktober 1985. Gleichzeitig räumte es dem Versicherten eine Frist von 30 Tagen ein, um zur
BGE 116 V 161 S. 163
vorgesehenen Verschlechterung Stellung zu nehmen. Mit Eingabe vom 8. Oktober 1987 zog der Versicherte den gegen den Vorschlag vom 12. April 1985 erhobenen Einspruch zurück und stimmte dem ursprünglichen Vorschlag zu.
Mit Verfügung vom 3. November 1987 bestätigte das BAMV diejenige vom 11. Oktober 1985. Zur Begründung führte es aus, nach Ablauf der Frist zur Annahme des Vorschlages bzw. Erhebung des Einspruchs stehe dem Versicherten kein Wahlrecht über das weitere Vorgehen mehr zu; dies namentlich dann nicht, wenn die Direktion wegen des erhobenen Einspruchs den Fall überprüfe und eine Schlechterstellung des Versicherten für angebracht halte; das Eidg. Versicherungsgericht habe im Urteil vom 10. August 1987 ausdrücklich festgehalten, dass die Militärversicherung auf die im Vorschlag mitgeteilte Absicht zuungunsten des Versicherten zurückkommen könne; diese Möglichkeit würde unterhöhlt, wenn nachträglich noch eine Zustimmung zum Vorschlag erfolgen könnte, um diesen in Rechtskraft erwachsen zu lassen; die Überprüfungsmöglichkeit könnte sich damit einzig zugunsten des Versicherten auswirken.
B.-
Beschwerdeweise liess Peter L. beantragen, in Aufhebung der Verfügung vom 3. November 1987 sei die Militärversicherung zu verpflichten, ihm ab 1. Juni 1985 eine Invalidenrente von 15% auf unbestimmte Zeit auszurichten; die angefochtene Verfügung missachte den Rückzug des Einspruchs und setze die reformatio in peius trotz des erfolgten Rechtsmittelrückzugs durch; weil der Vorschlag vom 12. April 1985 mit dem Rückzug des Einspruchs am 8. Oktober 1987 rechtskräftig geworden sei, müsse die angefochtene Verfügung als unzulässig qualifiziert werden, weshalb der Versicherte die Aufhebung der Verfügung und die Festsetzung der Invalidenrente gemäss dem rechtskräftigen Vorschlag vom 12. April 1985 beantrage.
Das BAMV stellte den Antrag auf Abweisung der Beschwerde; eventuell sei der Vorschlag vom 12. April 1985 im Sinne einer Wiedererwägung aufzuheben und die Verfügung vom 11. Oktober 1985 bzw. vom 3. November 1987 zu bestätigen. Im wesentlichen machte das Bundesamt geltend, dem Versicherten das rechtliche Gehör gewährt zu haben; die gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag reformatorische Verfügung stelle keine reformatio in peius im klassischen Sinne dar; mache der Versicherte innert der 30tägigen Frist von seinem Recht der Zustimmung zum Vorschlag keinen Gebrauch, laufe das Verfahren weiter.
BGE 116 V 161 S. 164
Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft wies die Beschwerde mit Entscheid vom 26. Oktober 1988 ab. Es kam zum Schluss, beim Einspruch gegen einen Vorschlag handle es sich nicht um ein eigentliches Rechtsmittelverfahren, sondern lediglich um ein besondern Regeln unterworfenes Verfahren zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs; der Vorschlag stelle keine Verfügung dar, weshalb der Rückzug des Einspruchs und die damit verbundene Zustimmung zum Vorschlag diesen nachträglich nicht mehr zur verbindlichen Anordnung werden liessen.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Peter L. beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheides seien die Verfügung des BAMV vom 3. November 1987 aufzuheben und die Militärversicherung zu verpflichten, ihm ab 1. Juni 1985 eine Invalidenrente von 15% auf unbestimmte Zeit auszurichten.
Das BAMV schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Wie das Eidg. Versicherungsgericht bereits im Urteil vom 10. August 1987 festgehalten hat, ist die Militärversicherung eine selbständige Verwaltungsabteilung des Bundes (
Art. 61 Abs. 1 MVG
), auf deren Verfahren das VwVG Anwendung findet (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a VwVG); zusätzlich sind die weitergehenden Verfahrensbestimmungen des
Art. 12 MVG
- weil dem VwVG nicht widersprechend - anwendbar (
Art. 4 VwVG
).
Gemäss
Art. 12 Abs. 1 MVG
teilt die Militärversicherung dem Gesuchsteller ihre Absichten in Form eines schriftlichen und begründeten Vorschlages auf Erledigung mit, der über Anerkennung oder Ablehnung seiner Ansprüche und gegebenenfalls über Art und Mass der ihm bewilligten Leistungen Aufschluss gibt; in diesem Vorschlag ist der Gesuchsteller darauf aufmerksam zu machen, dass er gehalten ist, innert 30 Tagen schriftlich zu erklären, ob er ihn annimmt oder gegen ihn Einspruch erhebt. Der ausdrücklich angenommene Vorschlag erlangt laut Abs. 2 dieser Bestimmung die Rechtskraft einer endgültigen Verfügung, unter Vorbehalt der Revision nach
Art. 13 MVG
. Wird Einspruch erhoben oder hat sich der Gesuchsteller in der gesetzten Frist nicht geäussert, so gehen die Akten nach
Art. 12 Abs. 3 MVG
an die Direktion der Versicherung, die nach erneuter Prüfung eine begründete Verfügung trifft; in derselben ist der Gesuchsteller auf
BGE 116 V 161 S. 165
sein Klagerecht, die für die Anbringung der Klage zu beobachtende Frist und Form sowie auf die zuständige Gerichtsinstanz aufmerksam zu machen.
b) Im Urteil vom 10. August 1987 hat das Eidg. Versicherungsgericht die Frage offengelassen, ob die in
Art. 12 Abs. 3 MVG
normierte spezielle Ordnung ein eigentliches Einspracheverfahren darstellt oder lediglich dazu dient, dem Versicherten das rechtliche Gehör zu verschaffen. Es hielt indessen ausdrücklich fest, aus
Art. 12 Abs. 3 MVG
folge, dass es dem BAMV grundsätzlich nicht verwehrt sei, auf die im Vorschlag nach
Art. 12 Abs. 1 MVG
mitgeteilte Absicht zuungunsten des Versicherten zurückzukommen, sofern der Betroffene vorher angehört werde. Nicht bestätigt hat das Eidg. Versicherungsgericht jedoch, entgegen der Darstellung in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die von der Vorinstanz im Entscheid vom 10. September 1986 noch vertretene Auffassung, wonach das zu gewährleistende rechtliche Gehör auch die Möglichkeit umfasse, den erhobenen Einspruch zurückzuziehen und damit den Vorschlag nachträglich rechtskräftig werden zu lassen.
Mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass für die Charakterisierung der in
Art. 12 Abs. 3 MVG
vorgesehenen Verfahrensregelung ausschlaggebend ist, ob der Vorschlag nach
Art. 12 Abs. 1 MVG
als Verfügung zu gelten hat. Nur wenn in Gestalt des Vorschlags bereits eine Verfügung vorliegt, kann das in
Art. 12 MVG
normierte Verfahren als eigentliches Einspracheverfahren angesehen und damit einer drohenden Verschlechterung der Rechtsstellung des Versicherten dadurch entgangen werden, dass der gegen den Vorschlag gerichtete Einspruch zurückgezogen wird mit der Wirkung, dass dieser ohne weiteres in Rechtskraft erwächst; notwendiges Begriffsmerkmal des eigentlichen Einspracheverfahrens ist nämlich, dass sich der Einsprecher in einer Rechtsstellung befindet, die auf einer Verfügung beruht (KEISER, Die reformatio in peius in der Verwaltungsrechtspflege, Diss. Zürich 1979, S. 30).
Der Verfügungsbegriff ist in
Art. 5 Abs. 1 VwVG
umschrieben. Danach gelten als Verfügungen Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und zum Gegenstand haben:
a. Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten;
b. Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten;
BGE 116 V 161 S. 166
c. Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren.
2.
a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat die Frage nach dem Verfügungscharakter des Vorschlages im Sinne von
Art. 12 Abs. 1 MVG
bis anhin nicht entschieden. In
BGE 105 V 95
Erw. 3 hielt es lediglich fest, dass die in
Art. 11 Abs. 5 MVG
vorgesehene, dem Vorschlag vorausgehende Mitteilung (der sog. "Préavis") als Teil des Erhebungsverfahrens keinen Verfügungscharakter aufweist. In der Literatur wird die Frage, ob es sich beim Vorschlag auf Erledigung nach
Art. 12 Abs. 1 MVG
um eine Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
handelt, nicht einheitlich beantwortet. Während MAURER die Frage offenlässt (Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 586; vgl. auch Bd. I, S. 441), scheint GYSIN demgegenüber anzunehmen, dass es sich um eine Verfügung handelt (Die Durchsetzung von Leistungsansprüchen im Bereich der sozialen Sicherheit, SZS 1974 S. 12).
b) Zunächst ist der Vorinstanz darin beizupflichten, bereits der Wortlaut von
Art. 12 Abs. 1 MVG
deute darauf hin, dass der Vorschlag keine Verfügung darstellt. Der Vorschlag beinhaltet nur die Absicht der Militärversicherung bezüglich der Anerkennung oder Ablehnung der Ansprüche des Versicherten. Er soll folglich nicht bereits eine verbindliche hoheitliche Regelung über diese Ansprüche treffen, sondern lediglich über die Absichten der Verwaltung informieren.
c) Entscheidend ist indessen - wie das kantonale Gericht ebenfalls zutreffend erkannte - die Ordnung des
Art. 12 Abs. 3 MVG
, wonach auch bei Stillschweigen des Gesuchstellers innert der vorgesehenen Frist die Akten an die Direktion der Militärversicherung gehen, welche nach erneuter Prüfung eine begründete Verfügung erlässt. Der Botschaft des Bundesrates betreffend Änderung des Bundesgesetzes über die Militärversicherung vom 26. März 1963 ist zu entnehmen, dass die Verantwortung für eine solche Verfügung beim Direktor der Versicherung bleiben solle; den Kreisen der Versicherung hingegen werde nicht mehr ermöglicht, Verfügungen zu erlassen; ihnen komme lediglich die Kompetenz zu, dem Versicherten das Ergebnis ihrer Erhebungen in Form eines schriftlichen und begründeten Antrages auf Erledigung mitzuteilen; nur im Falle der ausdrücklichen Zustimmung des Versicherten solle dieser Antrag die Rechtskraft einer endgültigen Verfügung erhalten; alle streitigen Fälle hingegen seien Gegenstand reiflicher
BGE 116 V 161 S. 167
Überlegung in Form einer doppelten Prüfung, indem bei Einspruch unter Stillschweigen des Versicherten die Direktion den Fall ein zweites Mal überprüfe und anschliessend die rechtskräftige Verfügung erlasse (BBl 1963 I 854).
Daraus ist zu folgern, dass dem Vorschlag als solchem nach Sinn und Zweck der dargestellten Ordnung die einer Verfügung begriffsnotwendig zukommende Kraft fehlt, eine Rechtslage verbindlich festzulegen. Im eigentlichen Einspracheverfahren dagegen ist es nach den zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz gerade der Normalfall, dass die erlassene Verfügung - wenn innert der vorgesehenen Frist keine Einsprache erfolgt - ohne weiteres in Rechtskraft erwächst und damit verbindlich über die zu beurteilende Rechtslage entscheidet. In offensichtlichem Gegensatz dazu führt das Stillschweigen des Versicherten auf den Vorschlag nicht zu dessen Rechtskraft, sondern nur dazu, dass das Verfahren zum Erlass einer Verfügung auf die Direktion der Militärversicherung übergeht.
3.
Unter diesen Umständen kann der Vorschlag nach
Art. 12 Abs. 1 MVG
nicht als Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
qualifiziert werden. Die in
Art. 12 Abs. 3 MVG
normierte spezielle Ordnung stellt deshalb auch kein eigentliches Einspracheverfahren dar, sondern dient lediglich dazu, dem Versicherten ein weiteres Mal das rechtliche Gehör zu verschaffen. Dieser Verfahrenscharakter bewirkt, dass der Rückzug des Einspruchs und die damit vom Beschwerdeführer beabsichtigte Zustimmung zum Vorschlag diesen nachträglich nicht mehr zur verbindlichen Anordnung im Sinne einer Verfügung werden lassen. Mit dem erhobenen Einspruch hat der Versicherte zu den ihm mit dem Vorschlag zur Kenntnis gebrachten Absichten der Militärversicherung Stellung genommen mit der Folge, dass das Verfahren zum Erlass einer verbindlichen Verfügung auf die Direktion überging. Damit hat der Vorschlag seine der Verschaffung des rechtlichen Gehörs dienende Funktion erfüllt. Der Rückzug des Einspruchs vermag an diesem Verfahrensablauf nichts mehr zu ändern.
4.
Das kantonale Gericht wie auch der Beschwerdeführer übersehen indessen, dass damit das mit dem Einspruch gegen den Vorschlag vom 12. April 1985 eingeleitete Verfahren noch nicht beendet ist. Weder die Vorinstanz noch das Eidg. Versicherungsgericht haben bisher den Antrag des Beschwerdeführers, es sei ihm über den 31. Mai 1985 hinaus weiterhin eine Invalidenrente von 40% zuzusprechen, materiell beurteilt. Nachdem das BAMV im
BGE 116 V 161 S. 168
Anschluss an das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 10. August 1987 Peter L. das rechtliche Gehör gewährt hatte, zog dieser den gegen den Vorschlag vom 12. April 1985 erhobenen Einspruch in der Annahme zurück, somit wenigstens die im ursprünglichen Vorschlag angekündigte 15%ige Invalidenrente weiterhin beanspruchen zu können. Es blieb ihm deshalb konsequenterweise keine andere Wahl, als in der gegen die Verfügung vom 3. November 1987 erhobenen Beschwerde eine Invalidenrente von 15% zu beantragen. Auch dazu haben weder die Vorinstanz noch das Eidg. Versicherungsgericht in materieller Hinsicht Stellung genommen.
Die Sache ist daher an das kantonale Gericht zu überweisen, damit es die Beschwerde gegen die Verfügung des BAMV vom 11. Oktober 1985 bzw. gegen diejenige vom 3. November 1987, welche die ursprüngliche bestätigt, materiell behandle. Dabei ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer an seinen im zweiten Beschwerdeverfahren aus prozessualen Gründen gestellten Antrag auf Gewährung einer 15%igen Invalidenrente nicht gebunden ist. Vielmehr wird die Vorinstanz auch über die Richtigkeit des ursprünglich gestellten Antrages um weitere Ausrichtung einer 40%igen Invalidenrente ab 1. Juni 1985 zu befinden haben, da ihr nach dem Grundsatz der Einheit des Verfahrens wie dem Eidg. Versicherungsgericht umfassende Überprüfungsbefugnis zukommt (
Art. 132 OG
; vgl. GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 237).
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. Die Sache wird dem Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft überwiesen, damit es im Sinne der Erwägung 4 verfahre. | null | nan | de | 1,990 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eac7ef42-bf5e-4502-b1e0-fe2decb7a87e | Urteilskopf
122 V 157
22. Auszug aus dem Urteil vom 3. Mai 1996 i.S. B. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Zürich | Regeste
Art. 4 BV
,
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
.
-
Art. 4 BV
und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
umfassen keinen formellen Anspruch auf Beizug versicherungsexterner medizinischer Gutachten, wenn Leistungsansprüche streitig sind.
- Im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist es grundsätzlich zulässig, dass Verwaltung und Sozialversicherungsrichter den Entscheid allein auf versicherungsinterne Entscheidungsgrundlagen stützen. An die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit solcher Grundlagen sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen. | Erwägungen
ab Seite 158
BGE 122 V 157 S. 158
Aus den Erwägungen:
Der Beschwerdeführer macht geltend, Einspracheentscheid und Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts verletzten
Art. 4 BV
und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
, indem sich die Beurteilung der streitigen Leistungsansprüche ausschliesslich auf medizinische Stellungnahmen anstaltsinterner Ärzte stützten und den Beweisanträgen auf Einholung einer "neutralen Expertise" nicht entsprochen worden sei.
1.
Zu prüfen ist zunächst, welche verfahrensrechtlichen Anforderungen sich im vorliegenden Fall aus dem innerstaatlichen Recht ergeben.
a) Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter von sich aus und ohne Bindung an die Parteibegehren für die richtige und vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt, sondern wird ergänzt durch die Mitwirkungspflichten der Parteien sowie durch die im Anspruch auf rechtliches Gehör mitenthaltenen Parteirechte auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der Entscheidfindung (
BGE 120 V 360
Erw. 1a,
BGE 119 V 211
Erw. 3b,
BGE 117 V 283
Erw. 4a und 263 Erw. 3b).
Der aus
Art. 4 BV
fliessende Anspruch auf rechtliches Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt er ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (
BGE 119 Ia 139
Erw. 2d und 261 Erw. 6a,
BGE 119 V 168
Erw. 4a und 211 Erw. 3b, je mit Hinweisen).
b) Den meisten, durch das Sozialversicherungsrecht versicherten anspruchsbegründenden Risiken (wie Krankheit, Unfall, Arbeitsunfähigkeit, Invalidität, Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität) liegen medizinische Sachverhalte zugrunde. Zur Beurteilung der sich
BGE 122 V 157 S. 159
stellenden Rechtsfragen sind Sozialversicherungsträger und Sozialversicherungsrichter auf Unterlagen angewiesen, die ihnen vorab von Ärzten zur Verfügung zu stellen sind. Im Hinblick auf die elementare Bedeutung der medizinischen Entscheidungsgrundlagen im Sozialversicherungsrecht (vgl. hiezu MEYER-BLASER, Die Zusammenarbeit von Richter und Arzt in der Sozialversicherung, in: Schweiz. Ärztezeitung 1990 S. 1090; MEYER-BLASER, Sozialversicherungsrecht und Medizin, in: FREDENHAGEN, Das ärztliche Gutachten, 3. Aufl., S. 21 ff.) hat die Rechtsprechung die Aufgaben näher umschrieben, welche dem zu befragenden Arzt insbesondere bei der Invaliditätsbemessung (
BGE 115 V 134
Erw. 2,
BGE 114 V 314
Erw. 3c,
BGE 105 V 158
Erw. 1 in fine), der Bemessung des Integritätsschadens (
BGE 115 V 147
Erw. 1,
BGE 113 V 221
Erw. 4b mit Hinweisen) und bei der Prüfung des natürlichen Kausalzusammenhanges zwischen Unfallereignis und eingetretenem Schaden (
BGE 119 V 338
oben in Verbindung mit 340 Erw. 2b/bb,
BGE 117 V 360
Erw. 4a und 376 Erw. 3a,
BGE 112 V 32
Erw. 1a mit Hinweisen) zukommen.
In der obligatorischen Unfallversicherung kann die Feststellung des rechtserheblichen medizinischen Sachverhaltes erfolgen durch die vom Unfallversicherer eingeholten Berichte der behandelnden Ärzte, einschliesslich der Spezial- und Spitalärzte (
Art. 53 Abs. 3 lit. a-c UVV
), die Berichte der von der SUVA angestellten Kreisärzte der Agenturen (
Art. 65 UVG
) und Ärzte der Medizinischen Abteilung am Hauptsitz der SUVA, die von einem andern Unfallversicherer eingeholten Arztberichte (gegebenenfalls auch angestellter Ärzte), durch das vom Versicherten beigezogene Parteigutachten (des behandelnden oder eines konsiliarisch beigezogenen Arztes), das vom Unfallversicherer in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten (
Art. 57 UVV
und
Art. 96 UVG
in Verbindung mit
Art. 12 lit. e VwVG
;
BGE 120 V 357
ff.) sowie das vom erst- oder letztinstanzlichen Richter angeordnete medizinische Gutachten. Gerichtsgutachten haben besondern Anforderungen zu genügen, die sich für das letztinstanzliche Verfahren nach den Bestimmungen des Bundeszivilprozesses richten (
Art. 135 OG
in Verbindung mit
Art. 40 OG
und
Art. 57-61 BZP
). Die gleichen Regeln gelten für die Einholung von Sachverständigengutachten durch die SUVA und die an der Durchführung der obligatorischen Unfallversicherung beteiligten Privatversicherer (
Art. 96 UVG
in Verbindung mit
Art. 19 VwVG
und
Art. 57-61 BZP
;
BGE 120 V 357
ff.).
BGE 122 V 157 S. 160
Eine klare Abgrenzung zwischen medizinischen Gutachten (insbesondere Administrativgutachten) und einfachen bzw. qualifizierten ärztlichen Stellungnahmen, für welche schon aus Gründen der Verfahrensökonomie geringere Anforderungen an den Gehörsanspruch zu stellen sind (vgl. ZIMMERLI, Zum rechtlichen Gehör im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren, in: Festschrift 75 Jahre EVG, S. 321 ff.), besteht nicht. Auch liegt es im (pflichtgemässen) Ermessen des Rechtsanwenders, darüber zu befinden, mit welchen Mitteln der Sachverhalt abzuklären ist und ob im Einzelfall ein einfacher Arztbericht genügt, eine ergänzende Untersuchung anzuordnen oder ein förmliches Gutachten einzuholen ist.
c) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (
Art. 40 BZP
in Verbindung mit
Art. 19 VwVG
;
Art. 95 Abs. 2 OG
in Verbindung mit
Art. 113 und 132 OG
). Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 278). Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (RKUV 1991 Nr. U 133 S. 312; vgl. auch MEYER-BLASER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, in: BJM, 1989 S. 30 f.).
Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten, sondern dessen Inhalt (OMLIN, Die Invaliditätsbemessung in der obligatorischen
BGE 122 V 157 S. 161
Unfallversicherung, S. 297 f.; MORGER, Unfallmedizinische Begutachtung in der SUVA, in: SZS 32/1988 S. 332 f.). Dennoch hat es die Rechtsprechung mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung als vereinbar erachtet, in bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufzustellen (vgl. HIEZU MEYER-BLASER, a.a.O., S. 31, sowie OMLIN, a.a.O., S. 296 ff., je mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Hinsichtlich der Gerichtsgutachten hat das Eidg. Versicherungsgericht - in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichts (
BGE 101 IV 130
Erw. 3a) - ausgeführt, der Richter weiche "nicht ohne zwingende Gründe" von der Einschätzung des medizinischen Experten ab, dessen Aufgabe es gerade sei, seine Kenntnisse in den Dienst der Gerichtsbarkeit zu stellen (
BGE 118 V 290
Erw. 1b,
BGE 112 V 32
Erw. 1a,
BGE 107 V 175
Erw. 3). Zum Verwaltungsverfahren hat das Eidg. Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass die SUVA (bzw. der UVG-Privatversicherer) nötigenfalls nicht davon absehen darf, auch Gutachten externer Ärzte einzuholen. Werden solche Expertisen durch anerkannte Spezialärzte aufgrund eingehender Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten erstattet und gelangen diese Ärzte bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen, so darf der Richter in seiner Beweiswürdigung solchen Gutachten volle Beweiskraft zuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (
BGE 104 V 212
Erw. c; RKUV 1993 Nr. U 167 S. 96 Erw. 5a mit weiteren Hinweisen; zur Krankenversicherung vgl. RKUV 1985 Nr. K 646 S. 237 Erw. 2b). Was schliesslich Parteigutachten anbelangt, rechtfertigt der Umstand allein, dass eine ärztliche Stellungnahme von einer Partei eingeholt und in das Verfahren eingebracht wird, nicht Zweifel an ihrem Beweiswert (ZAK 1986 S. 189 Erw. 2a in fine).
Weil die SUVA in beweisrechtlicher Hinsicht ein zur Objektivität verpflichtetes gesetzesvollziehendes Organ ist (
BGE 104 V 211
Erw. c; RKUV 1991 Nr. U 133 S. 313 Erw. 1b), kann auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte Beweiswert beigemessen werden, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen (nicht veröffentlichte Urteile S. vom 6. Juli 1993, M. vom 5. April 1984 und M. vom 2. November 1983). Die Tatsache allein, dass der befragte Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit
BGE 122 V 157 S. 162
schliessen. Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, welche das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen lassen (vgl.
BGE 120 V 365
Erw. 3a in fine). Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung, welche den Arztberichten im Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit des Gutachters allerdings ein strenger Massstab anzulegen (
BGE 120 V 367
Erw. 3b).
d) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst auch das Recht, Beweisanträge zu stellen, und - als Korrelat - die Pflicht der Behörde zur Beweisabnahme. Beweise sind im Rahmen dieses verfassungsmässigen Anspruchs indessen nur über jene Tatsachen abzunehmen, die für die Entscheidung der Streitsache erheblich sind. Auf weitere Beweisvorkehren kann auch dann verzichtet werden, wenn der Sachverhalt, den eine Partei beweisen will, nicht rechtserheblich ist, wenn bereits Feststehendes bewiesen werden soll, wenn von vornherein gewiss ist, dass der angebotene Beweis keine Abklärungen herbeizuführen vermag, oder wenn die Behörde den Sachverhalt gestützt auf ihre eigene Sachkenntnis bzw. jene ihrer fachkundigen Beamten zu würdigen vermag (
BGE 104 V 211
Erw. a mit Hinweisen). Gelangt die Verwaltung oder der Richter bei pflichtgemässer Beweiswürdigung zur Überzeugung, der Sachverhalt, den eine Partei beweisen will, sei nicht rechtserheblich oder der angebotene Beweis vermöge keine Abklärungen herbeizuführen, kann auf ein beantragtes Beweismittel verzichtet werden. In der damit verbundenen antizipierten Beweiswürdigung kann kein Verstoss gegen das rechtliche Gehör nach
Art. 4 BV
erblickt werden (
BGE 119 V 344
Erw. 3c in fine mit Hinweisen).
Daraus folgt, dass der Versicherte von Bundesrechts wegen keinen formellen Anspruch auf Beizug eines versicherungsexternen Gutachtens hat, wenn Leistungsansprüche streitig sind. Erachtet der Sozialversicherungsrichter die rechtserheblichen tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen bei pflichtgemässer Beweiswürdigung als schlüssig, darf er den Prozess ohne Weiterungen, insbesondere ohne Beizug eines Gerichtsgutachtens, abschliessen. Er kann dabei abschliessend gestützt auf Beweisgrundlagen urteilen, die im wesentlichen oder ausschliesslich aus dem Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger stammen. In solchen Fällen sind an die Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen. Dabei hat der
BGE 122 V 157 S. 163
Sozialversicherungsrichter grundsätzlich die Wahl, ob er die Sache zu weiteren Beweiserhebungen an die verfügende Instanz zurückweisen oder die erforderlichen Instruktionen insbesondere durch Anordnung eines Gerichtsgutachtens selber vornehmen will (EVGE 1968 S. 81 Erw. 1; RKUV 1989 Nr. K 809 S. 207 Erw. 4 mit Hinweisen). Anders verhält es sich, wenn die Rückweisung einer Verweigerung des rechtlichen Gehörs gleichkäme (so wenn aufgrund besonderer Gegebenheiten nur ein Gerichtsgutachten oder andere gerichtliche Beweismassnahmen geeignet sind, zur Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes beizutragen) oder wenn die Rückweisung nach den Umständen als unverhältnismässig bezeichnet werden müsste (RKUV 1993 Nr. U 170 S. 136 Erw. 4a, 1989 Nr. K 809 S. 206 Erw. 4).
2.
Fraglich ist des weitern, ob sich aus
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
weitergehende Anforderungen ergeben.
a)
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
lautet, soweit hier von Bedeutung, in der deutschen Fassung wie folgt:
"Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen (...) zu entscheiden hat."
Aus dieser, auf das sozialversicherungsgerichtliche Beschwerdeverfahren unmittelbar anwendbaren Bestimmung (
BGE 121 V 110
Erw. 3a,
BGE 120 V 6
Erw. 3a,
BGE 119 V 379
Erw. 4a/aa) ergeben sich nach herrschender Rechtsauffassung im wesentlichen vier Verfahrensgarantien, nämlich der Anspruch auf Zugang zu einem gesetzlich vorgesehenen, unabhängigen und unparteilich zusammengesetzten Gericht, das Recht auf Fairness im Verfahren, das Recht auf Öffentlichkeit der Verhandlungen und der Urteilsverkündung sowie der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer (VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], Zürich 1993, S. 240 ff.; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, S. 104 ff.; SCHWEIZER, Europäische Menschenrechtskonvention und schweizerisches Sozialversicherungsrecht, in: Festschrift 75 Jahre EVG, S. 24 ff. mit weiteren Hinweisen auf die Literatur).
b) Das Gebot der Fairness des Verfahrens beinhaltet insbesondere den Anspruch auf persönliche Teilnahme am Verfahren, das Recht auf Waffengleichheit (wozu namentlich das Recht auf gleichen Aktenzugang und auf Teilnahme am Beweisverfahren gehört) und den Anspruch auf rechtliches
BGE 122 V 157 S. 164
Gehör (VILLIGER, a.a.O., S. 275 ff.; SCHWEIZER, a.a.O., S. 42 ff.). Die EMRK statuiert jedoch kein umfassendes Recht auf Beweis (WALTER, Das Recht auf Beweis im Lichte der EMRK und der BV, ZbJV 127/1991 S. 317) und spricht sich insbesondere zur Frage der Zulässigkeit und des Beweiswertes von Beweismitteln nicht aus. Nach der Praxis der EMRK-Organe bleibt es Sache der Vertragsstaaten, die Frage der Beweismittel und die Grundsätze der Beweiswürdigung zu regeln (VILLIGER, a.a.O., S. 283; HERZOG,
Art. 6 EMRK
und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 326). Die Überprüfung durch die EMRK-Organe beschränkt sich auf die Fairness des Verfahrens als Ganzes und ändert insbesondere an der aus
Art. 4 BV
abgeleiteten Zulässigkeit der antizipierten Beweiswürdigung durch den Richter nichts (VILLIGER, a.a.O., S. 283; HERZOG, a.a.O., S. 326 f. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Bundesgericht und Eidg. Versicherungsgericht haben denn auch wiederholt festgestellt, dass
Art. 6 EMRK
in bezug auf die Zulässigkeit antizipierter Beweiswürdigung unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs keine weitergehenden Rechte verschafft, als sie die Rechtsprechung aus
Art. 4 BV
hergeleitet hat (
BGE 116 Ia 18
Erw. 3 in fine und 74 Erw. 1b,
BGE 114 Ia 181
Erw. 4a,
BGE 111 Ia 274
Erw. 2a,
BGE 109 Ia 178
Erw. 3 und 232 Erw. 5a; nicht veröffentlichte Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts in Sachen S. vom 6. Juli 1993 und O. vom 11. November 1991). Das gleiche gilt hinsichtlich der von der Konvention garantierten Unparteilichkeit des Gerichts (
BGE 121 V 111
Erw. 3a in fine,
BGE 119 V 377
Erw. 4a,
BGE 119 Ia 83
Erw. 3,
BGE 117 Ia 191
Erw. 6b).
c) Der Anspruch auf Waffengleichheit bedeutet u.a., dass sich das Recht auf Zulassung zum Beweis (mit Beweismitteln sowie Beweisanträgen) und die Pflicht zur Beweisabnahme durch das entscheidende Gericht nach dem Grundsatz der Gleichstellung der Parteien zu richten hat (HERZOG, a.a.O., S. 323; KOFMEL, Das Recht auf Beweis im Zivilverfahren, Diss. Bern 1992, S. 43 f.). Aus
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
ergibt sich jedoch kein unbeschränktes Recht auf Zulassung zum Beweis (KOFMEL, a.a.O. S. 258). Ebensowenig lässt sich der Konventionsbestimmung eine Regel entnehmen, wonach der Richter die Beurteilung nicht allein auf verwaltungsinterne Entscheidungsgrundlagen stützen darf und einem Antrag auf Beizug eines externen Gutachtens stets zu entsprechen hat. Im Urteil H. gegen Frankreich vom 23. Oktober 1989 hat der EGMR die Verweigerung eines Gutachtens als mit der EMRK vereinbar erklärt
BGE 122 V 157 S. 165
mit der Feststellung, dass sich die entscheidende Behörde unter den gegebenen Umständen zu Recht als hinreichend instruiert erachtet habe, um aufgrund der vorgenommenen Abklärungen und der Akten über die Sache zu befinden (Publ. Série A, Vol. 162, Rz. 70). In einem weiteren Fall, wo es u.a. um die Frage ging, ob der Angeschuldigte in einem Verfahren wegen Weinverfälschung, in welchem ein bei der Verwaltung angestellter Sachverständiger ein Gutachten erstattet hatte, Anspruch auf eine verwaltungsexterne Expertise hat, gelangte der Gerichtshof zum Schluss, die Weigerung des staatlichen Gerichts, einen externen Gutachter zu ernennen, verletze den Anspruch auf Waffengleichheit nicht; der Umstand allein, dass der Experte bei der Verwaltung angestellt gewesen sei, lasse nicht auf mangelnde Neutralität schliessen (Urteil Brandstetter gegen Österreich vom 28. August 1991, Publ. Série A, Vol. 211, Rz. 41 ff.). In gleichem Sinn hat der Gerichtshof im Urteil Zumtobel gegen Österreich vom 21. September 1993 entschieden und dabei die Meinung der Kommission bestätigt, wonach der Umstand allein, dass ein Sachverständiger Angestellter der zum Sachentscheid zuständigen Behörde ist, nicht schon bedeutet, dass es ihm an der erforderlichen Neutralität fehlt (Publ. Série A, Vol. 268, Rz. 35 u. 86).
Aus dieser Rechtsprechung ist zu schliessen, dass auch im Lichte von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
kein förmlicher Anspruch auf verwaltungsexterne Gutachten besteht und es im Rahmen der freien Beweiswürdigung grundsätzlich zulässig ist, den Entscheid ausschlaggebend oder gar ausschliesslich auf verwaltungsinterne Abklärungen zu stützen. Aus
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
und der zugehörigen Rechtsprechung ergeben sich hinsichtlich der vorliegenden Verfahrensfrage somit keine weitergehenden Anforderungen, als sie das Bundesrecht kennt.
3.
Zusammengefasst ergibt sich, dass weder aus
Art. 4 BV
noch aus
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
eine Regel folgt, wonach bei streitigen Leistungsansprüchen stets auch versicherungsexterne medizinische Entscheidungsgrundlagen einzuholen sind. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist es grundsätzlich somit zulässig, dass Verwaltung und Sozialversicherungsrichter den Entscheid allein auf versicherungsinterne Entscheidungsgrundlagen stützen. An die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit solcher Grundlagen sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen. | null | nan | de | 1,996 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eac8c5e5-2913-496e-abe2-810ba1883965 | Urteilskopf
90 II 135
16. Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. April 1964 i.S. Forrer gegen Schiess. | Regeste
Tragweite der in
Art. 6 ff. EGG
vorgesehenen gesetzlichen Vorkaufsrechte. Intertemporales Recht.
1. Ein gesetzliches Vorkaufsrecht im Sinne von
Art. 6 ff. EGG
kann einem schon vor Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. Januar 1953) vereinbarten und im Grundbuche vorgemerkten Kaufsrecht eines Dritten nicht entgegengehalten werden
- auch wenn das Kaufsrecht erst seit dem erwähnten Zeitpunkt, jedoch noch während der Dauer der Vormerkung, ausgeübt wird. -
Art. 6 ff. EGG
, 683 und 959 ZGB, 1, 2 und 3 sowie 17 und 18 des Schlusstitels des ZGB. (Erw. 3-5).
2. Gegen wen kann auf Zusprechung des Eigentums an einem Grundstück geklagt werden? -
Art. 665 und 963 ZGB
. (Erw. 2). | Sachverhalt
ab Seite 136
BGE 90 II 135 S. 136
A.-
Fritz Schiess besitzt gegenüber Alfred Forrer ein seit 1950 im Grundbuch vorgemerktes Kaufsrecht an 6000 m2 Land in der nordöstlichen Ecke der Parzelle 562, Unterer Flooz, Wattwil. Er übte dieses Kaufsrecht am 25. Oktober 1960 aus und erlangte gegen Forrer, der sich der Eigentumsübertragung widersetzte, ein Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 4./16. November 1961, das Forrer dazu verpflichtete. Als Schiess hierauf das Grundbuchamt Wattwil am 16. Januar 1962 um Eintragung des Eigentumsüberganges ersuchte, machte die Ehefrau des Verpflichteten, Frau Ellen Forrer, binnen der ihr vom Grundbuchamt eröffneten Frist ein gesetzliches Vorkaufsrecht nach
Art. 6 EGG
geltend. Da Schiess dieses Recht bestritt, reichte Frau Forrer am 2. Februar 1963 gegen ihn beim Bezirksgericht Neutoggenburg Klage auf Zusprechung des Eigentums ein.
B.-
Das Bezirksgericht wies die Klage ab, ebenso das Kantonsgericht St. Gallen mit Urteil vom 25. Oktober 1963. Die Begründung geht dahin: Das streitige Stück Land bildet keinen wesentlichen Teil eines landwirtschaftlichen Gewerbes; es kann somit von vornherein nicht dem gesetzlichen Vorkaufsrecht des Ehegatten oder Blutsverwandter des Verkäufers bezw. Kaufsverpflichteten nach
Art. 6 EGG
unterliegen. Aber auch wenn man es mit einem wesentlichen Gewerbeteil im Sinne dieser Gesetzesnorm zu tun hätte, wäre die vorliegende Klage abzuweisen, weil das durch das EGG eingeführte gesetzliche Vorkaufsrecht einem bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes vereinbarten
BGE 90 II 135 S. 137
und im Grundbuch vorgemerkten Kaufsrecht nicht entgegengehalten werden kann.
C.-
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin binnen gesetzlicher Frist Berufung an das Bundesgericht eingelegt mit folgenden Anträgen:
"Es sei in Aufhebung des angefochtenen Urteils zu erkennen: Die zufolge Ausübung eines Kaufsrechtes durch den Beklagten von Alfred Forrer erworbene Teilparzelle von 6'000 m2 Wiesland ab Parzelle 562 im Unteren Flooz-Wattwil sei auf Grund des durch die Klägerin ausgeübten gesetzlichen Vorkaufsrechtes der Klägerin zu Eigentum zuzusprechen, und es sei das Grundbuchamt Wattwil anzuweisen, die Klägerin als Eigentümerin im Grundbuch einzutragen. Eventuell sei festzustellen, dass der Klägerin auf Grund des von ihr ausgeübten Vorkaufsrechtes ein Eigentumsanspruch an der Teilparzelle von 6'000 m2 ab Parzelle 562 des Alfred Forrer zustehe, und es sei das Grundbuchamt Wattwil anzuweisen, die Klägerin als Eigentümerin im Grundbuch einzutragen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen."
D.-
Der Beklagte beantragt Abweisung der Berufung.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Den Streitwert beziffert das angefochtene Urteil in Übereinstimmung mit den Parteien auf über Fr. 15'000.--. Es besteht kein Grund, diese Bemessung nicht gelten zu lassen; denn der Verkehrswert beträgt ohne Zweifel ein Mehrfaches des in der Vereinbarung über das Kaufsrecht festgesetzten Kaufpreises.
2.
Zum Hauptbegehren um Zusprechung des Eigentums ist der Beklagte entgegen der Ansicht des Kantonsgerichts nicht passiv legitimiert. Eine dahingehende Gestaltungsklage und ebenso eine Feststellungsklage auf Berichtigung des Grundbuches kann nur gegen den Eigentümer des streitigen Grundstückes gerichtet werden. Diese Eigenschaft kommt Schiess nicht zu. Weder ist er als Eigentümer dieser Teilparzelle eingetragen, noch hat ihm das Kantonsgericht am 4./16. November 1961 das Eigentum daran zugesprochen; das Urteil spricht vielmehr nur die obligatorische Verpflichtung Forrers zur Eigentumsübertragung aus. Und an der Art des Anspruchs konnte
BGE 90 II 135 S. 138
auch die von Schiess am 16. Januar 1962 eingegebene Grundbuchanmeldung nichts ändern. Zur Anmeldung war Schiess gar nicht befugt, da er eben über keinen Eigentumsausweis im Sinne von Art. 665 Abs. 2/963 Abs. 2 ZGB verfügte (vgl. MEIER-HAYOZ, N. 2 und 3 zu
Art. 665 ZGB
; OSTERTAG, N. 20-22, und HOMBERGER, N. 30 zu
Art. 963 ZGB
). Die Eigentumseintragung durfte ausserdem nach Art. 7 Abs. 3 des St. Galler Einführungsgesetzes vom 19. November 1952 zum EGG ohnehin nicht vor der rechtsgültigen Abklärung allfälliger Vorkaufsrechte nach Bestand und Ausübung stattfinden (damit übereinstimmend F. E. JENNY, Das bäuerliche Vorkaufsrecht, S. 106, und JOST, Handkommentar zum EGG, N. 6 zu Art. 13). Das vom Kantonsgericht angeführte Präjudiz,
BGE 84 II 187
ff., kann seine Betrachtungsweise nicht stützen, denn in jenem Falle war die Beklagte als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen.
Was den erst in zweiter Instanz gestellten Eventualantrag betrifft, so lässt das Kantonsgericht dessen Zulässigkeit offen. Es hält jedoch dafür, schon das Hauptbegehren enthalte nach dem Sinn der Klage den Antrag, es sei festzustellen, dass die Klägerin ihr Vorkaufsrecht zu Recht ausgeübt habe und dass dieses Vorkaufsrecht dem Kaufsrecht des Beklagten vorgehe. Bei dieser auf der Anwendung kantonalen Prozessrechts beruhenden Überlegung hat es sein Bewenden. Übrigens ist das so verstandene Rechtsbegehren sinnvoll: In der Tat geht es darum, wer das bessere Recht auf Erwerb des streitigen Landstückes hat, die Klägerin oder der Beklagte. Ein solcher Prätendentenstreit wird richtigerweise zwischen den beiden Ansprechern ausgetragen, und es ist insoweit die Passivlegitimation des Beklagten gegeben.
3.
Ob das Kantonsgericht die streitigen 60 Aren "sehr wüchsiges, topfebenes und in nächster Nähe der Ökonomiegebäude gelegenes Land", das rund 10% der landwirtschaftlichen Nutzfläche (ohne Wald) ausmacht, als unwesentlichen Teil eines landwirtschaftlichen Betriebes
BGE 90 II 135 S. 139
von etwa 600 Aren Nutzfläche bezeichnen und das Vorkaufsrecht der Klägerin aus diesem Grunde von vornherein nicht zur Geltung kommen lassen durfte, kann dahingestellt bleiben. Wie dem auch sei, ist das angefochtene Urteil jedenfalls aus einem andern Gesichtspunkte zu bestätigen:
Die in
BGE 85 II 571
aufgeworfene, jedoch offen gelassene Frage, "ob nicht selbst ein vorgemerktes vertragliches Vorkaufsrecht, und zwar auch wenn es samt der Vormerkung aus der Zeit vor Inkrafttreten des EGG stammt, vor einem kraft dieses Gesetzes bestehenden Vorkaufsrecht zurückzutreten hätte", ist nämlich, wie das Kantonsgericht zutreffend ausführt, zu verneinen. Das auf
Art. 6 EGG
beruhende Vorkaufsrecht der Beklagten vermag, auch wenn man die dafür geltenden Voraussetzungen an sich als gegeben annimmt, gegenüber einem bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes (also vor dem 1. Januar 1953) vereinbarten und vorgemerkten Vorkaufsrecht - oder Kaufsrecht - nicht durchzudringen. Dies ergibt sich aus den im Schlusstitel des ZGB aufgestellten intertemporalen Regeln, die über das Sachgebiet des ZGB hinaus Anerkennung erlangt haben und, da das EGG selbst keine Übergangsbestimmungen enthält, auch für den zeitlichen Geltungsbereich dieses Spezialgesetzes massgebend sind (vgl.
BGE 84 II 181
/82). Grundlegend ist Art. 1 des erwähnten Schlusstitels, wonach das neue Gesetz (soweit nicht Ausnahmen Platz greifen) keine rückwirkende Kraft hat: Vor seinem Inkrafttreten eingetretene Tatsachen sind nach Bestand und Folgen nach wie vor nach altem Rechte zu beurteilen (Abs. 1 und 2); das neue Recht ist dagegen anwendbar auf die seit seinem Inkrafttreten eintretenden Tatsachen (Abs. 3). Die Aufhebung des alten Gesetzes durch das neue ("lex posterior derogat priori") besagt an und für sich nichts anderes (vgl. MUTZNER, 2. Auflage, N. 1 der Vorbemerkungen zum ersten Abschnitte des Schlusstitels). Im vorliegenden Fall erweisen sich als frühere (d.h. vor Inkrafttreten des EGG eingetretene)
BGE 90 II 135 S. 140
Tatsachen der Abschluss der Kaufsrechtsvereinbarung wie auch die Vormerkung des Kaufsrechtes im Grundbuch. Damit war der Beklagte Inhaber eines rechtsgültigen und kraft der Vormerkung nach
Art. 959 Abs. 2 ZGB
gegenüber jedem später erworbenen Rechte geschützten Kaufsrechtes geworden, das er dann während der Vormerkungsdauer auch ausgeübt hat. Die seit dem 1. Januar 1953 nach dem EGG (und teilweise nach dem dieses Gesetz ergänzenden kantonalen Recht) geltenden gesetzlichen Vorkaufsrechte können nach jener Grundregel des intertemporalen Rechtes dem Kaufsrecht des Beklagten nicht entgegengehalten werden, sofern ihnen nicht nach speziellen Normen des Übergangsrechtes oder nach der den Art. 6 ff. des EGG selbst beizulegenden Tragweite eine solche Bedeutung zukommt. Keineswegs lässt sich ein Vorrang dieser neuen gesetzlichen Vorkaufsrechte vor jenem Kaufsrecht daraus herleiten, dass dieses erst seit dem Inkrafttreten des EGG ausgeübt worden ist. Denn die Ausübung eines "alten" Rechtes ist nicht als eine selbständige Tatsache zu betrachten, die der Anwendung des neuen Rechtes nach
Art. 1 Abs. 3 ZGB
SchlT rufen würde. Sie zielt auf Verwirklichung eines Anspruches ab, der eben nach Abs. 1 und 2 daselbst nach altem Rechte zu beurteilen ist, auch wenn er erst nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes geltend gemacht wird.
4.
Rückwirkende Kraft haben nach
Art. 2 ZGB
SchlT diejenigen Normen des neuen Rechtes, die um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt sind. Dass den vom EGG eingeführten Vorkaufsrechten nicht diese Bedeutung zukommt (wie JOST, Handkommentar zum EGG, Schlussbemerkungen 2 a, S. 168, annimmt), hat das Bundesgericht bereits entschieden (vgl.
BGE 79 I 265
ff., insbesondere 271/72,
BGE 80 II 157
,
BGE 84 II 181
/82). Nach Ansicht desselben Autors sollten die Vorkaufsrechte des EGG ferner gemäss
Art. 18 Abs. 3 ZGB
SchlT deshalb auf früher begründete Rechtsverhältnisse zurückwirken, weil es sich um zwingende Beschränkungen
BGE 90 II 135 S. 141
der Vertragsfreiheit des Grundeigentümers handle. Die angeführte Gesetzesnorm - wonach der unter altem Recht durch Rechtsgeschäft festgesetzte Inhalt eines dinglichen Verhältnisses (nur) insoweit unter dem neuen Recht anerkannt bleibt, als er nicht mit diesem unverträglich ist - kommt jedoch hier nicht zur Anwendung. Das Kaufsrecht ist kein dingliches Verhältnis, sondern ein Schuldverhältnis besonderer Art, wie denn
Art. 959 ZGB
es unter den persönlichen Rechten aufführt. Es braucht hier nicht erörtert zu werden, ob man es mit einem bedingten Kauf (so OSER/SCHÖNENBERGER, N. 18 zu
Art. 216 OR
) oder mit der Einräumung eines Gestaltungsrechtes (so HAAB, N. 2 zu Art. 681/82 und N. 1 am Ende zu
Art. 683 ZGB
) zu tun habe. Jedenfalls gewährt das Kaufsrecht als persönliches Recht keine unmittelbare Sachherrschaft (vgl. MEIER-HAYOZ, Systematischer Teil des Kommentars zum Sachenrecht, N. 150). Im übrigen ist der Inhalt eines nach
Art. 216 Abs. 2 OR
vereinbarten Kaufsrechtes und die ihm durch Vormerkung gemäss Art. 959 beigelegte verstärkte Wirkung mit dem EGG nicht unverträglich. Jene Bestimmungen sind denn auch durch das EGG nicht ausser Kraft gesetzt worden. Freilich ist der Eigentümer eines unter
Art. 6 ff. EGG
fallenden Grundstücks nunmehr in seinem Verfügungsrechte durch die dort vorgesehenen Vorkaufsrechte beschränkt. Ein seit Inkrafttreten dieses Gesetzes über ein solches Grundstück abgeschlossener Kauf- oder Kaufsrechtsvertrag steht unter diesem gesetzlichen Vorbehalt. Daraus folgt aber nicht, dass ein früher eingeräumtes und vorgemerktes Vorkaufsrecht, das auf einer noch nicht in solcher Weise gesetzlich beschränkten Verfügung des Eigentümers beruht, nun gleichfalls vor einem der neuen gesetzlichen Vorkaufsrechte zu weichen habe.
5.
Eine solche Rechtsfolge ergibt sich auch nicht daraus, dass die Vorkaufsrechte des EGG gesetzliche Eigentumsbeschränkungen im Sinne von
Art. 680 ff. ZGB
sind und somit für jedes unter die neuen Sonderbestimmungen
BGE 90 II 135 S. 142
fallende Grundstück gelten (gemäss
Art. 3 und
Art. 17 Abs. 2 ZGB
SchlT, wie denn auch das gesetzliche Vorkaufsrecht der Miteigentümer nach
Art. 682 ZGB
seinerzeit für alle Grundstücke Geltung erlangt hat, auch für solche, die bereits unter dem alten Recht in Miteigentum standen; vgl. LEEMANN, N. 18 zu Art. 680 und N. 10 zu Art. 682, und HAAB, N. 58 zu Art. 681/82 ZGB). Damit ist nichts gesagt über das Rangverhältnis zwischen einem neuen gesetzlichen Vorkaufsrecht und einem unter dem alten Recht (d.h. vor Inkrafttreten des Spezialgesetzes) vertraglich eingeräumten und durch Vormerkung gesicherten Kaufsrecht. In dieser Hinsicht bleibt es vielmehr beim fundamentalen Grundsatz der Nicht-Rückwirkung gemäss
Art. 1 ZGB
SchlT. Ein gesetzliches Vorkaufsrecht ist keine gewöhnliche, die Benutzung und Bewirtschaftung des Grundstücks betreffende und daher ständig wirksame Eigentumsbeschränkung, sondern (laut dem Randtitel zu
Art. 681-683 ZGB
) eine Veräusserungsbeschränkung, wonach ein Dritter in ein durch Kaufvertrag oder Kaufsrechtsvereinbarung geschaffenes Rechtsverhältnis eingreifen und einen vorgehenden Erwerbsanspruch geltend machen kann. Auf solche Weise ist der Grundeigentümer in seiner Verfügung über das Grundstück nur bei Verträgen beschränkt, die er unter der Herrschaft des EGG abschliesst. Nichts Abweichendes folgt daraus, dass bei vertraglich eingeräumten Kaufsrechten nicht schon der Vertragsabschluss und auch nicht die Vormerkung im Grundbuch, sondern erst die Ausübung des Rechtes (die hier im Jahre 1960 erfolgte) ein Vorkaufsfall sein kann, d.h. denjenigen Rechtsakt bildet, der den Erwerbsanspruch eines allfälligen Vorkaufsberechtigten auslöst (vgl.
BGE 85 II 572
ff., insbesondere 578). Die entscheidende Frage geht eben dahin, ob nach
Art. 6 ff. EGG
ein gegenüber solch "altrechtlichen" Kaufsrechten wirksames Vorkaufsrecht wirklich bestehe. Nur wenn dies zutrifft, kann die Ausübung des Kaufsrechtes durch den Beklagten ein für die Klägerin gültiger Vorkaufsfall sein. Das ist nun aber nach dem Gesagten nicht
BGE 90 II 135 S. 143
der Fall, weil das EGG eine solch rückwirkende Geltung der neuen Vorkaufsrechte nicht vorsieht und daher nach
Art. 1 ZGB
SchlT das vor dem Inkrafttreten des EGG vereinbarte und vorgemerkte Kaufsrecht des Beklagten, auch wenn es erst seit Inkrafttreten dieses Spezialgesetzes ausgeübt wird, nicht durch ein neues gesetzliches Vorkaufsrecht ausgeschaltet werden kann. Weder sind diese Vorkaufsrechte, wie dargetan, um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen eingeführt worden, noch bestehen andere Gründe zur Annahme, das EGG wolle die in Frage stehende gesetzliche Verfügungsbeschränkung auch gegenüber Verfügungen durchgreifen lassen, die der Grundeigentümer schon unter der früheren Rechtsordnung getroffen hatte, und wäre es auch nicht durch einen Kaufvertrag, sondern durch Einräumung und grundbuchliche Sicherung eines Kaufsrechtes, das dem Vertragsgegner einen potestativ bedingten, seinem eigenen Willensentschluss anheim gegebenen Erwerbsanspruch verschaffte. Aus den allgemeinen Schutztendenzen des EGG etwas anderes zu folgern, geht nicht an und ist um so weniger gerechtfertigt, als das "alte" Kaufsrecht meistens entgeltlich oder doch gegen Verzicht auf andere Ausprüche oder unter Gewährung besonderer Vorteile erworben wurde, so dass die Zulassung eines Vorkaufsanspruches nach EGG empfindlich in das früher begründete Rechtsverhältnis eingreifen würde.
Kann somit das Vorkaufsrecht der Klägerin gegenüber dem "wohlerworbenen" Kaufsrecht des Beklagten nicht durchdringen, so braucht zu den übrigen Einwendungen des Beklagten nicht Stellung genommen zu werden.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 25. Oktober 1963 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,964 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eacd787f-6585-4e4b-b92d-96a8a07c1f2a | Urteilskopf
115 Ia 101
19. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour civile du 5 juillet 1989 dans la cause A. contre dame A. (recours de droit public) | Regeste
Anspruch auf rechtliches Gehör. Neuer Entscheid des kantonalen Gerichts über die Kosten und die Entschädigung für das kantonale Verfahren, nachdem das Bundesgericht die Sache zu diesem Zweck an die Vorinstanz zurückgewiesen hatte.
Das kantonale Gericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht, wenn es über die Kosten und die Entschädigung für das kantonale Verfahren neu entscheidet, ohne die Parteien noch einmal anzuhören. | Sachverhalt
ab Seite 102
BGE 115 Ia 101 S. 102
Par arrêt du 16 juin 1988, la IIe Cour civile du Tribunal fédéral a admis partiellement le recours en réforme de A. contre un arrêt rendu par la Chambre des recours du Tribunal cantonal vaudois dans le procès en divorce opposant les époux A.: elle a limité à dix ans la durée de la rente mensuelle de 3'000 francs allouée sans limitation dans le temps à dame A. par l'autorité cantonale. L'affaire a été renvoyée à cette autorité pour nouvelle décision, le cas échéant, sur les frais et les dépens des instances cantonales.
Le 31 janvier 1989, la Chambre des recours a modifié le dispositif de son arrêt uniquement en ce qui concerne les dépens alloués à dame A. en deuxième instance, qu'elle a réduits de 3'500 à 3'000 francs.
A. a formé un recours de droit public contre cette décision, dont il a demandé l'annulation. Le Tribunal fédéral a rejeté le recours dans la mesure où il était recevable.
Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
Le recourant se plaint d'une violation de son droit d'être entendu, garanti aussi bien par l'art. 2 du code de procédure civile vaudois que par l'art. 4 Cst. Il soutient que l'autorité cantonale aurait dû entendre une nouvelle fois les parties avant de statuer sur la nouvelle répartition des frais et dépens des instances cantonales.
Cet argument n'est pas fondé. Le recourant a eu la possibilité de se prononcer et de se déterminer sur le sort des frais et dépens dans la procédure au fond qui a précédé l'arrêt du Tribunal fédéral. Il pouvait le faire, le cas échéant à titre subsidiaire, pour toutes les éventualités concevables: admission des deux actions ou d'une seule action en divorce, rente illimitée ou limitée dans le temps. Le Tribunal cantonal n'avait pas, sous l'angle du droit d'être entendu, à lui donner la faculté de s'exprimer une nouvelle fois sur ce point, au sujet duquel, s'il l'avait voulu, il aurait déjà eu toute latitude de se déterminer. Il ne pouvait pas échapper au recourant que l'issue du procès était incertaine, en particulier en ce qui concernait le sort des actions en divorce et de la rente à verser à l'épouse, et que la décision sur la répartition des frais en dépendait. L'autorité cantonale de recours ayant, contrairement aux premiers juges, alloué à l'épouse une rente viagère, il
BGE 115 Ia 101 S. 103
appartenait au recourant de prendre des conclusions motivées quant à la répartition des frais, non seulement de l'instance fédérale, mais aussi des instances cantonales, pour le cas où son recours, qui tendait notamment à une réduction de la rente dans son montant et sa durée, serait admis totalement ou partiellement. Cela s'imposait d'autant plus que le Tribunal fédéral, même s'il n'y est pas obligé et si, dans la grande majorité des cas, il s'abstient de le faire, est autorisé à statuer directement sur les frais cantonaux lorsqu'il modifie le jugement d'une juridiction inférieure (art. 157 OJ).
En fait, le recourant s'est borné à demander le renvoi de l'affaire à l'autorité cantonale pour une nouvelle décision sur les frais et les dépens de première et seconde instances au cas où le recours en réforme serait admis. Mais il ne saurait invoquer le droit d'être entendu pour se plaindre de ce que l'autorité cantonale ne l'a pas invité à se déterminer avant de rendre la nouvelle décision. | public_law | nan | fr | 1,989 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
ead1ab5a-c777-4311-b774-a9c62811eb0a | Urteilskopf
95 II 426
60. Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. September 1969 i.S. Achermann gegen Flury. | Regeste
Verkehr mit landwirtschaftlichen Grundstücken,
Art. 218-218 quater OR
.
Zivilrechtliche Streitigkeit (Erw. 1).
Begriff des landwirtschaftlichen Grundstückes im Sinne des
Art. 218 OR
; der Entscheid der nach Art. 218 bis zuständigen kantonalen Behörde über den Charakter eines Grundstückes ist für den Zivilrichter nicht verbindlich (Erw. 2).
Die Zuweisung eines Grundstückes an einen Erben im Rahmen der Erbteilung ist ein Eigentumserwerb im Sinne des
Art. 218 OR
; die durch die Erbteilung ausgelöste Sperrfrist für die Veräusserung beginnt erst mit der Eintragung des Eigentums im Grundbuch zu laufen (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 427
BGE 95 II 426 S. 427
A.-
Die Erbengemeinschaft des am 2. Mai 1954 verstorbenen Kaspar Odermatt schloss am 26. April 1957 einen "Abtretungsvertrag" ab, kraft dessen die Liegenschaft "Brustried", Grundbuch Nr. 157, Parz. Nr. 284, in Hergiswil, zum Preise von Fr. 16 385.53 in das Alleineigentum der Miterbin Frau Flury-Odermatt übergehen sollte. Der Erwerbspreis war durch Übernahme der auf der Liegenschaft haftenden Grundpfandschulden von Fr. 13 885.53 sowie durch Zahlung bei Vertragsabschluss von je Fr. 500.-- an die fünf Miterben zu begleichen. Der Eigentumsübergang wurde am 7. Mai 1957 im Grundbuch eingetragen.
Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 28. April 1965 veräusserte die Eigentümerin dem Josef Achermann von der Liegenschaft "Brustried" die neu ausgemarchte Parzelle Nr. 918 von 7119 m2 als Bauland zum Preis von Fr. 28 000.--. In Ziff. 6 des Vertrages räumte sie Achermann auf die Dauer von zwei Jahren seit Abschluss des Vertrages ein Kaufsrecht ein für die auf der Parzelle Nr. 284 verbleibenden 11 224 m2 zum Preis von Fr. 5.- pro m2, der bei der Ausübung des Kaufrechtes der Verkäuferin in bar zu bezahlen war.
Am 9. Juni 1965 wurde Frau Flury-Odermatt vom Gemeinderat Hergiswil/NW bevormundet. Dieser Entscheid wurde am 27. Dezember 1965 vom Bundesgericht letztinstanzlich bestätigt.
Die Landwirtschafts- und Forstdirektion Nidwalden verweigerte am 21. Juli und 30. Dezember 1965 die Genehmigung des Kauf- und Kaufrechtsvertrages vom 28. April 1965, weil nach ihrer Ansicht die bei der Veräusserung von landwirtschaftlichen Grundstücken geltende Sperrfrist von zehn Jahren nach
Art. 218 OR
noch nicht abgelaufen war. Gleichzeitig lehnte sie auch das Gesuch um Aufhebung der Sperrfrist im Sinne von
Art. 218 bis OR
mangels wichtigen Gründen ab.
Das Grundbuchamt Nidwalden lehnte am 10. Januar 1966 die Eintragung des Eigentumsüberganges und Kaufsrechtes ab. Gestützt auf Ziff. 6 des Vertrages vom 28. April 1965 erklärte Achermann je mit Zuschriften vom 24. April 1967 an den Vormund der Eigentümerin und an das Grundbuchamt Nidwalden die Ausübung des Kaufsrechtes an der Parzelle Nr. 284 und bezahlte gleichzeitig den Kaufpreis von Fr. 56 120.-- bei der Nidwaldner Kantonalbank zu Handen des Vormundes. Er stellte sich auf den Standpunkt, der Vertrag vom 28. April 1965 falle
BGE 95 II 426 S. 428
nicht unter die Art. 218-218 quinquies, da die Liegenschaft "Brustried" nicht landwirtschaftlichen Charakter aufweise und ausserdem die zehnjährige Sperrfrist längst vor Abschluss des Vertrages abgelaufen sei.
B.-
Am 13. September 1967 reichte Achermann beim Kantonsgericht Nidwalden gegen Frau Flury-Odermatt Klage ein mit folgenden Rechtsbegehren:
"I. Es sei festzustellen, dass
1. mit Vertrag vom 28. April 1965 die Beklagte dem Kläger
a) ab ihrer Liegenschaft Brustried, GB Nr. 157, Parzelle Nr. 284, die neu ausgemarchte Baulandparzelle Nr. 918 mit 7119 qm Fläche verkauft und
b) auf die Dauer von zwei Jahren das Kaufsrecht für die restliche Parzelle Nr. 284 (GB Nr. 157) im Ausmasse von 11 224 qm eingeräumt hat;
2. der Kläger die ihm aus dem genannten Vertrage erwachsenen Verpflichtungen, insbesondere die zur Bezahlung des Kaufpreises, erfüllt hat.
II. 1. Der Grundbuchführer des Kantons Nidwalden sei anzuweisen, den Handwechsel an der Parzelle Nr. 284, GB Nr. 157, Liegenschaft Brustried, von der Beklagten auf den Kläger im Grundbuch einzutragen.
2. (Kosten)."
Das Kantonsgericht Nidwalden wies am 10. Juli 1968 die Klage ab.
Das Obergericht des Kantons Unterwalden nid dem Wald bestätigte am 16. Januar 1969 auf Berufung des Klägers den erstinstanzlichen Entscheid.
C.-
Der Kläger beantragt mit der Berufung, das oberinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen; eventuell sei die Sache zu neuem Entscheid an das Obergericht zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
Der Beklagten wurde für das Berufungsverfahren die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Streit der Parteien darüber, ob die Beklagte zur Erfüllung des mit dem Kläger am 28. April 1965 abgeschlossenen Vertrages verpflichtet sei, ist eine Zivilrechtsstreitigkeit und daher ihrer Natur nach berufungsfähig.
Art. 218 quater OR
erklärt zwar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als zulässig
BGE 95 II 426 S. 429
"gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide über die Anwendung der Art. 218, 218 bis und 218 ter", die für die Veräusserung landwirtschaftlicher Grundstücke besondere Vorschriften aufstellen. Diese Bestimmung bezieht sich jedoch, wie in
BGE 94 I 412
f. ausführlich dargelegt wurde, nur auf Entscheide kantonaler Verwaltungsbehörden, dagegen nicht auf gerichtliche Urteile in Zivilstreitigkeiten, in denen die Gültigkeit von Rechtsgeschäften über landwirtschaftliche Grundstücke unter dem Gesichtspunkt der hiefür im OR aufgestellten Sondervorschriften zu beurteilen war (vgl. auch
BGE 94 II 107
/08).
2.
Nach
Art. 218 Abs. 1 OR
dürfen landwirtschaftliche Grundstücke während zehn Jahren, vom Eigentumserwerb an gerechnet, weder als Ganzes noch in Stücken veräussert werden. Dieses Verbot ist jedoch nach
Art. 218 Abs. 2 OR
nicht anwendbar auf Bauland, auf Grundstücke in vormundschaftlicher Verwaltung und im Falle der Zwangsverwertung. Überdies kann nach
Art. 218 bis OR
aus wichtigen Gründen die Veräusserung vor Ablauf der Sperrfrist gestattet werden. Nach
Art. 218 ter OR
sind Geschäfte, die diesen Vorschriften zuwiderlaufen oder ihre Umgehung bezwecken, nichtig und geben kein Recht auf Eintragung in das Grundbuch.
Der Kläger behauptet, die Vorinstanz habe zu Unrecht den landwirtschaftlichen Charakter der streitigen Parzellen angenommen, da diese einer Familie keine ausreichende Existenz bieten.
a) Die Vorinstanz stellt fest, dass die Parteien nach Abschluss des Vertrages vom 28. April 1965 die kantonale Landwirtschafts- und Forstkommission ersuchten, die Sperrfrist des
Art. 218 OR
auf die streitigen Parzellen nicht anzuwenden. Die Behörde lehnte jedoch das Gesuch am 21./26. Juli und 30. Dezember 1965 ab. Sie war der Auffassung - ohne es in den fraglichen Entscheiden ausdrücklich zu erwähnen -, dass die beiden Parzellen landwirtschaftliche Grundstücke seien; andernfalls hätte sie auf das Gesuch ja nicht eintreten dürfen. Diese Auffassung ist für den Zivilrichter nicht verbindlich (vgl. Erw. 1).
b) Der Kläger verkennt, dass
Art. 218 OR
von "landwirtschaftlichen Grundstücken" schlechthin spricht und nicht ein "landwirtschaftliches Gewerbe" voraussetzt, das eine wirtschaftliche Einheit bildet und eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz bietet, wie dies
Art. 620 ZGB
für die ungeteilte Zuweisung an einen Miterben verlangt. Daraus folgt, dass für
BGE 95 II 426 S. 430
die Anwendung des Veräusserungsverbotes nach
Art. 218 OR
weder die Grösse, der Wert noch der Ertragswert, sondern einzig die Benutzungsart des Bodens den Ausschlag gibt (vgl. JENNY, Die Sperrfrist im Verkehr mit landwirtschaftlichen Grundstücken in ZBGR 18 [1937] S. 167/68). Art. 1 Abs. 2 der Verordnung über die Verhütung der Überschuldung landwirtschaftlicher Liegenschaften umschreibt daher zutreffend als landwirtschaftliche Liegenschaft jede Bodenfläche, die durch Bewirtschaftung und Ausnützung der natürlichen Kräfte des Bodens den ihr eigenen Wert erhält oder zu einem Betrieb gehört, der in der Hauptsache der Gewinnung und Verwertung organischer Stoffe des Bodens dient. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift gelten als landwirtschaftliche Liegenschaften namentlich Grundstücke, die dem Acker-, Wiesen-, Wein-, Mais-, Tabak-, Obst-, Feldgemüse- und Saatgutbau oder der Alpwirtschaft dienen.
aa) Das Obergericht stellt fest, die Liegenschaft "Brustried" sei eine 182 a grosse Bergliegenschaft, die relativ gut bewirtschaftet werden könne und einen guten Boden mit Graswuchs aufweise. Der Kläger behauptet nicht, diese Feststellung sei unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekommen oder beruhe offensichtlich auf Versehen. Sie bindet somit das Bundesgericht. Demnach ist davon auszugehen, dass die streitigen Parzellen landwirtschaftlichen Charakter aufweisen. Ob die darauf befindlichen Gebäulichkeiten baufällig sind und sich die Kosten der Instandstellung für das kleine Heimwesen nicht lohnen, wie der Kläger behauptet, ist nach dem Gesagten für die Anwendung der Schutzvorschriften der Art. 218 f. OR unerheblich.
bb) Der landwirtschaftliche Charakter eines Grundstückes schliesst seine Eigenschaft als Bauland im Sinne von
Art. 218 Abs. 2 OR
nicht ohne weiteres aus.
Für die Bestimmung des Baulandcharakters kommt es nicht auf die Absichten des Eigentümers oder Erwerbers an; denn sonst hätte es jeder Kaufinteressent in der Hand, mit der blossen Erklärung, er wolle auf dem Grundstück bauen oder es für die Überbauung erschliessen, die Sperrfrist zu umgehen. Massgebend ist einzig, ob das Grundstück nach den objektiven Verhältnissen sofort überbaut werden kann. Diese Voraussetzung ist auch für landwirtschaftliche Grundstücke erfüllt, wenn die für die Erteilung der Baubewilligung zuständige Behörde feststellt, dass der sofortigen Überbauung nichts im Wege stehe.
BGE 95 II 426 S. 431
Daraus folgt, dass ein Grundstück sogar dann als Bauland von der Sperrfrist ausgenommen werden muss, wenn es nicht in einer Bauzone liegt, für die der Kanton gestützt auf Art. 3 des Bundesgesetzes über die Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes (EGG) die Anwendung dieses Gesetzes ausgeschlossen hat (vgl.
BGE 92 I 338
/39 Erw. 4). Für den Baulandcharakter ist daher nicht entscheidend, ob das Grundstück an einer Kanalisation angeschlossen ist, sondern ob der Eigentümer Anspruch auf eine Baubewilligung hat. Allerdings kann das Fehlen einer Kanalisation ein Grund sein, dass die zuständige Behörde die Baubewilligung zunächst verweigert (vgl.
BGE 93 I 604
).
Die Vorinstanz stellt nicht fest, dass die Voraussetzungen für eine sofortige Überbauung der streitigen Parzellen bestünden. Das behauptet denn auch der Kläger nicht, noch macht er geltend, die zuständige Behörde würde ihm die Bewilligung erteilen, wenn er sie verlangte.
3.
Ob am 2. Mai 1954 beim Ableben des Kaspar Odermatt eine Sperrfrist im Sinne des
Art. 218 OR
im Gange war und, wenn ja, ob sie nach dem Tode des Erblassers weiterlief oder ob mit der Eröffnung des Erbganges eine neue zehnjährige Frist begann (vgl. dazu
BGE 88 I 202
) kann dahingestellt bleiben, denn auch diese wäre beim Abschluss des Kauf- und Kaufrechtsvertrages vom 28. April 1965 abgelaufen gewesen. Dagegen fragt es sich, ob der "Abtretungsvertrag" vom 26. April 1957 - entgegen der Auffassung des Klägers - zu einem Eigentumserwerb führte und damit eine neue zehnjährige Frist in Gang setzte.
a) Dieser Vertrag hat die Natur eines Erbteilungsvertrages oder muss jedenfalls beim Entscheid der gestellten Frage einem solchen gleichgesetzt werden (JENNY, a.a.O., S. 170).
Dass der Erbe, dem ein Grundstück in einer Erbteilung zugewiesen wird, im Sinne der erwähnten Bestimmung Eigentum erwerbe, nehmen KAUFMANN, Das ländliche neue Bodenrecht der Schweiz, S. 217, und GLOOR, Beschränkungen im rechtsgeschäftlichen Verkehr mit landwirtschaftlichen Grundstücken, S. 74, an. Diese Auffassung scheint der Rechtsprechung zu widersprechen, wonach die Erbteilung nicht als "Eigentumsübertragung" im Sinne des
Art. 657 ZGB
gilt (
BGE 83 II 369
/70).
Art. 218 OR
erfasst jedoch nicht nur die "Eigentumsübertragung" im Sinne des
Art. 657 ZGB
, sondern bezieht sich grundsätzlich auf jeden Eigentumserwerb (vgl. die in den
BGE 95 II 426 S. 432
Art. 656-662 ZGB
erwähnten Arten des Eigentumserwerbes). Die Erbteilung bezweckt die Überführung des Gesamteigentums in das Alleineigentum der einzelnen Erben (TUOR/SCHNYDER, ZGB, 8. Aufl., S. 419; ESCHER, Einleitung zu
Art. 602-640 ZGB
N. 1). Sie verändert die Eigentumsverhältnisse und damit auch die Verfügungsmacht durch wechselseitige Aufgabe von Gesamtrechten mit nachfolgender Anwachsung (vgl. MEIER/HAYOZ, N. 51 c zu
Art. 652 ZGB
; JOST, Der Erbteilungsprozess im schweizerischen Recht, S. 4). Es besteht daher die Möglichkeit, dass sich der Erbe ein im Nachlass befindliches Grundstück gerade im Hinblick auf eine spekulative Weiterveräusserung zuweisen lässt, was dem Zweckgedanken der Sperrfrist widerspricht. Demnach rechtfertigt es sich, die Erbteilung als Eigentumserwerb im Sinne des
Art. 218 OR
zu betrachten.
b) Zu prüfen ist, ob die durch die Erbteilung ausgelöste Sperrfrist schon vom Abschluss des Teilungsvertrages an läuft oder erst vom Tage an, an dem die neuen Eigentumsverhältnisse in das Grundbuch eingetragen werden. Für die zweite Lösung spricht zunächst die Überlegung, dass der Teilungsvertrag nur den Erwerbsgrund bildet, der Erbe aber erst mit der Eintragung im Grundbuch Eigentümer wird (vgl. Art. 18 GBVO;
BGE 86 II 353
Erw. 3 b; TUOR/PICENONI, N. 20 zu
Art. 654 ZGB
; ESCHER, N. 5 zu
Art. 634 ZGB
, MEIER/HAYOZ, N. 78 zu
Art. 656 ZGB
; JOST, a.a.O., S. 7; HOMBERGER, N. 24 zu
Art. 963 ZGB
). Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich der Tag des Grundbucheintrages immer feststellen lässt, während der Tag des Teilungsvertrages unter Umständen unsicher ist, da die Erbteilung nur der Schriftform bedarf (
Art. 634 Abs. 2 ZGB
) und diese Datierung nicht verlangt (
Art. 13 OR
; unveröffentlichtes Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. Januar 1965 i.S. Interporostom AG gegen Spannplattenwerk Fideris AG) oder das Datum auf einem solchen Vertrag von den Erben versehentlich oder zur Täuschung Dritter unrichtig angegeben sein kann.
c) Ist nach dem Gesagten die Eintragung im Grundbuch für den "Eigentumserwerb" im Sinne von
Art. 218 OR
massgebend, so ist die Sperrfrist am 7. Mai 1967 abgelaufen. Der Kaufvertrag über die Parzelle Nr. 918 wurde am 28. April 1965, somit zwei Jahre vor Ablauf der Sperrfrist abgeschlossen; das Kaufsrecht über die Parzelle 284 wurde ebenfalls am 28. April 1965 vereinbart und seine Ausübung war auf den 28. April 1967 befristet; es wurde indessen am 24. April 1967, also auch vor Ablauf
BGE 95 II 426 S. 433
der Sperrfrist ausgeübt. Demnach sind beide Rechtsgeschäfte nichtig (vgl.
BGE 94 II 110
Erw. 2 b). Unter diesen Umständen ist die vom Obergericht geprüfte und bejahte Frage nicht zu entscheiden, ob im Sinne von
Art. 20 Abs. 2 OR
die Nichtigkeit des Kaufvertrages auch jene des Kaufsrechtes nach sich ziehe.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Unterwalden nid dem Wald vom 16. Januar 1969 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,969 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
ead97359-0601-467b-a4f7-516318065fa8 | Urteilskopf
123 III 35
6. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. August 1996 i.S. Z. AG gegen B. AG und F. GmbH (Berufung) | Regeste
Internationales Privatrecht; Konsens und Auslegung eines Verweisungsvertrags; Widerklage und Zuständigkeit.
Ob ein Verweisungsvertrag zustande gekommen ist, ist vorliegend altrechtlich zu beurteilen, was zur Anwendung der lex fori führt (E. 2a). Auslegungsregeln, massgebende Vertragsgrundlage und Rechtswahl aus normativer Bindung (E. 2b-d).
Die ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung für eine mit Widerklage geltend gemachte Forderung derogiert der gesetzlichen Widerklagezuständigkeit. Für die Widerklage ist eine vorbehaltlose Einlassung gemäss
Art. 6 IPRG
möglich (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 36
BGE 123 III 35 S. 36
A.-
Die B. AG und die F. GmbH (nachfolgend Klägerinnen) schlossen sich am 16. März 1987 mit der A. AG unter der Bezeichnung "Arbeitsgemeinschaft Tiefgarage X.-gasse Konstanz" (nachstehend ARGE) zu einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts nach §§ 705 ff. BGB zusammen mit dem Zweck, für die Stadt Konstanz schlüsselfertig eine Tiefgarage zu erstellen. Mit Bauwerkvertrag vom 15. Juli 1987 übertrug die ARGE die Werkausführung der A. AG als Subunternehmerin und verpflichtete sie, zur Absicherung aller sich aus diesem Vertrag ergebenden Verpflichtungen eine "selbstschuldnerische, verlängerbare Ausführungsbürgschaft der Z. AG" in der Höhe von DM 2'000'000.-- zu stellen.
Am 13. August 1987 sandte die Z. AG (nachfolgend Beklagte) der A. AG eine Police für eine Baugarantieversicherung (Ausführungsgarantie) über eine Garantiesumme von Fr. 1'000'000.-- (Nr. 1.988.444-001) zu. am 8. September 1987 stellte sie einen Ersatzantrag für eine Ausführungsgarantieversicherung (Bürgschaft) mit einer Garantiesumme von DM 2'000'000.-- aus, welchen die A. AG gegenzeichnete. Am 15. September 1987 schliesslich errichtete sie eine Police (Nr. 1.988.444-002) für eine Baugarantieversicherung (Ausführungsgarantie) über eine Garantiesumme von Fr. 1'670'000.--, welche die erstgenannte Police ersetzte und als Unternehmerin die A. AG, als Bauherrin die ARGE nannte.
Bereits am 11. September 1987 hatte die Beklagte der ARGE eine erste Bürgschaftserklärung ausgestellt, welche diese jedoch nicht akzeptierte. Am 25. September 1987 gab sie eine zweite Erklärung ab, in der sie sich als Solidarbürgin bis zum Höchstbetrag von DM 2'000'000.-- gegenüber der AGRE verpflichtete für den Fall, dass die A. AG dem Bauvertrag vom 15. Juli 1987 nicht vollständig nachkomme. Weiter teilte sie wörtlich mit:
"Die Bürgschaftssumme ist auf erste Anforderung zahlbar.
Die "Z. AG" verzichtet auf die Einreden der Anfechtung, der Aufrechnung und der Vorausklage (§ 770, Abs. 1 und 2, § 771 BGB).
Die Verpflichtung aus dieser Bürgschaft erlischt, sobald der "Z. AG" diese Urkunde zurückgegeben wird, spätestens jedoch, wenn die "Z. AG" bis zur Fertigstellung des Werkes nicht in Anspruch genommen wurde.
Diese Bürgschaftserklärung ersetzt diejenige vom 11.09.1987."
BGE 123 III 35 S. 37
Am 1. Oktober 1987 sandte die Klägerin 1 die erste Bürgschaftserklärung vom 11. September 1987 an die Beklagte zurück.
B.-
Nach dem Beginn der Bauarbeiten im Herbst 1988 stellten sich verschiedene Mängel und Schwierigkeiten ein, die zu Differenzen unter den Mitgliedern der ARGE führten. Mit Schreiben vom 15. Dezember 1989 trat die A. AG ohne Präjudiz für ihren Rechtsstandpunkt vom Bauwerkvertrag zurück. Damit erklärte sich die ARGE nicht einverstanden, setzte die A. AG unter Fristansetzung für die Sanierung des Werks in Verzug und drohte ihr für den Fall der Nichteinhaltung die Kündigung des Bauwerkvertrags an. Die A. AG widersetzte sich der Inverzugsetzung und beharrte auf ihrer Vertragskündigung. Nach weiteren Fristansetzungen beschloss die ARGE am 15. März 1990 mit den Stimmen der Klägerinnen, den Subunternehmervertrag aus wichtigen Gründen zu kündigen und die Ersatzvornahme selbst vorzunehmen. Mit gültigem Beschluss vom 29. Oktober 1990 schlossen die Klägerin die A. AG aus der ARGE aus.
C.-
In der Folge belangten die Klägerinnen die Beklagte vor dem Handelsgericht des Kantons Zürich auf Zahlung von DM 2'000'000.-- nebst Zins. Die Beklagte schloss auf Abweisung der Klage und machte als Zessionarin widerklageweise eine Werklohnteilforderung der A. AG von DM 2'585'623.-- nebst Zins geltend, welche sie eventualiter zur Verrechnung stellte. Mit Beschluss und Urteil vom 27. Mai 1994 trat das Handelsgericht auf die Widerklage nicht ein und hiess die Klage mit Ausnahme eines Mehrwertsteuerbetreffnisses auf dem Zinsbetrag gut. Eine dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Beklagten wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 4. September 1995 ab, soweit es darauf eintrat.
Zur gleichen Zeit führten die Klägerinnen ein Prozessverfahren gegen die A. AG in Deutschland. Vor dem Landgericht Konstanz klagten sie auf Schadenersatz, welcher ihnen mit Urteil vom 23. Dezember 1992 im Umfang von DM 3'000'000.-- zugesprochen wurde. Die Widerklage der A. AG und der ihr in gewillkürter Parteierweiterung beigetretenen Beklagten auf Zahlung von Werklohn wies das Landgericht mit der Begründung ab, einerseits habe die Beklagte den Prozessstoff bereits vor dem Handelsgericht Zürich zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht, und anderseits stehe der A. AG keine Werklohnforderung mehr zu. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
D.-
Gegen das Urteil und den Beschluss des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Mai 1994 hat die Beklagte eidgenössische
BGE 123 III 35 S. 38
Berufung erhoben, die das Bundesgericht abgewiesen hat, soweit es darauf eingetreten ist.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Das Handelsgericht hat in der unwidersprochenen Entgegennahme der Bürgschaftserklärung der Beklagten vom 25. September 1987 durch die Klägerinnen einen normativen Konsens auf Wahl des deutschen Bürgschaftsrechts im Sinn eines Verweisungsvertrags erblickt. Daher hat es beweismässige Abklärungen zu allenfalls vorgängigen tatsächlichen Willensübereinstimmungen der Parteien für entbehrlich gehalten. Die Parteien hatten im kantonalen Verfahren geltend gemacht, vor Zustellung der Vertragsurkunde hätten sie sich auf die Anwendung deutschen (Klägerinnen) bzw. schweizerischen Sachrechts (Beklagte) geeinigt. Nach Auffassung der Beklagten hat das Handelsgericht damit ihren bundesrechtlichen Beweisführungsanspruch nach
Art. 8 ZGB
sowie die Auslegungsregeln von
Art. 1 und 18 OR
missachtet; eventuell beruft sie sich auf Dissens.
a) Nach früherer Rechtsprechung, jedenfalls seit Aufgabe der sogenannten grossen Vertragsspaltung mit
BGE 78 II 74
(E. 5), wie nach geltendem kodifiziertem Internationalem Privatrecht (
Art. 116 IPRG
) belässt die kollisionsrechtliche Privatautonomie den Parteien - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - die Freiheit, das auf ihre Vertragsbeziehungen anwendbare Sachrecht selbst zu bestimmen (SCHÖNENBERGER/JÄGGI, Zürcher Kommentar, N. 196 ff. in Allgemeine Einleitung vor
Art. 1 OR
; VISCHER, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. I, .S. 666 ff.; KELLER/KREN KOSTKIEWICZ, in: Heini et al. (Hrsg.), IPRG Kommentar, N. 26 ff. zu Art. 116; AMSTUTZ/VOGT/WANG, in: Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Internationales Privatrecht, N. 1 ff. zu Art. 116; DUTOIT, Droit international privé suisse, Commentaire de la loi fédérale du 18 décembre 1987, N. 1 ff. zu Art. 116).
Streitig ist, ob und mit welchem Inhalt die Parteien im Jahre 1987 einen Verweisungsvertrag geschlossen haben. Da der massgebende Sachverhalt sich zeitlich vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht verwirklicht hat, ist er altrechtlich zu beurteilen (
Art. 196 IPRG
). Entsprechend der damals herrschenden Rechtsauffassung entscheidet sich nach der lex fori, d.h. nach schweizerischem Recht, ob der Vertragstatbestand verwirklicht ist (
BGE 79 II 295
E. 1d S. 300; SCHÖNENBERGER/JÄGGI, Zürcher Kommentar, N. 202 in Allgemeine Einleitung vor
Art. 1 OR
; VISCHER,
BGE 123 III 35 S. 39
a.a.O. S. 666; zum altrechtlichen Meinungsstand auch KELLER/KREN KOSTKIEWICZ, a.a.O., N. 23 zu
Art. 116 IPRG
; AMSTUTZ/VOGT/WANG, a.a.O., N. 33 zu
Art. 116 IPRG
; DUTOIT, a.a.O. N. 1 zu
Art. 116 IPRG
;). Damit kann offen bleiben, wie es sich nach geltendem Recht verhielte, welches die Konsensfrage grundsätzlich dem gewählten bzw. dem beabsichtigten Sachrecht unterstellt (
Art. 116 Abs. 2 Satz 2 IPRG
; AMSTUTZ/VOGT/WANG, a.a.O, N. 34 zu
Art. 116 IPRG
; SCHWANDER, Urteilsanmerkung zu Bundesgerichtsurteil vom 28. April 1993 [
BGE 119 II 173
], in AJP 1993 S. 863 f.), indes das anwendbare Recht nicht ausdrücklich bestimmt, wenn alternativ die Wahl zweier Sachrechte streitig ist. Offen bleiben kann weiter, in welchem Verhältnis - namentlich im Bereich des normativen Konsenses (dazu
BGE 119 II 173
E. 1b) - nach der geltenden Ordnung die zwingend schweizerischem Recht unterstehenden äusseren Deutlichkeitserfordernisse (
Art. 116 Abs. 2 Satz 1 IPRG
) zu den in die lex causae verwiesenen inneren Konsensanforderungen stehen (zur Abgrenzung Heini, Die Rechtswahl im Vertragsrecht und das neue IPR-Gesetz, in: Beiträge zum neuen IPR des Sachen-, Schuld- und Gesellschaftsrechts, Festschrift für Rudolf Moser, S. 67 ff., 77; AMSTUTZ/VOGT/WANG, a.a.O., N. 37 zu
Art. 116 IPRG
; DUTOIT, a.a.O., N. 14 zu
Art. 116 IPRG
). Die Beklagte macht geltend, das Handelsgericht habe zu Unrecht die parteiautonome Wahl schweizerischen Rechts verneint, welches auf die Frage des Zustandekommens eines Verweisungsvertrags selbst dann anwendbar wäre, wenn sie auch altrechtlich von der lex causae beherrscht würde.
Ist der streitige Vertragstatbestand nach schweizerischem Recht zu beurteilen, steht insoweit die Berufung offen, als eine Verletzung von Bundesrecht geltend gemacht wird.
b) Im schweizerischen Vertragsrecht gilt bei Fragen des Konsenses oder der Auslegung der Grundsatz des Primats des subjektiv übereinstimmend Gewollten vor dem objektiv Erklärten, subjektiv aber unterschiedlich Verstandenen. Im Konsens- wie im Auslegungsstreit hat das Sachgericht daher vorab zu prüfen, ob die Parteien sich tatsächlich übereinstimmend geäussert, verstanden und in diesem Verständnis geeinigt haben. Ist dies für den Vertragsschluss als solchen zu bejahen, liegt ein tatsächlicher Konsens vor. Haben die Parteien sich in den Vertragsverhandlungen zwar übereinstimmend verstanden, aber nicht geeinigt, besteht ein offener Dissens und damit kein Vertragsschluss. Haben sie sich übereinstimmend geäussert, aber abweichend verstanden, liegt ein versteckter Dissens vor, welcher zum Vertragsschluss führt, wenn eine der Parteien nach
BGE 123 III 35 S. 40
dem Vertrauensgrundsatz in ihrem Verständnis der gegnerischen Willensäusserung zu schützen und damit die andere auf ihrer Äusserung in deren objektivem Sinn zu behaften ist. Diesfalls liegt ein normativer Konsens vor.
Stellt das Sachgericht in Missachtung dieser Ordnung unmittelbar auf den objektivierten Sinngehalt einer vertragsbezogenen Willenserklärung ab, weil es ein prozesskonform behauptetes, davon abweichendes übereinstimmendes subjektives Verständnis der Vertragspartner für unerheblich hält, verletzt es die bundesrechtlichen Vorschriften zur Konsensbildung (
Art. 1 OR
) oder zur Vertragsauslegung (
Art. 18 OR
), nicht aber
Art. 8 ZGB
. Die bundesrechtliche Beweisvorschrift gibt einen Beweisführungsanspruch von vornherein nur zu rechtserheblichen Sachbehauptungen (
BGE 114 II 289
E. 2a). Was rechtserheblich ist, bestimmt das materielle und nicht das formelle Bundesprivatrecht. Hat das Sachgericht entscheidwesentliche Sachvorbringen der Parteien zu Unrecht für unerheblich gehalten, ist der Sachverhalt nach Massgabe von
Art. 64 OG
zu ergänzen (
BGE 115 II 484
E. 2a).
Art. 8 ZGB
ist demgegenüber verletzt, wenn das Sachgericht taugliche und formgültig beantragte Beweise zu als rechtserheblich erachteten Tatsachen nicht abnimmt, obwohl es die Sachvorbringen dazu weder als erstellt noch als widerlegt erachtet und damit von einem offenen Beweisergebnis ausgeht (
BGE 114 II 289
E. 2a S. 291). Im einen wie im anderen Fall liegt eine im Berufungsverfahren zu behebende Bundesrechtsverletzung vor.
c) Das Handelsgericht hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, die Parteien seien sich beim Abschluss des Sicherungsvertrags der Frage des anwendbaren Rechts bewusst gewesen. Der Beklagten sei bekannt gewesen, dass die Klägerinnen die Anwendung deutschen Rechts wünschten. Die als Antrag zu verstehende Bürgschaftserklärung der Beklagten vom 25. September 1987 verweise sodann in ihrem vertrauenstheoretischen Verständnis auf deutsches Sachrecht, weshalb die Klägerinnen in guten Treuen auf einen Willen auch der Beklagten zu entsprechender Anknüpfung hätten schliessen dürfen und insoweit ein Verweisungsvertrag durch normativen Konsens zustande gekommen sei. Dabei bleibe ohne Bedeutung, ob die Beklagte in den vorangegangenen Verhandlungen zu erkennen gegeben habe, sie wolle sich nur nach schweizerischem Recht verpflichten, und ob die Klägerinnen demzufolge in den Verhandlungen nicht mehr auf der Anwendung deutschen Rechts beharrten.
BGE 123 III 35 S. 41
Diese Auffassung beschlägt vorerst nicht bundesrechtliche Auslegungsregeln, sondern die Frage, ob die Beklagte sich auf der objektivierten Bedeutung ihrer Bürgschaftserklärung auch dann behaften lassen muss, wenn darin vom vorangegangenen Verhandlungsergebnis abgewichen wird. Damit wird nach der massgebenden Vertragsgrundlage gefragt. Erst wenn diese Frage als relevant für die Bürgschaftserklärung beantwortet wird, ist alsdann zu prüfen, ob die Vorinstanz in deren Annahme durch die Klägerinnen rechtsfehlerfrei einen Verweisungsvertrag auf deutsches Sachrecht erblickt hat.
aa) Bezogen auf den Sicherungsvertrag hat die den Klägerinnen am 25. September 1987 abgegebene Bürgschaftserklärung der Beklagten die Bedeutung eines Antrags oder allenfalls einer Vertragsbestätigung. Untersteht die Erklärung schweizerischem Recht, hat sie zwingend die Bedeutung eines Antrags, da eine frühere, formgenügliche Einigung nicht festgestellt ist (
Art. 493 Abs. 1 OR
) und der Antrag seinerseits der gesetzlichen Form bedarf (SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 17 zu
Art 3 OR
). Untersteht sie hingegen deutschem Recht, kann sie Antrag oder Vertragsbestätigung sein, da die Bürgschaftserklärung des Kaufmanns im Handelsverkehr formfrei gültig ist (§ 350 HGB).
Dasselbe gilt, soweit die Bürgschaftserklärung als Willensäusserung der Beklagten zum Abschluss eines Verweisungsvertrags verstanden wird. Diesfalls erschiene die Erklärung als Antrag oder Vertragsbestätigung, und zwar unbesehen der Rechtsanknüpfung, weil der Verweisungsvertrag auch nach früherem schweizerischem Recht grundsätzlich formfrei gültig war (
BGE 91 II 44
E. 3). In beiden Erscheinungsformen aber entfaltet sie mit der unwidersprochenen Annahme durch die Klägerinnen nach dem hier allein zu prüfenden schweizerischen Recht konstitutive Wirkung. Im Fall des Antrags ergibt sich dies daraus, dass er vom grundsätzlich unverbindlichen vorkonsensualen Verhandlungsergebnis ohne weiteres abweichen kann und als Bürgschaftsofferte auch durch Stillschweigen angenommen wird (SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 32 zu
Art. 6 OR
mit Hinweisen). Im Fall des unwidersprochenen Bestätigungsschreibens folgt die konstitutive Wirkung nach der Rechtsprechung aus der Abgabe im kaufmännischen Verkehr (
BGE 114 II 250
E. 2a). In beiden Fällen ergibt sich die Bindung letztlich aus dem Vertrauensgrundsatz, welcher sich im Normalfall zwar zu Lasten des schweigenden Empfängers auswirkt (vgl.
BGE 114 II 250
E. 2a S. 252; CANARIS, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, München, S. 196 ff.; GAUCH/SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht,
BGE 123 III 35 S. 42
Allgemeiner Teil, Bd. I, 6. Aufl., 1995, Rz. 1162 ff.), aber naheliegend auch dem Absender entgegenzuhalten ist, der seinen tatsächlichen Willen nicht hinreichend deutlich erklärt hat und sich seine Willenserklärung daher so entgegenhalten lassen muss, wie sie vom Empfänger nach Treu und Glauben im Verkehr aufgefasst werden durfte (
BGE 69 II 319
, insbesondere S. 322). Für den vorliegenden Fall ist unwichtig, ob die bindende Wirkung des Bestätigungsschreibens unmittelbar auf eine quasivertragliche Vertrauenshaftung oder auf die Annahme eines vertragsändernden normativen Konsenses abgestützt wird (zum Theorienstreit Gauch/Schluep, a.a.O.); so oder anders greift die Bindung unstreitig jedenfalls dort, wo die vom vorher Vereinbarten oder Verhandelten abweichende Bestätigung sich zu Gunsten des Empfängers auswirkt (KRAMER, Schweigen auf kaufmännische Bestätigungsschreiben und rechtsgeschäftlicher Vertrauensgrundsatz, in recht 1990 S. 99 ff., 105). Der sich aus dem Vertrauensgrundsatz ergebenden Bindung des Absenders auf das von ihm Offerierte oder Bestätigte kann daher weder ein abweichendes Verhandlungsergebnis noch eine abweichende tatsächliche Einigung entgegengehalten werden, sofern die Berufung des begünstigten Empfängers auf den Vertrauensschutz nicht ihrerseits missbräuchlich ist. Daher ist der Vorinstanz insoweit keine Bundesrechtsverletzung vorzuwerfen, als sie die divergierenden Sachbehauptungen der Parteien zum Verweisungsvertrag zufolge nachfolgender, davon unabhängiger Bindung nicht als rechtserheblich erachtet hat.
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, welche im Ergebnis in
Art. 116 Abs. 2 Satz 1 IPRG
übernommen wurde, setzt die Annahme eines Verweisungsvertrags voraus, dass die Parteien sich der kollisionsrechtlichen Frage bewusst waren und einen entsprechenden Rechtswahl-Willen äussern wollten (
BGE 119 II 173
E. 1b). Dies hat das Handelsgericht im vorliegenden Fall für das Bundesgericht verbindlich festgestellt.
Folgt die Rechtswahl sodann aus normativer Bindung, sei es aus entsprechendem Konsens oder allenfalls davon abzugrenzendem unwidersprochenem Bestätigungsschreiben (Erwägung 2c/aa hievor), ist zusätzlich eine objektiv hinreichend schlüssige, ausdrückliche oder konkludente Willenserklärung erforderlich, welche vom Empfänger nach dem Vertrauensgrundsatz unzweideutig auf einen Verweisungsvertrag bezogen werden darf (
BGE 119 II 173
E. 1b). Diese kann auch darin erblickt werden, dass eine Partei sich ausdrücklich auf Bestimmungen oder Institute eines bestimmten Rechts
BGE 123 III 35 S. 43
beruft (
BGE 62 II 140
E. 1; KELLER/KREN KOSTKIEWICZ, a.a.O., N. 14 zu
Art. 116 IPRG
; DUTOIT, a.a.O., N. 3 zu
Art. 116 IPRG
; AMSTUTZ/VOGT/WANG, a.a.O., N. 42 zu
Art. 116 IPRG
).
Im vorliegenden Fall ist nach den Feststellungen der Vorinstanz davon auszugehen, dass die Rechtswahl in den Vertragsverhandlungen streitig war, die Klägerinnen die Anwendung deutschen Rechts auf den Sicherungsvertrag wünschten und dieser sich auf eine Hauptforderung bezog, welche in Deutschland zu erfüllen und deutschem Recht unterstellt worden war. Diese Umstände bestimmen massgeblich auch das Verständnis der Bürgschaftserklärung. Darin hat die Beklagte sich verpflichtet, die in deutscher Währung vereinbarte "Bürgschaftssumme auf erste Anforderung" hin zu bezahlen, und damit einen Ausdruck verwendet, der im deutschen Recht für die Bezeichnung einer selbstschuldnerischen Bürgschaft im Sinn von § 773 Abs. 1 Ziff. 1 BGB geläufig ist (STAUDINGER/HORN, Kommentar, 12. Aufl., Berlin 1986, N. 2 zu § 773 BGB). Weiter hat sie auf die Einreden der Anfechtung, der Aufrechnung und der Vorausklage verzichtet und dabei ausdrücklich auf die §§ 770 und 771 BGB Bezug genommen. Dies ist für das objektivierte Verständnis ihrer Willenserklärung letztlich entscheidend. Es macht keinen Sinn, in einer Vertragsurkunde unter Nennung der einschlägigen Bestimmungen eines Sachrechts auf genau spezifizierte Einreden zu verzichten, wenn dieses Sachrecht seinerseits die Rechtsbeziehungen der Parteien nicht erfassen soll. Dies hat sich namentlich auch die geschäftserfahrene und international tätige Beklagte entgegenhalten zu lassen. Das Handelsgericht hat kein Bundesrecht verletzt, wenn es unter all diesen Umständen die Klägerinnen in ihrem Vertrauen schützte, die Beklagte sei bei Abgabe der schriftlichen Bürgschaftserklärung mit deren Anknüpfung an deutsches Sachrecht einverstanden gewesen. Folgerichtig hat es eine normative Bindung der Beklagten an ihre so verstandene Willensäusserung zu Recht bejaht.
Was die Beklagte gegen dieses Auslegungsergebnis einwendet, dringt nicht durch. Bauwerkvertrag und Versicherungsvertrag, auf welche sie sich beruft, sind nicht unter denselben Parteien abgeschlossen worden und damit für die Auslegung des Sicherungsvertrags von vornherein nicht entscheidend. Dies gilt namentlich im Fall der Garantieversicherung mit verselbständigter Garantieerklärung, wie sie der streitigen Bürgschaftserklärung zugrunde liegt. Vorliegend bestimmt der Bauwerkvertrag das Valuta- oder Grundverhältnis zwischen der A. AG und der ARGE, der Versicherungsvertrag das Deckungsverhältnis zwischen der A. AG und der
BGE 123 III 35 S. 44
Beklagten und der Sicherungsvertrag, erscheine er als selbständiger Garantievertrag oder als akzessorische Bürgschaft, das Leistungs- oder Sicherungsverhältnis zwischen der ARGE und der Beklagten (vgl. SONJA GABI, Garantieversicherung, Diss. Zürich 1990, S. 54 f.). All diese Rechtsbeziehungen unterstehen eigener kollisionsrechtlicher Anknüpfung und sind eigenständiger Rechtswahl zugänglich (
BGE 119 II 173
E. 1b). Dies gilt namentlich auch für die Bürgschaft, welche trotz ihrer Akzessorietät nicht unbesehen dem Sachrecht der Hauptforderung oder des dieser zugrundeliegenden Vertrags zwischen Gläubiger und Hauptschuldner folgt (
BGE 117 II 490
E. 2). Entsprechend finden auch Allgemeine Geschäftsbedingungen eines Versicherungsvertrags auf den Sicherungsvertrag nur Anwendung, wenn sie im letzteren zum Vertragsinhalt erhoben wurden, und gehen selbst dann die Individualabreden den vorformulierten vor, wie das Handelsgericht zutreffend erkannt hat (
BGE 93 II 317
E 4b; KRAMER, Berner Kommentar, N. 210 ff. zu
Art. 1 OR
). So verhält es sich auch im vorliegenden Fall. Daher kann offen bleiben, ob im Sicherungsvertrag die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Versicherungsvertrags überhaupt übernommen wurden. Ebensowenig vermag die Beklagte zu ihren Gunsten aus hier nicht streitigen Bürgschafts- oder anderen Erklärungen Dritter den Klägerinnen gegenüber etwas abzuleiten. Unbehelflich ist sodann die Berufung auf die sogenannte Unklarheitsregel mit der Begründung, letztlich hätten die Klägerinnen die Bürgschaftserklärung verfasst. Abgesehen davon, dass die geschäftserfahrene Beklagte die Bürgschaftserklärung mindestens äusserlich formuliert hat und sich daher kaum darauf berufen kann, sie sei nicht deren Verfasserin, greift die Unklarheitsregel nur, wenn die übrigen Auslegungsmittel versagen, was hier nicht der Fall ist (JÄGGI/GAUCH, Zürcher Kommentar, N. 452 zu
Art. 18 OR
; vgl. auch KRAMER, Berner Kommentar, N. 48 zu
Art. 18 OR
). Im weiteren wird das Auslegungsergebnis auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Sicherungsvertrag als "Solidarbürgschaft" bezeichnet ist. Auch wenn das Bürgerliche Gesetzbuch diesen Begriff nicht enthält, dient er in der Praxis auch zur Bezeichnung einer selbstschuldnerischen Bürgschaft (STAUDINGER/HORN, a.a.O., N. 2 zu § 773 BGB). Im Lichte des gesamten Kontextes und Umfelds der Bürgschaftserklärung vermag die Vertragsbezeichnung die normative Annahme einer Wahl deutschen Rechts nicht zu entkräften. Schliesslich versagt auch die Berufung der Beklagten auf einen versteckten Willensdissens; die Annahme einer normativen Bindung setzt einen solchen geradezu voraus (GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., Rz. 328).
BGE 123 III 35 S. 45
d) Aus all diesen Gründen ist die Berufung abzuweisen, soweit sie sich gegen die Annahme einer Rechtswahl durch die Vorinstanz richtet. Untersteht der Sicherungsvertrag somit deutschem Sachrecht, ist im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, ob das Handelsgericht die Beklagte zu Recht auf dessen Erfüllung verpflichtet hat. Dies gilt auch insoweit, als die Beklagte geltend macht, die Klägerinnen nähmen die Bürgschaft rechtsmissbräuchlich in Anspruch, und das Handelsgericht habe bundesrechtswidrig darüber kein Beweisverfahren durchgeführt.
Art. 2 und 8 ZGB
beziehen sich nur auf bundesrechtliche Ansprüche (MERZ, Berner Kommentar, N. 79 ff. zu
Art. 2 ZGB
; KUMMER, Berner Kommentar, N. 49 zu
Art. 8 ZGB
). Eine Missachtung des schweizerischen Ordre public durch die Vorinstanz (MERZ, Berner Kommentar, N. 80 zu
Art. 2 ZGB
) wird - zu Recht - nicht geltend gemacht.
3.
Als Bundesrechtsverletzung rügt die Beklagte weiter, dass das Handelsgericht auf ihre Widerklage nicht eingetreten sei. Sie beruft sich auf Art. 8 und - sinngemäss - auf
Art. 6 IPRG
.
a) Das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. September 1988 (LuganoÜbereinkommen [LugÜ], SR 0.275.11) ist für Deutschland am 1. März 1995 und damit erst nach Erlass des angefochtenen Urteils in Kraft getreten. Die Frage des Verhältnisses von
Art. 6 Ziff. 3 LugÜ
zu den Gerichtsstandsbestimmungen des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht stellt sich daher im vorliegenden Verfahren nicht.
b) Nach
Art. 6 IPRG
begründet in vermögensrechtlichen Streitigkeiten die vorbehaltlose Einlassung die Zuständigkeit des angerufenen schweizerischen Gerichts, sofern dieses - was hier der Fall wäre - seine Zuständigkeit nach
Art. 5 Abs. 3 IPRG
anzuerkennen hat. Der Gerichtsstand der Einlassung gilt auch für die Widerklage (BERTI, in: Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Internationales Privatrecht, N. 14 zu
Art. 8 IPRG
).
Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen des Handelsgerichts haben die Klägerinnen dessen Zuständigkeit zur Beurteilung der Widerklage "ausdrücklich und eingehend" bestritten. Insoweit liegt klarerweise keine vorbehaltlose Einlassung vor.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, die Klägerinnen hätten sich auf die Widerklage eingelassen, da sie vor dem Landgericht Konstanz die Einrede der entsprechenden Rechtshängigkeit erhoben haben. Einlassung ist der Verzicht auf den gesetzlichen oder ausschliesslich prorogierten Gerichtsstand durch konkludentes Handeln in einem
BGE 123 III 35 S. 46
bereits hängigen Prozess und erscheint dergestalt als Sonderform einer Gerichtsstandsvereinbarung (GERHARD WALTER, Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, S. 117; OSCAR VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., 1995, S. 119). Die Einlassung erfolgt durch die unzweideutige Bekundung der Beklagtenseite, vor dem angerufenen Gericht zur Hauptsache zu verhandeln (
BGE 87 I 131
ff.). Eine solche konkludente Willenskundgabe auf Anerkennung eines an sich nicht gegebenen Gerichtsstands liegt indes nicht bereits darin, dass die an zwei Gerichtsständen verfolgte Partei vor einem Gericht einwendet, die Streitsache sei andernorts rechtshängig. Diese Annahme verbietet sich schon daraus, dass bei streitiger Zuständigkeit des erstangerufenen Gerichts dieses vorerst über die Unzuständigkeitseinrede zu befinden haben wird, und dass bis zum Vorliegen dieses (Vor-)Entscheids ungewiss ist, ob die Sache nicht unbesehen des Einwands behandelt wird. Daher muss der beklagten Partei klarerweise offen stehen, den Einwand der Litispendenz beim zweitangerufenen Gericht unbesehen der andernorts hängigen Unzuständigkeitseinrede zu erheben, ohne diese dadurch zu verwirken. Anderes lässt sich auch den von der Beklagten angerufenen Literatur- und Entscheidstellen zum zürcherischen Prozessrecht nicht entnehmen (STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, N. 3 zu § 12 und N. 3 zu § 15; ZR 77/1978 Nr. 101).
Dass die Klägerinnen den schweizerischen Gerichtsstand der Widerklage für den Fall anerkannt hätten, dass das Landgericht Konstanz ihren Einwand der Litispendenz schützen würde, ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Das entsprechende Vorbringen der Beklagten hat daher als neu und damit als unzulässig zu gelten (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
).
c) Die Beklagte macht als Zessionarin der A. AG widerklageweise Ansprüche geltend, die auf dem Bauwerkvertrag vom 15. Juli 1987 gründen. Dieser bestimmt in Ziffer 8 unter dem Titel "Erfüllungsort und Gerichtsstand":
"Für diesen Vertrag gilt Deutsches Recht. Das AGB-Gesetz ist soweit möglich ausgeschlossen. Erfüllungsort und Gerichtsstand ist - soweit gesetzlich zulässig - Konstanz."
Die Gerichtsstandsvereinbarung bindet unstreitig auch die Beklagte als Zessionarin (
BGE 56 I 505
E. 1 S. 509; HESS, in: Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Internationales Privatrecht, N. 104 zu
Art. 5 IPRG
). Die Vermutung der Ausschliesslichkeit des vereinbarten Gerichts ist nicht widerlegt (
Art. 5 Abs. 1 IPRG
;
BGE 123 III 35 S. 47
BGE 118 II 188
E. 3a;
BGE 119 II 67
E. 2a und 177 E. 3d). Sie gilt auch hinsichtlich der mit der Prorogation verbundenen Derogation gesetzlich zuständiger Gerichte (
BGE 119 II 177
E. 3d; Hans Peter Walter, Derogation c. Prorogation - Kollisionen aus interkantonal oder international vereinbarter Zuständigkeiten im Zivilprozess, in: Rechtskollisionen, Festschrift für Anton Heini, S. 509 ff., 510). Zu prüfen bleibt, ob der ausschliesslich prorogierte Gerichtsstand ebenfalls denjenigen der Widerklage nach
Art. 8 IPRG
derogiert. Der Bundesrat vertrat in seiner Botschaft vom 10. November 1982 ohne nähere Begründung die Auffassung, der Gerichtsstand der Widerklage bleibe auch dann begründet, wenn das betreffende Begehren an sich bei einem durch Vereinbarung bezeichneten Gericht oder Schiedsgericht anzubringen wäre (BBl 1983 I 263ff. Ziff. 213.9). Die Meinungen in der Literatur sind hierzu geteilt. Volken (in: Heini et al. (Hrsg.), IPRG Kommentar, N. 14 zu Art. 8) lässt die Frage offen, scheint aber der Auffassung beizupflichten, das Widerklageforum habe auch gegenüber einer Prorogationsvereinbarung vorrangige Bedeutung, wenngleich er das Vollstreckungsrisiko des Widerklägers im Ausland nicht übersieht. Nach BERTI (a.a.O., N. 13 zu
Art. 8 IPRG
) schliesst jedenfalls eine Schiedsklausel den staatlichen Gerichtsstand der Widerklage aus. HESS (a.a.O., N. 109 zu
Art. 5 IPRG
) steht dem Widerbeklagten die Unzuständigkeitseinrede auch dann zur Verfügung, wenn zufolge einer Gerichtsstandsvereinbarung eine andere ausschliessliche Zuständigkeit gegeben ist. Im gleichen Sinn schliesst HANS REISER (Gerichtsstandsvereinbarungen nach IPR-Gesetz und Lugano-Übereinkommen, S. 83) die Widerklage ausserhalb des ausschliesslich prorogierten Gerichtsstands aus. Diesen Auffassungen ist beizupflichten. Die Widerklage ist selbständige Klage im Rahmen eines anderen Prozesses (GERHARD WALTER, a.a.O., S. 120). Sie ist weder Angriffs- noch Verteidigungsmittel, sondern Klage wie die Vorklage, ein gegen den Angriff geführter Gegenangriff, mit welchem die Beklagtenseite ein selbständiges Ziel verfolgt, indem sie einen von der Vorklage nicht erfassten, unabhängigen Anspruch ins Recht legt (LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 2. Aufl., 1995, N. 1a zu Art. 170; KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., 1984, S. 116). Haben die Beteiligten diesen Anspruch parteiautonom ausschliesslich in die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts gestellt, sind sie an diese Vereinbarung weiterhin gebunden, und ist nicht einzusehen, weshalb diese Bindung - vorbehältlich einer abweichenden Einigung - nicht mehr gelten
BGE 123 III 35 S. 48
soll, sobald ein anderer Anspruch unter ihnen vor einem anderen Gericht streitig ist. Dies ist besonders im internationalen Verhältnis von Bedeutung. Unterstellen die Vertragsparteien ihre Rechtsbeziehungen einem bestimmten Sachrecht und prorogieren sie für die Beurteilung allfälliger Streitigkeiten daraus einen ausschliesslichen Gerichtsstand in diesem Rechtskreis, entspricht ihrem mutmasslichen Parteiwillen, darüber ein Gericht entscheiden zu lassen, welches das gewählte Sachrecht als Eigen- und nicht als Fremdrecht anwendet. Dies schliesst auch eine Widerklage an einem anderen als dem beidseits gewollten Gerichtsstand aus.
Art. 5 Abs. 1 IPRG
ist daher so zu verstehen, dass die Derogationswirkung der vermuteten Ausschliesslichkeit eines prorogierten Gerichtsstands ebenfalls eine allfällige Widerklagezuständigkeit umfasst (so wohl HANS REISER, a.a.O.; demgegenüber scheint BEATRICE BRANDENBERG BRANDL, Direkte Zuständigkeit der Schweiz im internationalen Schuldrecht, Diss. St. Gallen 1991, S. 359, der Auffassung zu sein, der Gerichtsstand der Widerklage habe nur gegenüber gesetzlich [generell] ausschliesslichen Zuständigkeiten zurückzutreten; vgl. auch GERHARD WALTER, a.a.O., S. 115). Dieses Auslegungsergebnis entspricht der Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs, wonach mit der Vereinbarung eines ausschliesslichen Gerichtsstands auch derjenige der Widerklage abbedungen ist (BGHZ 59 S. 116 E. 2a).
d) Ist die Zuständigkeit des Handelsgerichts zur Beurteilung der Widerklage bereits aufgrund der Gerichtsstandsvereinbarung im Bauwerkvertrag zu verneinen, erübrigt sich zu prüfen, ob sie zu Recht auch mangels Konnexität der Ansprüche im Sinn von
Art. 8 IPRG
abgelehnt wurde. Zu erwähnen bleibt, dass auch der Versuch der Beklagten scheitert, die Klageforderung mit den ihr abgetretenen Ansprüchen aus dem Bauwerkvertrag zu verrechnen. Denn wie das Handelsgericht verbindlich festgestellt hat, sind bei einer Bürgschaft auf erstes Anfordern gemäss deutschem Recht Einwendungen gegen die materielle Berechtigung der Ansprüche des Begünstigten grundsätzlich erst nach der Zahlung in einem Rückforderungsprozess geltend zu machen. Die selbstschuldnerische Bürgschaft würde ihren Sinn und Zweck verlieren, wollte man die ausgeschlossenen Einreden und Einwendungen, wozu auch die Verrechnung gehört, auf diesem Weg gleichwohl zulassen. | null | nan | de | 1,996 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eadb1152-223e-4b2a-81ef-cad8d0104eb9 | Urteilskopf
113 IV 42
12. Extrait de l'arrêt de la Cour de cassation du 23 février 1987, dans la cause V.S. c. Ministère public du canton de Fribourg (pourvoi en nullité) | Regeste
Art. 40 JVG
.
Beim Entscheid, inwieweit eine Tat bzw. ein Verhalten als vom Begriff der Jagd erfasst zu gelten hat, fällt in Betracht, ob der vom Abgeklagten begleitete Jäger über ein Patent oder eine Bewilligung verfügt. Gehilfenschaft oder Mittäterschaft setzt eine deliktische Handlung des Haupttäters voraus; wo eine solche fehlt, macht sich der an der "Tat" Beteiligte nur strafbar, wenn sein Handeln vom Gesetz ausdrücklich unter Strafe gestellt ist. | Erwägungen
ab Seite 42
BGE 113 IV 42 S. 42
Considérant en fait et en droit:
2.
La seule question à juger, le recourant ne remettant pas en cause sa condamnation pour violation des dispositions réglant la navigation intérieure, est celle de savoir si l'
art. 40 ch. 2 LChO
lui
BGE 113 IV 42 S. 43
est applicable en ce sens qu'il aurait "chassé" sans permis en pilotant le bateau à partir duquel un chasseur au bénéfice d'un permis tirait le canard. L'autorité cantonale a considéré que tel était le cas, se référant à une jurisprudence selon laquelle est considéré comme chasse "tout acte qui tend, directement ou indirectement, à la capture du gibier". Or selon elle, même s'il n'est pas absolument nécessaire à la chasse au canard, le pilote accompagnant le chasseur ne se borne pas à faire avancer le bateau, "il peut" en plus diriger celui-ci vers des endroits où le gibier est susceptible de se trouver et débusquer ce dernier pendant que le tireur est prêt à faire feu; son rôle ne serait dès lors pas assimilable à celui d'un spectateur, car son cas serait le même que si, à terre, il avait conduit les chiens ou porté les armes du chasseur. Cette argumentation pèche sur de nombreux points, ne serait-ce que parce qu'en droit pénal on n'a pas l'habitude de punir quelqu'un à cause de ce qu'"il peut" faire, mais bien exclusivement pour ce qu'il a fait, ce qu'il a voulu faire, voire pour ce qu'il a pris le risque de faire.
Pour le reste, la jurisprudence à laquelle se réfère l'autorité cantonale n'est en tout cas pas celle du Tribunal fédéral qui ne s'est guère exprimé sur la définition de la chasse au sens des
art. 39 et 40 LChO
(les activités de tirer, abattre, capturer ou tenir en captivité ne prêtant pas à discussion), en dehors de deux arrêts publiés aux
ATF 74 IV 212
et
ATF 98 IV 139
consacrés à la question de savoir si le fait de se mettre à l'affût est assimilable à celui de chasser. Dans ces deux arrêts, le Tribunal, qui se réfère dans le second à la thèse de WAECKERLING (Die Jagdvergehen nach eidgenössischem und kantonalem Recht, p. 108), a défini la chasse comme l'ensemble des actes ou comportements propres à tuer ou à capturer le gibier sans qu'il importe que ce but soit atteint ou non. On ne saurait s'écarter de cette définition qui correspond d'ailleurs à celle des dictionnaires Littré et Robert (cf. item HÄMMERLI, thèse Zurich 1940, p. 17), comme le fait l'autorité cantonale en voulant réprimer les actes qui tendent "indirectement" à l'abattage ou à la capture du gibier, sans interpréter d'une manière extensive une règle du droit pénal au préjudice du justiciable, au mépris des principes généraux du droit et de l'
art. 1er CP
(cf. a contrario
ATF 103 IV 129
).
De toute manière, pour décider si un acte ou un comportement doit être considéré comme de la chasse, il convient de prendre en considération le fait que le chasseur accompagné par l'accusé est ou non
BGE 113 IV 42 S. 44
titulaire d'un permis ou autorisation. En effet, il ne peut exister de complice ou de coauteur que par rapport à un acte délictueux. Lorsqu'un acte est autorisé par la loi, celui qui y participe ne saurait être puni que s'il a commis en agissant une infraction bien définie par la loi (par exemple celle de l'
art. 115 CP
). C'est ainsi que, pour reprendre l'un des exemples cités par l'autorité cantonale et par WAECKERLING (op.cit., p. 77), le fait de conduire les chiens que l'on a prêtés à un chasseur ne saurait être réprimé que si ce dernier est un braconnier. Quant au fait de porter les fusils (autre exemple cité par l'autorité cantonale), il ne peut être réprimé que sur la base de l'
art. 41 LChO
et non sur celle des
art. 39 et 40 LChO
de la même loi, malgré la "possibilité" pour le porteur de tirer de manière illicite le gibier protégé.
En l'espèce, le recourant a piloté le bateau à partir duquel tirait en toute légalité un chasseur. Un tel comportement n'est pas en soi propre à tuer ou à capturer le gibier, si bien qu'il n'était nullement interdit par la loi, même s'il favorisait sans doute l'activité du chasseur. Il ne saurait donc pas plus être puni que ceux qui ont préparé le fusil, vendu les cartouches, indiqué l'emplacement du gibier, voire guidé le chasseur. Quant au fait que la conduite du bateau par un tiers est ou non nécessaire à l'exercice de la chasse au canard, il est dénué de toute pertinence. Dès lors que ladite chasse à partir d'un bateau est licite d'une manière générale, peu importe du point de vue du droit fédéral le nombre de personnes qu'il y avait à bord, l'identité du pilote et le nombre de tireurs, pour autant que ceux-ci soient titulaires d'un permis. Le pourvoi doit ainsi être admis et la cause renvoyée à l'autorité cantonale pour qu'elle libère le recourant de l'accusation d'avoir violé la LChO. | null | nan | fr | 1,987 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eadd507b-52fb-48ce-bd3d-b2a00d3bf08b | Urteilskopf
138 I 217
19. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Regierungsrat des Kantons Luzern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_131/2012 vom 13. Juni 2012 | Regeste
Art. 8 und 27 BV
,
Art. 133 Abs. 2 StPO
; Beschränkung der Zahl der in eine offizielle Liste aufgenommenen amtlichen Verteidiger und diesbezügliche Wahlpraxis des Regierungsrats des Kantons Luzern.
Eine auf der Parteizugehörigkeit basierende Wahl amtlicher Verteidiger verletzt das Diskriminierungsverbot (E. 3.3).
Die Beschränkung der Zahl der in die Liste aufgenommenen amtlichen Verteidiger an sich verletzt weder das Rechtsgleichheitsgebot noch das Diskriminierungsverbot. Die amtliche Verteidigung fällt zudem nicht in den Schutzbereich der Wirtschaftsfreiheit (E. 3.4). | Sachverhalt
ab Seite 218
BGE 138 I 217 S. 218
A.
Mit Brief vom 4. Januar 2011 gelangte das Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) des Kantons Luzern an das Parteipräsidium der Schweizerischen Volkspartei (SVP) des Kantons Luzern. Es schrieb, gemäss § 7a des kantonalen Gesetzes vom 4. März 2002 über das Anwaltspatent und die Parteivertretung (Anwaltsgesetz; SRL 280) wähle der Regierungsrat aus den zugelassenen Anwältinnen und Anwälten die amtlichen Verteidigerinnen und Verteidiger auf vier Jahre. Alle bisherigen neun amtlichen Verteidiger hätten sich für eine Wiederwahl zur Verfügung gestellt und der Regierungsrat habe diese Wahl für die Amtsdauer vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2014 bereits vorgenommen. Der Regierungsrat habe das JSD in diesem Rahmen beauftragt, den Parteiproporz der amtlichen Verteidiger zu überprüfen. Es habe sich gezeigt, dass die SVP als einzige im Kantonsrat vertretene Partei noch keinen amtlichen Verteidiger stelle. Auf Grund des heute geltenden Proporzes im Kantonsrat stehe der SVP zu, zwei amtliche Verteidigerinnen oder Verteidiger zu stellen. Der Regierungsrat sei bereit, im Rahmen einer Ergänzungswahl zwei weitere amtliche Verteidiger zu wählen. Falls die SVP des Kantons Luzern einen oder zwei amtliche Verteidiger zur Wahl vorschlagen möchte, werde um einen entsprechenden Wahlvorschlag bis zum 31. Januar 2011 gebeten. Dem Anforderungsprofil entsprächen Anwälte und Anwältinnen, die im kantonalen Anwaltsregister eingetragen seien, schwergewichtig im Strafrecht tätig seien oder sich schwergewichtig mit Strafrecht beschäftigen wollten und bereit seien, regelmässig Pikettdienst zu leisten.
Das Schreiben wurde in Kopie dem Präsidenten des Vereins Pikettdienst Strafverteidigung Luzern zugestellt. Dieser informierte die Vereinsmitglieder, zu welchen auch Rechtsanwalt X. gehört. X. beantragte daraufhin dem Regierungsrat mit Schreiben vom 24. Januar 2011 seine Wahl zum amtlichen Verteidiger und reichte seine Bewerbungsunterlagen ein. In seinem Schreiben wies er darauf hin, dass er sich als parteiloser Kandidat zur Verfügung stelle und eine Beschränkung auf Parteimitglieder im Rahmen der Ergänzungswahl unzulässig sei.
Mit Schreiben vom 28. März 2011 teilte das JSD X. mit, dass der Regierungsrat aus vier Kandidaten Rechtsanwalt A. zum amtlichen Verteidiger gewählt habe. Den Ausschlag für dessen Wahl habe seine bisherige Tätigkeit im Strafrechtsbereich gegeben. Mit Schreiben vom 6. April 2011 ersuchte X. den Regierungsrat um Zustellung eines anfechtbaren Entscheids. Mit Schreiben vom 29. April 2011 erhob er - ohne dass der Regierungsrat ihm einen förmlichen
BGE 138 I 217 S. 219
Entscheid zugestellt hatte - Beschwerde an das Verwaltungsgericht Luzern. Er beantragte, seine Nichtwahl sei aufzuheben und er sei zum amtlichen Verteidiger zu bestellen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Neuentscheidung an den Regierungsrat zurückzuweisen. Mit Urteil vom 17. Januar 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 29. Februar 2012 beantragt X. im Wesentlichen, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und die Sache sei zur Neubeurteilung an das Verwaltungsgericht bzw. den Regierungsrat zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Auszug)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
In Bezug auf seine eigene Nichtwahl macht der Beschwerdeführer in erster Linie geltend, das Rechtsgleichheitsgebot, das Diskriminierungsverbot und die Wirtschaftsfreiheit seien verletzt worden. Diese Kritik des Beschwerdeführers an seiner eigenen Nichtwahl lässt sich von der Kritik an der Wahl A.s insofern trennen, als der Beschwerdeführer verlangt, nicht an dessen Stelle, sondern zusätzlich zu diesem (und den weiteren auf der Liste figurierenden Personen) gewählt zu werden. Die betreffenden Rügen sind mithin sachbezogen (
Art. 42 Abs. 2 BGG
). Vor ihrem Hintergrund ist in der Folge in einem ersten Schritt die Bundesrechtskonformität der betreffenden luzernischen Wahlpraxis zu prüfen, welche zur Nichtwahl des Beschwerdeführers geführt hat (vgl. in diesem Zusammenhang
BGE 131 II 361
E. 1.2 S. 365 f. mit Hinweisen). Falls sich dabei herausstellen sollte, dass diese Wahlpraxis Bundesrecht verletzt, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer einen eigentlichen Rechtsanspruch auf Wahl oder zumindest auf Durchführung einer weiteren Ergänzungswahl hat, oder ob es mit einer Feststellung der Bundesrechtswidrigkeit sein Bewenden haben muss.
3.2
Die Wahl der amtlichen Verteidiger im Kanton Luzern wird in § 7a Anwaltsgesetz geregelt. Diese Bestimmung hat folgenden Wortlaut:
§ 7a Amtliche Verteidigung
1
Der Regierungsrat wählt aus den zugelassenen Anwältinnen und Anwälten mehrere amtliche Verteidigerinnen und Verteidiger.
BGE 138 I 217 S. 220
2
Die amtlichen Verteidigerinnen und Verteidiger werden auf vier Jahre gewählt. Die Neuwahlen finden im gleichen Jahr wie die Neuwahlen der erstinstanzlichen Richterinnen und Richter statt.
3.3
3.3.1
Das Verwaltungsgericht führte aus, der Regierungsrat habe lediglich das Parteipräsidium der SVP des Kantons Luzern angeschrieben und damit bereits zu diesem Zeitpunkt den Kreis möglicher Kandidaten auf SVP-Mitglieder oder zumindest dieser Partei nahestehende Rechtsanwälte eingegrenzt. Da er aber eine Kopie des Schreibens dem Präsidenten des Vereins Pikettdienst Strafverteidigung Luzern zugestellt habe, habe schliesslich auch der Beschwerdeführer von der anstehenden Ergänzungswahl erfahren. Er habe sich in der Folge ohne jegliche Nachteile als Kandidat für die Aufgabe anbieten können. Dass er dabei nicht gewählt worden sei, sei nicht auf seine Parteilosigkeit zurückzuführen, den Ausschlag zugunsten A.s hätten dessen Qualifikationen gegeben.
Das Verwaltungsgericht führte weiter aus, es wäre mit der Bundesverfassung (
Art. 8 BV
) kaum zu vereinbaren, wenn die politische Ausrichtung den Kreis der Kandidaten bereits von Beginn weg einschränken würde. Wenn aber der Regierungsrat unter zwei oder mehreren ähnlich qualifizierten Rechtsanwälten auszuwählen habe, so dürfe er die Parteizugehörigkeit mitberücksichtigen. Das Bundesrecht und das kantonale Recht stellten nur elementare Anforderungen an die Person des amtlichen Verteidigers und eine Ergänzung mit weiteren, objektiv nachvollziehbaren Wahlkriterien sei deshalb notwendig.
3.3.2
Aus dem angefochtenen Entscheid und den Verfahrensakten ergibt sich Folgendes: Eine Kopie des Briefs vom 4. Januar 2011 wurde dem Präsidenten des Vereins Pikettdienst Strafverteidigung Luzern zugestellt. Da dieser daraufhin die Vereinsmitglieder informierte, erhielt schliesslich auch der Beschwerdeführer Kenntnis von der anstehenden Ergänzungswahl. Indessen ergibt sich aus dem Schreiben gerade nicht, dass auch parteiungebundene Kandidaten Wahlchancen hatten. Vielmehr war es offensichtlich die Absicht des Regierungsrats, aus Proporzgründen einen Vertreter der SVP zu wählen, wie sich aus folgender Passage des Schreibens ergibt:
"Im Rahmen der Wahl der amtlichen Verteidiger hat der Regierungsrat das Justiz- und Sicherheitsdepartement beauftragt, den Parteiproporz der amtlichen Verteidiger zu überprüfen. Es hat sich gezeigt, dass die SVP als einzige im Kantonsrat vertretene Partei noch keinen amtlichen Verteidiger stellt. Auf Grund des heute geltenden Proporzes im Kantonsrat steht
BGE 138 I 217 S. 221
der SVP zu, zwei amtliche Verteidigerinnen oder Verteidiger zu stellen. Der Regierungsrat ist bereit, im Rahmen einer Ergänzungswahl zwei weitere amtliche Verteidiger zu wählen. Falls Sie einen oder zwei amtliche Verteidiger zur Wahl vorschlagen möchten, bitten wir um einen entsprechenden Wahlvorschlag bis 31. Januar 2011."
Es stand somit von vornherein fest, dass der Regierungsrat bei der anstehenden Wahl eines amtlichen Verteidigers nach dem Parteiproporz vorgehen und einen Vertreter der SVP wählen würde, sofern ein solcher in Betracht käme. Aber selbst wenn mit der Vorinstanz davon auszugehen wäre, dass bei dieser Praxis parteiungebundene Kandidaten nicht a priori ohne Wahlchancen sind, so soll immerhin bei mehreren gleich geeigneten Kandidaten die Parteizugehörigkeit berücksichtigt werden. Im Folgenden ist zu überprüfen, ob diese Praxis vor dem Diskriminierungsverbot standhält.
3.3.3
Gemäss dem in
Art. 8 Abs. 2 BV
verankerten Diskriminierungsverbot darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich behandelt wird allein auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch und in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder als minderwertig behandelt wird. Diese qualifizierte Form der Ungleichbehandlung führt zu einer Benachteiligung eines Menschen, welche als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie auf ein Unterscheidungsmerkmal abstellt, das einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betreffenden Person bildet. Insofern beschlägt die Diskriminierung auch Aspekte der Menschenwürde (
Art. 7 BV
). Das Diskriminierungsverbot des schweizerischen Verfassungsrechts schliesst aber die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal nicht absolut aus. Eine solche begründet den Verdacht einer unzulässigen Differenzierung, der durch eine qualifizierte Rechtfertigung umgestossen werden kann (
BGE 136 I 297
E. 7.1 S. 305 mit Hinweisen; YVO HANGARTNER, Staatliches Handeln im Bereich von Diskriminierungsverboten, in: Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 1301 f.).
3.3.4
Nach der Wahlpraxis des Regierungsrats kommen parteiungebundene Personen, auch wenn sie als zugelassene Anwälte die gesetzlichen Wahlvoraussetzungen erfüllen, von vornherein für eine Wahl nicht in Betracht oder werden zumindest benachteiligt. Die
BGE 138 I 217 S. 222
Zugehörigkeit zu einer Partei beziehungsweise die Parteilosigkeit ist zwar ein Umstand, der veränderbar ist, doch kann dessen Änderung aufgrund der verfassungsrechtlich verankerten Wertvorstellungen dem Einzelnen nicht zugemutet werden:
Art. 8 Abs. 2 BV
nennt die politische Überzeugung ausdrücklich als ein verpöntes Unterscheidungskriterium. Die Anknüpfung an die Parteizugehörigkeit begründet somit den Verdacht einer unzulässigen Differenzierung.
3.3.5
Die auf dem Parteiproporz basierende Wahlpraxis des Regierungsrats hält nur dann vor
Art. 8 Abs. 2 BV
stand, wenn dafür eine qualifizierte Rechtfertigung besteht. Es ist zu prüfen, ob die Wahlpraxis ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse verfolgt, zur Erreichung dieses Interesses geeignet und erforderlich ist und sich gesamthaft als verhältnismässig erweist (
BGE 135 I 49
E. 6.1 S. 59 mit Hinweisen). Die Hürde für die Rechtfertigung einer unter
Art. 8 Abs. 2 BV
fallenden Unterscheidung liegt je nach dem verwendeten verpönten Merkmal höher oder tiefer, jedenfalls aber höher als bei einer einfachen Ungleichbehandlung nach
Art. 8 Abs. 1 BV
(KÄLIN/CARONI, Das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen der ethnisch-kulturellen Herkunft, in: Das Verbot ethnisch-kultureller Diskriminierung, 1999, S. 78 f.).
Die parteipolitische Repräsentanz gehört zu den Dominanten der schweizerischen Politik. Zur Anwendung gelangt sie nicht nur bei Wahlen in politische Behörden, sondern auch etwa bei Richterwahlen, so namentlich bei Wahlen ins Bundesgericht. Sie gewährleistet bis zu einem gewissen Grad, dass sich die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Kräfte in der Zusammensetzung einer Behörde widerspiegeln und sich eine pluralistische Meinungsbildung ergibt. Für REGINA KIENER ermöglicht die der Schweiz eigene Fragmentierung in ein Vielparteiensystem eine differenzierte und breite Übertragung gesellschaftlicher Anliegen in die politischen Gremien (REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, 2001, S. 271). § 44 Abs. 3 KV/LU (SR 131.213) sieht ausdrücklich vor, dass der Kantonsrat bei seinen Wahlen die Vertretung der politischen Parteien in angemessener Weise berücksichtigt (Abs. 3), was unter anderem für die Wahl seiner Kommissionen (Abs. 1 lit. b) und der Mitglieder der Gerichte (Abs. 1 lit. e) gilt.
Für das Mandat der amtlichen Verteidigung ist bedeutsam, dass der Bewerber das Handwerkszeug eines Verteidigers beherrscht beziehungsweise über spezifische berufliche Erfahrung verfügt. Das scheint denn auch der Grund dafür zu sein, dass der Kanton Luzern an der
BGE 138 I 217 S. 223
Wahl der amtlichen Verteidiger festhält, da diese eine gewisse Kontrolle erlaubt (vgl. dazu E. 3.4.3 hiernach). Hingegen ist das Kriterium der Parteizugehörigkeit hinsichtlich der Wahl amtlicher Verteidiger sachfremd. Es ist insbesondere nicht einzusehen, weshalb sich in der Gruppe der vom Regierungsrat gewählten amtlichen Verteidiger gewissermassen die gesellschaftlichen bzw. gesellschaftspolitischen Kräfte widerspiegeln müssen, ganz abgesehen davon, dass die amtlichen Verteidiger ohnehin nicht als Gruppe agieren, sondern im jeweils konkreten Fall als Einzelpersonen tätig werden. Im Unterschied zu Richtern haben amtliche Verteidiger nicht die Aufgabe und die Kompetenz, staatliche Entscheide zu fällen. Entscheidend ist, ob ein Anwalt Gewähr dafür bietet, den an das Mandat der amtlichen Verteidigung gestellten Erwartungen gerecht zu werden. Dies hat mit seiner partei- beziehungsweise gesellschaftspolitischen Ausrichtung nichts zu tun. Infolgedessen stellt die Abbildung des Parteiproporzes kein öffentliches Interesse dar, das vorliegend eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte. Die Benachteiligung parteiungebundener Anwälte ist diskriminierend und verletzt
Art. 8 Abs. 2 BV
.
3.4
3.4.1
Steht somit fest, dass die Wahlpraxis des Regierungsrat gegen Bundesrecht verstösst, ist nach dem Gesagten weiter zu prüfen, ob der Beschwerdeführer einen Anspruch darauf hat, gewählt zu werden, beziehungsweise darauf, dass eine zusätzliche Ergänzungswahl durchgeführt wird, an welcher er teilnehmen könnte. Der Beschwerdeführer macht in dieser Hinsicht geltend, es gebe keinen Grund, nur gewisse Anwälte auf die Liste der amtlichen Verteidiger aufzunehmen, zumal es in allen anderen Kantonen keine derartige Beschränkung gebe. Er rügt in diesem Zusammenhang eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots, des Diskriminierungsverbots, der Wirtschaftsfreiheit und der "Beschuldigtenrechte". Weiter kritisiert er, dass der Regierungsrat entgegen seiner Ankündigung nur eine Person statt deren zwei gewählt habe.
3.4.2
§ 7a Abs. 1 Anwaltsgesetz sieht vor, dass der Regierungsrat mehrere amtliche Verteidiger wählt. Der Wortlaut der Bestimmung zeigt mit der Verwendung des Wortes "mehrere", dass die Anzahl der zu wählenden Verteidiger nicht unbeschränkt sein soll. Die vorinstanzliche Auslegung, wonach es dem Regierungsrat als Wahlorgan obliegen soll, die genaue Anzahl festzulegen, ist nachvollziehbar. Auch der Beschwerdeführer erblickt offenbar keine Willkür im
BGE 138 I 217 S. 224
Umstand, dass der Regierungsrat gestützt auf § 7 Anwaltsgesetz die Anzahl gewählter amtlicher Verteidiger beschränkt.
3.4.3
Die Beschränkung der Zahl (der numerus clausus) an sich verletzt weder das Rechtsgleichheitsgebot noch das Diskriminierungsverbot. Eine Verletzung dieser Verfassungsgarantien kann sich höchstens aus einer konkreten Wahl ergeben. Zwar schafft bereits die Einführung eines numerus clausus zwei Kategorien von Anwälten, nämlich solchen, welche gewählt sind und solchen, welche dies nicht sind. Um mit dem Rechtsgleichheitsgebot vereinbar zu sein, reicht es indessen aus, dass für diese Unterscheidung ein sachlicher Grund besteht. Der Regierungsrat führte diesbezüglich in der Botschaft aus, die amtliche Verteidigung betreffe die grösseren Kriminalfälle und es sei im Interesse des Staats und des Verfahrens, die Verteidigung Anwälten mit einschlägiger Erfahrung anzuvertrauen. Die Wahl der amtlichen Verteidiger erlaube in diesem Zusammenhang eine gewisse Kontrolle (Botschaft vom 15. Dezember 2009 des Regierungsrats an den Kantonsrat des Kantons Luzern, B 137 S. 72). Dies stellt einen sachlichen Grund für die Einführung eines numerus clausus dar. Die damit einhergehende Unterscheidung erscheint auch nicht als unverhältnismässig, denn ihre Tragweite ist beschränkt. Die auf der Liste aufgeführten amtlichen Verteidiger haben kein Monopol; die beschuldigte Person kann auch einen anderen Anwalt als Verteidiger wünschen und die Verfahrensleitung ist von Bundesrechts wegen verpflichtet, nach Möglichkeit diesen Wunsch zu berücksichtigen (
Art. 133 Abs. 2 StPO
[SR 312.0]).
3.4.4
Hinsichtlich der Rüge des Beschwerdeführers, seine Nichtwahl verletze die Wirtschaftsfreiheit, weist das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hin, dass die amtliche Verteidigung nicht eine privatwirtschaftliche Tätigkeit darstellt. Die amtliche Verteidigung ist vielmehr eine öffentliche Aufgabe. Der Zugang dazu fällt deshalb nicht unter den Schutz der Wirtschaftsfreiheit (Urteil 1B_81/2010 vom 4. Mai 2010 E. 3 mit Hinweisen). Wohl begründet die Wahl zum amtlichen Verteidiger im Kanton Luzern noch kein entsprechendes Mandatsverhältnis, doch ist sie einzig und allein darauf ausgerichtet. Tangiert die Bestellung zum amtlichen Verteidiger in einem konkreten Strafverfahren die Wirtschaftsfreiheit nicht, dann ebenso wenig die Wahl für eine Liste von Anwälten, die verpflichtet sind, derartige Mandate zu übernehmen. Die Rüge des Beschwerdeführers ist somit unbegründet.
BGE 138 I 217 S. 225
3.4.5
Der Beschwerdeführer beruft sich weiter darauf, dass die Rechte des Beschuldigten verletzt würden, wenn dieser nur eine kleine Auswahl an Verteidigern habe. Bereits die Vorinstanz hat indessen dargelegt, dass sich die Auswahl des Beschuldigten nicht auf die gewählten amtlichen Verteidiger beschränkt. Inwiefern vor diesem Hintergrund eine Verletzung der Rechte des Beschuldigten drohen soll, ist nicht ersichtlich (vgl. wiederum
Art. 133 Abs. 2 StPO
). Die Rüge ist unbegründet.
3.4.6
Schliesslich kritisiert der Beschwerdeführer, der Regierungsrat habe entgegen seiner Ankündigung im Schreiben vom 4. Januar 2011 an die Parteileitung der SVP des Kantons Luzern nur eine statt zwei Personen gewählt. Das Verwaltungsgericht führte dazu aus, der Umstand, dass der Regierungsrat am Ende nur einen amtlichen Verteidiger aus den vier zur Verfügung stehenden Kandidaten gewählt habe, stehe zwar in einem gewissen Widerspruch zu seiner Ankündigung im besagten Schreiben. Doch könne der Beschwerdeführer daraus nichts zu seinen Gunsten ableiten, da kein Anspruch auf eine Wahl bestehe. Mit diesen Erwägungen setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Insbesondere legt er nicht dar, weshalb ihm entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts aus dem Wahl- bzw. Vorwahlverhalten des Regierungsrats ein Anspruch auf Wahl erwachsen sollte. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Schutz berechtigten Vertrauens (
Art. 9 BV
) sind jedenfalls offensichtlich nicht erfüllt (vgl.
BGE 137 I 69
E. 2.5.1 S. 72 f.). Auf die Rüge ist mangels hinreichender Begründung nicht einzutreten (
Art. 42 Abs. 2 BGG
). | public_law | nan | de | 2,012 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eae4aafb-60c6-4c88-9f9f-677ba483197b | Urteilskopf
116 IV 190
37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 13. Juli 1990 i.S. X. gegen G. und Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Sache von geringem Wert (
Art. 138 und
Art. 142 StGB
); massgebende Kriterien.
Bei Sachen mit einem Marktwert bzw. einem objektiv bestimmbaren Wert ist allein dieser massgebend (Änderung der Rechtsprechung). Bei Sachen ohne einen Marktwert bzw. einen objektiv bestimmbaren Wert ist entscheidend, welchen Wert die Sache im konkreten Fall für das Opfer hat; dabei kann auch berücksichtigt werden, welchen Geldbetrag der Täter dem Opfer für die Sache zu zahlen bereit wäre. | Sachverhalt
ab Seite 191
BGE 116 IV 190 S. 191
X. war seit dem 1. März 1973 bei der G. angestellt. Er stieg im Lauf der Jahre zum technischen Betriebsleiter auf und hatte die Kollektiv-Prokura inne. Mit Schreiben vom 15. Oktober 1984 wurde er von der G. fristlos entlassen. Er nahm im Dezember 1984 seine Tätigkeit bei der neu gegründeten A. auf. Am 8. März 1985 wurde er Mitglied des Verwaltungsrates dieses Unternehmens. Er befasste sich bei der A. insbesondere mit der Fabrikation von solchen Waren, für welche er schon bei der G. zuständig gewesen war.
X. nahm bei seinem Weggang von der G. unter anderem einen Ordner "Lieferanten" mit, den er als notwendiges Hilfsmittel für seine Tätigkeit bei der G. angelegt hatte und der Rechnungskopien, Originalofferten, Originalprospekte sowie Kopien von verbuchten Rechnungen der G. enthielt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Nach den Ausführungen im angefochtenen Urteil und im erstinstanzlichen Entscheid erfüllte der Beschwerdeführer den Tatbestand der Veruntreuung im Sinne von
Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
auch dadurch, dass er nach seinem Ausscheiden aus der G. am 15. Oktober 1984 einen Ordner mit der Aufschrift "Lieferanten" für sich behielt, den er bei seiner Tätigkeit bei der G. als hiefür notwendiges Hilfsmittel angelegt hatte und der Rechnungskopien, Originalofferten, Originalprospekte sowie Kopien von verbuchten Rechnungen der G. enthielt.
Der Beschwerdeführer macht gegen seine Verurteilung in diesem Punkt geltend, die im fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente seien keine Sachen im Sinne von
Art. 140 StGB
; jedenfalls seien sie höchstens Sachen von geringem Wert im Sinne von
Art. 142 StGB
, dessen Anwendung jedoch vorliegend mangels eines rechtsgültigen Strafantrags ausgeschlossen sei. Er weist zudem auf den von den kantonalen Instanzen seines Erachtens nicht berücksichtigten Umstand hin, dass sämtliche im fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente im Doppel vorlagen, so dass der G. der im Informationswert liegende wirtschaftliche Wert der Dokumente nicht
BGE 116 IV 190 S. 192
entzogen worden sei, weshalb eine Verurteilung gemäss
Art. 140 StGB
, ein Vermögensdelikt, nicht in Betracht falle.
a) Die im fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente sind, auch wenn sie keine Wertpapiere darstellen, offensichtlich Sachen im Sinne von
Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
, die sich der Beschwerdeführer aneignen konnte, und zwar auch dann, wenn die G. noch im Besitze von Doppeln blieb (vgl.
BGE 114 IV 136
E. 2a).
b) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind bei der Beantwortung der Frage, ob eine Sache "von geringem Wert" (im Sinne von
Art. 138 und 142 StGB
) sei, sowohl die objektiven als auch die subjektiven Umstände des konkreten Falles zu würdigen (
BGE 98 IV 27
,
BGE 80 IV 242
). Die Vorinstanz vertritt unter Berufung auf diese Rechtsprechung die Auffassung, dass die im Ordner "Lieferanten" enthaltenen Dokumente entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht von geringem Wert seien. Sie hält zur Begründung fest, dass die fraglichen Dokumente für die im Aufbau begriffene Unternehmung des Beschwerdeführers, im Rahmen der Erarbeitung von Know-how und Geschäftsbeziehungen, einen beachtlichen Wert hatten.
aa) Die zitierte bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sache von geringem Wert sei, auch die subjektiven Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen sind, wird von der heute herrschenden Lehre abgelehnt und auch von verschiedenen kantonalen Gerichten nicht befolgt (siehe STRATENWERTH, Bes. Teil I,
§ 8 N 72
, 125 f.; BJM 1979 S. 149; TRECHSEL, Kurzkommentar,
Art. 138 N 3
mit zahlreichen weiteren Hinweisen). Die Kritik richtet sich dabei vor allem gegen die Berücksichtigung der konkreten Tätersituation, die zur Folge hat, dass eine Sache von einem bestimmten Wert von bspw. Fr. 100.-- für einen wohlhabenden Täter geringwertig, für einen mittellosen Täter dagegen nicht von geringem Wert ist.
An der Rechtsprechung kann nicht festgehalten werden. Bei Sachen mit einem Marktwert bzw. einem objektiv bestimmbaren Wert ist allein dieser entscheidend. Bei Sachen ohne Marktwert bzw. bestimmbaren Wert ist massgebend, welchen Wert die Sache im konkreten Fall für das Opfer hat; dabei kann auch berücksichtigt werden, welchen Geldbetrag der Täter dem Opfer für die Sache zu zahlen bereit wäre.
Es ist davon auszugehen, dass die im Ordner "Lieferanten" enthaltenen Dokumente keinen Marktwert bzw. objektiv bestimmbaren Wert haben.
BGE 116 IV 190 S. 193
bb) Die im fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente waren für die G. insoweit von geringem Wert, als sie davon weitere Exemplare besass. Dabei spielt es keine Rolle, ob der G. das Original oder eine Kopie verblieb. Original und Kopie sind hinsichtlich ihres Informationsgehalts gleichwertig; sie sind auch in bezug auf ihre Beweismitteleigenschaft gleichwertig, da heute im gewöhnlichen Geschäftsverkehr auch Kopien Beweiseignung zukommt (vgl. dazu BGE
BGE 114 IV 26
ff.,
BGE 115 IV 57
). Der vorliegende Fall kann nicht dem
BGE 114 IV 137
zugrunde liegenden Fall gleichgestellt werden, in welchem der Täter zum Nachteil des Staates die Originale von Steuerakten veruntreut hatte.
cc) Die Vorinstanz wird demnach abklären müssen, von welchen und wie vielen Dokumenten, die im Ordner "Lieferanten" enthalten waren, der G. kein Exemplar, sei es das Original oder eine Kopie, mehr zur Verfügung stand. Sie wird sodann zu entscheiden haben, ob die Gesamtheit dieser Dokumente für die G. von geringem Wert war oder nicht. Der Kassationshof kann diese Frage mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht selber beantworten. | null | nan | de | 1,990 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eae9db59-9260-4dcc-8dd0-509e532dc018 | Urteilskopf
115 Ia 111
22. Extrait de l'arrêt de la Cour de cassation pénale du 14 avril 1989, dans la cause W. contre Ministère public du canton de Vaud (recours de droit public) | Regeste
Art. 4 BV
, Willkür, Kostenauflage bei Einstellung des Strafverfahrens.
Dem Beschuldigten, gegen den das Strafverfahren eingestellt wird, dürfen aus Billigkeitsüberlegungen Verfahrenskosten ganz oder teilweise nur dann auferlegt werden, wenn ihm ein fehlerhaftes, gegen zivilrechtliche oder ethische Regeln verstossendes Verhalten vorgeworfen werden kann; sodann muss zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und den aufzuerlegenden Kosten ein Kausalzusammenhang bestehen; schliesslich sind bei der unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit vorzunehmenden Interessenabwägung insbesondere Einkommen und Vermögen des Beschuldigten zu berücksichtigen. | Sachverhalt
ab Seite 111
BGE 115 Ia 111 S. 111
Le 9 avril 1988, W. a allumé, au moyen de journaux dont il s'était muni, deux foyers dans un pavillon faisant office de salle d'attente situé à la rue du Bugnon, à Lausanne.
BGE 115 Ia 111 S. 112
En cours d'enquête, il a été l'objet d'une expertise psychiatrique dont le rapport, daté du 24 mai 1988, fait ressortir qu'il souffre de schizophrénie évolutive à forme paranoïde, avec phases délirantes, que cette maladie mentale l'a entièrement privé de ses facultés d'appréciation et de détermination au moment où il a agi, et que son irresponsabilité totale est ainsi établie avec certitude.
En conséquence, par décision du 5 septembre 1988 (date de la séance du tribunal), le Tribunal d'accusation du Tribunal cantonal du canton de Vaud a admis que W. n'était pas punissable (
art. 10 CP
), qu'il convenait dès lors de mettre fin à l'action pénale, et que, par ailleurs, il n'y avait pas lieu d'envisager l'internement (
art. 43 ch. 1er al. 2 CP
). Il a donc prononcé un non-lieu en faveur de l'accusé, ordonné la poursuite du traitement psychiatrique ambulatoire commencé et réservé l'hospitalisation sur décision du médecin. Il a enfin mis les frais d'enquête et d'arrêt, par 2'210 francs, à la charge de W.
Erwägungen
Considérant en droit:
2.
En ce qui concerne la mise à la charge du recourant des frais de justice, l'autorité cantonale a constaté que le recourant avait adopté un comportement objectivement contraire au droit civil et avait ainsi donné lieu aux poursuites pénales, que la charge du montant de 2'010 francs à titre de frais d'enquête n'était pas de nature à grever excessivement la situation financière du recourant, que lors même qu'il n'était pas coupable, sa condamnation aux frais d'enquête et d'arrêt était justifiée au regard de l'art. 158 PP cant. et de l'
art. 54 al. 1 CO
, applicable par analogie.
Le recourant reproche à l'autorité cantonale de ne pas avoir précisé quelle était sa situation financière et de s'être limitée à dire que la charge des frais de justice n'était pas de nature à la grever d'une manière excessive. Fondé sur un rapport de police du 28 avril 1988, selon lequel il est taxé fiscalement sur un revenu et une fortune nuls et ne touche qu'une rente AI de 864 francs par mois ainsi qu'une aide complémentaire de 672 francs, soit au total 1'536 francs, qui constituent ses seuls revenus, il se plaint de l'arbitraire de la décision attaquée et soutient qu'il est absolument hors d'état de payer 2'210 francs de frais de justice. Il se plaint de l'arbitraire manifesté dans l'application de l'art. 158 PP cant. selon lequel, lorsque le prévenu est libéré des fins de la poursuite pénale, il ne peut être condamné à tout ou partie des frais que si l'équité
BGE 115 Ia 111 S. 113
Il exige, notamment s'il a donné lieu à l'ouverture de l'action pénale ou s'il en a compliqué l'instruction. L'autorité cantonale, en déclarant qu'il avait adopté "un comportement objectivement contraire au droit civil", serait tombée dans l'arbitraire; car ses agissements n'ont causé aucun dommage, aucun lésé ne s'étant annoncé. En outre, au regard de la jurisprudence du Tribunal fédéral (
ATF 112 Ia 371
et, plus précisément, au sujet de l'art. 158 PP cant., l'ATF
ATF 113 Ia 76
), il eût convenu de procéder à une pesée des intérêts, car ce n'est que lorsque l'auteur irresponsable d'un acte illicite est dans l'aisance qu'une obligation de réparer fondée sur l'
art. 54 al. 1 CO
peut être envisagée. En l'espèce donc, l'autorité cantonale aurait dû mettre les frais à la charge de l'Etat ou au moins n'en mettre qu'une part restreinte à sa charge.
3.
Il ressort de l'arrêt publié aux
ATF 113 Ia 79
, ainsi que de la doctrine et de la jurisprudence qui y sont citées, que l'art. 18 PP cant. institue, de même que l'
art. 54 CO
, une responsabilité exceptionnelle, pour les cas où, selon l'équité, la pesée des intérêts en présence justifie que l'accusé acquitté supporte tout ou partie des frais qu'il a provoqués. L'équité commande notamment de prendre en considération la situation de fortune de la personne en cause, la gène à laquelle elle ou sa famille serait exposée du fait du montant à payer. Dans ce précédent, le Tribunal fédéral a considéré que l'autorité cantonale, en ne procédant pas à la pesée des intérêts imposée par l'équité sur la base de l'art. 158 PP cant., avait rendu une décision arbitraire. Dans un arrêt antérieur (
ATF 112 Ia 374
), le Tribunal fédéral avait également précisé que l'on devait qualifier une attitude de fautive lorsqu'elle porte atteinte à des règles de droit civil ou d'ordre éthique. Dans un tel cas, la mise à la charge de frais judiciaires se justifie à condition toutefois qu'il existe un rapport de causalité entre l'attitude répréhensible et les frais en cause.
En l'espèce, et comme cela s'est produit dans la première affaire rappelée plus haut, l'autorité cantonale n'a pas procédé à la pesée des intérêts imposée par l'équité sur la base de l'art. 158 PP cant. et elle a donc rendu une décision arbitraire. Par ailleurs, il ne ressort pas de sa décision qu'elle aurait tenu compte de la situation de fortune du recourant qui pourrait bien être nulle. Or il saute aux yeux qu'avec un revenu mensuel de 1'536 francs, le recourant, même s'il n'a pas de charge de famille et vit seul bien que marié, n'est pas à même de payer 2'210 francs de frais de justice.
BGE 115 Ia 111 S. 114
Indépendamment de l'insaisissabilité absolue ou relative de la rente AI et de la rente complémentaire qu'il touche, la totalité des deux montants ne semble pas atteindre le minimum vital en matière de poursuite.
Dès lors, même s'il ne se justifie pas de faire une comparaison entre la situation de fortune de l'Etat de Vaud et celle du recourant, on doit constater que la mise à la charge des frais judiciaires constitue pour le recourant une charge impossible à assumer, en tout cas totalement.
Le recours de droit public doit donc être admis sur ce point et il appartiendra à l'autorité cantonale de statuer à nouveau sur les frais de la procédure cantonale, après avoir déterminé la situation financière du recourant, y compris sa fortune éventuelle, et procédé à une pesée des intérêts en présence. | public_law | nan | fr | 1,989 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
eaed7f12-a768-4b6c-9c7c-dd14e6296250 | Urteilskopf
81 I 52
10. Urteil vom 6. April 1955 i.S. Bühler-Meyer & Co. gegen Tierzin G.m.b.H. und Obergerichtspräsidium des Kantons Appenzell A.Rh. | Regeste
1. Staatsrechtliche Beschwerde: Die Verweisung auf Rechtsschriften, die im kantonalen Verfahren eingereicht worden sind, ist keine genügende Begründung (Erw. 1).
2. Abkommen zwischen der Schweiz und Deutschland über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen vom 2. November 1929, Art. 2 Ziff. 4: Gerichtsstand der Zweigniederlassung; Voraussetzungen (Erw. 2).
3.
Art. 4 BV
: Ist es willkürlich, in der am Sitz der Hauptniederlassung des Schuldners in der Schweiz eingeleiteten Betreibung für Ansprüche aus dem Betriebe einer deutschen Zweigniederlassung die Rechtsöffnung gestützt auf ein Urteil des deutschen Richters zu erteilen, das sich der Form nach gegen die Zweigniederlassung richtet? (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 53
BGE 81 I 52 S. 53
A.-
Am 4. Januar 1949 schloss die Beschwerdeführerin, Firma Bühler-Meyer & Co., Lutzenberg (Appenzell A.Rh.), mit der Firma Angora-Wolle-G.m.b.H., Schlehdorf am Kochelsee (Deutschland), die mit der heute im Konkurs befindlichen Tierzin G.m.b.H. identisch ist, einen "Lohn-Fabrikations-Vertrag" ab.
Die geschäftlichen Beziehungen auf Grund dieses Vertrages führten zum Prozess. Im Mai 1952 reichte der Verwalter im Konkurs der Tierzin G.m.b.H. beim Landgericht München Klage gegen die "Firma Bühler-Meyer & Co., Lindau/Bds." ein, wobei er sich auf eine Gerichtsstandsvereinbarung
BGE 81 I 52 S. 54
berief. Auf Ladung hin, die an die Adresse der in der Klage aufgeführten Beklagten zugestellt wurde, teilte die Beschwerdeführerin dem Landgericht München mit, dass ihre Zweigniederlassung in Lindau/B. mit der Klägerschaft nichts zu tun habe und dass ausserdem die örtliche Zuständigkeit dieses Gerichts bestritten werde, weshalb der Ladung nicht Folge geleistet werde. Am 20. August 1952 erklärte sich das Landgericht München für örtlich unzuständig und verwies auf Antrag des Klägers den Rechtsstreit an das Landgericht Lindau.
Am 21. November 1952 schrieb ein Herr Hummel, ehemaliger Vertreter der Lmdauer Zweigniederlassung der Beschwerdeführerin, dem Landgericht Lindau, dass dieser Zweigbetrieb erloschen sei. Hievon in Kenntnis gesetzt, erklärte die Klagepartei dem Gericht, dass die Klage gegen die Firma Bühler-Meyer & Co. in Lutzenberg gerichtet werde. Diese verweigerte die Annahme der ihr daraufhin zugestellten gerichtlichen Ladung. Durch Versäumnisurteil vom 17. April 1953 verpflichtete das Landgericht Lindau sie, dem Kläger DM 4187.38 nebst 5% Zins seit Klageerhebung zu zahlen; ferner wurden ihr die Kosten des Rechtsstreites auferlegt. Die Beschwerdeführerin erhob Einspruch, wobei sie die Zuständigkeit des Landgerichts Lindau bestritt und ausserdem bemängelte, dass die Vorladung an sie statt an die Filiale in Lindau gerichtet worden sei. Der Ladung zur Verhandlung über den Einspruch gab sie wiederum keine Folge. Am 10. August 1953 fällte das Landgericht Lindau ein zweites Versäumnisurteil, womit es den Einspruch verwarf und der Beklagten auch die Kosten des Einspruchsverfahrens auferlegte.
Mit Eingabe vom 16. März 1954 machte die Klagepartei das Landgericht Lindau darauf aufmerksam, dass das erste Versäumnisurteil die Beklagte richtigerweise mit der Adresse Lutzenberg/Schweiz, das zweite dagegen irrtümlich mit der Adresse der früheren Lindauer Niederlassung aufführe; sie beantragte, "der offensichtliche Schreibfehler" sei von Amtes wegen zu berichtigen. Das Gericht
BGE 81 I 52 S. 55
forderte sie auf, die Voraussetzungen der
§
§ 21 und 727 ZPO
(Gerichtsstand der Niederlassung; Vollstreckungsklausel bei Rechtsnachfolge) nachzuweisen. Schliesslich, am 2. Oktober 1954, ordnete es das Ruhen des Verfahrens an.
B.-
Inzwischen, am 18. Februar 1954, hatte die Klagepartei beim Betreibungsamt Lutzenberg gegen die Beschwerdeführerin gestützt auf die beiden Versäumnisurteile Betreibung eingeleitet. Der Präsident des Bezirksgerichtes Vorderland (Appenzell A.Rh.) erteilte ihr definitive Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 5360.97 nebst Zins und Kosten.
Auf Appellation der Beschwerdeführerin hin bestätigte der Obergerichtspräsident des Kantons Appenzell A.Rh. diesen Entscheid am 4. Dezember 1954. Er führte aus, das Landgericht Lindau sei nach Art. 2 Ziff. 4 des Abkommens zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen vom 2. November 1929 zur Beurteilung der Klage zuständig gewesen, da die Beschwerdeführerin für Ansprüche aus dem Betriebe der dortigen Zweigniederlassung belangt worden sei. Auf den Zeitpunkt der Klageeinleitung komme es nach dem Staatsvertrag nicht an. Dieser sei auch in anderer Beziehung nicht verletzt. Die Zulässigkeit von Klageänderungen in bezug auf Gerichtsstand und Parteiwechsel richte sich ausschliesslich nach deutschem Prozessrecht. Unerheblich sei auch, dass die beiden Versäumnisurteile die Beklagte verschieden anschreiben; es handle sich lediglich um deren Adresse.
C.-
Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt die Firma Bühler-Meyer & Co. in Lutzenberg, der Entscheid des Obergerichtspräsidenten sei aufzuheben und die definitive Rechtsöffnung für die in Frage stehende Forderung zu verweigern. Sie macht geltend, das Landgericht Lindau habe sich auf das allen prozessualen Regeln widersprechende Begehren der Gegenpartei eingelassen, die ursprünglich
BGE 81 I 52 S. 56
gegen die deutsche Zweigniederlassung gerichtete Klage in eine solche gegen die "Hauptfirma" in Lutzenberg abzuändern. Das die abgeänderte Klage gutheissende erste Versäumnisurteil verletze die in
Art. 59 BV
ausgesprochene Garantie des Wohnsitzrichters. Gegen diese Verfassungsbestimmung verstosse es daher auch, gestützt auf jenes Urteil die Rechtsöffnung zu bewilligen. Auf Einsprache der Beschwerdeführerin hin habe das Landgericht Lindau das erste Urteil "einfach von sich aus in willkürlicher Weise in ein zweites Versäumnisurteil vom 10. August 1953 gegen die deutsche Zweigniederlassung abgeändert", die damals gar nicht mehr bestanden habe. Da somit der Gerichtsstand der Zweigniederlassung nicht mehr in Frage gekommen sei, fehle dem zweiten Versäumnisurteil die Grundlage. "Der Staatsvertrag hatte nach der Auflösung der Zweigniederlassung überhaupt keine Bedeutung mehr". Das Abstellen auf die Versäumnisurteile sei willkürlich. Das Vorgehen der deutschen Gerichte widerspreche "allen prozessualen Regeln, welche stillschweigend als Grundlage des Staatsvertrages zu betrachten sind". Der angefochtene Entscheid verletze daher auch den Staatsvertrag. Zur eingehenden Begründung berufe sich die Beschwerdeführerin auf ihre Eingaben im Verfahren vor dem Obergerichtspräsidenten.
D.-
Der Obergerichtspräsident hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Der Verwalter im Konkurs der Tierzin G.m.b.H. beantragt Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
sind die Gründe, auf die eine staatsrechtliche Beschwerde gestützt wird, in der Beschwerdeschrift selbst anzuführen. Es genügt nicht, in dieser Eingabe auf Rechtsschriften zu verweisen, die im kantonalen Verfahren eingereicht worden sind. Nach der Rechtsprechung gilt dies jedenfalls dann, wenn die Kognition des Bundesgerichts nicht dieselbe ist wie diejenige der kantonalen Behörde (
BGE 71 I 377
). Indes besteht
BGE 81 I 52 S. 57
kein zureichender Grund, solche Verweisungen dort zu berücksichtigen, wo das Bundesgericht, wie hier hinsichtlich der Frage der Verletzung des
Art. 59 BV
und des Staatsvertrages mit Deutschland vom 2. November 1929 (
BGE 77 I 47
Erw. 4,
BGE 78 I 358
Erw. 1), freie Prüfungsbefugnis hat. Auch in solchen Fällen ist dem Staatsgerichtshof nicht zuzumuten, aus kantonalen Rechtsschriften dasjenige zusammenzusuchen, was sich allenfalls zur Begründung der staatsrechtlichen Beschwerde verwerten liesse (vgl.
BGE 71 I 377
). Dass
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
eine "kurz gefasste" Darlegung der Beschwerdegründe verlangt, nötigt den Beschwerdeführer nicht, sich mit Hinweisen auf Eingaben im kantonalen Verfahren zu behelfen. Er kann sich kurz fassen, ohne dem Bundesgericht die Arbeit in unzumutbarer Weise zu erschweren. Auf die vorliegende Beschwerde kann deshalb insoweit, als sie sich auf Eingaben im Verfahren vor dem Obergerichtspräsidenten bezieht, nicht eingetreten werden.
2.
Für die in der Beschwerde aufgeworfene Frage der örtlichen Zuständigkeit des Landgerichts Lindau ist das Abkommen zwischen der Schweiz und Deutschland vom 2. November 1929 massgebend, das bestimmt, unter welchen Voraussetzungen deutsche Urteile in Zivilsachen in der Schweiz anzuerkennen und zu vollstrecken sind. Auf
Art. 59 BV
kann sich die Beschwerdeführerin unmittelbar nicht berufen; diese Verfassungsvorschrift kann lediglich insoweit herangezogen werden, als die Bestimmungen des Staatsvertrages darauf Rücksicht nehmen (
BGE 57 I 22
).
Hier kommt Art. 2 Ziff. 4 des Staatsvertrages in Betracht, wonach in vermögensrechtlichen Streitigkeiten die Zuständigkeit der Gerichte des Staates, in dem die Entscheidung gefällt wurde, begründet ist, wenn der Beklagte am Orte seiner geschäftlichen Niederlassung oder Zweigniederlassung für Ansprüche aus dem Betriebe dieser Niederlassung belangt worden ist. Sofern die Voraussetzungen dieser Bestimmung - die unter Berücksichtigung des
Art. 59 BV
und der einschlägigen Rechtsprechung aufgestellt
BGE 81 I 52 S. 58
worden ist (BBl. 1929 I S. 534) - erfüllt sind, ist die Zuständigkeit des Landgerichts Lindau zu bejahen. Die Beschwerdeführerin beruft sich nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich, auf den Vorbehalt am Ende des Art. 1 des Staatsvertrages, wonach eine nach Massgabe des Art. 2 begründete Zuständigkeit des Richters des Urteilsstaates im Vollstreckungsstaat nicht anzuerkennen ist, wenn nach dessen Recht für seine Gerichte eine ausschliessliche Zuständigkeit besteht. In der Tat steht der Vorbehalt hier der Zuständigkeit des deutschen Richters nicht im Wege, wenn sie nach Art. 2 Ziff. 4 des Staatsvertrages gegeben ist. Insbesondere kann die Beschwerdeführerin in diesem Falle aus
Art. 59 BV
nichts zu ihren Gunsten ableiten. Ist der deutsche Richter nach Art. 2 Ziff. 4 des Abkommens zuständig, so ist er es auch unter dem Gesichtspunkte des
Art. 59 BV
.
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, in Lindau eine Zweigniederlassung im Sinne des Staatsvertrages - und der bundesgerichtlichen Praxis zu
Art. 59 BV
(
BGE 77 I 123
) - unterhalten zu haben. Ebensowenig behauptet sie, die Klage betreffe nicht Ansprüche aus dem Betriebe dieser Niederlassung. Dagegen rügt sie, dass das Landgericht Lindau die Abänderung der ursprünglich gegen die "Firma Bühler-Meyer & Co. in Lindau" gerichteten Klage in eine solche gegen die "Firma Bühler-Meyer & Co. in Lutzenberg" zugelassen habe, nachdem das Erlöschen der Zweigniederlassung gemeldet worden sei. Sie macht indes nicht geltend, dass die Klage erst nach dieser Mitteilung in Lindau eingereicht worden sei. Mit Recht nicht. Die Zweigniederlassung in Lindau bestand noch, als das Landgericht München die bei ihm eingereichte Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit dem Landgericht Lindau zuwies. Im Zeitpunkt, wo der Rechtsstreit dergestalt beim Landgericht Lindau hängig gemacht wurde, war daher der staatsvertragliche Gerichtsstand der Zweigniederlassung für die Belangung der Beschwerdeführerin begründet. Er blieb bestehen, auch nachdem die Zweigniederlassung aufgegeben
BGE 81 I 52 S. 59
worden war. Es kommt auf die Verhältnisse zur Zeit der Anhängigmachung der Klage an (vgl.
BGE 48 I 196
,
BGE 62 I 87
, betreffend
Art. 59 BV
). Aus dem Staatsvertrage ergibt sich keine andere Lösung; genügt es doch nach Art. 2 Ziff. 1 daselbst für die Begründung der Zuständigkeit der Gerichte des Urteilsstaates, wenn der Beklagte zur Zeit der Klageerhebung (oder der Erlassung der Entscheidung) seinen Wohnsitz oder Sitz in diesem Staate hatte; entsprechend ist Ziff. 4 ebenda, betreffend den Gerichtsstand der Zweigniederlassung, zu verstehen. Dass ursprünglich in der Klage bei der Bezeichnung der Beklagten nicht deren Hauptsitz in Lutzenberg, sondern der Sitz der Zweigniederlassung, Lindau, aufgeführt worden war, ist für die Beurteilung der Frage, ob das Landgericht Lindau nach dem Staatsvertrage zuständig gewesen sei, ohne Bedeutung. Ob es zulässig war, nach Einreichung der Klage in der Anschreibung der Beklagten die Adresse der Zweigniederlassung durch diejenige des Hauptgeschäftes zu ersetzen, ist ausschliesslich eine Frage des deutschen Prozessrechts, dessen Anwendung vom Bundesgericht nicht zu überprüfen ist. Entscheidend ist, dass die Firma Bühler-Meyer & Co. am Orte ihrer deutschen Zweigniederlassung für Ansprüche aus deren Betrieb belangt wurde und dass diese Niederlassung noch bestand, als der Rechtsstreit dort anhängig gemacht wurde. Die Zuständigkeit des Landgerichts Lindau war daher nach Art. 2 Ziff. 4 des Staatsvertrages anzuerkennen.
3.
Richtig ist, dass das Landgericht Lindau als Sitz der beklagten Firma Bühler-Meyer & Co. im ersten Versäumnisurteil Lutzenberg, im zweiten, auf Einspruch der Beschwerdeführerin erlassenen dagegen Lindau aufgeführt hat. Ob diese Änderung zulässig war, beurteilt sich wiederum nach deutschem Prozessrecht und kann daher vom Bundesgericht nicht nachgeprüft werden, auch nicht auf Willkür. Sie ist hinzunehmen, da sie vom zuständigen Gericht vorgenommen wurde. Dass in der gegen die Beschwerdeführerin eingeleiteten Betreibung gestützt auf ein
BGE 81 I 52 S. 60
Urteil, das sich der Form nach gegen die - nicht mehr bestehende - Zweigniederlassung richtet, definitive Rechtsöffnung erteilt wurde, mag freilich zunächst als etwas sonderbar erscheinen, ist aber bei näherer Prüfung nicht als willkürlich zu beanstanden. Für Schulden, die von Filialen von Geschäften, welche in der Schweiz domiziliert sind, eingegangen wurden, ist die Betreibung stets am Sitz der Hauptniederlassung zu führen (
BGE 39 I 268
; JAEGER/DAENIKER, Schuldbetreibungs- und Konkurspraxis 1911-1945, N. 3 zu
Art. 46 SchKG
). Wenn die von der Zweigniederlassung eingegangene Schuld, wie hier, durch Urteil festgestellt ist, muss daher auch die Möglichkeit bestehen, gegen den Schuldner, den Inhaber der Zweigniederlassung, am Orte seiner Hauptniederlassung in der Schweiz definitive Rechtsöffnung zu erwirken. Da der Filialcharakter der "Firma Bühler-Meyer & Co., Lindau" feststeht und ferner unbestritten ist, dass die im zweiten Versäumnisurteil festgestellte Schuld den Geschäftsbetrieb der Filiale betrifft, macht es nichts aus, ob das Urteil des zuständigen Gerichts auf den Namen des Hauptgeschäfts oder der Zweigniederlassung lautet; in beiden Fällen konnte jedenfalls ohne Willkür in der am Sitz der Hauptniederlassung eingeleiteten Betreibung die Rechtsöffnung erteilt werden.
4.
Die Rüge, der Staatsvertrag sei verletzt worden durch Nichtbeachtung "aller prozessualen Regeln, welche stillschweigend als dessen Grundlage zu betrachten sind", genügt den Anforderungen nicht, die
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
an die Begründung einer staatsrechtlichen Beschwerde stellt. Mit den allgemeinen Behauptungen, welche die Beschwerde in diesem Punkte vorbringt, ist es nicht getan; es hätte zum mindesten dargelegt werden müssen, dass bestimmte prozessuale Vorschriften verletzt worden seien.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. | public_law | nan | de | 1,955 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eaf199f9-44e6-4f1f-ad65-1e14e1ae2c5f | Urteilskopf
102 II 256
38. Urteil der I. Zivilabteilung vom 14. September 1976 i.S. Goth & Co. AG gegen Concord Watch Company S.A. | Regeste
Art. 439 und 447 bis 449 OR; Haftung des Spediteurs.
1. Für Frachtgut, das auf dem Transport verloren geht, haftet der Spediteur nach
Art. 447 ff. OR
. Schaden und Ausfall der Versicherungsleistung sind auseinanderzuhalten (Erw. 1).
2.
Art. 447 Abs. 1 OR
enthält eine Kausalhaftung, welche aber nicht ausschliesst, dass der Frachtführer schon nach den Vorschriften über die Verschuldenshaftung für den Schaden aufzukommen hat (Erw. 2a).
3. Grobes Verschulden eines Spediteurs, der eine Sendung Golduhren als gewöhnliche Luftfracht befördern lässt. Pflichten des Absenders gemäss
Art. 441 OR
(Erw. 2b).
4. Kausalzusammenhang zwischen der Fahrlässigkeit des Spediteurs und dem Verlust der Sendung (Erw. 3).
5. Art. 100 Abs. 1, 101 und 447 Abs. 3 OR. Ein Filialleiter ist Organ, nicht Hilfsperson. Bei grober Fahrlässigkeit darf die Haftung weder wegbedungen noch beschränkt werden (Erw. 4). | Sachverhalt
ab Seite 257
BGE 102 II 256 S. 257
A.-
Am 12. Oktober 1973 beauftragte die Concord Watch Company S.A. in Biel die Transportfirma Goth & Co. AG,
BGE 102 II 256 S. 258
die am gleichen Ort einen Sitz hat, mit dem Versand von 21 Golduhren im Werte von Fr. 84'150.--. Am 28. November 1973 erteilte sie ihr einen weiteren Auftrag über 14 Golduhren im Werte von Fr. 53'880.--. Die Uhren waren für einen Abnehmer in St. Thomas-Virgin Islands (USA) bestimmt. Sie wurden von der Concord S.A. jeweils in einer Kiste verpackt und der Goth & Co. AG zugestellt, die den Kistenverschluss mit einem Stahlband verstärkte. Die Ware wurde dann von der Schweiz auf dem Luftweg nach London und von dort über Antigua nach St. Thomas befördert.
Die erste Sendung kam in unversehrter Verpackung am Bestimmungsort an. Beim Öffnen der Kiste zeigte sich aber, dass 11 Uhren im Werte von Fr. 37'980.-- fehlten. Die zweite Sendung war aufgebrochen und bis auf eine Uhr ausgeraubt, als sie in St. Thomas eintraf. Der Verlust betrug Fr. 52'620.--.
Die Schweizerische Nationalversicherung, bei der die Concord S.A. die Sendungen hatte versichern lassen, lehnte die Deckung des Schadens ab, weil die Goth & Co. AG die Uhren nicht gemäss den Versicherungsbedingungen als "Valuable cargo" versandt hatte. Auch die Goth & Co. AG und ihre Haftpflichtversicherung weigerten sich, den Schaden zu ersetzen.
B.-
Im Oktober 1974 klagte die Concord Watch Company S.A. gegen die Goth & Co. AG auf Zahlung von Fr. 37'980.-- und Fr. 52'620.-- nebst Zinsen.
Das Handelsgericht des Kantons Bern schützte am 10. Dezember 1975 die Forderung von Fr. 52'620.-- nebst 6% Zins seit dem 30. Oktober 1974, wies die Klage im übrigen aber wegen Verjährung ab.
C.-
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Sie beantragt, es aufzuheben und die Klage ganz abzuweisen, eventuell bloss im Betrage von Fr. 25'000.-- gutzuheissen.
Die Klägerin hat sich der Berufung angeschlossen, das Rechtsmittel aber am 5. Mai 1976 zurückgezogen; sie hat sich mit der Abweisung der Forderung von Fr. 37'980.-- abgefunden und beantragt, das angefochtene Urteil zu bestätigen.
BGE 102 II 256 S. 259
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Handelsgericht versteht das Rechtsverhältnis zwischen den Prozessparteien zutreffend als Speditionsvertrag. Für diesen bestimmt
Art. 439 OR
, dass der Spediteur als Kommissionär zu betrachten ist, aber in bezug auf den Transport der Güter den Bestimmungen des Frachtvertrages untersteht.
Streitig ist nur noch die Haftung für den Verlust aus der zweiten Sendung, deren Inhalt, was unbestritten ist, auf dem Transport bis auf eine Uhr abhanden gekommen ist. Das Handelsgericht hält gleichwohl Kommissionsrecht für anwendbar, weil der Spediteur den Transport vorbereiten, vereinbaren und veranlassen müsse und weil auch das Ausfüllen der dazu nötigen Transportpapiere, insbesondere des Luftfrachtbriefes, zu seinen Vorbereitungen gehöre. Es untersucht deshalb, ob die Beklagte ihre Sorgfaltspflichten bei der Aufgabe der zweiten Sendung dadurch verletzt habe, dass sie die Uhren als gewöhnliche statt als Wertfracht (Valuable cargo) spedieren liess.
a) Das Handelsgericht übernimmt dabei den Vorwurf der Klägerin, die Beklagte habe die Wertfracht-Klausel pflichtwidrig nicht in den Frachtbrief aufgenommen; deswegen habe die Nationalversicherung sich denn auch geweigert, den Verlust zu decken. Ähnlich argumentiert das Handelsgericht in einer anderen Erwägung, in der es die Unterlassung der Beklagten als grobfahrlässig bezeichnet und beifügt, es könne offen bleiben, ob die Uhren bei Aufnahme der Klausel in den Frachtbrief nicht gestohlen worden wären; denn die Klägerin verlange nur die Deckung des Schadens, den die Nationalversicherung wegen der Unterlassung der Beklagten nicht ersetzen wollte.
Die Beklagte wendet mit Recht ein, dass das Handelsgericht damit Versicherungs- und Haftpflichtansprüche vermengt, von denen es an anderer Stelle selber sage, dass sie streng zu trennen seien. Die Abreden der Parteien ergeben sich auch nach der Auffassung der Vorinstanz aus dem zwischen ihnen abgeschlossenen Speditionsvertrag. Indem das Handelsgericht annimmt, die fehlende Wertfracht-Klausel sei für den Ausfall der Versicherungsleistung kausal gewesen, macht es die Beklagte aber für eine ausserhalb des Speditionsvertrages eingetretene
BGE 102 II 256 S. 260
Folge verantwortlich. Das Nichtanbringen der Klausel auf dem Frachtbrief lässt sich zudem im Verhältnis zur Versicherungsgesellschaft nicht als Schadensursache, sondern bloss als Grund dafür ausgeben, dass die Gesellschaft sich geweigert hat, den Schaden zu decken.
b) Die Auffassung des Handelsgerichtes ist auch im Ausgangspunkt richtigzustellen. Die Klägerin fordert Ersatz des Schadens, der ihr durch den fast völligen Verlust der zweiten Lieferung entstanden ist und der unbestrittenermassen dem Wert der gestohlenen Uhren entspricht. Dieser Schaden ereignete sich nach der Feststellung des Handelsgerichtes auf dem Transport nach St. Thomas. Für Transportschaden aber haftet der Spediteur gemäss
Art. 439 OR
nach den in Art. 447 bis 449 OR enthaltenen Bestimmungen über den Frachtvertrag.
2.
Geht ein Frachtgut verloren, so haftet der Frachtführer gemäss
Art. 447 Abs. 1 OR
für den vollen Wert des Gutes, sofern er nicht beweist, dass der Verlust durch ein Verschulden oder eine Anweisung des Absenders oder des Empfängers verursacht sei oder auf Umständen beruhe, die durch die Sorgfalt eines ordentlichen Frachtführers nicht abgewendet werden konnten.
a) Diese Bestimmung enthält eine durch die Möglichkeit des Entlastungsbeweises gemilderte Kausalhaftung (
BGE 93 II 349
). Der Frachtführer haftet unabhängig davon, ob ihn persönlich ein Verschulden trifft. Seine Haftung setzt auch kein Verschulden der für ihn handelnden Personen voraus; es genügt, dass eine von ihnen sich objektiv widerrechtlich verhalten hat. Der Frachtführer entgeht der Haftung im Falle eines Verlustes von Frachtgut nur, wenn er beweist, dass der Schaden nach den Umständen auch bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Frachtführers eingetreten wäre oder dem Verhalten des Absenders oder Empfängers zuzuschreiben ist (vgl. BECKER, N. 2 zu 447 OR; GAUTSCHI, N. 4 lit. c zu
Art. 447 OR
; VON BÜREN, OR Bes. Teil S. 199 und 201; KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, S. 374).
Das heisst nicht, dass das Verschulden für die Haftung des Frachtführers keine Rolle spiele. Das wäre namentlich dann nicht zu verstehen, wenn die Parteien sich, wie hier, gegenseitig vorwerfen, den Verlust der Ware mitverschuldet zu haben. Dazu kommt, dass das Verschulden des Absenders zu den Entlastungsgründen des Frachtführers gehört. Ist die Ersatzpflicht
BGE 102 II 256 S. 261
wegen Umständen, für die der Geschädigte einzustehen hat, zu ermässigen, so verlangt schon die Billigkeit, dass auch das Verhalten des Frachtführers und der für ihn handelnden Personen unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens gewürdigt werde. Diese Umstände können das Mass der Haftung nach
Art. 44 OR
beeinflussen. Sie haben aber mehr Gewicht, wenn dem Belangten und seinen Untergebenen kein Verschulden zur Last füllt, als wenn dem einen oder anderen Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (vgl.
BGE 95 II 97
unten und dort angeführte Urteile). Trifft letzteres zu, so bleibt für einen Entlastungsbeweis zum vorneherein kein Raum, und der Frachtführer hat für den Schaden schon nach den Vorschriften über die Verschuldenshaftung aufzukommen, die durch die strengere Kausalhaftung gemäss
Art. 447 Abs. 1 OR
nicht ausgeschlossen wird.
b) Die Beklagte sieht ein Mitverschulden der Klägerin darin, dass diese sie nicht angewiesen habe, die Uhren als "Valuable cargo" zu spedieren. Die Klägerin hält dem entgegen, das der Wertfracht-Klausel zugrunde liegende Sicherheitssystem sei von den Luftfahrtgesellschaften gerade zur Vermeidung von Diebstählen an Wertsendungen eingeführt worden. Das System sei der Beklagten, insbesondere ihrem Prokuristen Turatti, der den Frachtbrief unterzeichnet habe, bekannt gewesen. Die Beklagte habe ferner gewusst, dass die 6,3 kg wiegende Sendung vom 28. November 1973 18-karätige Golduhren im Fakturawert von Fr. 53'880.-- enthielt, was sie auch ohne Weisungen und weitere Angaben zu besonderer Vorsicht hätte veranlassen müssen. Ihr Mitverschulden am Diebstahl sei als grob zu bezeichnen.
Nach dem angefochtenen Urteil lässt der Luftfrachtführer den Spediteur darüber entscheiden, ob Wertsachen wie Golduhren als gewöhnliche oder Wertfracht zu befördern sind. Als "Valuable cargo" steht die Ware unter Versicherungsschutz und reist praktisch diebstahlsicher. Die Wertsendungen müssen am Flughafen in einem besonderen Annahmeraum abgeliefert werden, gelangen auf einem sichern Weg ins Flugzeug und werden vom Flugkapitän in einem eigens dafür vorgesehenen Raum oder Behälter verwahrt. Die Bestimmungsorte und allfällige Zwischenstationen werden durch Fernschreiben über den Standort der Sendungen unterrichtet. Dieses System von Sicherheitsmassnahmen steht dem Absender für Wertsachen
BGE 102 II 256 S. 262
bis 10 Mio. Franken kostenlos zur Verfügung und gilt für alle Luftfahrtgesellschaften, die der IATA angeschlossen sind. Vom Absender wird bloss verlangt, dass er die Wertfracht-Klausel in den Frachtbrief aufnimmt.
Bei dieser Sachlage wirft das Handelsgericht der Beklagten mit Recht vor, eine wichtige Sorgfaltspflicht des Spediteurs leichtfertig missachtet zu haben, indem sie die Uhren als gewöhnliche Fracht transportieren liess. Die Anwendung des Wertfrachtsystems gehört zum Fachwissen des Spediteurs, der den Luftfrachtführer bestimmt, die Papiere vorbereitet und den Transportweg kennt. Er hat die Interessen des Auftraggebers als dessen Vertrauens- und Mittelsmann nach seinem besonderen Wissen zu wahren. Das tut er aber nur, wenn er Wertsendungen unter möglichst sicheren Bedingungen befördern lässt. Die Beklagte hätte daher von sich aus das Wertfrachtsystem wählen müssen, das von den Luftfahrtgesellschaften gerade wegen der Häufung von Diebstählen an Wertsendungen eingeführt worden ist, und über das die Spediteure laufend unterrichtet werden. Das Verhalten der Beklagten ist umso weniger zu verstehen, als ihr Vertreter Turatti die Sicherheitsvorschriften gekannt und nach seinen eigenen Angaben auch gewusst hat, dass eine Wertsendung nur unter Versicherungsschutz steht, wenn eine Wertfracht-Klausel angebracht ist; seine Unterlassung entbehrt jeder Rechtfertigung und ist der Beklagten als grobe Fahrlässigkeit anzurechnen.
Von einem Mitverschulden der Klägerin kann dagegen nicht die Rede sein. Die Klägerin hat der Beklagten die nach
Art. 441 OR
notwendigen Auskünfte erteilt, insbesondere über den Inhalt und den Wert der Sendung genaue Angaben gemacht. Damit hat sie ihrer eigenen Sorgfaltspflicht genügt; sie war nicht gehalten, der Beklagten Weisungen darüber zu erteilen, wie der Transport vorbereitet, mit dem Luftfrachtführer vereinbart und ausgeführt werden sollte; eine gegenteilige Übung konnte die Beklagte nach der Feststellung des Handelsgerichtes denn auch nicht nachweisen. Nach der besonderen Natur des Geschäftes und den Aufgaben der Beteiligten durfte die Klägerin sich vielmehr darauf verlassen, dass die Beklagte als internationales Transportunternehmen, das seit Jahren Uhren spediert, sich pflichtgemäss für die sichere Transportart entscheiden werde. Dies gilt umso mehr, als das Wertfrachtsystem sich nach den Umständen aufdrängte.
BGE 102 II 256 S. 263
3.
Das Handelsgericht übergeht die Frage, ob der Diebstahl an der zweiten Sendung bei Anbringen der Wertfracht-Klausel auf dem Frachtbrief "mit Sicherheit oder grösster Wahrscheinlichkeit" unterblieben wäre, weil es annimmt, die Klägerin verlange nur die Deckung des Schadens, der ihr durch den Ausfall der Versicherungsleistung entstanden sei. Damit lässt es offen, ob die pflichtwidrige Unterlassung der Beklagten Ursache des Schadens sei, welcher der Klägerin durch den Diebstahl der Uhren erwachsen ist.
In der Erwägung über die möglichen Transportarten bejaht es den natürlichen Kausalzusammenhang aber wenigstens sinngemäss, indem es gestützt auf eine Zeugenaussage feststellt, als "Valuable cargo" reise eine Ware "praktisch diebstahlsicher". Diese Feststellung kann nur dahin verstanden werden, dass die streitige Uhrensendung mit grösster Wahrscheinlichkeit unversehrt am Bestimmungsort eingetroffen wäre, wenn die Beklagte sie als Wertfracht spediert hätte. Mehr verlangt der Begriff des natürlichen Kausalzusammenhanges in Fällen wie dem vorliegenden nicht. Wo ein zwingender Beweis der Natur der Sache nach nicht geführt werden kann, genügt, dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Verlauf der Dinge spricht (vgl.
BGE 32 II 674
,
BGE 45 II 97
/8,
BGE 53 II 425
/6,
BGE 57 II 209
ff.).
Zu bejahen ist auch die Rechtserheblichkeit des Kausalzusammenhanges zwischen der Fahrlässigkeit der Beklagten und dem Verlust der Uhren. Das Wertfrachtsystem wurde von den Luftfahrtgesellschaften eingeführt, um Diebstähle an Wertsendungen zu verunmöglichen, die Eigentümer des Frachtgutes also vor Schaden zu bewahren. Die Unterlassung der Beklagten war deshalb nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet, eine Schädigung von der Art der eingetretenen zu begünstigen (
BGE 96 II 396
Erw. 2 und dort angeführte Urteile).
4.
Nach
Art. 447 OR
haftet der Frachtführer für den vollen Wert des verlorenen Frachtgutes (Abs. 1). Die Parteien können jedoch vereinbaren, dass er auch ein den vollen Wert übersteigendes Interesse oder weniger als den vollen Wert zu ersetzen hat (Abs. 3). Der schweizerische Spediteurenverband hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, indem er in Art. 8 Abs. 2 seiner "Allgemeinen Bedingungen" (AB) die
BGE 102 II 256 S. 264
Haftung insbesondere auf Fr. 25.-- je Kilo brutto und auf Fr. 25'000.-- je Schadenereignis beschränkt wissen will.
Das Handelsgericht hält eine summenmässige Beschränkung der Haftung im vorliegenden Fall für unzulässig, weil sie dem Sinn und Zweck des
Art. 100 OR
widerspreche. Die Beklagte meint dagegen, die teilweise Wegbedingung der Haftung sei hier nicht nach Art. 100, sondern nach
Art. 101 Abs. 2 OR
zu prüfen, da Prokurist Turatti als Hilfsperson gehandelt habe; gestützt auf die letztere Bestimmung dürfe die Haftung für Hilfspersonen aber für jedes Verschulden wegbedungen werden.
Dem ist vorweg entgegenzuhalten, dass Turatti nicht als Hilfsperson im Sinne von
Art. 101 OR
ausgegeben werden darf, gleichviel ob die Beklagte in Biel bloss einen Filialbetrieb unterhält und solchen Betrieben Weisungen zu erteilen pflegt. Turatti vertrat die Zweigniederlassung als Prokurist nach aussen, führte Einzelunterschrift und besorgte die Geschäfte des Filialbetriebes weitgehend selber. Dadurch beteiligte er sich massgebend an der Willensbildung der Beklagten, hatte folglich die Stellung eines Organs (vgl.
BGE 72 II 65
/6,
BGE 81 II 226
,
BGE 87 II 187
). Er hat den Gerichtsverhandlungen denn auch als das "mit der Sache vertraute Organ" der Gesellschaft beigewohnt. Damit ist der Berufung auf
Art. 101 Abs. 2 OR
der Boden entzogen. In Art. 8 Abs. 1 AB wird übrigens die Haftung des Spediteurs für grobes Verschulden auch seiner Hilfspersonen ausdrücklich anerkannt.
Nach
Art. 100 Abs. 1 OR
sodann ist eine zum voraus vereinbarte Wegbedingung der Haftung für grobe Fahrlässigkeit als nichtig zu betrachten. Liegt wie hier eine solche Fahrlässigkeit vor, so ist auch eine vertragliche Beschränkung der Ersatzsumme ungültig (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. Februar 1957 i.S. Bigler gegen Schlittler & Cie; VON BÜREN, OR Allg. Teil S. 407; BECKER, N. 4 zu
Art. 100 OR
; VON TUHR/ESCHER, OR S. 120). Das widerspricht dem
Art. 447 Abs. 3 OR
nicht. Ein Widerspruch ergäbe sich vielmehr, wenn man annehmen wollte, diese Bestimmung schliesse die allgemeine Regel des
Art. 100 OR
über die vertragliche Haftung aus, da diesfalls die Haftung des Frachtführers zugleich verschärft und erleichtert würde. Das kann nicht der Sinn von Art. 447 Abs. 3 sein. Das Gesetz kann nicht für den Frachtvertrag anstelle der gewöhnlichen
BGE 102 II 256 S. 265
Verschuldenshaftung eine strengere Kausalhaftung vorsehen, gleichzeitig aber die Wegbedingung der Haftung in einem weiteren Masse als
Art. 100 OR
zulassen. In diesem Sinne wird
Art. 447 Abs. 3 OR
auch im Schrifttum ausgelegt, obschon man darin die Haftung des Frachtführers nicht durchwegs als Kausalhaftung ansieht (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 3 zu
Art. 447 OR
; BECKER, N. 12 zu
Art. 447 OR
; VON TUHR/ESCHER, OR S. 120 und Anm. 42; GAUTSCHI, N. 8 lit. a und 10 lit. f zu
Art. 447 OR
).
War eine summenmässige Beschränkung der Haftung wegen grober Fahrlässigkeit des Spediteurs im vorliegenden Fall aber ausgeschlossen, so hat das Handelsgericht die Beklagte mit Recht zum vollen Ersatz des Schadens verpflichtet, welcher der Klägerin bei der zweiten Lieferung entstanden ist. Das angefochtene Urteil ist daher im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichtes des Kantons Bern vom 10. Dezember 1975 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,976 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eaf1b264-4539-48aa-baf6-1809c3e69752 | Urteilskopf
137 III 637
98. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour de droit civil dans la cause A. contre B. (recours en matière civile)
5A_596/2011 du 1er décembre 2011 | Regeste
Art. 93 Abs. 1 BGG
;
Art. 451 ff. ZGB
; Genehmigung der Schlussrechnung des Vormundes.
Der Entscheid, mit welchem die Genehmigung der Schlussrechnung abgelehnt und deren Erstellung auf Kosten des Vormundes einem Dritten übertragen wird, stellt eine Zwischenverfügung dar, die im Grundsatz keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirkt (E. 1.2). | Sachverhalt
ab Seite 637
BGE 137 III 637 S. 637
A.
A.a
Par décision du 2 août 2007, la Justice de paix du district de Vevey a ordonné l'ouverture d'une enquête tendant à l'interdiction
BGE 137 III 637 S. 638
civile de C., prononcé l'interdiction provisoire, au sens de l'
art. 368 al. 2 CC
, de celui-ci et désigné A. en qualité de tuteur provisoire, avec mission de produire en main de l'assesseur surveillant un inventaire d'entrée des biens du pupille dans un délai de soixante jours dès réception de la décision. (...)
A.b
B., fils de C., a demandé la destitution de A. Par ordonnance de mesures préprovisionnelles du 10 juillet 2008, le Juge de paix du district de Vevey a mis fin au mandat du prénommé et désigné Me D., notaire à X., en qualité de tutrice provisoire. Le 24 juillet 2008, la Justice de paix du district de Vevey a confirmé la destitution de A., dit que celui-ci devra produire en main de l'assesseur surveillant un rapport et des comptes concernant la période durant laquelle il a exercé son mandat de tuteur provisoire (du 6 août 2007 au 10 juillet 2008) et confirmé la désignation de Me D. (...)
A.c
Le 3 décembre 2008, la Justice de paix a clos l'enquête tendant à l'interdiction de C., prononcé la mainlevée de la mesure de tutelle provisoire et relevé Me D. de son mandat de tutrice provisoire, institué une mesure de tutelle volontaire, au sens de l'
art. 372 CC
, en faveur de C. et désigné la notaire précitée en qualité de tutrice; le même jour, la Justice de paix a désigné E. aux fins d'établir les comptes de la gestion des avoirs de C. pour la période du 6 août 2007 au 10 juillet 2008 et invité A. à lui remettre toute pièce utile relative à la gestion des avoirs du pupille durant cette période.
A. ayant recouru au Tribunal cantonal du canton de Vaud, le Président de la Chambre des tutelles a invité la Justice de paix le 12 février 2009 à envoyer au recourant la formule officielle de compte de tutelle avec un délai de quinze jours pour produire les comptes, à défaut de quoi l'instruction du recours serait reprise.
A. ayant produit le 5 mars 2009 un état du compte du pupille relatif à la période du 1
er
janvier au 28 août 2008, la Chambre des tutelles a, par arrêt du 27 avril 2009, déclaré le recours sans objet; elle a toutefois précisé qu'il appartenait à la Justice de paix d'examiner la conformité des comptes, de les approuver ou de les refuser et de les faire établir par un tiers, en rendant une nouvelle décision susceptible de recours.
A.d
Statuant le 16 juin 2009, la Justice de paix a refusé d'approuver les comptes produits le 5 mars 2009 par A., désigné la Fiduciaire E. afin qu'elle établisse les comptes pour la période du 6 août 2007 au 10 juillet 2008, aux frais du tuteur destitué, et invité ce dernier à remettre à la fiduciaire toutes les pièces comptables en sa possession.
BGE 137 III 637 S. 639
Le 31 mars 2010, sur recours de A., la Chambre des tutelles a annulé cette décision et renvoyé la cause à la Justice de paix pour qu'elle complète l'instruction et statue à nouveau dans le sens des considérants.
B.
A la suite de cet arrêt, la juridiction inférieure a imparti à A. un délai au 30 juin 2010 pour produire des pièces. Par décision du 19 octobre 2010, la Justice de paix a constaté que les documents requis n'avaient pas été produits en temps utile, refusé en conséquence d'approuver les comptes de A., désigné la Fiduciaire E. aux fins d'établir les comptes pour la durée du mandat du tuteur provisoire (...), aux frais de celui-ci, et invité A. à remettre à la fiduciaire toutes les pièces comptables en sa possession.
Par arrêt du 9 mars 2011 - notifié le 5 juillet suivant -, la Chambre des tutelles a confirmé cette décision. (...)
Le Tribunal fédéral a déclaré irrecevable le recours en matière civile formé par A. contre cet arrêt.
(extrait)
Erwägungen
Extrait des considérants:
1.
1.2
Contrairement à la décision qui
approuve
le compte final du tuteur (arrêt 5A_578/2008 du 1
er
octobre 2008 consid. 1; implicitement: arrêt 5A_30/2008 précité consid. 1), celle qui
refuse
de l'approuver et confie à un tiers le soin de l'établir n'est pas finale au sens de l'
art. 90 LTF
, mais incidente au sens de l'
art. 93 al. 1 LTF
; en effet, celle-ci constitue une étape vers la décision (finale) approuvant les rapport et compte final (
art. 451 CC
) et relevant de ses fonctions (art. 453 al. 1 in fine CC; sur la portée de cette décision: AFFOLTER, in Basler Kommentar, 4
e
éd. 2010, n
os
73 ss ad
art. 451-453 CC
; GOOD, Das Ende des Amtes des Vormundes, 1992, § 7 n
os
1 ss) le tuteur dont la mission a pris fin (cf.
art. 445 al. 1 CC
, pour la présente espèce).
Le recourant affirme que l'arrêt attaqué est susceptible de lui causer un préjudice irréparable au sens de l'
art. 93 al. 1 let. a LTF
; celui-ci "tient au fait que la fiduciaire tierce qui serait chargée de l'établissement des comptes de tutelle devrait être rémunérée et que la décision finale d'approbation des comptes ne pourrait pas exonérer le recourant de la prise en charge de cette rémunération". Pareille argumentation ne peut être suivie. La décision entreprise a pour effet
BGE 137 III 637 S. 640
de mettre à la charge du recourant les frais d'établissement du compte final par un tiers nommé à cette fin (cf. sur cette possibilité: AFFOLTER, ibid., n° 47; GOOD, op. cit., § 8 n° 51); or, de jurisprudence constante, le fait d'être exposé au paiement d'une somme d'argent n'entraîne, en principe, aucun préjudice de cette nature (arrêt 5D_52/2010 du 10 mai 2010 consid. 1.1.1 et les citations, in SJ 2011 I p. 134). Conformément à l'
art. 93 al. 3 LTF
, il appartiendra au recourant de contester la mesure critiquée à l'appui d'un recours contre la décision (finale) approuvant le compte final (
art. 453 al. 1 CC
).
Pour être complet, il faut ajouter que le recours ne serait pas non plus ouvert au regard de l'
art. 93 al. 1 let. b LTF
, dont le recourant n'établit, au demeurant, pas les conditions (cf. sur cette obligation:
ATF 134 III 426
consid. 1.3.2). En effet, selon la jurisprudence, l'examen du compte final ne se limite pas à une vérification purement comptable des divers articles qui en font l'objet, "mais doit également porter sur la légitimité des mesures prises par le tuteur" (
ATF 76 II 181
p. 186). Or, la décision querellée ne comporte - et pour cause - aucune constatation sur cet aspect (
art. 105 al. 1 LTF
), de sorte que le Tribunal fédéral ne serait pas en état d'approuver lui-même le compte final. | null | nan | fr | 2,011 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eaf3760a-2a0d-44f1-a793-95c19e0fa94d | Urteilskopf
117 IV 345
61. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. November 1991 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Widerhandlungen gegen das Kriegsmaterialgesetz. Einziehung von Kriegsmaterial (
Art. 20 KMG
,
Art. 58 Abs. 1 lit. b StGB
). Verwendung eines allfälligen Verwertungserlöses.
Der Nettoerlös aus der Verwertung von eingezogenem Kriegsmaterial ist an den von der Einziehung betroffenen Eigentümer auszubezahlen. | Sachverhalt
ab Seite 345
BGE 117 IV 345 S. 345
Zum Sachverhalt siehe BGE 117 IV Nr. 60. Die 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern bestätigte mit Entscheid vom 11. Dezember 1990 die im Appellationsverfahren allein angefochtene Einziehung der insgesamt 742 Pistolen zuhanden des Bundes. Sie ordnete aber an, dass ein allfälliger Verwertungserlös durch den Bund dem X. zurückzuerstatten sei.
Der Generalprokurator des Kantons Bern führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung betreffend die Einziehung von 742 Pistolen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ficht, wie sich aus der Beschwerdebegründung ergibt, die Anordnung des Obergerichts betreffend Rückerstattung eines allfälligen Verwertungserlöses an den Beschwerdegegner an.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Obergericht verfügte zwar gestützt auf
Art. 20 KMG
die Einziehung von 742 Pistolen, es ordnete aber an, dass ein allfälliger Verwertungserlös dem X. durch den Bund zurückzuerstatten sei. Das Gericht hält zunächst fest, es habe keine Aussagen darüber zu machen, was mit den fraglichen Pistolen zu geschehen habe; denn
Art. 20 Abs. 2 KMG
bestimme, dass das eingezogene Kriegsmaterial dem Bund verfällt. Es führt sodann aus, die Einziehung
BGE 117 IV 345 S. 346
von Gegenständen sei aber nicht eine Nebenstrafe, sondern eine vorbeugende Massnahme; sie habe keinen repressiven Charakter, und es gehe nicht darum, den Verurteilten am Vermögen zu schädigen und dem Staat durch die Einziehung ungerechtfertigt Vermögenswerte zukommen zu lassen. Aus diesem Grunde sowie in Anwendung des gerade auch im Massnahmerecht geltenden Verhältnismässigkeitsgrundsatzes (
BGE 104 IV 149
; STRATENWERTH, Strafrecht Allgemeiner Teil II, § 14 N. 45) müsse ein allfälliger Verwertungserlös X. zukommen.
2.
a) Das Bundesgericht hat in
BGE 84 IV 7
erkannt, es sei Sache des kantonalen Rechts zu bestimmen, ob der Erlös aus der Verwertung eines eingezogenen Gegenstandes dem Täter herauszugeben sei, und es hat offengelassen, ob eine entsprechende kantonalrechtliche Bestimmung mit
Art. 58 StGB
vereinbar wäre. WAIBLINGER stimmt dieser Auffassung grundsätzlich zu, fügt aber bei, dass "die Herausgabe des Verwertungserlöses der eingezogenen Gegenstände, da dem Gelde keine Gefahr innewohnt, vor der die Öffentlichkeit zu sichern wäre, sicher nicht bundesrechtswidrig (sei), zumal dem Bundesrecht selbst die Restituierung des Verwertungserlöses an den durch die Einziehung Betroffenen nicht fremd ist (vgl. z.B. Art. 29 Musterschutzgesetz)" (ZBJV 96/1960 S. 87 f.).
Der Kassationshof hat seine in
BGE 84 IV 7
vertretene Auffassung in einem nicht publizierten Urteil vom 16. Juli 1984, in dem es um die Einziehung eines Motorfahrzeuges nach
Art. 58 StGB
ging, aufgegeben. Gemäss den Ausführungen in diesem Entscheid untersteht die Massnahme der Einziehung nach
Art. 58 Abs. 1 lit. b StGB
dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Der Eingriff in das Eigentum des Betroffenen soll nicht weiter gehen, als der Zweck (Beseitigung der Gefährdung, Verhinderung weiterer Straftaten) es erfordert (
BGE 104 IV 149
). Wenn die Verwertung des einzuziehenden Gegenstandes möglich sei, dann bestehe, so hielt der Kassationshof im zitierten nicht veröffentlichten Urteil fest, von Bundesrechts wegen kein Grund, dem rechtmässigen Eigentümer den Verwertungserlös vorzuenthalten und so die Einziehung zu einer zusätzlichen Vermögensstrafe zu machen. Aus dem Prinzip der Verhältnismässigkeit ergebe sich somit in Abweichung von
BGE 84 IV 6
f., dass gemäss
Art. 58 Abs. 1 lit. b StGB
nur insoweit in das Vermögen des Betroffenen eingegriffen werden dürfe, als dies zur Erreichung des Zwecks der Massnahme notwendig sei. Komme es zur Einziehung eines rechtmässig erworbenen,
BGE 117 IV 345 S. 347
verwertbaren Motorfahrzeuges, dann habe der Betroffene Anspruch auf den Verwertungserlös.
An dieser Auffassung ist grundsätzlich festzuhalten, zumal sie der heute herrschenden Lehre entspricht. Danach wäre die Einziehung auch des Verwertungserlöses durch den Sicherungszweck der Massnahme nicht mehr gedeckt und daher unverhältnismässig (STRATENWERTH, Strafrecht Allgemeiner Teil II, § 14 N. 45; SCHULTZ, Einziehung und Verfall, ZBJV 114/1978 S. 329; TRECHSEL, Kurzkommentar, Art. 58 N. 15; vgl. schon die beiden Urteile des Berner Obergerichts, wiedergegeben in ZBJV 81/1945 S. 137 ff. und ZBJV 85/1949 S. 179 ff.). Die dargelegten Grundsätze gelten nicht nur für die Einziehung gemäss
Art. 58 Abs. 1 lit. b StGB
, sondern auch für die Einziehung nach
Art. 20 KMG
.
b) Wohl sehen
Art. 20 KMG
und
Art. 58 StGB
nicht ausdrücklich die Auszahlung eines allfälligen Verwertungserlöses an den Täter als ehemaligen Eigentümer des eingezogenen Gegenstandes vor.
Art. 20 KMG
und
Art. 58 StGB
unterscheiden sich damit insoweit von den Einziehungsbestimmungen in verschiedenen Spezialgesetzen. So bestimmt
Art. 29 Abs. 2 Satz 2 MMG
(SR 232.12): Der Reinerlös der übrigen eingezogenen Gegenstände wird zur Zahlung der Geldstrafe, der Kosten und der Entschädigung an den Geschädigten verwendet; ein allfälliger Überschuss fällt dem bisherigen Eigentümer zu. Ähnlich ist die Regelung in
Art. 69 Abs. 2 PatG
(SR 232.14): Der Verwertungsreinerlös wird zunächst zur Bezahlung der Busse, dann zur Bezahlung der Untersuchungs- und Gerichtskosten und endlich zur Bezahlung einer rechtskräftig festgestellten Schadenersatz- und Prozesskostenforderung des Verletzten verwendet; ein Überschuss fällt dem bisherigen Eigentümer der verwerteten Gegenstände zu. Art. 36 Abs. 1 Satz 2 des Giftgesetzes vom 21. März 1969 (SR 814.80) lautet: Der Erlös aus eingezogenen Giften und deren Behältern kann dem früheren Eigentümer je nach dessen Verschulden ganz oder teilweise zurückerstattet werden. Ähnlich bestimmt
Art. 45 Abs. 2 LMG
(SR 817.0): Der Reinerlös wird zur Bezahlung der Busse, der Kosten und der Entschädigung an den Geschädigten verwendet; ein allfälliger Überschuss wird zurückerstattet. Auch wenn
Art. 20 KMG
und
Art. 58 StGB
nicht ausdrücklich die Aushändigung eines allfälligen Verwertungserlöses an den Täter als ehemaligen Eigentümer des eingezogenen Gegenstandes vorsehen, so schliessen diese Bestimmungen eine solche auch nicht ausdrücklich aus. Insbesondere liesse sich aus
Art. 20 Abs. 2
BGE 117 IV 345 S. 348
KMG
, wonach das eingezogene Kriegsmaterial dem Bund "verfällt" ("le matériel confisqué est dévolu à la Confédération"; "il materiale confiscato è devoluto alla Confederazione"), nicht ableiten, dass der Bund auch einen allfälligen Verwertungserlös nach Belieben verwenden könne. Durch
Art. 20 Abs. 2 KMG
wird lediglich, wie in
Art. 381 Abs. 2 StGB
für die von den Bundesassisen und vom Bundesstrafgericht beurteilten Straffälle, das Verfügungsrecht des Bundes über das eingezogene Material statuiert. Auch wenn die Einziehung von Kriegsmaterial gemäss
Art. 20 KMG
nicht den Nachweis einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung etc. in der Zukunft voraussetzt, ist sie doch, da sie unabhängig von der Strafbarkeit einer bestimmten Person anzuordnen ist, eine Massnahme und nicht eine (Neben-)Strafe, d.h. gewissermassen eine Realbusse. Der Sinn der Einziehung von Kriegsmaterial nach
Art. 20 KMG
liegt nicht darin, dem Täter einen Vermögensschaden zuzufügen; die Einziehung nach
Art. 20 KMG
soll vielmehr ausschliessen, dass das fragliche Kriegsmaterial vom Betroffenen allenfalls ein weiteres Mal im Rahmen einer Widerhandlung im Sinne des Kriegsmaterialgesetzes verwendet werde. Aus Sinn und Zweck der bundesrechtlichen sachlichen Massnahme der Einziehung sowie aus dem bundesrechtlichen Verhältnismässigkeitsgrundsatz ergibt sich, dass ein allfälliger Verwertungserlös an den Täter als ehemaligen Eigentümer des eingezogenen Gegenstandes herauszugeben ist, sofern davon nach der Verwendung des Verwertungserlöses zugunsten Dritter (vgl.
Art. 58bis, 60 StGB
) sowie nach Abzug der Verwertungskosten noch etwas übrigbleibt. Dabei kann es keine Rolle spielen, ob die Anknüpfungstat objektiv und/oder subjektiv mehr oder weniger schwer wiegt oder etwa in ethischer Hinsicht als verwerflich erscheint; unerheblich ist insoweit auch, ob die wirtschaftliche Existenz des von der Einziehung Betroffenen gefährdet wäre, wenn ihm ein allfälliger Verwertungserlös nicht ausgehändigt würde. Darauf kann es deshalb nicht ankommen, weil die Einziehung eines allfälligen Verwertungserlöses durch den Sicherungszweck der Einziehung nicht mehr gedeckt und aus diesem Grunde, unabhängig von der Schwere der Tat und der finanziellen Situation des Täters, unverhältnismässig ist. Der Aushändigung eines allfälligen Verwertungserlöses steht auch nicht entgegen, dass der Täter damit erneut Gegenstände von der Art erwerben könnte, mit denen er die Straftat begangen hat, derentwegen die Gegenstände eingezogen wurden (siehe dazu SCHULTZ, op.cit., S. 329 unten).
BGE 117 IV 345 S. 349
c) Allerdings kann man sich fragen, ob bei Gegenständen, die ohne weiteres problemlos jederzeit gekauft und veräussert werden können, nicht schon auf deren Einziehung zu verzichten sei. Denn die Einziehung solcher Gegenstände, die der Staat in der Regel verwerten wird, dürfte jedenfalls dann zweckuntauglich sein und einen "Schlag ins Wasser" darstellen (vgl. dazu eingehend ALBIN ESER, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, Tübingen 1969, S. 274 ff.), wenn dem Täter als bisherigem Eigentümer der Verwertungserlös herauszugeben ist. Wie es sich damit im einzelnen verhält, kann vorliegend jedoch dahingestellt bleiben. Denn bei den insgesamt 742 Pistolen handelt es sich nicht um Gegenstände, die problemlos jederzeit gekauft und veräussert werden können. Die Einziehung von insgesamt 742 Pistolen, die unter das Kriegsmaterialgesetz fallen, ist als sachliche Massnahme der Sicherung, selbst wenn sie den Inhaber eines Waffengeschäfts trifft, auch dann sinnvoll, wenn ein allfälliger Verwertungserlös an den bisherigen Eigentümer herauszugeben ist.
d) Die Anordnung des Obergerichts, ein allfälliger Verwertungserlös sei dem X. durch den Bund zurückzuerstatten, verstösst somit nicht gegen Bundesrecht. Die Nichtigkeitsbeschwerde des Generalprokurators ist daher abzuweisen. | null | nan | de | 1,991 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eaf86c60-208c-4e70-affd-a1e07dc5e427 | Urteilskopf
133 III 368
44. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour de droit civil dans la cause A. et Association B. contre Autorité de Surveillance du Registre du Commerce du canton de Genève (recours en matière civile)
4A_26/2007 du 5 juin 2007 | Regeste
Art. 74 BGG
und
Art. 32 HRegV
; Eintragung im Handelsregister; Streitwert; privatrechtlicher Einspruch gegen die Eintragung eines Beschlusses über die Herabsetzung des Aktienkapitals.
Erfordernis eines minimalen Streitwerts für die Beschwerde in Zivilsachen gegen einen Entscheid über eine Eintragung im Handelsregister (E. 1).
Vorgehensweise bei einem privatrechtlichen Einspruch gegen eine noch nicht angemeldete Eintragung (Frage offengelassen); Mangel in Bezug auf das Verfahren der Eintragung eines Beschlusses über die Herabsetzung des Aktienkapitals; überwiegendes Interesse der Gläubiger und der Aktionäre an der Aufrechterhaltung dieser Eintragung (E. 2). | Sachverhalt
ab Seite 369
BGE 133 III 368 S. 369
A.
Le 23 juin 2005, lors de leur assemblée générale ordinaire, les actionnaires de la Société Anonyme C. (ci-après: C.), qui a son siège à Genève, ont décidé, à la majorité de 985'543 voix contre 2'034, de réduire le capital de la société de 13'950'000 fr. à 4'068'750 fr., en application de l'
art. 732 CO
. La valeur nominale de chacune des 1'162'500 actions de la société a été ramenée de 12 fr. à 3 fr. 50. Le remboursement de 8 fr. 50 par titre devait s'effectuer par compensation de la créance globale des actionnaires à hauteur de 6'187'312 fr. 50, le solde de 3'693'937 fr. 50 étant versé en espèces.
B.
Le 5 juillet 2005, le conseil de vingt-trois actionnaires minoritaires de la société, dont A. et l'Association B. (ci-après: l'Association), qui avaient refusé la réduction du capital, a fait savoir au Préposé du registre du commerce du canton de Genève (ci-après: le Préposé) que ses clients s'opposaient, en vertu de l'art. 32 de l'ordonnance du 7 juin 1937 sur le registre du commerce (ORC; RS 221.411), à l'inscription de cette modification et qu'ils déposeraient prochainement une action en annulation de la décision prise par l'assemblée générale. Le Préposé a répondu, par courrier du même jour, qu'il prenait acte de l'opposition qu'il tenait pour valable jusqu'au 5 juillet 2006, sous réserve d'une éventuelle prolongation au-delà de cette date; il était précisé que, dans l'hypothèse où une réquisition serait déposée, les opposants se verraient impartir un délai de 20 jours pour obtenir une ordonnance provisionnelle suspendant la procédure d'inscription.
Le 23 août 2005, les actionnaires minoritaires ont saisi le Tribunal de première instance du canton de Genève d'une action en annulation des décisions prises par l'assemblée générale du 23 juin 2005, dont celle portant sur la réduction du capital social.
Les administrateurs de C. ont, pour leur part, fait publier dans la Feuille officielle suisse du commerce (ci-après: la FOSC) les 2, 5 et
BGE 133 III 368 S. 370
6 septembre 2005 la décision de réduction du capital social; les créanciers ont été invités à produire leurs prétentions jusqu'au 7 novembre 2005. Aucun créancier ne s'est annoncé.
C.
Le 29 novembre 2005, les administrateurs ont requis l'inscription de la réduction du capital social au registre du commerce. Le 6 décembre 2005, le Préposé, sans inviter les opposants à agir par la voie des mesures provisionnelles, a procédé à l'inscription, qui a été publiée le 12 décembre 2005 dans la FOSC.
Le 23 janvier 2006, l'avocat des opposants a demandé au Préposé d'ordonner la suspension immédiate des opérations et de procéder à la communication officielle prévue par l'
art. 32 al. 2 ORC
, afin qu'il puisse entreprendre valablement les démarches nécessaires. Le 27 janvier 2006, le Préposé, se fondant sur l'
art. 32 ORC
, a imparti aux opposants un délai de 20 jours pour obtenir du juge compétent qu'il rende une mesure provisionnelle ordonnant la rectification à titre provisoire des inscriptions au registre du commerce dans le sens d'un rétablissement de la situation dans l'état d'avant le 6 décembre 2005.
Le 2 février 2006, l'avocat a protesté, en rappelant l'assurance qui lui avait été donnée, au mois de juillet 2005, de se voir impartir un délai pour s'opposer à l'inscription par la voie provisionnelle. Le 3 février 2006, le Préposé a répondu qu'il maintenait sa décision.
D.
Le 10 février 2006, les opposants, dont A. et l'Association, ont recouru auprès de l'Autorité cantonale de surveillance du registre du commerce (ci-après: l'Autorité de surveillance) contre les prononcés du Préposé des 27 janvier et 3 février 2006, en concluant à la radiation de l'inscription portée au registre du commerce le 6 décembre 2005 et à l'octroi d'un délai pour obtenir une ordonnance provisionnelle conformément à l'
art. 32 al. 2 ORC
.
Le 23 mars 2006, l'Autorité de surveillance a rendu une décision d'irrecevabilité, que le Tribunal fédéral, saisi d'un recours de droit administratif interjeté par A. et l'Association, a annulée par arrêt du 1
er
septembre 2006.
Statuant à nouveau le 23 janvier 2007, l'Autorité de surveillance a rejeté le recours interjeté contre les décisions du Préposé des 27 janvier et 3 février 2006.
E.
Le Tribunal fédéral a rejeté le recours en matière civile interjeté par A. et l'Association contre la décision de l'Autorité de surveillance.
BGE 133 III 368 S. 371
Erwägungen
Extrait des considérants:
1.
1.1
Comme la décision attaquée a été rendue après l'entrée en vigueur, le 1
er
janvier 2007 (RO 2006 p. 1242), de la loi du 17 juin 2005 sur le Tribunal fédéral (LTF; RS 173.110), le recours est régi par le nouveau droit (
art. 132 al. 1 LTF
).
1.2
Le recours a été interjeté, dans le délai (
art. 100 al. 1 LTF
) et la forme (
art. 42 LTF
) prévus par la loi, par les parties qui ont succombé dans leurs conclusions prises devant l'autorité précédente et qui ont un intérêt juridique à l'annulation ou à la modification de la décision attaquée (
art. 76 al. 1 LTF
). Il est par ailleurs dirigé contre un jugement final (
art. 90 LTF
) qui est sujet au recours en matière civile (art. 72 al. 2 let. b ch. 2 LTF) et qui a été rendu par une autorité cantonale de dernière instance (
art. 75 LTF
).
1.3
Dans les affaires pécuniaires concernant d'autres matières que le droit du travail et le droit du bail à loyer, pour lesquelles le seuil est fixé à 15'000 fr. (
art. 74 al. 1 let. a LTF
), le recours en matière civile n'est recevable que si la valeur litigieuse s'élève au moins à 30'000 fr.
1.3.1
Sous réserve des exceptions prévues à l'
art. 74 al. 2 LTF
, cette exigence s'applique à toutes les affaires pécuniaires sujettes au recours en matière civile, y compris en ce qui concerne les décisions prises en application de normes de droit public dans des matières connexes au droit civil (
art. 72 al. 2 let. b LTF
). Cela vaut donc aussi pour les décisions qui, sous l'ancien droit, étaient sujettes au recours de droit administratif indépendamment de la valeur litigieuse, telles que celles rendues par les autorités cantonales de surveillance du registre du commerce (
art. 97 et 98 let
. g OJ [RO 3 p. 521],
art. 5 ORC
;
ATF 121 III 368
consid. 1), qui ne peuvent désormais être attaquées par la voie du recours en matière civile que si la valeur litigieuse exigée par l'
art. 74 al. 1 let. b LTF
est atteinte, dans la mesure où il s'agit d'affaires pécuniaires (HANS PETER WALTER, Neue Zivilrechtspflege, in Neue Bundesrechtspflege, Berne 2007, p. 116).
1.3.2
Selon la jurisprudence relative à l'
art. 46 OJ
, l'action en annulation des décisions de l'assemblée générale (
art. 706 et 706a CO
), par laquelle il est notamment possible d'attaquer une décision de réduction du capital-actions (
art. 732 CO
), est pécuniaire (arrêt du
BGE 133 III 368 S. 372
Tribunal fédéral 4C.266/1992 du 25 novembre 1992, consid. 2 non publié à l'
ATF 118 II 496
;
ATF 107 II 179
consid. 1). La valeur déterminante est celle de l'intérêt de la société au maintien des décisions contestées, intérêt dont la valeur est en principe plus élevée que celle de l'intérêt personnel de l'actionnaire demandeur (
ATF 75 II 149
consid. 1;
ATF 92 II 243
consid. 1b).
1.3.3
Comme l'inscription au registre du commerce de la réduction du capital-actions a un effet constitutif (
art. 647 al. 3 CO
; MANFRED Küng, Basler Kommentar, Obligationenrecht II, 2
e
éd. 2002, n. 1 et 6 ad
art. 734 CO
; WOLFHART BÜRGI, Zürcher Kommentar, vol. V/5b/2, 1969, n. 7 ad
art. 734 CO
; GUILLAUME VIANIN, L'inscription au registre du commerce et ses effets, thèse Fribourg 2000, p. 268 s. et les références citées), il y a lieu de considérer que, lorsque le litige porte sur la radiation de cette inscription, la valeur litigieuse - que le Tribunal fédéral fixe selon son appréciation lorsque les conclusions ne tendent pas au paiement d'une somme d'argent déterminée (
art. 51 al. 2 LTF
) - est celle de l'intérêt de la société à l'inscription contestée. En l'espèce, comme l'a constaté l'autorité cantonale en application de l'
art. 112 al. 1 let
. d LTF, la valeur litigieuse est manifestement supérieure à 30'000 fr., compte tenu de la réduction du capital-actions à concurrence de 9'881'250 fr. (13'950'000 fr. - 4'068'750 fr.) objet de l'inscription contestée, si bien que le recours apparaît recevable de ce chef.
2.
2.1
Les recourants se plaignent de l'application erronée de l'
art. 32 ORC
et de la violation du principe de la bonne foi. Ils exposent que l'
art. 32 ORC
règle l'opposition de droit privé à une inscription au registre du commerce de manière différenciée selon que l'opposition est soulevée à l'encontre d'une inscription déjà opérée (al. 1) ou avant qu'une inscription ne soit opérée (al. 2), la voie des mesures provisionnelles n'étant envisageable que dans cette deuxième hypothèse. En l'espèce, la réduction du capital-actions de C. a été inscrite au registre du commerce alors même que la validité de cette décision faisait l'objet d'une action en annulation pendante, qu'une opposition anticipée à cette inscription avait été valablement formée le 5 juillet 2005 et que le Préposé avait pris acte de cette opposition anticipée en annonçant qu'il procéderait selon l'
art. 32 al. 2 ORC
si une réquisition d'inscription devait lui être adressée. Les recourants font valoir que dans ces circonstances, le Préposé aurait violé l'
art. 32 al. 2 ORC
et les règles de la bonne foi en procédant à
BGE 133 III 368 S. 373
l'inscription litigieuse; il ne pouvait prétendre réparer après coup cette violation par l'invitation aux recourants d'agir par le biais de mesures provisionnelles non prévues par le droit fédéral. Selon les recourants, dès lors que l'inscription publiée le 12 décembre 2005 consacrait une violation de l'
art. 32 al. 2 ORC
, elle devait être annulée par la voie administrative et les recourants invités à agir selon la voie prévue par l'
art. 32 al. 2 ORC
.
2.2
2.2.1
Sous le titre marginal "Opposition de droit privé à une inscription", l'
art. 32 ORC
dispose que si des tiers forment opposition à une inscription déjà opérée, en alléguant une violation de leurs droits, le préposé les renvoie au juge, à moins qu'ils n'invoquent des dispositions que les autorités du registre du commerce doivent appliquer d'office (al. 1); si une opposition de droit privé est formée contre une inscription non encore opérée, le préposé impartit à l'opposant un délai suffisant d'après la procédure cantonale pour obtenir du juge une ordonnance provisionnelle, et, si le juge n'interdit pas l'inscription dans ce délai, le préposé y procède pourvu que les autres conditions requises soient remplies (al. 2).
2.2.2
L'
art. 32 ORC
distingue selon que l'opposition est dirigée contre une inscription déjà opérée ou seulement à venir: lorsque l'inscription n'est pas encore opérée, le préposé doit, conformément à l'
art. 32 al. 2 ORC
, impartir à l'opposant un délai suffisant d'après la procédure cantonale pour obtenir du juge une ordonnance provisionnelle; lorsque l'inscription a déjà été opérée, le préposé doit, conformément à l'
art. 32 al. 1 ORC
, renvoyer l'opposant au juge, pour autant que les griefs qu'il soulève doivent être invoqués par la voie judiciaire civile (VIANIN, op. cit., p. 162 s.; THOMAS SCHNEIDER, Der Rechtsschutz in Handelsregistersachen und die Entscheidungskompetenz der Handelsregisterbehörden, thèse Zurich 1960, p. 131-135; KARL REBSAMEN, Das Handelsregister, ein Handbuch für die Praxis, 2
e
éd., Zurich 1999, n. 71 s. p. 17 s.).
2.2.3
La décision du préposé de passer une inscription peut faire l'objet d'un recours administratif à l'autorité de surveillance (
art. 3 al. 3 ORC
; cf. MANFRED KÜNG et al., Handbuch für das Handelsregister, Bd. 7: Kommentar zur Handelsregister-Verordnung, 2
e
éd., Zurich 2002, n. 10 ad
art. 3 ORC
), dans le cadre duquel il ne peut être invoqué que la violation de dispositions que le préposé doit appliquer d'office (cf. art. 32 al. 1 in fine ORC), à savoir la violation
BGE 133 III 368 S. 374
de normes sur la tenue du registre - telles que les prescriptions de l'
art. 32 ORC
sur la procédure à suivre en cas d'opposition de droit privé (cf.
ATF 81 I 394
consid. 3) - ou la violation indiscutable de normes impératives protégeant les tiers ou l'intérêt public (
ATF 114 II 68
consid. 2; VIANIN, op. cit., p. 160 s.; SCHNEIDER, op. cit., p. 124, 130 et 134).
2.2.4
L'
art. 32 al. 2 ORC
n'indique pas comment le préposé doit procéder lorsqu'il est saisi, comme en l'espèce, d'une opposition préventive contre une inscription qui n'a pas encore été requise. Selon REBSAMEN (op. cit., n. 71 p. 18), dans de nombreux offices du registre du commerce, en particulier dans les plus grands, le préposé impartit à l'opposant un délai pour obtenir du juge des mesures provisionnelles immédiatement après le dépôt de l'opposition, même lorsqu'il n'a encore été saisi d'aucune réquisition d'inscription. L'Office fédéral du registre du commerce expose dans ses déterminations sur le recours que plusieurs offices cantonaux du registre du commerce attendent en revanche que l'inscription litigieuse soit requise pour sommer alors l'opposant d'agir devant le juge civil.
Dans la doctrine, REBSAMEN (loc. cit.) se contente, comme on l'a vu, d'évoquer la pratique des grands offices, sans se prononcer expressément. Quant à SCHNEIDER (op. cit., p. 134), il se borne à affirmer que le préposé doit fixer à l'opposant un délai en vue d'obtenir du juge une ordonnance provisionnelle immédiatement après avoir été saisi de l'opposition, mais il n'évoque pas l'hypothèse où aucune inscription n'a encore été requise.
A l'instar de l'autorité cantonale dans sa décision présentement entreprise, l'Office fédéral du registre du commerce considère qu'il est plus judicieux et plus conforme à l'
art. 32 al. 2 ORC
pour le préposé, saisi d'une opposition contre une inscription non encore requise, de se "décharger" immédiatement du dossier en fixant d'emblée à l'opposant un délai pour saisir le juge civil, seul compétent pour prononcer la mesure provisoire de suspension de la procédure d'inscription (cf.
ATF 81 I 394
consid. 3;
ATF 97 II 185
consid. II.2 p. 190 s.). La question n'a toutefois pas à être tranchée ici, comme on le verra.
2.3
2.3.1
Dans le cas d'espèce, A. et l'Association ont recouru auprès de l'Autorité de surveillance contre le refus du Préposé de rapporter l'inscription opérée, en soutenant que celle-était affectée d'un vice juridique puisque, malgré leur opposition et contrairement
BGE 133 III 368 S. 375
aux assurances du Préposé, celui-ci ne leur avait jamais imparti de délai pour obtenir du juge une ordonnance provisionnelle (
art. 32 al. 2 ORC
). Ce faisant, les recourants exercent un moyen de droit administratif dirigé contre l'inscription opérée le 6 décembre 2005, en invoquant la violation de règles que les autorités du registre du commerce doivent appliquer d'office, ce qu'il leur est loisible de faire dans ce cadre (cf. consid. 2.2.3 supra).
2.3.2
Il n'est pas nécessaire de trancher la question de savoir si le Préposé, lorsque les recourants l'ont saisi le 5 juillet 2005 d'une opposition préventive contre l'inscription de la réduction du capital-actions décidée le 23 juin 2005 par l'assemblée générale de C., aurait dû impartir aussitôt aux recourants un délai pour obtenir du juge des mesures provisionnelles, ou plutôt attendre que l'inscription en question fût requise pour procéder alors selon l'
art. 32 al. 2 ORC
(cf. consid. 2.2.4 supra). En effet, il est incontestable qu'en prenant d'abord acte de l'opposition préventive tout en précisant qu'il procéderait selon l'
art. 32 al. 2 ORC
dans l'hypothèse où une réquisition viendrait à être déposée, puis en procédant à l'inscription, une fois que celle-ci eût été requise, sans avoir invité les recourants à agir par la voie des mesures provisionnelles, le Préposé a agi contrairement aux règles de la bonne foi (
art. 9 Cst.
; cf.
ATF 129 I 161
consid. 4.1), comme l'autorité cantonale l'a reconnu à juste titre.
2.4
Toutefois, contrairement à ce que soutiennent les recourants, ce vice affectant la procédure d'inscription de la réduction du capital social ne justifie pas la radiation de cette inscription.
2.4.1
En effet, une telle radiation, opérée pour des motifs procéduraux et avant droit connu sur le motif matériel de l'opposition des recourants à l'inscription litigieuse - à savoir l'action en annulation des décisions prises par l'assemblée générale de C. du 23 juin 2005 -, se heurterait à l'intérêt tant des tiers que des actionnaires au maintien de l'inscription. Comme le relève l'Office fédéral du registre du commerce dans ses déterminations sur le recours, la réinscription de l'ancien capital-actions aurait pour conséquence d'indiquer au registre du commerce un capital qui n'est en réalité pas libéré, trompant ainsi les tiers sur les fonds dont dispose réellement la société. Or l'intérêt des créanciers à pouvoir se fier à l'inscription est d'autant plus marqué que, en cas de réduction du capital-actions avec remboursement aux actionnaires, le patrimoine sur lequel la société répond de ses dettes se trouve diminué (cf. PETER FORSTMOSER/ARTHUR
BGE 133 III 368 S. 376
MEIER-HAYOZ/PETER NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, 1996, § 53 n. 225 note 68 p. 804). Quant aux actionnaires, une fois la réduction du capital social inscrite - et donc efficace nonobstant un vice qui affecterait la procédure de réduction de capital (cf. FORSTMOSER/ MEIER-HAYOZ/NOBEL, op. cit., § 53 n. 238 et 251 p. 806 s.) -, ils doivent pouvoir être certains qu'ils peuvent disposer des fonds restitués ensuite de la réduction du capital-actions, comme le relève également à juste titre l'Office fédéral du registre du commerce dans ses déterminations.
2.4.2
L'intérêt des recourants à obtenir à ce stade, pour des motifs formels, la radiation de l'inscription de la réduction du capital social doit ainsi céder le pas devant l'intérêt prépondérant des créanciers et des actionnaires au maintien de cette inscription. Il ne faut d'ailleurs pas perdre de vue, dans la pesée des intérêts en présence, que la Cour de justice devrait prochainement statuer sur l'action en annulation des décisions prises par l'assemblée générale de C. du 23 juin 2005, qui constitue le motif matériel de l'opposition des recourants à l'inscription de la réduction du capital-actions, et que si les recourants devaient obtenir gain de cause sur le fond, cette inscription devra être rapportée (cf.
ATF 116 II 713
consid. 4b;
ATF 97 II 185
consid. I.2 p. 189; VIANIN, op. cit., p. 417; SCHNEIDER, op. cit., p. 309). En revanche, un rejet définitif de l'action en annulation en ce qui concerne la réduction du capital social décidée par l'assemblée générale du 23 juin 2005 viderait du même coup de sa substance l'opposition des recourants à l'inscription de cette réduction de capital. | null | nan | fr | 2,007 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eafcb10d-0478-456c-9421-a0b882c28e0f | Urteilskopf
139 III 305
45. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_372/2012 vom 18. April 2013 | Regeste
Art. 3 und 936 ZGB
;
Art. 100 IPRG
. Klage gegen den Besitzer eines gestohlenen Gemäldes.
Auf den Besitz anwendbares Recht (E. 3.1 und 4.1).
Beurteilung des guten Glaubens des Erwerbers, insbesondere von ihm anzustellende Nachforschungen (E. 3-5). | Sachverhalt
ab Seite 305
BGE 139 III 305 S. 305
A.
B. ist Kunstsammler und besitzt eine bedeutende Sammlung moderner Kunstwerke. Im Juli 1989 kaufte er (über die als Käuferin auftretende C. Limited) das Gemälde "Diener mit Samowar" (...). Das Gemälde ist ein Werk des russischen Künstlers Kasimir Malewitsch. Er hatte es in der Schaffensphase des sogenannten "Kubo-Futurismus" 1914 gemalt und es wird der russischen Avantgarde zugerechnet. Der Verkauf des Bildes erfolgte in Kommission, wobei als Verkäuferin D. von der Galerie E. in Genf auftrat. Der hinter dem
BGE 139 III 305 S. 306
Verkauf stehende Veräusserer blieb B. unbekannt. Der Kaufpreis betrug 1,05 Mio. USD. Das Gemälde befindet sich bis heute im Besitz von B.
B.
Am 23. März 2004 klagte A. am Bezirksgericht Meilen gegen B. auf Herausgabe des erwähnten Gemäldes zu unbeschwertem Eigentum. Er machte geltend, sein Vater habe das Gemälde 1970 erworben und es sei 1978 aus der elterlichen Wohnung im damaligen Leningrad (heute St. Petersburg) gestohlen worden. Als Alleinerbe seiner 1985 und 1999 verstorbenen Eltern stehe ihm der Herausgabeanspruch am Gemälde zu.
Das Bezirksgericht wies die Klage mit Urteil vom 21. Dezember 2010 ab.
C.
Am 30. Dezember 2010 erklärte A. Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich. Er verlangte die Aufhebung des bezirksgerichtlichen Urteils und die Gutheissung der Klage, allenfalls die Rückweisung an das Bezirksgericht zur Neubeurteilung. Mit Urteil vom 5. April 2012 wies das Obergericht die Klage ab.
D.
Am 15. Mai 2012 hat A. (Beschwerdeführer) Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Er beantragt, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und B. (Beschwerdegegner) zu verurteilen, ihm das Gemälde "Diener mit Samowar" von Kasimir Malewitsch zu unbeschwertem Eigentum herauszugeben. Eventualiter sei die Angelegenheit an das Obergericht zurückzuweisen. (...)
Der Beschwerdegegner beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie einzutreten sei. Eventualiter und für den Fall der Rückweisung sei der Sachverhalt zu berichtigen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Angelegenheit an das Obergericht zu neuem Entscheid zurück.
(Auszug)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die vorliegende Herausgabeklage untersteht Schweizer Recht (sogleich E. 3.1). Zu beurteilen ist sie - wie vor der Vorinstanz - unter dem Aspekt von
Art. 934 und 936 ZGB
(Besitzesrechts- oder Fahrnisklage; unten E. 3.2). Der Beschwerdeführer beruft sich nicht mehr auf
Art. 641 Abs. 2 ZGB
(Vindikation, Eigentumsklage), so dass diese Anspruchsgrundlage ausser Betracht bleibt.
BGE 139 III 305 S. 307
3.1
Die Anwendbarkeit von Schweizer Recht stützt sich auf
Art. 100 Abs. 2 IPRG
(SR 291), wovon auch das Obergericht ausgegangen ist. Der Beschwerdegegner hat das Gemälde unbestrittenermassen in der Schweiz erworben (vgl. Art. 100 Abs. 1 IRPG) und es befindet sich immer noch hier. Nach
Art. 100 Abs. 2 IPRG
unterstehen Inhalt und Ausübung dinglicher Rechte (wozu auch die an den Besitz geknüpften Befugnisse zählen) an beweglichen Sachen dem Recht am Ort der gelegenen Sache (sog. lex rei sitae). Die Herausgabeklage richtet sich somit nach den Normen des Staates, in dem sich die herausverlangte Fahrnissache befindet, d.h. vorliegend nach Schweizer Recht (Urteil 5A_88/2011 vom 23. September 2011 E. 4; PIUS FISCH, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 2007, N. 55 zu
Art. 100 IPRG
).
3.2
3.2.1
Gemäss
Art. 934 Abs. 1 ZGB
kann der Besitzer, dem eine bewegliche Sache gestohlen wird oder verlorengeht oder sonst wider seinen Willen abhandenkommt, sie während fünf Jahren jedem Empfänger abfordern. Auf den guten Glauben des Empfängers kommt es dabei grundsätzlich nicht an (vgl. allerdings
Art. 934 Abs. 2 ZGB
und
Art. 935 ZGB
). Für Kulturgüter im Sinne des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über den internationalen Kulturgütertransfer (Kulturgütertransfergesetz, KGTG; SR 444.1), das am 1. Juni 2005 in Kraft getreten ist, gilt eine einjährige relative und eine dreissigjährige absolute Verjährungsfrist (
Art. 934 Abs. 1
bis
ZGB
). Vorliegend ist dieses Gesetz bzw. die dadurch bewirkte Änderung des ZGB nicht anwendbar, da der fragliche Erwerbsvorgang vor dem 1. Juni 2005 stattgefunden hat (
Art. 33 KGTG
; WOLFGANG ERNST, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 17l zu
Art. 934 ZGB
; vgl. auch
BGE 131 III 418
E. 3.2.2 S. 427 f.). Es bleibt somit bei der Massgeblichkeit der Fünfjahresfrist gemäss Abs. 1 von
Art. 934 ZGB
.
Wer den Besitz einer beweglichen Sache nicht in gutem Glauben erworben hat, kann vom früheren Besitzer jederzeit auf Herausgabe belangt werden (
Art. 936 Abs. 1 ZGB
). Da die Fünfjahresfrist gemäss
Art. 934 Abs. 1 ZGB
längst abgelaufen ist, bleibt einzig zu untersuchen, ob der Beschwerdeführer das Bild gestützt auf
Art. 936 Abs. 1 ZGB
herausfordern kann. Im Vordergrund steht die Frage nach dem guten Glauben des Beschwerdegegners in die Verfügungsberechtigung des Veräusserers (unten E. 5). Daneben stellen sich
BGE 139 III 305 S. 308
Fragen der Aktiv- und Passivlegitimation, die vorliegend nicht abschliessend beantwortet werden können (unten E. 4 und 5.5).
3.2.2
Wo das Gesetz eine Rechtswirkung an den guten Glauben einer Person knüpft, ist dessen Dasein zu vermuten (
Art. 3 Abs. 1 ZGB
). Der Erwerber einer Sache gilt grundsätzlich als gutgläubig. Demgemäss trägt bei der Klage nach
Art. 936 ZGB
der frühere Besitzer die Beweislast für den bösen Glauben des Erwerbers (EMIL W. STARK, Berner Kommentar, 3. Aufl. 2001, N. 6 zu
Art. 936 ZGB
). Der Gutglaubensschutz versagt indessen nicht nur bei Bösgläubigkeit, sondern auch dann, wenn der gutgläubige Erwerber den Rechtsmangel nicht kennt, weil er beim Erwerb der Sache jene Aufmerksamkeit vermissen liess, die von ihm nach den Umständen verlangt werden durfte (
Art. 3 Abs. 2 ZGB
). Wird nicht die nach den Umständen gebotene Aufmerksamkeit aufgewendet, zieht dies die gleichen Rechtsfolgen nach sich wie die Bösgläubigkeit. Die Nichtbeachtung der gebotenen Aufmerksamkeit ist allerdings nur von Bedeutung, wenn sie für die fehlende Kenntnis vom Rechtsmangel kausal ist; andernfalls ist sie unbeachtlich (
BGE 122 III 1
E. 2a S. 3). Auch hier obliegt die Beweislast, entsprechend der Vorschrift von
Art. 8 ZGB
, demjenigen, der die Sache herausverlangt. Dieser hat die Umstände nachzuweisen, aus denen er die mangelnde Aufmerksamkeit ableitet (
BGE 113 II 397
E. 2 S. 399). Rechtsfrage ist hingegen das Mass der gebotenen Aufmerksamkeit und die Frage, inwieweit der Beklagte ihr nachgekommen ist (
BGE 131 III 418
E. 2.3.1 S. 421 mit Hinweisen).
Der Grad der Aufmerksamkeit, der vom Erwerber verlangt werden darf, richtet sich nach den Umständen. Was dies im Einzelfall bedeutet, ist weitgehend eine Ermessensfrage (
Art. 4 ZGB
;
BGE 131 III 418
E. 2.3.2 S. 421 f.). In die Abwägung einzubeziehen ist insbesondere eine in der betreffenden Branche herrschende Verkehrsübung, wobei allenfalls übliche Nachlässigkeiten nicht zu einer Herabsetzung der Sorgfaltsanforderungen führen können (
BGE 113 II 397
E. 2b S. 399). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts besteht keine allgemeine Erkundigungspflicht des Erwerbers nach dem Vorliegen der Verfügungsmacht des Veräusserers; nur wenn konkrete Verdachtsgründe vorliegen, müssen die näheren Umstände abgeklärt werden (
BGE 122 III 1
E. 2a/aa S. 3;
BGE 131 III 418
E. 2.3.2 S. 422; je mit Hinweisen). Höhere Anforderungen sind an jene Geschäftszweige zu stellen, die dem Angebot von Waren
BGE 139 III 305 S. 309
zweifelhafter Herkunft und folglich mit Rechtsmängeln behafteter Sachen in besonderem Masse ausgesetzt sind, wie es beim Handel mit Gebrauchtwaren aller Art der Fall ist (
BGE 113 II 397
E. 2b S. 399 f.). Auch wenn damit keine generelle Erkundigungspflicht statuiert wird, ergibt sich in diesen Fällen eine Abklärungs- bzw. Erkundigungspflicht hinsichtlich der Verfügungsberechtigung des Veräusserers nicht erst bei konkretem Verdacht des Rechtsmangels, sondern bereits, wenn aufgrund der Umstände Anlass zu Misstrauen besteht (
BGE 122 III 1
E. 2a/aa S. 3;
BGE 131 III 418
E. 2.3.2 S. 422). Diese erhöhten Sorgfaltsanforderungen beschränken sich nicht auf den Händler im kaufmännischen Verkehr; entscheidend ist vielmehr die Branchenvertrautheit des Erwerbers (
BGE 131 III 418
E. 2.3.2 S. 422;
BGE 122 III 1
E. 2a/bb S. 4 und E. 2b/aa S. 5; vgl. auch
BGE 119 II 23
E. 3c/aa S. 27).
4.
4.1
Das Obergericht hat in einem ersten Schritt die Aktivlegitimation des Beschwerdeführers bejaht. Dazu genüge der frühere selbständige oder unselbständige Besitz des Beschwerdeführers und das unfreiwillige Abhandenkommen desselben. Auf eine weitergehende Berechtigung des Beschwerdeführers an der Sache komme es jedoch nicht an. Ob solcher Besitz vorhanden gewesen sei, entscheide sich nach schweizerischem Recht.
Der Beschwerdegegner wendet sich gegen diese Erwägungen. Dabei weist er zu Recht darauf hin, dass sich der Besitzerwerb des Vaters des Beschwerdeführers in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem damaligen Lageort des Bildes, d.h. nach russischem bzw. sowjetischem Recht richten würde. Nach der Rechtsprechung zum vor 1989 geltenden internationalen Privatrecht der Schweiz (vgl.
Art. 196 IPRG
), die in
Art. 100 Abs. 1 IPRG
kodifiziert wurde, unterstehen Erwerb und Verlust dinglicher Rechte an beweglichen Sachen dem Recht des Staates, in dem die Sache im Zeitpunkt des Vorgangs liegt, aus dem Erwerb oder Verlust hergeleitet werden. Dieses Prinzip gilt nicht nur für den Erwerb dinglicher Rechte, sondern auch des Besitzes (Urteile 5A_88/2011 vom 23. September 2011 E. 4; 5C.16/1998 vom 28. Mai 1998 E. 3c/bb; STARK, a.a.O., N. 74 vor
Art. 930-937 ZGB
). Der Beschwerdegegner bestreitet zwar die tatsächlichen Grundlagen des Besitzes des Beschwerdeführers bzw. dessen Vaters (dazu sogleich). Für den Fall, dass diese Einwände unbegründet sein sollten, behauptet er aber nicht, dass das
BGE 139 III 305 S. 310
russische bzw. das damalige sowjetische Recht keinen Tatbestand des Besitzes kenne oder gekannt habe, den der Vater des Beschwerdeführers erfüllt hätte (vgl.
Art. 96 lit. b BGG
und
Art. 16 IPRG
). Nach der Verbringung des Gemäldes in die Schweiz bestimmen sich der Inhalt und die Ausübung des früheren Besitzes nach Schweizer Recht (vgl.
Art. 100 Abs. 2 IPRG
; STARK, a.a.O., N. 81 f. vor
Art. 930-937 ZGB
), womit dem ehemaligen Besitzer die Klage nach
Art. 934 und 936 ZGB
zur Verfügung steht. Auf die allfällige Berechtigung des Beschwerdeführers (oder seines Vaters) am Bild, die sich nach russischem bzw. sowjetischem Recht richten würde, kommt es entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners für die Frage der Aktivlegitimation zur Klage nach
Art. 936 Abs. 1 ZGB
zunächst nicht an. Die Behauptung, dass das angeblich bereits im Jahre 1917 erstmals abhandengekommene Gemälde seither in Russland bzw. der Sowjetunion nie habe gutgläubig erworben werden können, beschlägt die Frage des Eigentums bzw. der Einrede gemäss
Art. 936 Abs. 2 ZGB
. Dazu hat sich die Vorinstanz noch nicht geäussert.
In tatsächlicher Hinsicht hat das Obergericht festgehalten, der Vater des Beschwerdeführers habe das fragliche Bild um 1973/74 besessen. Dies ergebe sich einerseits aus der Aussage des Zeugen F., denn dieser habe das Bild damals in der Wohnung des Vaters gesehen. Dass F. sich - wie in einem Schreiben von 1975 belegt - nicht mehr an die genaue Beschaffenheit des Gemäldes erinnern konnte, ändere nichts an seiner Glaubwürdigkeit, zumal er in einem Werkkatalog dokumentiert habe, dass sich das Bild im Besitz der Familie des Beschwerdeführers befunden habe. Andererseits diene die für den Erwerb vorgelegte Urkunde vom 19. September 1970 als Indiz für den Besitz, auch wenn sie bestenfalls eine Quittung darstelle (Bestätigung des Verkaufs des Gemäldes durch G. an den Vater des Beschwerdeführers). Der Beschwerdegegner bestreitet diese Erwägungen, setzt ihnen aber einzig seine eigene Interpretation des fraglichen Schreibens von F. entgegen und geht auf die Quittung inhaltlich nicht näher ein. Damit vermag er keine Willkür bei der Beweiswürdigung aufzuzeigen.
Gestützt auf zwei Strafurteile des Wyborg-Bezirksgerichts von Leningrad aus den Jahren 1979 und 1983 hat das Obergericht sodann den Diebstahl des Gemäldes aus der Wohnung der Eltern des Beschwerdeführers im Jahre 1978 als nachgewiesen erachtet. Der Beschwerdegegner zieht in erster Linie die Echtheit der Urteile in Zweifel, doch
BGE 139 III 305 S. 311
nennt er keinen Anhaltspunkt, weshalb die vorliegenden Dokumente gefälscht sein sollen. Nicht willkürlich ist es, wenn das Obergericht aus der Tatsache, dass das Wyborg-Bezirksgericht auf ein Auskunftsbegehren des Bezirksgerichts Meilen nicht reagiert hat, nichts Nachteiliges abgeleitet hat.
Die vorinstanzliche Feststellung, dass der Beschwerdeführer Alleinerbe seiner Eltern ist, wird vor Bundesgericht nicht angefochten.
4.2
Unklar ist die Haltung der Vorinstanz zur Frage, ob der Beschwerdegegner überhaupt von einem Nichtberechtigten erworben hat. Der gute oder böse Glaube, auf den es vorliegend ankommt, bezieht sich auf die Berechtigung des Veräusserers, über die Sache zu verfügen. Wenn diese Berechtigung gegeben ist, so hat der Käufer von einem Berechtigten erworben und das Wissen oder Wissenmüssen um das frühere Abhandenkommen ist - unter dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs - bedeutungslos (vgl. STARK, a.a.O., N. 17 zu
Art. 936 ZGB
). Auf Sachverhaltsebene konnte insoweit einzig erstellt werden, dass der Veräusserer dem Beschwerdegegner gegenüber anonym blieb und das Gemälde im Zeitpunkt des Kaufs (1989) bereits mehrere Jahre im Safe einer Genfer Bank lag. Wie es dorthin gelangte, wurde nicht geklärt.
Das Bezirksgericht ist davon ausgegangen, der Beschwerdegegner habe diesbezüglich die Verfügungsberechtigung des Verkäufers nicht rechtsgenüglich behauptet. Das Obergericht hat Erwägungen dazu angestellt, was gälte, wenn einige Äusserungen des Beschwerdegegners allenfalls doch als sinngemässe Behauptung aufgefasst würden. Es hat dazu jedoch nicht klar Stellung genommen. Dies war auch nicht erforderlich, da es die Klage aus anderem Grunde abgewiesen hat. Der Beschwerdeführer bezeichnet die obergerichtlichen Erwägungen als versteckte Alternativbegründung und greift sie inhaltlich an. Da die Auffassung des Obergerichts unklar ist, kann das Bundesgericht zu ihr und zu den diesbezüglichen Beschwerdegründen derzeit keine Stellung nehmen. Soweit die damit verbundenen Fragen entscheidwesentlich werden, wird das Obergericht darüber in eindeutiger Weise zu befinden haben (
Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG
; vgl. unten E. 5.5).
5.
Für den Fall, dass ein Erwerb von einem Nichtberechtigten vorliege, ist das Obergericht zum Schluss gekommen, dass der Beschwerdegegner den Rechtsmangel weder kannte noch kennen musste. Die getroffenen Vorsichtsmassnahmen hat es als genügend erachtet.
BGE 139 III 305 S. 312
5.1
Zunächst steht für das Obergericht fest, dass der Beschwerdegegner nicht tatsächlich vom Diebstahl oder dem Mangel der Verfügungsbefugnis des Veräusserers wusste. Insbesondere hätten ihm weder die Familie des Beschwerdeführers, die der Beschwerdegegner im Jahre 1988 in Leningrad besucht und deren Kunstsammlung er besichtigt habe, Entsprechendes mitgeteilt, noch habe sich die vom Beschwerdegegner beigezogene Expertin H. in diesem Sinne geäussert.
Die Umstände des Kaufes hätten sodann weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit zu Misstrauen Anlass gegeben. Das umstrittene Gemälde "Diener mit Samowar" von Kasimir Malewitsch sei zum Zeitpunkt des Kaufs durch den Beschwerdegegner zwar in einem schlechten Zustand gewesen und ungerahmt verkauft worden, doch habe nicht nachgewiesen werden können, dass es aus dem Rahmen geschnitten worden sei. Zur Marktsituation hat das Obergericht festgestellt, es sei im Jahre 1989 selten gewesen, dass ein Originalgemälde von Malewitsch auf dem Markt auftauche. Vor dem Erwerb habe der Beschwerdegegner das Bild durch H., die eine Kennerin der russischen Avantgarde sei, auf seine Echtheit hin prüfen lassen. H. habe die Prüfung bei der Bank, wo das Bild lagerte, vorgenommen und sie habe es als echt beurteilt. Zudem habe sie dem Beschwerdegegner ein ihr zugetragenes Gerücht mitgeteilt, wonach sich auf dem Markt ein gestohlenes Bild von Malewitsch befinde. Das Obergericht hat jedoch als nicht erstellt erachtet, dass H. das Gerücht klar auf das Bild "Diener mit Samowar" bezogen oder dem Beschwerdegegner diesbezüglich einen Rat erteilt habe. Auch hinsichtlich der Verkäuferseite hat das Obergericht keine Vorbehalte angebracht: Erworben habe der Beschwerdegegner das Bild über die Galerie E. in Genf und unter Einbezug der Galerie I., wobei die Rolle der letztgenannten Galerie vom Obergericht nicht genauer erläutert wird. Die Galerien hätten keinen unseriösen oder schlechten Ruf gehabt. Allerdings hätte die Galerie E. damals finanzielle Schwierigkeiten gehabt. Auf russische Kunst sei die Galerie E. zwar nicht spezialisiert gewesen, sie habe aber einen gewissen Bezug dazu gehabt, auch wenn nicht klar sei, ob dieser Bezug zur Kunst der russischen Avantgarde bestanden habe. Sporadisch habe die Galerie E. zudem auch Kunst im Hochpreissegment angeboten. Ein Bezug zur russischen Kunst habe sodann über J. von der Galerie I. bestanden. Gemäss Kaufvertrag sei D. von der Galerie E. als Verkäuferin aufgetreten, wobei sie als Kommissionärin gehandelt habe. Dass sie
BGE 139 III 305 S. 313
nicht Eigentümerin des Bildes gewesen sei, sei dem Beschwerdegegner bekannt gewesen. Der Beschwerdegegner habe nämlich vor Kaufvertragsabschluss über J. von der Galerie I. eine Bestätigung von D. über das Verfügungsrecht des Veräusserers einholen lassen. Darin habe D. bestätigt, dass ihr der aktuelle Eigentümer des Bildes zugesichert habe, dass er der einzige und alleinige Besitzer des Bildes sei, sich das Bild seit mehreren Jahren in einem Banktresor befinde und der Eigentümer des Bildes der Bank folglich seit mehreren Jahren bekannt sei. Im Kaufvertrag habe D. sodann die Echtheit des Bildes garantiert und dass sie als Verkäuferin berechtigt und in der Lage sei, das Eigentum am Bild rechtmässig im Sinne von
Art. 641 ff. ZGB
zu übertragen. Zu den Gepflogenheiten auf dem Kunstmarkt hat das Obergericht festgestellt, es sei zum damaligen Zeitpunkt nicht unüblich gewesen, dass der wahre Veräusserer dem Erwerber unbekannt geblieben sei. Der Kaufpreis von 1,05 Mio. USD sei nicht ungewöhnlich niedrig.
Ausserdem habe das Auktionshaus K. in Genf im Mai 1989 das fragliche Gemälde zunächst für 1 Mio. USD kaufen wollen, den zugesicherten Erwerb dann aber abgelehnt (an anderer Stelle spricht das Obergericht von der geplanten Aufnahme des Gemäldes in eine Auktion). Die Ablehnung des Kaufs sei dem Beschwerdegegner bekannt gewesen. Er habe daraufhin mit L., dem damaligen Leiter von K. Schweiz, Kontakt aufgenommen. Aufgrund der im Recht liegenden Korrespondenz sei davon auszugehen, dass K. vom Geschäft absah, weil die sowjetischen Behörden den Kauf nicht bewilligen würden, da das Bild die Sowjetunion illegal verlassen habe, und K. die Kontakte zur Sowjetunion nicht gefährden wollte. Damit sei für den Beschwerdegegner eine nachvollziehbare Erklärung für den Rücktritt von K. vom Kauf vorgelegen. Tatsächlich sei es - so das Obergericht - im fraglichen Zeitraum verboten gewesen, russische Bilder, die vor 1945 entstanden seien, aus der Sowjetunion zu exportieren. Der Beschwerdegegner habe um die Illegalität der Ausfuhr gewusst. Unbestritten geblieben sei, dass der Beschwerdegegner sich bei Interpol nach dem Bild erkundigt habe. Da die Sowjetunion 1989 nicht Mitglied von Interpol gewesen sei, sei die Erkundigung ergebnislos geblieben. Nicht nachgewiesen erschien dem Obergericht die Behauptung des Beschwerdegegners, dass sich D. vor dem Verkauf bei der sowjetischen Botschaft telefonisch nach dem Bild erkundigt habe, wobei sich keine Hinweise auf Rechtsmängel ergeben hätten. Nach Einschätzung des Obergerichts seien weitere
BGE 139 III 305 S. 314
Vorsichtsmassnahmen unnötig gewesen bzw. hätten nicht zur Aufdeckung des Rechtsmangels geführt.
5.2
Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass der Beschwerdegegner nicht effektiv um den Rechtsmangel wusste. Zu prüfen ist hingegen, ob der Beschwerdegegner genügend Sorgfalt hat walten lassen, so dass er sich auf seinen guten Glauben berufen darf.
5.2.1
Dabei ist die Vorinstanz grundsätzlich zu Recht davon ausgegangen, dass die Sorgfaltsanforderungen im Jahre 1989 nicht danach bestimmt werden können, was heute über den Umfang des unrechtmässigen Entzugs von Kunst und Kulturgütern in den Staaten des ehemaligen Ostblocks bekannt ist. In diesem Sinne ist das Ergebnis des Beweisverfahrens zu berücksichtigen, wonach 1989 in der Kunstbranche bzw. allgemein nicht bekannt gewesen sei, dass aus der Sowjetunion geschmuggelte Kunst in der Regel geraubt oder sonst wie dem Eigentümer abhandengekommen sei, während nach heutigem Wissensstand eine solche Vermutung naheliege. Ebenso ist in diesem Rahmen der auf ein Gutachten gestützte Schluss des Obergerichts zu würdigen, wonach Provenienzabklärungen 1989 zwar üblich gewesen seien, sie sich aber auf die Echtheit und allfällige renommierte Vorbesitzer des Kaufobjekts konzentriert hätten und sich ihr Inhalt erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Aufkommen der Raubkunstdiskussion auf die Klärung der Verfügungsberechtigung verschoben habe.
Der Beschwerdeführer greift die Feststellungen über das Erfahrungswissen im Jahre 1989 nicht inhaltlich an (zur Kritik an der Person des Gutachters unten E. 5.2.5), macht jedoch geltend, der Kunsthandel sei ganz allgemein ein Geschäftszweig im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, der dem Angebot von Waren zweifelhafter Herkunft und folglich mit Rechtsmängeln behafteter Sachen in besonderem Masse ausgesetzt sei. Das Obergericht hat jedoch keinen allgemeinen Erfahrungssatz angenommen, dass der spezifische, in Frage stehende Markt (Verkauf von Werken der klassischen Moderne aus der Sowjetunion im Westen vor der Wende) in besonderem Masse dem Angebot von Waren zweifelhafter Herkunft ausgesetzt sei, sondern die Vorinstanzen haben sich für die Abklärung dieser Frage auf ein Gutachten stützen müssen, welches zum Schluss gekommen ist, dass dies - nach damaligem Kenntnisstand - nicht der Fall gewesen sei. Insoweit geht es nicht um einen Schluss aus der allgemeinen Lebenserfahrung, der für das Bundesgericht frei
BGE 139 III 305 S. 315
überprüfbar wäre (
BGE 130 III 182
E. 5.5.2 S. 192 mit Hinweisen), sondern um Beweiswürdigung (vgl. zur Abgrenzung HANS PETER WALTER, in: Berner Kommentar, 2012, N. 99 ff. zu
Art. 8 ZGB
). Dieses Vorgehen ist nicht zu beanstanden. Ob nach heutigem Kenntnisstand ein entsprechender allgemeiner Erfahrungssatz für Teile des Kunsthandels aufgestellt werden müsste, braucht nicht beurteilt zu werden (vgl. dazu REGULA BERGER-RÖTHLISBERGER, Sorgfalt bei der Übertragung und beim Erwerb von Kulturgütern, 2009, S. 148 f.; CHARLOTTE WIESER, Gutgläubiger Fahrniserwerb und Besitzesrechtsklage, 2004, S. 96 f.).
5.2.2
Zur Person des Beschwerdegegners hat das Obergericht festgehalten, er sei zwar kein Kunsthändler, aber ein angesehener Kunstsammler und Inhaber einer bedeutenden Sammlung moderner Kunst. Daraus hat das Obergericht zu Recht abgeleitet, er sei als mit der Kunstbranche vertraut zu betrachten. Entgegen dem, was der Beschwerdegegner vorbringt, ist seine Branchenvertrautheit für die an ihn zu stellenden Sorgfaltsanforderungen von Bedeutung, ohne dass es dabei darauf ankommt, ob er Kunsthändler ist oder nicht (vgl. oben E. 3.2 am Ende).
5.2.3
Aus dem Gesagten folgt, dass zwar - nach damaligem Kenntnisstand - kein Markt vorlag, auf dem in erhöhtem Masse mit zweifelhaften Gegenständen gerechnet werden musste. Für die Frage, ob dem Beschwerdegegner Verdachtsgründe erkennbar waren, ist jedoch seine Branchenvertrautheit zu berücksichtigen. Es ist demnach zu untersuchen, ob ihm die nachgewiesenen Umstände Anlass zu entsprechendem Verdacht hätten sein müssen.
5.2.4
Für diese Beurteilung von entscheidender Bedeutung ist die Warnung von H., dass sich ein gestohlenes Bild von Malewitsch auf dem Markt befinde. Darin könnte ein Umstand liegen, der den Beschwerdegegner zu weiteren Vorsichtsmassnahmen hätte veranlassen müssen.
Dabei ist eine vom Bundesgericht nur unter Willkürgesichtspunkten zu prüfende Tatfrage (
Art. 97 Abs. 1 BGG
), was H. dem Beschwerdegegner gesagt und was der Beschwerdegegner effektiv verstanden hat; hingegen ist eine frei zu prüfende Rechtsfrage, wie er ihre Aussagen verstehen durfte und musste und welche Bedeutung die festgestellten Aussagen für die nach
Art. 3 Abs. 2 ZGB
massgeblichen Umstände und seinen guten Glauben aufweisen.
BGE 139 III 305 S. 316
Zunächst ist auf die Verwertbarkeit der Aussagen von H., ihre Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen einzugehen. Das Obergericht und das Bezirksgericht, auf dessen Ausführungen das Obergericht verweist, haben sich zu diesen Themen einlässlich geäussert. Beide Instanzen gingen davon aus, es bestehe kein Grund zur Annahme, dass H. aufgrund ihrer vorprozessualen Befragung im Jahre 2002 (pre-trial discovery des US-amerikanischen Rechts) anlässlich der nachfolgenden, rechtshilfeweisen Einvernahme im Jahre 2009, auf die es entscheidend ankomme, nicht mehr frei und unbefangen geantwortet hätte. Das Obergericht berücksichtigte zudem, dass auch weitere vorprozessuale Kontakte zwischen dem Beschwerdeführer und H. aktenkundig seien. Ihre Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage sah das Obergericht jedoch nicht beeinträchtigt. Insbesondere wies es darauf hin, dass H. auch auf eindringliches Befragen hin gegenüber ihrer spontanen Aussage keine relevanten Zugeständnisse gemacht habe und dass ihre Aussagen hinsichtlich der Mitteilung eines Gerüchts einheitlich seien, auch wenn sich in ihren Aussagen im Übrigen Widersprüche fänden. Der Beschwerdegegner hält ihre Aussagen wegen der Kontakte des Beschwerdeführers zu ihr nach wie vor für unverwertbar und sie seien auch widersprüchlich. Auch unter Beachtung der Vorbringen in der Beschwerdeantwort besteht jedoch kein Anlass, auf die Frage der Verwertbarkeit und der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit zurückzukommen. Es ist insbesondere weder ersichtlich, dass die Vorinstanz § 148 der Zürcher Zivilprozessordnung vom 13. Juni 1976 (ehemals LS 271) betreffend freie Beweiswürdigung willkürlich angewandt hätte noch dass sich das Obergericht bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von unhaltbaren Kriterien leiten liess.
Aufgrund der vorinstanzlichen Beweiswürdigung steht fest, dass H. den Beschwerdegegner im Zusammenhang mit der Mitteilung ihres Prüfberichts (über die Echtheit des Gemäldes) über ein Gerücht informierte, dass sich auf dem Markt ein gestohlenes Malewitsch-Bild befinde. Die Behauptung des Beschwerdegegners mag zwar zutreffen, dass er (der Beschwerdegegner) vor Gericht zu Protokoll gegeben habe, von H. kein solches Gerücht vernommen zu haben, doch lässt dies die gegenteilige obergerichtliche Beweiswürdigung nicht als willkürlich erscheinen. Das Obergericht hat weiter erwogen, es sei allerdings nicht erstellt, dass H. das Gerücht klar auf das Bild "Diener mit Samowar" bezogen habe oder dass sie den Beschwerdegegner darauf hingewiesen oder ihm einen Rat gegeben
BGE 139 III 305 S. 317
habe. Der Beschwerdeführer rügt dies als willkürlich und verweist auf zahlreiche Belegstellen aus der Einvernahme vom 11. August 2009.
Eine Sachverhaltsergänzung und Behandlung der verschiedenen zitierten Belegstellen erweist sich als unnötig. Bereits auf Grundlage des vom Obergericht festgestellten Sachverhalts lässt sich die Rechtsfrage behandeln, wie der Beschwerdegegner die Äusserung von H. verstehen durfte und musste. Vorauszuschicken ist, dass der Beschwerdeführer nicht bestreitet, dass H. dem Beschwerdegegner keinen ausdrücklichen Rat gab, z.B. Recherchen zu betreiben oder vom Kauf Abstand zu nehmen. Zu prüfen ist, ob die Mitteilung des Gerüchts, dass sich auf dem Markt ein gestohlenes Gemälde von Malewitsch befinde, ernsthaft und konkret genug war, um beim Beschwerdegegner einen hinreichenden Verdacht zu wecken und ihn zu verstärkter Vorsicht anzuhalten, d.h. ob er auch von sich aus, gestützt auf den allgemein gehaltenen Hinweis durch H., darauf hätte schliessen sollen, dass es sich beim Bild "Diener mit Samowar" um das gestohlene Gemälde handeln könnte. Dazu ist von Bedeutung, dass er das Gerücht nicht aus irgendeiner Quelle vernommen hat, sondern von einer Kunstexpertin, die er als seine Vertrauensperson zur Prüfung der Echtheit des Gemäldes "Diener mit Samowar" ausgesucht hatte. Sie erwähnte das Gerücht auch nicht irgendwann, sondern im Rahmen einer Beratung über ein konkretes Gemälde von Malewitsch. Insoweit durfte und musste der Beschwerdegegner davon ausgehen, dass sie ihm nicht irgendwelche unhaltbaren Gerüchte erzählen wird, die mit dem Gegenstand ihres Gesprächs nichts zu tun haben, sondern mit der Information einen Zweck verfolgte und sie selber der Meinung war, dass das fragliche Bild Gegenstand des Gerüchts sein könnte. Wäre sie nicht dieser Auffassung gewesen, so hätte sie keinen Anlass gehabt, ihm das Gerücht überhaupt mitzuteilen, oder dann nur in dem Sinne, dass zwar ein Gerücht zirkuliere, er sich davon aber keinesfalls verunsichern lassen solle, da es aus diesem oder jenem Grunde ausgeschlossen sei, dass das Bild "Diener mit Samowar" gemeint sei. Ein Bezug zwischen der Mitteilung des Gerüchts und dem streitgegenständlichen Bild ergibt sich somit ohne weiteres aus den Umständen. Dies gilt umso mehr, als es nach den obergerichtlichen Feststellungen selten war, dass ein Originalgemälde von Malewitsch auf dem Markt angeboten wurde. Das Gerücht konnte sich demnach nicht ebenso gut auf unzählige andere Werke Malewitschs beziehen,
BGE 139 III 305 S. 318
die gerade im Handel waren. Folglich lagen genügend konkrete Verdachtsmomente vor, die den Beschwerdegegner zu weiteren Abklärungen hätten veranlassen müssen.
5.2.5
Bei diesem Ergebnis ist nicht nötig, im Einzelnen auf die ausufernde Kritik des Beschwerdeführers am angefochtenen Urteil und seinen Versuch einzugehen, zahlreiche weitere Umstände ebenfalls als Verdachtselemente hinzustellen. Umgekehrt vermögen diese Nebenumstände allerdings auch nicht, den durch das Gerücht entstandenen Verdacht von vornherein zu entkräften. Auf diese Umstände und die entsprechenden Rügen ist nachfolgend insoweit einzugehen, wie zur Darstellung der Gesamtzusammenhänge geboten:
Die Vorinstanz hat kein Verdachtsmoment darin gesehen, dass D. als Kommissionärin handelte und dem Beschwerdegegner die Identität des wahren Veräusserers unbekannt blieb. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist diese Beurteilung nicht zu beanstanden. Die Schlussfolgerung basiert auf der vorinstanzlichen Tatsachenfeststellung, dass dies im Kunsthandel 1989 üblich war, und diese Feststellung stützt sich auf die Aussage von L. als Zeuge und auf ein Gutachten. Der Beschwerdeführer erachtet das Abstellen auf das Gutachten als willkürlich, da der Gutachter aufgrund seines Alters (Jahrgang 1970) kein eigenes Erfahrungswissen über den Kunsthandel im Jahre 1989 gehabt habe und sich deshalb auf Literaturrecherchen stützen musste. Mit diesem Einwand hat sich das Bezirksgericht bereits in seinem Zirkulationsbeschluss vom 31. August 2009 befasst. Es hat ausgeführt, dies schliesse nicht aus, dass er anderweitig die nötigen Kenntnisse habe. So ergebe sich aus den Publikationen des Gutachters eine vertiefte Beschäftigung mit dem Kunsthandel der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit. Das Obergericht hat ergänzt, als Direktor eines Auktionshauses sei der Gutachter prädestiniert zur Beantwortung von Fragen, was im Kunsthandel üblich gewesen sei. Diese Überlegungen halten vor Bundesrecht stand, abgesehen davon, dass das Gutachterergebnis auch durch die Aussage von L. gestützt wird, die der Beschwerdeführer nicht angreift.
Anlass zu Verdacht sieht der Beschwerdeführer auch im damaligen Zustand des Gemäldes. Da das Obergericht zwar ausgeführt hat, der Zustand des Bildes sei schlecht gewesen, aber nicht näher erläutert hat, inwiefern der Zustand des Bildes schlecht gewesen ist, und auch der Beschwerdeführer dies nicht tut, kann er daraus auch nicht ableiten, dass kein redlicher Verkäufer ein solches Werk in einem
BGE 139 III 305 S. 319
derart schlechten Zustand anbieten würde. Entgegen seinen Behauptungen ergibt sich weder aus dem Ergänzungsgutachten, dass das Bild aus dem Rahmen geschnitten war, noch hat der Beschwerdegegner solches zugestanden, denn die vom Beschwerdeführer zitierte Aussage hat der Beschwerdegegner bereits wenig später relativiert, worauf bereits das Bezirksgericht hingewiesen hat. Auch aus der Lagerung in einem Safe kann nicht ohne weiteres gegen die Seriosität des Verkäufers geschlossen werden. Dass die Bedingungen dort nicht ideal waren, mag zutreffen oder nicht, stellt aber jedenfalls eine unbelegte Tatsachenbehauptung dar.
Auch die Einwände gegen D. und ihre Galerie überzeugen nicht. Inwieweit die finanziellen Probleme von D. dem Beschwerdegegner zum damaligen Zeitpunkt bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, legt der Beschwerdeführer nicht dar, so dass er auch daraus nichts ableiten kann. Es ist an dieser Stelle daran zu erinnern, dass sich der gute Glaube auf den Kaufzeitpunkt bezieht und nicht darauf, welche zusätzlichen Umstände im Nachhinein allenfalls bekannt oder erkennbar werden. Wenn der Beschwerdeführer zudem geltend macht, die Galerie sei nicht auf russische Avantgarde spezialisiert gewesen und der Verkaufspreis des Bildes "Diener mit Samowar" sei weit höher als derjenige bisher verkaufter Werke, so unterstellt er damit - selbst wenn die Behauptungen zutreffen sollten - jede Erweiterung des Geschäftsfelds einem unzulässigen Pauschalverdacht.
Auch die Kenntnis um die illegale Ausfuhr aus der Sowjetunion ist kein Verdachtsmoment, dies wenigstens dann nicht, wenn eine legale Ausfuhr - wie vorliegend - auch für den Berechtigten nicht möglich wäre (vgl.
BGE 131 III 418
E. 2.4.4 S. 423 ff.;
BGE 123 II 134
E. 6 S. 141 f.; Urteil 5C.16/1998 vom 28. Mai 1998 E. 4.d/cc, in: SJ 1999 I S. 1).
Nach wie vor macht der Beschwerdeführer geltend, das Gemälde sei zu einem auffällig tiefen Preis verkauft worden. Er will auf ein Privatgutachten abstellen, das den damaligen Wert auf 4 bis 5 Mio. USD veranschlagt, übergeht aber die zutreffende vorinstanzliche Auffassung, dass es sich dabei nicht um ein Beweismittel handle (vgl.
BGE 132 III 83
E. 3.5 S. 88). Soweit er nach wie vor das Gerichtsgutachten zu dieser Frage in Zweifel zieht und dessen Vollständigkeit, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit bestreitet, so ist daran zu erinnern, dass sich bereits das Bezirksgericht (auf dessen
BGE 139 III 305 S. 320
Erwägungen das Obergericht verweist) mit entsprechenden Einwänden befasst und begründet hat, weshalb nach Einholung des Ergänzungsgutachtens dennoch der Schätzung des Gerichtsgutachters gefolgt werden könne. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass die gerichtliche Begründung den Anforderungen von
Art. 29 Abs. 2 BV
(Begründungspflicht als Teilgehalt des rechtlichen Gehörs) nicht genügt. Dies ist nicht der Fall, denn das Bezirksgericht hat dargelegt, wieso es das Ergänzungsgutachten für genügend begründet hält, nämlich deshalb, weil dem Gericht plausibel gemacht worden sei, woraus der Gutachter seine Schlüsse gezogen habe. Es ist nicht nötig, dass es die Begründung des Gutachters im Urteil noch einmal wiedergibt (vgl. zu den Begründungsanforderungen
BGE 134 I 83
E. 4.1 S. 88). Das Obergericht ist auch deshalb davon ausgegangen, dass der Kaufpreis des Bildes nicht auffällig tief gewesen sei, weil zuvor vorgesehen war, dass K. es zu einem Preis von 1 Mio. USD kaufe. Der Beschwerdeführer bestreitet dies mit einem Hinweis auf eine protokollierte Aussage von D., wonach nicht K. diesen Preis offeriert habe, sondern der anonyme Veräusserer ihn verlangt habe, womit daraus für den wahren Wert nichts abgeleitet werden könne. Das Bezirksgericht hat allerdings festgestellt, dass K. diesen Preis offeriert habe. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, er habe diese Tatsachenfeststellung bereits vor Obergericht angefochten. Selbst wenn die Behauptung des Beschwerdeführers zutreffen würde, ändert dies allerdings nichts daran, dass für die Schätzung - ohne in Willkür zu verfallen - auf das Gutachten abgestellt werden durfte.
Auf die Frage, wie die Absage von K. zu werten ist, wird im Zusammenhang mit den vom Beschwerdegegner getroffenen Vorsichtsmassnahmen einzugehen sein (unten E. 5.3.2).
5.2.6
Der vorinstanzlichen Auffassung, in den festgestellten Umständen des Kaufs weder einzeln noch gesamthaft einen Anlass zu Misstrauen in die Verfügungsberechtigung des Veräusserers zu sehen, kann demnach nicht gefolgt werden. Die Mitteilung des Gerüchts durch H. musste dem Beschwerdegegner bereits genügend Anstoss zu entsprechenden Vorsichtsmassnahmen sein, auch wenn die übrigen festgestellten Umstände keine weiteren Verdachtsmomente darstellen (vgl. zur Absage von K. allerdings noch unten E. 5.3.2).
5.3
Demnach ist nachfolgend auf die vom Beschwerdegegner getroffenen Vorsichtsmassnahmen einzugehen und zu untersuchen, ob sie
BGE 139 III 305 S. 321
angesichts des im Raum stehenden Verdachts als genügend erachtet werden können. Der Beschwerdeführer hält die ergriffenen Massnahmen für ungenügend und sieht in ihren Ergebnissen teilweise sogar Anlass zu weiterem Misstrauen.
5.3.1
Das Obergericht hat dem Beschwerdegegner als Vorsichtsmassnahme angerechnet, dass er zwei Bestätigungen von D. erhalten hat: Zunächst hat sie J. von der Galerie I., die für den Beschwerdegegner angefragt hatte, bestätigt, dass ihr der aktuelle Eigentümer des Bildes zugesichert habe, der einzige und alleinige Besitzer des Bildes zu sein und dass dieser Besitzer das Bild seit Jahren in den Safes derselben Bank aufbewahre, und dass der Besitzer der Bank folglich seit Jahren bekannt sei. Im Kaufvertrag garantierte D. zudem, dass sie als Verkäuferin berechtigt und in der Lage sei, das Eigentum am Bild rechtmässig gemäss
Art. 641 ff. ZGB
zu übertragen. Der Beschwerdeführer sieht in der zweifachen Bestätigung eine Überbetonung der Verfügungsberechtigung und damit ein weiteres Verdachtselement. Die Glaubwürdigkeit der Bestätigungen sei zudem gering, da D. aufgrund ihrer finanziellen Schwierigkeiten und der anfallenden Verkaufsprovision ein Interesse an der Durchführung des Verkaufs gehabt habe.
Es ist zwar denkbar, dass im Einzelfall eine Überbetonung der Verfügungsberechtigung verdächtig sein kann (STARK, a.a.O., N. 52a zu
Art. 933 ZGB
). Eine solche liegt jedoch nicht vor, zumal D. die separate Bestätigung nach den unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanz gerade auf indirekte Anfrage des Beschwerdegegners (über J. von der Galerie I.) verfasst hatte. Zugleich sind die Bestätigungen aber nicht geeignet, die Zweifel zu zerstreuen, die der Beschwerdegegner nach Kenntnisnahme des Gerüchts haben musste. Dazu sind sie zu rudimentär und unbestimmt und sie erschöpfen sich in unbelegten und in für den Beschwerdegegner nicht nachprüfbaren Behauptungen von D. oder des hinter ihr stehenden, anonym bleibenden Verkäufers, dessen Angaben von D. übernommen wurden. Auch wenn D. von der Richtigkeit ihrer Bestätigungen ausgegangen sein sollte, ändert dies nichts daran, dass sich der Beschwerdegegner mit ihnen nicht zufrieden geben durfte.
5.3.2
Als weitere Vorsichtsmassnahme hat das Obergericht dem Beschwerdegegner angerechnet, dass er mit L., dem damaligen Leiter von K. Schweiz, Kontakt aufgenommen habe, nachdem er erfahren hatte, dass K. die Aufnahme des Bildes in eine Auktion abgelehnt
BGE 139 III 305 S. 322
hatte. Das Auktionshaus habe vom Kauf abgesehen, weil die sowjetischen Behörden aufgrund der illegalen Ausfuhr des Bildes diesen nicht bewilligen könnten und K. die guten Kontakte zur Sowjetunion nicht habe gefährden wollen. Damit habe für den Beschwerdegegner eine nachvollziehbare Erklärung für den Rücktritt von K. von der Kaufzusicherung vorgelegen.
Der Beschwerdeführer kritisiert zu Recht die vorinstanzliche Schlussfolgerung, der Beschwerdegegner habe eine nachvollziehbare Erklärung (nämlich die Opposition der sowjetischen Botschaft wegen der illegalen Ausfuhr) für den Rücktritt von K. vom Kauf des Gemäldes erhalten. Die Vorinstanz hat nämlich selber festgestellt, dass der damalige Leiter von K. Schweiz, L., zwar bestätigen könne, dass er einmal ein Gespräch mit dem Beschwerdegegner über ein Malewitsch-Bild geführt habe. An den Zeitpunkt und an den genauen Inhalt konnte er sich aber nicht erinnern.
Zwar durfte die Vorinstanz angesichts der im Recht liegenden Akten ohne Willkür zum Schluss kommen, dass K. den Kauf aus den genannten Gründen abgelehnt hatte, nämlich weil sich die sowjetischen Behörden aufgrund der illegalen Ausfuhr dem Geschäft widersetzten und K. die guten Kontakte zur Sowjetunion erhalten wollte. Da über den Zeitpunkt und den Inhalt des Gesprächs zwischen L. und dem Beschwerdegegner nichts Genaueres bekannt ist, kann es jedoch nicht als Vorsichtsmassnahme gewertet werden. Selbst wenn der Beschwerdegegner die genannte Auskunft über die Gründe für den Rückzug von K. noch vor dem Erwerb erhalten haben sollte, so wäre damit hinsichtlich des Gerüchts, dass sich ein gestohlenes Bild von Malewitsch auf dem Markt befinde, weder in die eine noch in die andere Richtung etwas gewonnen. Die angebliche Auskunft hätte einzig das zusätzliche Verdachtsmoment entkräftet, das durch den Rückzug eines renommierten Auktionshauses vom Kauf bzw. der Aufnahme des Gemäldes in eine Auktion entstehen musste. Zwar erwähnt das Obergericht die Aussage von L., dass er nicht gewusst habe, dass das Bild gestohlen gewesen sei. Dass auch dies Gegenstand des Gesprächs mit dem Beschwerdegegner gewesen sei bzw. dass Letzterer L. auf das Gerücht angesprochen hätte, hat die Vorinstanz nicht festgestellt.
5.3.3
Zu einer Anfrage des Beschwerdegegners bei Interpol hat das Obergericht Folgendes erwogen: Im Beweisverfahren sei nicht geklärt worden, ob sich der Beschwerdegegner vor dem Kauf
BGE 139 III 305 S. 323
bestätigen liess, dass bei Interpol keine Informationen über das Bild vorliegen. Auf die Abklärung im Beweisverfahren sei verzichtet worden, da der Beschwerdeführer davon ausgehe, eine solche Anfrage wäre wertlos gewesen, da Russland (recte wohl: die Sowjetunion) 1989 noch nicht Mitglied von Interpol gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe allerdings nicht bestritten, dass der Beschwerdegegner bei Interpol angefragt habe. Im Übrigen hätten schriftliche Anfragen des Bezirksgerichts beim Bundesamt für Polizei ergeben, dass das fragliche Gemälde 1989 weder bei Interpol noch im Art Loss Register verzeichnet gewesen sei.
Es erübrigt sich, auf diese nicht restlos klaren und vor Bundesgericht von beiden Parteien bestrittenen Ausführungen einzugehen. Selbst wenn man davon ausgehen sollte, dass es sich bei einer Anfrage an Interpol um ein grundsätzlich taugliches Abklärungsmittel gehandelt hätte, so wäre diese Massnahme nach Erhalt eines negativen Ergebnisses für sich allein ungenügend gewesen, um das Gerücht als widerlegt erachten zu dürfen, denn es kann verschiedenste Gründe geben, wieso das Gemälde bei Interpol nicht verzeichnet war.
5.3.4
Der Beschwerdegegner hatte ausserdem vorgebracht, D. habe vor dem Verkauf bei der sowjetischen Botschaft telefonisch Erkundigungen über das Bild eingeholt und dabei keine Hinweise auf einen Rechtsmangel erhalten. Das Obergericht ist zum Schluss gekommen, der Nachweis für diese Anfrage und die entsprechende Antwort habe nicht erbracht werden können. Der Beschwerdegegner wirft dem Obergericht diesbezüglich Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung vor. Er beschränkt sich aber darauf, die vom Obergericht herangezogenen Beweismittel und Umstände aus eigener Sicht zu würdigen. Unter Willkürgesichtspunkten ist jedoch nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht nicht auf die Aussage von D. abgestellt hat, weil sie nicht mehr sagen konnte, mit wem sie gesprochen haben will, und weil sie am Ausgang des Verfahrens ein Eigeninteresse haben könnte. Ebenso wenig ist zu beanstanden, wenn es die schriftliche Bestätigung des Gesprächs als wenig verlässlich bezeichnet hat, woran auch nichts ändert, wenn auf dem Schriftstück ein Datum - entgegen der obergerichtlichen Feststellung - teilweise leserlich sein sollte. Soweit der Beschwerdegegner zudem geltend macht, der Sachverhalt sei gar nicht rechtzeitig bestritten worden, beschlägt diese Frage kantonales Recht, dessen Verletzung allerdings nicht substantiiert gerügt wird.
BGE 139 III 305 S. 324
Das Obergericht hat des Weiteren ausgeführt, es lasse sich nicht erstellen, dass eine Erkundigung bei der sowjetischen Botschaft in Bern die deliktische Herkunft des Bildes ans Tageslicht gebracht hätte. Dass sowjetische Behörden aufgrund der ergangenen Strafurteile um den Diebstahl wussten, bedeute nicht, dass die Botschaft dieses Wissen auch gehabt habe. Dies wird vom Beschwerdeführer als willkürlich gerügt. Wenn er davon ausgeht, der Kulturattaché der Botschaft, M., habe über das Bild "Bescheid gewusst" und er (der Beschwerdeführer) sich dazu erneut auf die Korrespondenz von K. stützt (vgl. oben E. 5.3.2), so interpretiert er diese bloss in seinem Sinne, was keine Willkür belegt. Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, selbst wenn die Botschaft keine Kenntnis vom Diebstahl gehabt haben sollte, so wären ihr die erforderlichen Kanäle offengestanden, um Nachforschungen anzustellen. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, rechtzeitig Entsprechendes vor den Vorinstanzen behauptet zu haben, zumal es nicht als notorisch gelten kann, dass jede Botschaft in ihrem Heimatland jede beliebige Information erhältlich machen kann. Zudem ist wenig einsichtig, weshalb sie dazu überhaupt hätte Hand bieten sollen, nachdem sie sich ja bereits wegen der illegalen Ausfuhr einem Verkauf im Ausland widersetzt hatte (oben E. 5.3.2).
5.3.5
Daraus ergibt sich, dass der Beschwerdegegner angesichts des im Raume stehenden Gerüchts, das er ernst nehmen musste, zu wenige Vorsichtsmassnahmen ergriffen hat, die zur Abklärung des Wahrheitsgehalts des Gerüchts tauglich erschienen. Bevor daraus Konsequenzen für den guten Glauben gezogen werden können, muss jedoch untersucht werden, ob es überhaupt taugliche und zumutbare Nachforschungsmöglichkeiten gegeben hätte. Darauf ist nachfolgend einzugehen.
5.4
5.4.1
Das Obergericht hat verneint, dass es entsprechende Massnahmen gegeben hätte, die der Beschwerdegegner hätte ergreifen müssen.
Zunächst sei es nicht der Fall, dass der Beschwerdegegner bei H. nicht nur die Echtheit, sondern auch die Provenienz des Bildes hätte abklären müssen. H. habe in ihrer Zeugenaussage zwar einige mögliche Malewitsch-Sachverständige genannt. Ihrer Aussage lasse sich aber nicht entnehmen, was sie bei einem Auftrag zur Provenienzabklärung konkret unternommen und welche Personen sie befragt hätte. Sie habe auch nicht sagen können, welchen Kenntnisstand die
BGE 139 III 305 S. 325
von ihr genannten Personen gehabt hätten. Es bleibe somit unklar, ob sie zu weiteren Erkenntnissen gelangt wäre.
Das Obergericht ist sodann auf die Aussage einer weiteren Zeugin eingegangen, nämlich von N., einer Kennerin von Malewitsch und der russischen Avantgarde. Sie habe erklärt, dass sie vom Diebstahl gewusst habe und dass der Diebstahl in russischen Zeitungen ca. 1978 erwähnt worden und in Expertenkreisen bekannt gewesen sei. Gemäss ihrer Einschätzung hätte der Beschwerdegegner vom Diebstahl erfahren, wenn er sich an sie gewandt hätte. Das Obergericht hat jedoch erwogen, angesichts der vom Beschwerdegegner bereits getroffenen Massnahmen und angesichts der im Jahre 1989 eingeschränkten Möglichkeiten im Rahmen von Interpol und Registersuche sei davon auszugehen, dass vom Beschwerdegegner eine Kontaktaufnahme mit der ihm unbekannten N. nicht erwartet werden konnte und ausserhalb seiner Sorgfaltspflichten lag. Auch nicht ersichtlich sei, wie sich der Beschwerdegegner über die russischen Zeitungsberichte von 1978 oder bei Experten im Osten hätte erkundigen können.
Umstritten war schliesslich auch, ob der Zürcher Galerist O. vom Diebstahl wusste. Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, dass H. das Gerücht über den Diebstahl von ihm gehört habe und dass sein Name dem Beschwerdegegner gegenüber erwähnt worden sei, so dass eine Nachfrage bei ihm den Diebstahl ans Licht gebracht hätte. Das Obergericht hat dazu erwogen, Entsprechendes sei vom Beschwerdeführer zu spät behauptet worden. Ergänzend hat es festgehalten, dass die Aussagen von H. insoweit widersprüchlich seien, da sie in der ersten Befragung (2002) erklärt habe, nicht zu wissen, woher sie vom Gerücht erfahren habe, und erst in der zweiten Befragung (2009) den Namen O. erwähnt habe.
5.4.2
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darf aus der Unterlassung von Nachforschungen nur dann das Fehlen des guten Glaubens abgeleitet werden, wenn die betreffenden Vorkehren voraussichtlich zur Entdeckung des mangelnden Verfügungsrechts des Veräusserers geführt hätten (vgl.
BGE 100 II 8
E. 4b S. 16;
BGE 122 III 1
E. 2a S. 3;
BGE 131 III 418
E. 2.3.4 S. 423; STARK, a.a.O., N. 51 zu
Art. 933 ZGB
). Dies ist dahin gehend zu verstehen, dass die in Betracht fallende Nachforschungsmassnahme objektiv geeignet sein muss, den Mangel in der Verfügungsbefugnis zu entdecken (SIBYLLE HOFER, in: Berner Kommentar, 2012, N. 122 f. zu
Art. 3 ZGB
).
BGE 139 III 305 S. 326
5.4.3
Vorliegend steht die Frage im Vordergrund, ob der Beschwerdegegner H. oder andere Experten mit weitergehenden Abklärungen hätte betrauen müssen.
Dies ist entgegen der Beurteilung des Obergerichts der Fall. Nachdem der Beschwerdegegner von H., die er selber als Kunstexpertin beigezogen hatte, von einem Gerücht über ein sich angeblich auf dem Markt befindliches, gestohlenes Bild von Malewitsch vernommen hatte, wäre kaum eine Massnahme näher gelegen, als H. oder eine andere sachverständige Person um nähere Auskunft über dieses Gerücht bzw. um entsprechende Recherchen zu bitten. Dabei ist nicht von Belang, welche konkreten Massnahmen H. getroffen hätte; über diese kann im Nachhinein ohnehin nur spekuliert werden. Es spielt auch keine Rolle, dass er N. (eine Expertin, welcher der Diebstahl nachgewiesenermassen bekannt war) nicht kannte. Es genügt, dass zum damaligen Zeitpunkt aus objektiver Sicht der Beizug eines oder mehrerer Experten eine geeignete (wenn nicht sogar die am besten geeignete) und zumutbare Massnahme gewesen wäre, um Näheres über dieses Gerücht und allfällige Mängel der Verfügungsbefugnis des Veräusserers zu erfahren. Dabei war dem Beschwerdegegner zumindest H. als Expertin bekannt, die ihn - falls sie einen entsprechenden Auftrag nicht hätte selber erledigen oder der Beschwerdegegner jemand anderes damit hätte betrauen wollen - ohne weiteres an weitere Experten hätte verweisen können, soweit er solche als Kunstsammler nicht ohnehin kannte. Auf das hypothetische Ergebnis solcher Nachforschungen kommt es hingegen insofern nicht an, als es durchaus sein kann, dass die Nachforschungen das Gerücht und dessen Bezug auf das Bild "Diener mit Samowar" nicht erhärtet hätten. Der Beschwerdegegner hätte sich dann auf diese Auskünfte verlassen dürfen, selbst wenn sie objektiv falsch gewesen wären. Hätten sich seine Bedenken deswegen zerstreut und auch zerstreuen dürfen, so wäre sein guter Glaube zu schützen gewesen, da er alle gebotene Sorgfalt zur Abklärung des Gerüchts aufgewendet hätte. Hätte sich hingegen herausgestellt, dass sich das Gerücht tatsächlich auf das Bild "Diener mit Samowar" bezieht, so hätte der Beschwerdegegner - wenn er unter diesen Umständen nicht vom Kauf Abstand nehmen wollte - einen konkreten Nachweis dafür verlangen müssen, dass der Veräusserer trotz des früheren Diebstahls des Werks verfügungsberechtigt ist (z.B. durch gutgläubigen Erwerb im Ausland).
BGE 139 III 305 S. 327
Dass der Beschwerdegegner diese als geeignet erscheinende und zumutbare Massnahme nicht ergriffen hat, muss dazu führen, dass er sich nicht auf seinen guten Glauben berufen kann. Die Beschwerde ist insoweit gutzuheissen.
5.5
Allerdings kann das Bundesgericht derzeit nicht in der Sache selbst entscheiden. Vielmehr ist die Angelegenheit an das Obergericht zurückzuweisen (
Art. 107 Abs. 2 BGG
). Das Obergericht wird sich zur Frage der Nichtberechtigung des Veräusserers (oben E. 4.2) zu äussern haben und zu allfälligen Einreden gemäss
Art. 936 Abs. 2 ZGB
(oben E. 4.1), sofern diese ordnungsgemäss in den kantonalen Prozess eingeführt worden sein sollten. | null | nan | de | 2,013 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb035a38-701a-4047-bf4f-61b5774a84f0 | Urteilskopf
108 V 73
20. Extrait de l'arrêt du 18 juin 1982 dans la cause Office fédéral des assurances sociales contre Perseu et Tribunal des assurances du canton de Vaud | Regeste
Art. 7 lit. b und 8 lit. d des schweizerisch-italienischen Abkommens vom 14. Dezember 1962. Der massgebende Zeitpunkt für die Prüfung der Frage, ob die Voraussetzung des ununterbrochenen Aufenthaltes in der Schweiz während mindestens fünf Jahren erfüllt ist, darf nicht auf das Datum, an welchem das Gesuch eingereicht wurde, noch auf jenes, an welchem der Versicherungsfall eintrat, festgesetzt werden, sondern auf den Tag, an welchem der Rentenanspruch tatsächlich entstanden ist. Die Frist von 5 Jahren wird vom Datum an, an welchem der Rentenanspruch des Versicherten beginnt, rückwirkend berechnet (Erw. 2).
Art. 35 Abs, 1 IVG und
Art. 22ter AHVG
. Erfüllt ein Versicherter die Voraussetzungen, welche ihm Anspruch auf eine ausserordentliche Invalidenrente gewähren, so erfüllt er sie ebenfalls für die dazugehörige Zusatzrente, gleichgültig, wo sich das Kind tatsächlich aufhält (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 74
BGE 108 V 73 S. 74
A.-
Marisa Perseu, de nationalité italienne, domiciliée à Montreux, mariée, mère d'une fille mineure qui vit en Italie, a présenté le 22 février 1977 une demande à l'assurance-invalidité tendant à l'octroi d'une rente. Par décision du 28 février 1979, la Caisse cantonale vaudoise de compensation a accordé à l'assurée une demi-rente ordinaire simple pour les mois de mai et juin 1976, puis une demi-rente extraordinaire simple dès le 1er juillet 1976, ainsi qu'une demi-rente complémentaire pour l'enfant Iole, également ordinaire pendant les deux premiers mois puis extraordinaire.
B.-
Marisa Perseu a recouru contre cet acte administratif. Alléguant une invalidité de 100%, elle concluait à l'octroi d'une rente entière. Par jugement du 9 avril 1980, le Tribunal des assurances du canton de Vaud a admis le recours. Il a considéré que l'incapacité de travail était de façon permanente supérieure aux deux tiers depuis juillet 1971 et que le droit théorique à une rente entière était né le 1er juin 1972. Toutefois, la demande n'ayant été déposée que le 22 février 1977, l'assurée n'avait droit à une rente que dès le 1er février 1976, en application de l'
art. 48 al. 2 LAI
. Celle-ci devait être servie sous la forme d'une rente ordinaire simple, assortie d'une rente complémentaire ordinaire pour l'enfant du 1er février au 30 juin 1976, puis sous la forme d'une rente extraordinaire simple et d'une rente complémentaire extraordinaire dès le 1er juillet 1976.
C.-
L'Office fédéral des assurances sociales interjette recours de droit administratif. Tout en admettant que l'intimée présente une invalidité supérieure aux deux tiers dont la survenance peut être fixée au 1er juin 1972, il conteste le droit de l'assurée à une rente extraordinaire avant le 1er juin 1980. En effet, il ressort du dossier que cette dernière a interrompu son séjour en Suisse du 15 janvier au 24 mai 1975, c'est-à-dire pour une durée supérieure à trois mois. Le délai de cinq ans prévu par le droit conventionnel italo-suisse doit, par conséquent, être calculé à partir du 25 mai 1975. Quant à la rente complémentaire pour l'enfant, du moment que celle-ci réside en Italie et non pas en Suisse, auprès de ses parents, il ne peut s'agir d'une rente extraordinaire mais uniquement d'une rente ordinaire.
L'intimée renonce à répondre et s'en remet à justice.
BGE 108 V 73 S. 75
Erwägungen
Extraits des considérants:
1.
(L'intimée a droit dès le 1er février 1976 à une rente entière.)
2.
Il n'est pas contesté que la rente ordinaire à laquelle peut prétendre l'intimée est inférieure à la rente extraordinaire et que c'est donc, en principe, cette dernière qui doit lui être allouée, pour autant que les autres conditions fixées par la loi soient remplies (
art. 39 LAI
et 42 LAVS).
La date à partir de laquelle la rente extraordinaire doit se substituer à la rente ordinaire est toutefois litigieuse. Alors que la caisse de compensation et les premiers juges l'ont fixée au 1er juillet 1976, le recourant estime que le droit à la rente extraordinaire n'a pu naître avant le 1er juin 1980.
a) Aux termes des
art. 7 let. b et 8 let
. d de la convention italo-suisse du 14 décembre 1962 relative à la sécurité sociale, les ressortissants italiens n'ont droit aux rentes extraordinaires de l'assurance-invalidité, en vertu de l'
art. 39 al. 1 LAI
, qu'aussi longtemps qu'ils conservent leur domicile en Suisse et si, immédiatement avant la date à partir de laquelle ils demandent la rente, ils ont résidé en Suisse de manière ininterrompue pendant cinq années entières au moins.
Il est établi que l'intimée remplit la première condition. Titulaire d'un permis d'établissement "C", elle était domiciliée en Suisse lors du dépôt de sa demande et l'est apparemment aujourd'hui encore.
En revanche, comme le fait valoir avec raison le recourant, la seconde condition, c'est-à-dire celle de la résidence ininterrompue en Suisse pendant cinq ans au moins, n'était pas remplie au moment déterminant. Celui-ci doit être fixé non pas à la date du dépôt de la demande, ni à celle de la survenance de l'événement assuré, mais au jour où le droit à la rente a effectivement pris naissance. En effet, la "date à partir de laquelle ils (les ressortissants italiens) demandent la rente" (von dem Zeitpunkt, von welchem an die Rente verlangt wird; da cui domandano la rendita) ne se confond pas avec le jour auquel la demande est présentée (
art. 67 RAI
), lequel est en revanche déterminant pour fixer l'étendue du droit dans le temps, en application de l'
art. 48 al. 2 LAI
. Elle n'est pas non plus celle de la survenance de l'événement assuré - en l'espèce la survenance de l'invalidité -
BGE 108 V 73 S. 76
c'est-à-dire le jour de la naissance théorique du droit à la rente. Dans la mesure où il paraît laisser entendre le contraire, le passage de l'arrêt publié aux ATFA 1968 p. 248 est erroné, car s'il est exact que l'art. 5 ch. 1 let. b de la convention italo-suisse du 17 octobre 1951 exigeait que le ressortissant italien prétendant des prestations de l'AVS ait habité en Suisse au total pendant dix ans au moins dont "cinq années immédiatement et de manière ininterrompue avant la réalisation de l'événement assuré", l'art. 7 let. b de la convention du 14 décembre 1962, en revanche, est rédigé différemment puisqu'il se réfère explicitement à la date à partir de laquelle la rente extraordinaire est demandée (cf. également FF 1963 I 635-636).
Il est toutefois évident que, sauf exception, un assuré qui requiert une prestation de l'AVS/AI et singulièrement une rente n'indique pas dans sa requête à partir de quelle date il souhaite l'obtenir. Il n'a d'ailleurs pas à le faire, l'initium du droit étant fixé d'office par l'administration dans sa décision. C'est pourquoi la seule date qu'on puisse prendre en considération pour fixer avec certitude l'échéance de la période quinquennale de résidence ininterrompue en Suisse, exigée par les
art. 7 let. b et 8 let
. d de la convention, est celle à partir de laquelle une rente d'invalidité peut être allouée à l'assuré italien. En l'espèce, comme on l'a vu, compte tenu de la date du dépôt de la demande, il s'agit du 1er février 1976.
Or, ainsi que cela ressort des pièces du dossier, l'intimée a quitté la Suisse pour retourner temporairement en Italie du 15 janvier au 24 mai 1975. Par conséquent, du moment qu'aux termes du ch. 10 du protocole final de la convention italo-suisse, seule une absence ne dépassant pas trois mois chaque année est réputée ne pas interrompre la durée de résidence exigée par les
art. 7 let. b et 8 let
. d, force est d'admettre que le 1er février 1976 l'intimée ne remplissait pas l'une des conditions auxquelles était subordonné son droit à une rente extraordinaire d'invalidité.
Si, en revanche, il est établi qu'à l'échéance du délai de cinq ans depuis son retour en Suisse, le 24 mai 1975, elle remplissait encore les conditions du droit à une rente extraordinaire sans limite de revenu (
art. 42 al. 2 let
. c LAVS), celle-ci se substituera à la rente ordinaire à partir du 1er juin 1980.
b) Pour leur part, les premiers juges ont considéré que le délai de cinq années entières au moins exigé par l'
art. 8 let
. d de la convention avait commencé à courir le 27 juin 1971, c'est-à-dire
BGE 108 V 73 S. 77
à la date à laquelle l'intimée, après avoir quitté la Suisse en prévision de la naissance de sa fille, survenue en octobre 1968, était revenue s'établir dans notre pays et qu'il était donc échu le 27 juin 1976, sans qu'il y ait lieu de tenir compte de l'interruption survenue entre le 15 janvier et le 24 mai 1975, au vu de la pratique administrative en la matière (ch. m. 609 des directives concernant les rentes). C'est pourquoi, de même que la caisse de compensation dans sa décision du 28 février 1979, ils ont reconnu à l'intimée un droit à la rente extraordinaire à partir du 1er juillet 1976.
Mais ce raisonnement est doublement erroné. D'une part, comme on l'a montré ci-dessus et ainsi que cela ressort clairement du texte de l'art. 7 let. b de la convention, le délai de cinq ans se calcule rétroactivement depuis la date à laquelle s'ouvre le droit de l'assuré à une rente; d'autre part, s'il est exact que la jurisprudence et la pratique administrative admettent que dans certains cas le bénéficiaire d'une rente extraordinaire qui réside temporairement hors de Suisse, même pour une durée supérieure à trois mois, ne perd pas son droit, cela ne concerne que les conditions du maintien de ce droit et non pas celles de sa naissance (v. par exemple
ATF 105 V 168
; arrêts non publiés Bregani du 5 juin 1975 et Geymet du 1er décembre 1967).
En conclusion, le recours de l'Office fédéral des assurances sociales est bien fondé sur ce premier point. La caisse de compensation devra, par conséquent, rendre une nouvelle décision fixant le montant de la rente ordinaire d'invalidité à laquelle l'intimée a droit dès le 1er février 1976 et, s'il y a lieu, celui de la rente extraordinaire qui s'y substitue à partir du 1er juin 1980.
3.
S'agissant de la rente complémentaire pour l'enfant Iole, née le 29 octobre 1968, le recourant soutient qu'il ne pourra jamais s'agir d'une rente extraordinaire, même à partir du 1er juin 1980, car l'enfant réside effectivement en Italie depuis 1975, où elle est confiée à un oncle paternel, comme cela ressort du dossier.
A l'appui de cette opinion, il invoque l'arrêt Peluso du 2 mai 1980 selon lequel, compte tenu de la situation spéciale de l'étranger qui séjourne en Suisse et bénéficie d'un permis de séjour dont le genre et le contenu peuvent varier, on doit admettre que l'épouse et les enfants d'un étranger qui vit en Suisse, lorsqu'ils séjournent, eux, à l'étranger, ne peuvent être considérés comme domiciliés au même lieu que leur époux et père, parce qu'ils ne remplissent pas la condition de la résidence effective et ininterrompue (RCC 1980 p. 550).
BGE 108 V 73 S. 78
Toutefois, cet arrêt n'a nullement la portée que le recourant voudrait lui donner dans le cas d'espèce. En effet, ce qui est en cause ici, ce n'est pas le droit de l'enfant mais celui de l'assurée elle-même à une rente complémentaire pour sa fille mineure. Or, il est évident que si l'intimée remplit les conditions lui permettant de prétendre une rente extraordinaire d'invalidité, elle les remplit également pour la rente complémentaire qui lui est liée. Cela découle du système légal qui fait dépendre le droit à une rente complémentaire pour enfant du droit à une rente de vieillesse (
art. 22ter LAVS
) ou à une rente d'invalidité (
art. 35 al. 1 LAI
).
D'ailleurs, se prononçant sur un problème voisin, à savoir la fixation du revenu déterminant dans le cas d'une rente extraordinaire dont l'octroi est lié à une limite de revenu (
art. 42 al. 1 LAVS
), la Cour de céans à déjà jugé qu'il était sans importance que les enfants de l'ayant droit résident en Suisse ou à l'étranger (arrêt non publié Ruggiu du 16 juin 1967). Cela s'explique fort bien si l'on considère que l'obligation d'entretien qu'assument les parents à l'égard de leurs enfants mineurs subsiste quel que soit le lieu de résidence de ceux-ci.
Au surplus, la distinction que voudrait faire le recourant en matière de rentes complémentaires pour enfants, selon le lieu de résidence de ceux-ci, ne s'appliquerait qu'aux bénéficiaires étrangers d'une rente extraordinaire. En effet, pas plus l'
art. 35 LAI
que l'
art. 22ter LAVS
ne subordonnent le droit à la rente complémentaire, ordinaire ou extraordinaire, à la condition que l'enfant de l'ayant droit réside effectivement en Suisse. Dès lors, en introduisant une condition supplémentaire, non prévue par la convention italo-suisse, au droit des ressortissants italiens à une rente complémentaire extraordinaire pour enfant, on contreviendrait au principe de l'égalité de traitement entre ressortissants suisses et italiens, consacré par l'art. 2 de la convention du 14 décembre 1962.
Le recours est ainsi mal fondé sur ce point et pour autant que l'intimée ait droit à une rente extraordinaire d'invalidité à partir du 1er juin 1980, elle pourra également prétendre une rente complémentaire extraordinaire pour sa fille depuis la même date.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral des assurances prononce:
Le recours est admis, le jugement du Tribunal des assurances du canton de Vaud du 9 avril 1980 et la décision de la Caisse cantonale
BGE 108 V 73 S. 79
vaudoise de compensation du 28 février 1979 étant annulés et la cause renvoyée à l'administration pour nouvelle décision au sens des motifs. | null | nan | fr | 1,982 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb044e26-8207-48e5-a939-fbc249c5933f | Urteilskopf
123 V 214
38. Arrêt du 29 septembre 1997 dans la cause Service des arts et métiers et du travail du canton du Jura et Office fédéral de l'industrie, des arts et métiers et du travail contre B. et Tribunal cantonal jurassien | Regeste
Art. 8 Abs. 1 lit. f, Art. 10, Art. 13 Abs. 2 lit. b und 15 Abs. 1 AVIG,
Art. 15,
Art. 44 und
Art. 56 Abs. 2 MG
,
Art. 15 Abs. 1 VAD
,
Art. 19a EOG
: Vermittlungsfähigkeit eines Versicherten, der seine Militärdienstpflicht erfüllt.
Der von einem Leutnant im Hinblick auf das Abverdienen seines Ranges absolvierte Ausbildungsdienst gilt nicht als Arbeitsverhältnis im Sinne von
Art. 10 AVIG
. | Sachverhalt
ab Seite 214
BGE 123 V 214 S. 214
A.-
B., né le 15 novembre 1974, a obtenu le diplôme commercial de l'Ecole supérieure de commerce Z le 2 juillet 1993. Il a accompli son école de recrues du 11 juillet au 4 novembre 1994, puis a fait contrôler son chômage dès le 7 novembre 1994.
Du 28 novembre 1994 au 17 décembre de la même année, il a suivi une école de sous-officiers et a ensuite "payé ses galons" du 22 janvier jusqu'au 19 mai 1995.
Du 27 juin au 14 juillet 1995, B. a réalisé un gain intermédiaire en qualité de chauffeur-livreur au service de l'entreprise X SA à Y.
BGE 123 V 214 S. 215
Il a suivi une école d'officiers du 17 juillet au 10 novembre 1995 et s'est à nouveau présenté au contrôle du chômage à partir du 13 novembre 1995.
Le 7 décembre 1995, il a informé la Caisse de chômage de la communauté sociale interprofessionnelle (ci-après: la caisse) que son école d'officiers ne lui avait pas laissé le temps de rechercher un emploi pendant les mois de juillet à octobre 1995 et qu'il effectuerait une nouvelle période de service militaire du 22 janvier 1996 au 17 mai 1996.
Du 19 au 21 décembre 1995 il a travaillé à nouveau en qualité de chauffeur au service de l'entreprise X SA.
Statuant le 20 décembre 1995, à la demande de la caisse, le Service des arts et métiers et du travail du canton du Jura (ci-après: SCAMT) a déclaré B. inapte au placement dès le 13 novembre 1995.
B.-
L'assuré a recouru contre cette décision devant le Tribunal cantonal de la République et du Canton du Jura, en concluant implicitement à son annulation et à l'octroi d'indemnités de chômage.
Par jugement du 29 novembre 1996, l'autorité cantonale a admis le recours, annulé la décision administrative du 20 décembre 1995 et renvoyé la cause à la caisse afin qu'elle procède à l'instruction de la demande d'indemnités de chômage et statue sur celle-ci.
C.-
Par écritures séparées des 19 et 31 décembre 1996, le SCAMT et l'Office fédéral de l'industrie, des arts et métiers et du travail (OFIAMT) interjettent recours de droit administratif contre ce jugement dont ils demandent l'annulation. Alors que le SCAMT conclut au rétablissement de sa décision du 20 décembre 1995, l'OFIAMT demande que B. soit déclaré inapte au placement pour la période allant du 13 novembre 1995 au 22 janvier 1996 et, partant, à ce que lui soit refusé le droit aux prestations de l'assurance-chômage pour la période en question.
L'intimé a renoncé à se déterminer. Invitée à se prononcer en tant que co-intéressée, la caisse conclut implicitement à l'admission du recours du SCAMT.
Le Président de la Chambre des assurances du Tribunal cantonal a présenté des observations dans l'une et l'autre des procédures de recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Les recours de droit administratif concernent des faits de même nature, portent sur des questions juridiques communes et sont dirigés contre le même jugement, de sorte qu'il se justifie de les réunir et de les liquider
BGE 123 V 214 S. 216
dans un seul arrêt (
ATF 120 V 466
consid. 1 et les références; POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, vol. I, p. 343 sv.).
2.
Le litige porte sur l'aptitude au placement de l'intimé pendant la période du 13 novembre 1995 au 21 janvier 1996 et non pas jusqu'au 20 décembre 1995 comme l'ont considéré les premiers juges. En effet, bien que la décision litigieuse soit datée du 20 décembre 1995 et qu'elle ait déployé ses effets dès le 13 novembre 1995, il y a lieu d'admettre que sa validité s'étendait jusqu'au 21 janvier 1996 dans la mesure où la nouvelle période de service militaire que B. entendait accomplir courait du 22 janvier 1996 au 17 mai 1996.
3.
L'assuré n'a droit à l'indemnité de chômage que s'il est apte au placement (
art. 8 al. 1 let
. f LACI). Est réputé apte à être placé le chômeur qui est disposé à accepter un travail convenable et est en mesure et en droit de le faire (
art. 15 al. 1 LACI
). L'aptitude au placement comprend ainsi deux éléments: la capacité de travail d'une part, c'est-à-dire la faculté de fournir un travail - plus précisément d'exercer une activité lucrative salariée - sans que l'assuré en soit empêché pour des causes inhérentes à sa personne, et d'autre part la disposition à accepter un travail convenable au sens de l'
art. 16 LACI
, ce qui implique non seulement la volonté de prendre un tel travail s'il se présente, mais aussi une disponibilité suffisante quant au temps que l'assuré peut consacrer à un emploi et quant au nombre des employeurs potentiels. L'aptitude au placement peut dès lors être niée notamment en raison de recherches d'emploi continuellement insuffisantes, en cas de refus réitéré d'accepter un travail convenable, ou encore lorsque l'assuré limite ses démarches à un domaine d'activité dans lequel il n'a, concrètement, qu'une très faible chance de trouver un emploi (
ATF 120 V 394
consid. 1 et les références).
En particulier, un chômeur doit être considéré comme inapte au placement lorsqu'une trop grande limitation dans le choix des postes de travail rend très incertaine la possibilité de trouver un emploi. Peu importe, à cet égard, le motif pour lequel le choix des emplois potentiels est limité (
ATF 120 V 388
consid. 3a et les références).
4.
Les premiers juges ont considéré que l'assuré n'était pas inapte au placement, du fait qu'il avait accepté d'accomplir une école d'officiers du 17 juillet au 10 novembre 1995, puis une nouvelle période de service militaire de quatre mois à partir du 22 janvier 1996. A leurs yeux, ces emplois de durée limitée étaient appropriés compte tenu de la situation de
BGE 123 V 214 S. 217
chômage dans laquelle se trouvait B. et des difficultés liées à la recherche d'un emploi durable. Par ailleurs, selon l'autorité cantonale, il n'est nullement établi que ses efforts pour retrouver un travail ont échoué à plusieurs reprises en raison du service militaire effectué volontairement.
Dans ses observations du 9 janvier 1997 (procédure de recours du SCAMT), le Président de la Chambre des assurances du Tribunal cantonal expose que l'activité des personnes faisant du service militaire doit être assimilée à un emploi, compte tenu du fait que, en vertu de l'
art. 19a LAPG
, des cotisations sont prélevées sur les allocations pour perte de gain. De surcroît, B. a accompli des périodes de service militaire alors qu'il n'y était pas astreint, dans le but précisément de diminuer son chômage; suivre l'argumentation du SCAMT au sujet de la disponibilité trop restreinte de l'assuré reviendrait ainsi à vider de toute substance l'arrêt
ATF 110 V 207
.
Dans ses observations du 13 janvier 1997 relatives au recours de l'OFIAMT, le Président de la Chambre des assurances du Tribunal cantonal fait en outre remarquer, en se référant à GERHARDS, que lorsque cela est nécessaire pour réduire la durée du chômage, le chômeur doit également accepter une activité temporaire, du moins passagèrement, jusqu'à ce qu'il retrouve une activité durable (Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz [AVIG], vol. I, n. 20 ad art. 15, p. 202 sv.). Or, c'est précisément ce que B. a fait en accomplissant quatre mois de service militaire volontaire. Enfin, de l'avis du Président de la juridiction cantonale, B. n'entrait pas dans la catégorie des personnes considérées comme inaptes au placement par l'OFIAMT (Bulletin AC 96/3, fiche 5/1), soit les personnes astreintes au service militaire avant l'école de recrues, l'école de sous-officiers ou l'école d'officiers, même si elles sont contraintes d'accomplir une carrière militaire. En effet, l'intimé avait déjà suivi toutes ces écoles avant d'offrir ses services à l'armée pour une nouvelle période de quatre mois, au terme de laquelle il n'obtenait aucun nouveau grade.
5.
a) Selon la jurisprudence, un assuré qui prend des engagements à partir d'une date déterminée et de ce fait n'est disponible sur le marché de l'emploi que pour une courte période n'est, en principe, pas apte au placement (
ATF 110 V 208
consid. 1).
Le Tribunal fédéral des assurances a toutefois précisé que les principes jurisprudentiels concernant l'aptitude au placement ne doivent pas conduire à pénaliser le chômeur qui trouve et accepte une place appropriée mais non libre immédiatement. Il n'est en effet pas raisonnablement exigible d'un
BGE 123 V 214 S. 218
assuré, qui a fait tout son possible pour diminuer le dommage et qui a trouvé un emploi pour une date ultérieure - relativement proche - de repousser la conclusion du contrat de travail, dans l'espoir hypothétique de trouver une place disponible plus tôt, mais au risque de rester finalement au chômage plus longtemps (
ATF 110 V 209
consid. 1 et les arrêts cités).
Dans le cas d'espèce, cependant, il est constant qu'après avoir achevé une école d'officiers le 10 novembre 1995, B. devait accomplir un service d'instruction en vue de "payer ses galons" de lieutenant du 22 janvier au 17 mai 1996 (
art. 56 al. 2 LAAM
[RS 510.10]). Dans ces conditions, sa disponibilité à partir du 13 novembre 1995 était trop courte pour qu'un employeur soit disposé à lui offrir un emploi jusqu'au 21 janvier 1996 (DTA 1992 no 11 p. 127 consid. 1). En conséquence, son aptitude au placement durant la période en cause doit être niée (dans le même sens, arrêts non publiés K. du 3 novembre 1995, M. du 3 avril 1995 et S. du 15 novembre 1994).
b) Contrairement à ce que soutient le Président de la Chambre des assurances, l'intimé n'a pas accompli du 22 janvier au 17 mai 1996 un service militaire volontaire - ce qui n'était du reste pas possible, en principe, pour un homme dans sa situation (
art. 3 al. 1,
art. 4 al. 2 et
art. 44 LAAM
) - mais un service d'instruction en vue de "payer ses galons" de lieutenant (
art. 56 al. 2 LAAM
et
art. 15 al. 1 OSI
[RS 512.21]), obligation à laquelle il ne pouvait se soustraire (
art. 15 LAAM
).
Par ailleurs, un service militaire n'a pas le caractère d'un emploi au sens de l'
art. 10 LACI
, bien que la loi l'assimile à une période de cotisation (
art. 13 al. 2 let. b LACI
) et que des cotisations aux assurances sociales doivent être payées sur les APG (
art. 19a LAPG
).
Il résulte de ce qui précède qu'il n'est pas possible, en l'état actuel du droit, de transposer à cette situation les principes contenus dans l'arrêt
ATF 110 V 209
consid. 1.
c) Les recours du SCAMT et de l'OFIAMT se révèlent dès lors bien fondés et le jugement attaqué doit être annulé. | null | nan | fr | 1,997 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb083bcb-422e-48b3-b4e9-c147d3d96678 | Urteilskopf
113 Ia 341
52. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. September 1987 i.S. Politische Gemeinden Rümlang, Oberglatt und Niederglatt gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Gemeindeautonomie; Revision der Statuten eines Zweckverbandes.
Es stellt eine Verletzung der Gemeindeautonomie dar, aufgrund eines statutarisch vorgesehenen Mehrheitsentscheides der Verbandsgemeinden entgegen dem Willen einzelner Gemeinden eine Revision der Statuten eines Zweckverbandes in Kraft zu setzen, welche eine wesentliche Erschwerung des Austrittes und Erweiterung des Verbandszweckes zur Folge hat. | Sachverhalt
ab Seite 342
BGE 113 Ia 341 S. 342
Unter dem Namen "Kreisspital-Verband Bülach" besteht im Kanton Zürich ein Zweckverband im Sinne von § 7 des Gesetzes über das Gemeindewesen des Kantons Zürich. Dem Zweckverband sind die Gemeinden des Bezirkes Bülach sowie einzelne Gemeinden des benachbarten Bezirkes Dielsdorf, so die politischen Gemeinden Rümlang, Oberglatt und Niederglatt angeschlossen. In bezug auf den Verbandszweck, die Möglichkeit eines Austrittes einer Gemeinde aus dem Zweckverband und das Verfahren zur Änderung der Statuten sahen diese in der Fassung vom 23. April 1969 folgende Bestimmungen vor:
"§ 1 - Bestand und Zweck
Die Politischen Gemeinden ... (Aufzählung) bilden zusammen unter dem Namen Kreisspital-Verband Bülach einen Zweckverband) ... zu dem Zwecke, in Bülach gemeinsam eine Krankenanstalt zu unterhalten, welche die Bezeichnung 'Kreisspital Bülach' trägt.
§ 3 - Austritt
Jeder Verbandsgemeinde steht es frei, nach Ablauf von 10 Jahren, vom Beitritt an gerechnet, den Austritt aus dem Verband zu erklären. Eine solche Kündigung ist bei einjähriger Kündigungsfrist nur auf das Ende eines Rechnungsjahres statthaft.
Die austretende Gemeinde geht ihrer Rechte am Verbandsvermögen verlustig.
Ob und in welchem Betrage sie eine Auflösungssumme zu leisten hat, wird der Vereinbarung der Spitalkommission mit ihr überlassen...
§ 5 - Abstimmung der Verbandsgemeinden
Der Abstimmung durch die Verbandsgemeinden bleiben vorbehalten:
a) Änderung dieser Statuten ...
Für derartige Beschlüsse ist notwendig, aber auch genügend, dass zwei Drittel der Gemeinden zustimmen ..."
Infolge der Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse und insbesondere der neuen Definition von Versorgungsregionen und -einrichtungen im Rahmen der Zürcher Krankenhausplanung wurden die Statuten des Zweckverbandes einer Revision unterzogen. Der Revision vom 3. Oktober 1985 stimmte eine Mehrheit von zwei Dritteln der Verbandsgemeinden zu. Der Verbandszweck und die Austrittsmöglichkeit einzelner Gemeinden sind darin wie folgt umschrieben:
BGE 113 Ia 341 S. 343
"§ 2 - Zweck
Der Kreisspital-Verband Bülach stellt die erweiterte medizinische Grund- und Basisversorgung der Bevölkerung der Verbandsgemeinden und der Spitalregion Zürcher Unterland sicher. Dazu werden das Kreisspital Bülach als Schwerpunktspital und die dezentralisierten Krankenheime gemeinsam betrieben.
§ 3 - Mitgliedschaft
Über die Bedingungen bei Ein- und Austritten aus dem Zweckverband entscheiden die Gemeinden auf Antrag der Spitalkommission...
§ 7 - Abstimmungen der Verbandsgemeinden
Der Abstimmung der Verbandsgemeinden bleiben vorbehalten:
- Änderung der Statuten
- Beschlussfassung über Ein- und Austritte von Gemeinden in den bzw. aus dem Zweckverband ...
Für derartige Beschlüsse ist es notwendig, aber auch genügend, dass zwei Drittel der Gemeinden zustimmen ..."
Die Politischen Gemeinden Rümlang, Oberglatt und Niederglatt stimmten den neuen Statuten u.a. deshalb nicht zu, weil diese die Erstellung eines für sie ungünstig gelegenen Krankenheimes in Bassersdorf ermöglichen sollten.
Mit Beschluss vom 1. April 1987 stellte der Regierungsrat des Kantons Zürich fest, dass die nach den alten Statuten erforderliche Zustimmung von zwei Dritteln der Verbandsgemeinden zustande gekommen sei. Er genehmigte daher die neuen Statuten. Mit deren Genehmigung durch den Regierungsrat traten sie in Kraft. Gegen diesen Genehmigungsentscheid des Regierungsrates reichten die Politischen Gemeinden Rümlang, Oberglatt und Niederglatt beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein. Sie rügen eine Verletzung ihrer Gemeindeautonomie und machen eine Verletzung von
Art. 4 BV
geltend. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Erwägungen:
1.
a) Der Zweckverband Kreisspital-Verband Bülach ist nach Art. 1 sowohl der alten wie auch der neuen Statuten ein Zweckverband des öffentlichen Rechts im Sinne von § 7 des Gesetzes des Kantons Zürich über das Gemeindewesen (Gemeindegesetz, GG). Den Verbandsgemeinden obliegen nach den Statuten Verpflichtungen auf dem Gebiete des Spitalwesens. Mit der Revision der Statuten werden diese Verpflichtungen teilweise geändert. Aufgrund des angefochtenen Genehmigungsbeschlusses des Regierungsrates treten die neuen Statuten in Kraft (§ 23 der neuen Statuten). Er trifft die beschwerdeführenden Gemeinden damit in ihrer Eigenschaft als Trägerinnen hoheitlicher Gewalt. Die Beschwerdeführerinnen sind daher nach der Rechtsprechung legitimiert,
BGE 113 Ia 341 S. 344
mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung ihrer Autonomie zu rügen. Ob ihnen im betreffenden Sachbereich tatsächlich Autonomie zusteht, ist keine Frage der Legitimation, sondern bildet Gegenstand der materiellen Beurteilung (
BGE 111 Ia 252
E. 2,
BGE 110 Ia 198
E. 1, mit Hinweisen). Die übrigen Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen weitern Erörterungen Anlass. Auf die vorliegende Beschwerde kann daher eingetreten werden.
b) Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, der Genehmigungsbeschluss des Regierungsrates verletze sie in ihrer Autonomie. Die Verletzung erblicken sie darin, dass die neuen Statuten genehmigt worden sind, obwohl sie ihnen nicht zugestimmt haben. Sie bestreiten zwar nicht, dass die nach den alten Statuten für eine Statutenänderung benötigte Zustimmung von zwei Dritteln der Verbandsgemeinden vorhanden ist, und sie machen daher nicht geltend, der Regierungsrat habe die alten Statutenbestimmungen falsch ausgelegt und angewendet. Sie behaupten indessen, dass die alten Statuten in bezug auf das Änderungsverfahren mit der in der Kantonsverfassung und im Gemeindegesetz garantierten Gemeindeautonomie in Widerspruch stünden. Damit verlangen die drei Gemeinden eine vorfrageweise Überprüfung der alten Statuten auf ihre Verfassungs- und Gesetzmässigkeit. Dies ist nach der neuesten Praxis des Bundesgerichts zulässig (
BGE 113 Ia 204
E. c). Denn die Statuten einer öffentlichrechtlichen Körperschaft haben rechtssatzähnlichen Charakter mit bindender Wirkung für die beteiligten Verbandsgemeinden. Die Zulässigkeit der Überprüfung wird auch nicht durch den Umstand ausgeschlossen, dass die beschwerdeführenden Gemeinden den alten Statuten bei der Gründung des Zweckverbandes oder beim Eintritt zugestimmt haben. Die allfällige Bejahung der Verfassungswidrigkeit der Statuten hat aber lediglich zur Folge, dass sie im konkreten Fall nicht angewendet werden und dass ausschliesslich der angefochtene Genehmigungsbeschluss aufgehoben wird (
BGE 113 Ia 204
f.).
2.
a) Eine Gemeinde ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht dafür keine abschliessende Ordnung trifft, sondern diese ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt (
BGE 111 Ia 253
,
BGE 110 Ia 199
E. 2,
BGE 109 Ia 45
E. b, mit Hinweisen).
Art. 48 KV räumt den Gemeinden allgemein das Recht ein, ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken der Verfassung und Gesetze
BGE 113 Ia 341 S. 345
selbständig zu ordnen. Nach § 5 des Gesetzes über das Gesundheitswesen (Gesundheitsgesetz) erfüllen die Gemeinden die Aufgaben, die ihnen die Gesundheitsgesetzgebung überträgt. § 39 Abs. 1 Gesundheitsgesetz bestimmt, welche Spitäler der Kanton errichtet und betreibt. Gemäss § 39 Abs. 2 Gesundheitsgesetz ist die Errichtung und der Betrieb anderer als kantonaler Krankenhäuser Sache der Gemeinden. Für den Betrieb eines Krankenhauses bedarf es einer Bewilligung der Direktion des Gesundheitswesens, die nur aus schwerwiegenden Gründen verweigert oder entzogen werden kann (§ 43 Gesundheitsgesetz). In gesundheitspolizeilicher Beziehung unterstehen die Krankenhäuser der Aufsicht der Gesundheitsdirektion (§ 42 Abs. 1 Gesundheitsgesetz). § 40 Gesundheitsgesetz sieht Staatsbeiträge an Bau und Betrieb von Krankenhäusern vor. Voraussetzungen, Arten und Höhe der Beiträge werden durch die kantonale Subventionsverordnung geregelt.
Nach dieser Ordnung kommt den zürcherischen Gemeinden auf dem Gebiet des Krankenhauswesens eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu. Diese wird freilich faktisch dadurch eingeschränkt, dass es der Kanton als Subventionsgeber in der Hand hat, bestimmend einzugreifen. Da die gesetzliche Ordnung den Gemeinden einen Aktionsbereich einräumt, worin sie in bedeutendem Masse selbständig tätig sein können, ging das Bundesgericht davon aus, es stehe ihnen im Spitalwesen eine gewisse Autonomie zu (Urteil vom 11. Dezember 1974 i.S. Gemeinde Dübendorf, in: ZBl 76/1975 S. 298/299). Die Autonomie der beschwerdeführenden Gemeinden ist daher zu bejahen.
b) Ist eine Gemeinde in einem Sachbereich autonom, so kann sie sich mit staatsrechtlicher Beschwerde dagegen zur Wehr setzen, dass die kantonale Behörde im Genehmigungs- und Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschreitet. Die Gemeinde kann sodann verlangen, dass die kantonale Behörde materiell die kommunalen, kantonalen und bundesrechtlichen Vorschriften nicht verletze, die den Sachbereich, in dem Autonomie besteht, ordnen.
Das Bundesgericht prüft den Entscheid der kantonalen Behörden auf Willkür hin, soweit Gesetzes- oder Verordnungsrecht in Frage steht; mit freier Kognition entscheidet es, wenn es sich um Verfassungsrecht des Bundes oder der Kantone handelt (
BGE 111 Ia 132
E. 4a, 253 E. 3,
BGE 110 Ia 200
E. b,
BGE 109 Ia 45
E. b, mit Hinweisen). - Nach Art. 48 der zürcherischen Kantonsverfassung
BGE 113 Ia 341 S. 346
ist die Autonomie der Gemeinden innerhalb der Schranken von Verfassung und Gesetzgebung garantiert; soweit sich die Beschwerdeführerinnen auf eine Verletzung des Gemeindegesetzes berufen, kommt lediglich eine Willkürprüfung in Betracht. Die beschwerdeführenden Gemeinden rufen indessen auch Art. 47bis der Kantonsverfassung an, wonach die Gemeinden sich zu Zweckverbänden zusammenschliessen können. In dieser Hinsicht ist eine freie Prüfung der vorliegenden Beschwerde nicht zum vornherein auszuschliessen. Wie es sich damit verhält, kann indessen offengelassen werden, da die vorliegende Beschwerde auch bei beschränkter Kognition gutzuheissen ist. Lediglich unter dem Gesichtswinkel der Willkür ist indessen die Auslegung der neuen und der alten Statuten zu prüfen.
3.
Die Beschwerdeführerinnen machen zur Hauptsache geltend, eine wesentliche Statutenänderung, die von ihnen abgelehnt werde, könne ihnen nicht durch einen Mehrheitsentscheid des Zweckverbandes aufgezwungen werden. Sie anerkennen zwar, dass bereits die alten Statuten für eine Änderung ein Mehrheitsverfahren vorsehen. Ein Mehrheitsentscheid verletze sie indessen dann in ihrer Autonomie, wenn es sich um wesentliche Statutenänderungen handle; insbesondere könne das Austrittsrecht und die Formulierung des Zweckes des Verbandes nicht entgegen ihrem Willen geändert werden.
Das Bundesgericht hat sich im Urteil i.S. Einwohnergemeinde Egerkingen (
BGE 113 Ia 200
, insbes. E. 3) ausführlich zur Frage ausgesprochen, ob es unter dem Gesichtswinkel der Gemeindeautonomie zulässig sei, dass die Statuten eines Zweckverbandes aufgrund eines Mehrheitsentscheides der Verbandsgemeinden geändert werden. Es hat in diesem Entscheid ausgeführt, das Erfordernis der Einstimmigkeit für Statutenrevisionen vermöge auf der einen Seite den Schutz der einzelnen beteiligten Gemeinden in optimaler Weise zu garantieren. Es könnten ihr dann von der (allenfalls qualifizierten) Mehrheit keine ihr nicht genehmen Statuten aufgezwungen werden; dadurch werde das Vertrauen der Verbandsgemeinden in den Verband und dessen Tätigkeit gestärkt. Auf der andern Seite könne das Einstimmigkeitsprinzip die Handlungsfähigkeit des Verbandes lähmen. Deshalb erleichtere ein Mehrheitsverfahren etwa eine Anpassung an veränderte Umstände oder eine Weiterentwicklung der Aufgaben. Dieser Grundkonflikt zwischen Schutzbedürfnis der einzelnen Gemeinden und der Handlungsfähigkeit des Verbandes werde in den einzelnen Kantonen etwa in
BGE 113 Ia 341 S. 347
dem Sinne gelöst, dass grundlegende Bestimmungen der Statuten nur unter Zustimmung aller beteiligten Gemeinden revidiert werden könnten, während Statutenbestimmungen von untergeordneter Bedeutung mit (einfacher oder qualifizierter) Mehrheit einer Revision unterzogen werden dürfen. Zu den grundlegenden Statutenbestimmungen könnten solche gezählt werden, welche die Stellung der Verbandsgemeinden grundsätzlich und unmittelbar betreffen, wie etwa die Umschreibung des Verbandszweckes, des Kostenverteilers, der Haftung und Auflösung und ähnliches mehr. In die gleiche Richtung weise die Literatur, welche in bezug auf die Frage des Einstimmigkeits- bzw. des Mehrheitsprinzips bei Statutenrevisionen eine Differenzierung nach deren Bedeutung befürworte (Hinweise auf die Literatur in:
BGE 113 Ia 209
E. d).
Aufgrund dieser Überlegungen ist im folgenden die Beschwerde der drei Gemeinden zu Gemeinden zu prüfen.
4.
Zum einen machen die Beschwerdeführerinnen geltend, mit den vom Regierungsrat genehmigten Statuten sei ihnen das frühere, zwar an gewisse Verpflichtungen finanzieller Art gebundene, aber grundsätzlich freie Austrittsrecht entzogen worden. Dies sei ohne ihre Zustimmung nicht zulässig. Sie erblicken darin eine Verletzung ihrer Autonomie.
a) Vorerst ist die Rechtsnatur des Kreisspital-Verbandes Bülach näher zu untersuchen. Das zürcherische Gemeinderecht kennt zwei Zweckverbandsarten, den Zweckverband kraft freiwilligen Zusammenschlusses gemäss Art. 47bis Abs. 1 KV und § 7 Abs. 1 GG einerseits und den zwangsweisen Zusammenschluss gemäss Art. 47bis Abs. 2 KV und § 7 Abs. 2 GG andererseits. Die zwangsweise Verbindung von Gemeinden ist nur zulässig, wenn ohne sie die Durchführung wichtiger Gemeindeaufgaben in Frage gestellt wäre (vgl. MAX METTLER, Das Zürcher Gemeindegesetz, 3. Auflage, S. 34). Die drei beschwerdeführenden Gemeinden sind nicht nur Mitglieder des Kreisspital-Verbandes Bülach, sondern auch des entsprechenden Verbandes Dielsdorf; die spitalmässige Versorgung ist daher bei ihnen auch ohne den Bülacher Verband nicht in Frage gestellt. Aus ihrer Sicht handelt es sich deshalb dabei um einen sogenannten freiwilligen Zweckverband. Daran vermag auch die Verfügung der Direktion des Gesundheitswesens über die Einzugsbereiche der kommunalen und regionalen Krankenhäuser vom 22. November 1973 nichts zu ändern; mit dieser Verfügung wurden zwar u.a. die Einzugsbereiche der drei beschwerdeführenden Gemeinden je hälftig für das Kreisspital Bülach und das
BGE 113 Ia 341 S. 348
Bezirksspital Dielsdorf festgelegt. Hiebei handelt es sich nur um eine subventionsrechtliche Festlegung ohne grundsätzliche Bedeutung im Hinblick auf das Wesen der Zweckverbände als Rechtsträger der beiden erwähnten Spitäler.
b) Zu prüfen ist ferner die Bedeutung der Statutenrevision mit Bezug auf das Recht einer einzelnen Gemeinde, ihre Mitgliedschaft beim Zweckverband zu kündigen. Gemäss § 3 der alten Statuten stand es jeder Vertragsgemeinde frei, nach Ablauf von 10 Jahren, vom Beitritt an gerechnet, den Austritt aus dem Verband zu erklären. § 3 Abs. 2 der alten Statuten bestimmte sodann, die austretende Gemeinde gehe ihrer Rechte am Verbandsvermögen verlustig; ob und in welchem Betrage sie eine Auflösungssumme zu leisten habe, werde der Vereinbarung der Spitalkommission mit der betreffenden Gemeinde überlassen. Die kantonale Direktion des Innern vertritt in ihrer Vernehmlassung entgegen den Beschwerdeführerinnen die Meinung, der Wortlaut der neuen Statuten, insbesondere von § 3, schliesse die Möglichkeit der einseitigen Kündigung keineswegs aus. Dabei wird übersehen, dass § 3 der neuen Statuten nicht isoliert für sich allein betrachtet werden darf. Zutreffend ist nur, dass diese Statutenvorschrift bestimmt, über die Bedingungen bei Austritten aus dem Zweckverband hätten die Gemeinden auf Antrag der Spitalkommission zu befinden. In § 7 der neuen Statuten wird sodann bestimmt, für die Beschlussfassung über Austritte von Gemeinden sei die Abstimmung der Verbandsgemeinden vorbehalten. Damit ergeben sich zwei bedeutende Änderungen im Verhältnis zu den alten Statuten. Es besteht kein Kündigungsrecht mehr, sondern ein Austrittsgesuch bedarf der mehrheitlichen Zustimmung aller Verbandsgemeinden. Ferner werden die Modalitäten des Austrittes nicht mehr der Vereinbarung der Spitalkommission mit der austrittswilligen Gemeinde vorbehalten, sondern einseitig durch Entscheid aller Mitgliedergemeinden bestimmt. Für eine andere Auslegung finden sich weder im Wortlaut der neuen Statuten noch in den Revisionsakten irgendwelche Anhaltspunkte. Es ist daher davon auszugehen, dass mit der Statutenrevision das freie Austrittsrecht der einzelnen Verbandsgemeinden tatsächlich aufgehoben worden ist.
c) Statutenbestimmungen über die Möglichkeit und die Modalitäten des Austritts einer Gemeinde aus einem Zweckverband sind für den Verband selber und die beteiligten Verbandsgemeinden von zentraler Bedeutung. Sie können insbesondere für die einzelne Gemeinde im Hinblick auf die Frage, ob sie einem Zweckverband
BGE 113 Ia 341 S. 349
beitreten wolle oder nicht, ausschlaggebend sein. Die Beschränkung der Austrittsmöglichkeiten ist von derartigem Gewicht, dass sie entgegen dem Willen einer Verbandsgemeinde nicht ohne Verletzung der Gemeindeautonomie beschlossen und in Kraft gesetzt werden kann. Dies trifft im vorliegenden Fall insbesondere deshalb zu, weil, wie oben dargelegt, der Austritt nach den neuen Statuten in das Belieben der übrigen Gemeinden gestellt ist.
Art. 47bis Abs. 1 KV räumt den Gemeinden das Recht ein, sich freiwillig zu Zweckverbänden zusammenzuschliessen. Daraus kann abgeleitet werden, dass sich diese von der Bindung auch wieder sollen lösen können (METTLER, a.a.O., S. 42; MARKUS FELDMANN, Eingemeindungen und Zweckverbände, in: ZBl 35/1934 S. 561 ff., insbes. S. 564). An diesem Recht vermögen auch Statutenbestimmungen, welche für eine Statutenrevision ein Mehrheitsverfahren vorsehen, nichts zu ändern. Das Bundesgericht ist denn auch in einem Entscheid aus dem Jahre 1974 stillschweigend davon ausgegangen, dass eine Gemeinde aus einem Spital-Verband austreten könne (ZBl 76/1975 S. 302). Auch in der Literatur wird die Auffassung vertreten, der Austritt könne einer Verbandsgemeinde grundsätzlich nicht verweigert werden (vgl. MARCEL SCHENKER, Das Recht der Gemeindeverbände, Diss. St. Gallen 1986, S. 303; PETER GRÜTER, Die schweizerischen Zweckverbände, Diss. Zürich 1973, S. 118 ff.). Die Beschränkung des Austritts mit der Möglichkeit, dass ein Austritt aufgrund eines Mehrheitsentscheides überhaupt verhindert wird, kann deshalb ohne Zustimmung der betroffenen Gemeinden nicht in Kraft gesetzt werden.
Aufgrund dieser Erwägungen verletzte es im vorliegenden Fall die Autonomie der beschwerdeführenden Gemeinden, dass die neuen Statuten mit der in ihnen enthaltenen Einschränkung der Austrittsmöglichkeiten entgegen ihrem Willen genehmigt wurden. Die Rüge der Verletzung der Gemeindeautonomie erweist sich daher in dieser Hinsicht als begründet. Demnach ist der angefochtene Genehmigungsbeschluss unter Gutheissung der Beschwerde aufzuheben.
5.
a) Die Beschwerdeführerinnen beanstanden weiter, dass der Zweck des Spital-Verbandes mit den neuen Statuten erweitert worden ist.
Vorerst ist die Bedeutung der Statutenänderung in dieser Hinsicht zu prüfen. - Entgegen der Auffassung der kantonalen Direktion des Innern in ihrer Vernehmlassung kommt einmal der Neufassung des Verbandszweckes weit mehr als nur redaktionelle
BGE 113 Ia 341 S. 350
Bedeutung zu. Dies zeigt sich in erster Linie aufgrund des klaren und eindeutigen Wortlautes der entsprechenden Statutenbestimmungen. So ist in § 1 Abs. 1 der alten Statuten als Verbandszweck nur der Betrieb einer Krankenanstalt in Bülach (Kreisspital Bülach) erwähnt, während § 2 der neuen Statuten ausdrücklich bestimmt, vom Kreisspital-Verband Bülach würden neben dem Kreisspital Bülach als Schwerpunktspital dezentralisierte Krankenheime betrieben. Die vorgesehene Errichtung der letzteren bildete aufgrund der Akten im übrigen gerade Ausgangspunkt der Revision der Verbandsstatuten. Vorgeschichte und Wortlaut der Revision zeigen damit deutlich, dass deren eigentliches Ziel die Schaffung einer einwandfreien rechtlichen Grundlage für die neu vorgesehenen Krankenheime, insbesondere dasjenige in Bassersdorf, bildete. - Es ist bei dieser Sachlage daher davon auszugehen, dass die Statuten auch in bezug auf die Umschreibung des Verbandszweckes eine erhebliche Änderung erfahren haben.
Nach den obenstehenden Erwägungen ist eine derartige Erweiterung des Verbandszweckes entgegen dem Willen der beschwerdeführenden Gemeinden unter dem Gesichtswinkel ihrer Autonomie nicht unbedenklich. Es ist indessen zu beachten, dass die Beschwerdeführerinnen diesen Punkt nicht selbständig aufgreifen und in dieser Hinsicht nicht ausdrücklich eine Verletzung ihrer Gemeindeautonomie geltend machen. Sie erachten vielmehr den Ausschluss des Austrittsrechts deshalb um so stossender, weil der Verbandszweck ausgedehnt worden ist und gestützt darauf ein Spital in Bassersdorf errichtet werden soll, der den Einwohnern der beschwerdeführenden Gemeinden von geringem oder überhaupt keinem Nutzen ist. Bei dieser Sachlage braucht nicht näher geprüft zu werden, ob die Genehmigung der neuen Statuten durch den Regierungsrat nicht auch unter diesem Gesichtswinkel aufzuheben wäre.
b) Schliesslich machen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung des Gleichheitsprinzips nach
Art. 4 BV
und damit des elementaren Gerechtigkeitsgebotes geltend. Diese Verfassungsverletzungen erblicken sie darin, dass sie durch den Verlust des einseitigen Kündigungsrechts dazu gezwungen werden können, sich am neuen Krankenheim Bassersdorf zu beteiligen, obwohl sie davon wegen dessen abgelegenen Standorts und wegen der bisherigen Beteiligung am Spitalverband Dielsdorf nicht profitieren könnten. Auch diese Frage kann im vorliegenden Fall offengelassen werden, da die Beschwerde bereits aus den in Erwägung 4 festgehaltenen Überlegungen gutzuheissen ist. | public_law | nan | de | 1,987 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
eb09203f-40df-461d-a7fa-d0870f6a612f | Urteilskopf
86 II 56
9. Arrêt de la Ire Cour civile du 15 janvier 1960 dans la cause Comptoir sanitaire SA contre Société immobilière Rue des Alpes 9 SA | Regeste
Art. 36 OG
.
Streitwert beim Streit über die Gültigkeit einer vom Vermieter gegenüber dem Mieter ausgesprochenen Kündigung. | Sachverhalt
ab Seite 56
BGE 86 II 56 S. 56
A.-
Par contrat du 21 mars 1944, la société immobilière Rue des Alpes 9 SA a loué à la société Comptoir sanitaire SA, représentée par son administrateur Fred Tavelli, un appartement de cinq pièces, qui devait servir d'habitation et de bureau. Le contrat, qui entrait en vigueur le 1er avril 1944, était passé pour trois ans et devait ensuite se renouveler d'année en année, à moins d'être dénoncé trois mois à l'avance. Il était interdit au preneur de sous-louer tout ou partie des locaux ou de les faire habiter par des tiers, même à titre gratuit, à moins que la propriétaire ou son représentant n'y consentît par écrit. Le loyer était fixé à 1800 fr. par année et fut porté par la suite à 2160 fr. En
BGE 86 II 56 S. 57
outre, la société locataire devait supporter les frais de chauffage et d'eau chaude.
Par lettre du 22 octobre 1956, la société immobilière Rue des Alpes 9 SA résilia le bail pour le 31 mars 1957. Quelques jours plus tard, Tavelli eut un entretien avec Broillet, représentant de cette société. Celui-ci déclara qu'il ne demanderait pas l'évacuation si le loyer arriéré était payé et si le Comptoir sanitaire SA s'abstenait de toute sous-location.
B.-
Par exploit du 17 avril 1957, la société propriétaire a conclu à ce que sa locataire soit condamnée à évacuer immédiatement les locaux loués.
Statuant en seconde instance par arrêt du 20 octobre 1959, la Cour de justice de Genève a admis l'action. Elle a considéré, en bref, que Broillet avait simplement suspendu les effets du congé tant que la locataire se conformerait aux conditions imposées, mais que celle-ci les avait violées en sous-louant des chambres à des jeunes filles à partir de l'été 1957.
C.-
La société Comptoir sanitaire SA recourt en réforme au Tribunal fédéral, en concluant au rejet de la demande. Elle soutient, en substance, que le congé a été révoqué définitivement lors de l'entretien que Tavelli a eu avec Broillet et qu'un nouveau bail a été conclu dès ce moment; qu'en effet, les promesses de Broillet l'ont dissuadée de s'adresser à l'autorité administrative pour demander l'application des dispositions légales qui protègent les locataires.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Dans les affaires pécuniaires qui ne portent pas sur un des droit énumérés à l'art. 45 OJ, le recours en réforme n'est recevable, en vertu de l'art. 46 OJ, que si, d'après les conclusions des parties, les droits contestés dans la dernière instance cantonale atteignent une valeur d'au moins 4000 fr. Lorsque la demande a pour objet l'existence d'un contrat de bail ou l'expulsion du preneur, il faut,
BGE 86 II 56 S. 58
d'après la jurisprudence (RO 33 II 706, 85 II 220), considérer comme valeur litigieuse le loyer ou le fermage afférent à la période sur laquelle porte la contestation.
La recourante critique cette jurisprudence et prétend que la valeur litigieuse consiste dans le loyer qu'elle sera tenue de payer pour de nouveaux locaux si elle doit évacuer l'appartement en cause. Elle ajoute que la période sur laquelle porte la compensation est indéfinie, car, si le congé qui lui a été signifié n'est pas valable, elle pourra attaquer une nouvelle résiliation éventuelle devant l'autorité administrative et rester dans les locaux pendant plusieurs années.
Cette thèse n'est pas fondée. En vertu de l'art. 36 al. 1 OJ, la valeur de l'objet litigieux est déterminée par les conclusions de la demande. C'est donc l'intérêt du demandeur qui est décisif en principe (les exceptions que souffre cette règle n'entrent pas en ligne de compte en l'espèce; cf. BIRCHMEIER, Handbuch des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, ad art. 36, rem. 3 litt. d et suiv.). Or, dans l'action en expulsion, la valeur des nouveaux locaux que le preneur devra louer le cas échéant importe peu au demandeur. Du reste, le critère proposé par la recourante est impraticable: on ignore en général si le locataire ou le fermier conclura un nouveau contrat et quel sera le montant du loyer ou du fermage.
D'autre part, quand c'est la validité d'un congé qui est litigieuse, la période à prendre en considération est celle pendant laquelle le contrat subsiste nécessairement si la résiliation n'est pas valable. Elle s'étend donc jusqu'au moment pour lequel un nouveau congé peut être donné ou l'a été effectivement. C'est en effet pour cette période que le propriétaire a intérêt à ce que la résiliation litigieuse soit reconnue valable.
2.
En l'espèce, c'est seulement le congé donné le 22 octobre 1956 qui est litigieux. En demandant, le 17 avril 1957, l'évacuation du Comptoir sanitaire SA et en poursuivant la procédure au cours de l'année 1957, la société
BGE 86 II 56 S. 59
propriétaire a implicitement signifié à sa locataire une nouvelle résiliation pour le plus prochain terme, c'est-àdire pour le 31 mars 1958. Or ce congé, qui n'a pas été attaqué devant l'autorité administrative, est valable et a en tout cas mis fin au contrat de bail. La période litigieuse est donc d'une année.
Le loyer annuel était de 2160 fr. Même si l'on y ajoute les frais de chauffage et d'eau chaude, qui, selon la recourante, se montent à 110 fr. par mois, on n'arrive pas à la valeur litigieuse de 4000 fr. exigée par l'art. 46 OJ. Par conséquent, le Tribunal fédéral ne peut entrer en matière.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral:
Déclare le recours irrecevable. | public_law | nan | fr | 1,960 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb11f129-4063-4491-8972-192ac25bb95f | Urteilskopf
123 III 110
18. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 4. Februar 1997 i.S. X. Versicherungsgesellschaft gegen S. (Berufung) | Regeste
Haftung des Motorfahrzeughalters. Adäquater Kausalzusammenhang.
Die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs bedarf richterlicher Wertung, die gemäss
Art. 4 ZGB
nach Recht und Billigkeit vorzunehmen ist. Dabei ist auch der rechtspolitischen Zielsetzung der im konkreten Fall anwendbaren Normen Rechnung zu tragen. Die Abgrenzung adäquater Unfallfolgen von inadäquaten kann deshalb im Haftpflicht- und im Sozialversicherungsrecht unterschiedlich ausfallen (E. 2 und 3). | Sachverhalt
ab Seite 110
BGE 123 III 110 S. 110
Am 2. Juni 1988 erlitt S. als Beifahrer von C. in dessen Personenwagen einen Unfall. C. missachtete ein Rotlicht und kollidierte mit einem korrekt von rechts herannahenden Motorroller.
Am 19. Mai 1992 klagte S. gegen die X. Versicherungsgesellschaft als Versichererin des fehlbaren Autolenkers auf Bezahlung von Fr. 231'353.-- nebst Zins. Er machte geltend, bei der Kollision ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule erlitten zu haben, das in der Folge zu einer hundertprozentigen Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Mit Urteil vom 17. September 1993 verneinte das Amtsgericht Luzern-Land den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und dem Unfall vom 2. Juni 1988 und wies die Klage ab.
Auf Berufung des Klägers hob das Obergericht des Kantons Luzern dieses Urteil mit Erkenntnis vom 13. Mai 1996 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Die von der Beklagten hiergegen erhobene Berufung weist das Bundesgericht ab.
BGE 123 III 110 S. 111
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Beide kantonalen Instanzen haben den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 2. Juni 1988 und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers bejaht. Die Vorinstanz führte dazu aus, die Ärzte hätten beim Kläger übereinstimmend folgende Symptome festgestellt: Kopf- und Nackenschmerzen, Pfeifen und Rauschen in beiden Ohren, Konzentrationsschwäche, ängstlich depressiver Zustand. Ein so beschriebener Gesundheitszustand sei für ein erlittenes Schleudertrauma der Halswirbelsäule typisch. Eine entsprechende Diagnose könne aber aufgrund der ärztlichen Angaben nicht als gesichert gelten. Aus fachärztlicher Sicht erhärtet sei dagegen, dass die geschilderten gesundheitlichen Schäden auf den Unfall zurückzuführen seien. Erstellt sei ferner, dass der Kläger nach dem Unfall aus gesundheitlichen Gründen die am 2. Mai 1988 begonnene kaufmännische Zusatzausbildung an der Handels- und Verwaltungsschule Luzern nicht vollenden konnte, am 15. Dezember 1988 für militärdienstuntauglich und am 24. September 1992 für zivildienstuntauglich befunden worden sei. Überdies sei der Kläger nach Massgabe des IVG seit 1. September 1990 zu 100% arbeitsunfähig. Im Urteil von Bekannten werde der Kläger seit dem Unfall als wesensverändert beschrieben.
An diese Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz, die den natürlichen Kausalzusammenhang betreffen, ist das Bundesgericht von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen gebunden (
Art. 63 Abs. 2 OG
;
BGE 113 II 52
E. 2 S. 56;
BGE 109 II 462
E. 4c S. 469). Insoweit lässt die Beklagte denn auch das angefochtene Urteil gelten. Streitig ist dagegen, ob der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 2. Juni 1988 und den Beschwerden des Klägers gegeben ist.
3.
Während das Amtsgericht die Prüfung der Adäquanz im Lichte der Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vornahm und verneinte, weil es den Unfall als leicht taxierte und den diagnostischen Nachweis eines HWS-Traumas für gescheitert betrachtete (unter Hinweis auf
BGE 117 V 359
E. 6a S. 366 und
BGE 115 V 133
E. 6 S. 138 ff.), hielt die Vorinstanz die sozialversicherungsrechtlichen Kriterien in diesem Punkte nicht für massgebend und gelangte zum Ergebnis, auch der adäquate Kausalzusammenhang sei gegeben. Diese Auffassung gibt die Beklagte in der Berufung als bundesrechtswidrig aus. Der Adäquanzbegriff werde im Sozialversicherungs- und im Haftpflichtrecht gleich definiert und verfolge in
BGE 123 III 110 S. 112
beiden Rechtsgebieten denselben Zweck der Haftungsbeschränkung. Es rechtfertige sich daher nicht, in der Praxis nach unterschiedlichen Kriterien zu verfahren. Nach der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht erarbeiteten Praxis sei die Adäquanz im vorliegenden Fall abzulehnen. Wenn aber schon nicht dieselben Kriterien im Haftpflicht- und im Sozialversicherungsrecht zur Anwendung kämen, dann seien die Anforderungen an die Zurechenbarkeit jedenfalls im Haftpflichtrecht höher anzusetzen und nicht umgekehrt.
a) Bundesgericht und Eidgenössisches Versicherungsgericht gehen von derselben Umschreibung der Adäquanz aus. Danach hat ein Ereignis als adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt des Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (
BGE 122 V 415
E. 2a;
BGE 121 V 45
E. 3a S. 49;
BGE 121 III 358
E. 5 S. 363, je mit Hinweisen;
BGE 113 II 174
E. 2 S. 178;
BGE 107 II 238
E. 5a S. 243). Rechtspolitischer Zweck der Adäquanz ist sowohl im Sozialversicherungs- als auch im Haftpflichtrecht eine Begrenzung der Haftung (
BGE 117 V 369
E. 4a S. 382;
BGE 115 V 133
E. 7 S. 142;
BGE 96 II 392
E. 2 S. 397; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl., Zürich 1995, Rz. 21, S. 114; BREHM, Berner Kommentar, Bern 1990, N. 161 zu
Art. 41 OR
; ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 5. Aufl., Bern 1993, S. 66; ALFRED MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 460). Sie dient als Korrektiv zum naturwissenschaftlichen Ursachenbegriff, der unter Umständen der Einschränkung bedarf, um für die rechtliche Verantwortung tragbar zu sein (
BGE 107 II 269
E. 3 S. 276;
BGE 122 V 415
E. 2c).
Beim adäquaten Kausalzusammenhang im Sinne der genannten Umschreibung handelt es sich um eine Generalklausel, die im Einzelfall durch das Gericht gemäss
Art. 4 ZGB
nach Recht und Billigkeit konkretisiert werden muss. Die Beantwortung der Adäquanzfrage beruht somit auf einem Werturteil. Es muss entschieden werden, ob eine unfallbedingte Störung billigerweise noch dem Schädiger oder Haftpflichtigen zugerechnet werden darf (
BGE 109 II 4
E. 3 S. 7;
BGE 96 II 392
E. 2 S. 397; OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 113; BREHM, a.a.O., N. 162 zu
Art. 41 OR
; HEINZ REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, Zürich 1995, Rz. 528). Das Gericht hat dabei die gesamten Umstände des konkreten Einzelfalles, aber auch den Zweck einer Norm oder eines ganzen Normenkomplexes, so
BGE 123 III 110 S. 113
z.B. im Bereich der Unfallversicherung auch deren Schutzzweck zu berücksichtigen (MAURER, a.a.O., S. 463; HANS LAURI, Kausalzusammenhang und Adäquanz im Haftpflicht- und Versicherungsrecht, Diss. Bern 1976, S. 89 ff.).
Die Auffassung der Beklagten, der Adäquanzbegriff müsse im Sozialversicherungs- und im Haftpflichtrecht gleich gehandhabt werden, ist zwar im Grundsatz einleuchtend, lässt aber ausser acht, dass es sich bei der Adäquanztheorie nicht um eine rein logische Kausalitätstheorie, sondern um eine wertende Zurechnungstheorie handelt (VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, 3. Aufl., Zürich 1979, S. 98; GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Aufl., Zürich 1991, S. 64; BRUNO VON BÜREN, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Zürich 1964, S. 55 f.; OFTINGER/STARK, a.a.O., Rz. 14, S. 109; MAURER, a.a.O., S. 463; ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, Basel 1984, S. 92; HERMANN WEITNAUER, FS *Oftinger, Zürich 1969, S. 324). Wohl ist die Umschreibung der Adäquanz im Haftpflicht- wie im Sozialversicherungsrecht dieselbe, doch muss, da es sich um eine konkretisierungsbedürftige Generalklausel handelt, auch die unterschiedliche rechtspolitische Zielsetzung der beiden Rechtsgebiete berücksichtigt werden (
BGE 96 II 392
E. 2 S. 398). Eine schematische Übernahme sozialversicherungsrechtlicher Kriterien ins Haftpflichtrecht unbesehen dieser Unterschiede würde dem Zweck, im Einzelfall eine billige, eben "adäquate" Zurechnungsentscheidung zu fällen, zuwiderlaufen.
b) Dass die Beurteilung der Adäquanz auf einer wertenden Betrachtung des Gerichts beruht und unter Berücksichtigung des anwendbaren Normenkomplexes zu erfolgen hat, hat sich sowohl in den Entscheiden des Eidgenössischen Versicherungsgerichts als auch in denjenigen des Bundesgerichts, wenn auch nicht immer mit derselben Transparenz, niedergeschlagen. So beruht etwa die Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, die Leistungspflicht bei Begehrungsneurosen mangels Adäquanz abzulehnen, auf dem Gedanken, dass das Unfallversicherungsrecht Begehrungstendenzen auch dann nicht durch Leistungen belohnen und dadurch fördern will, wenn sie sich zu einer Neurose verfestigen (MAURER, a.a.O., S. 408 und Anm. 1040 a.E.). Damit folgt es - der Sache nach - der deutschen Normzwecktheorie, welche sich mit der Adäquanztheorie in vielen Punkten deckt und ebenfalls auf eine Haftungsbegrenzung zielt (vgl. BREHM, a.a.O., N. 159 zu
Art. 41 OR
; LAURI, a.a.O., S. 102 f.;
BGE 123 III 110 S. 114
Schaer, a.a.O., S. 93). Dieselbe Wertung liegt
BGE 115 V 133
E. 7 S. 142 zugrunde, wo sich das Eidgenössische Versicherungsgericht bei der Beantwortung der Frage der Adäquanz ebenfalls an den rechtspolitischen Zielsetzungen der obligatorischen Unfallversicherung orientiert hat. In
BGE 115 V 413
E. 12b und c S. 414 f. wurde sodann ausdrücklich festgehalten, dass an die massgebende Bedeutung der Unfallursache in der sozialen Unfallversicherung höhere Anforderungen gestellt werden als im privaten Haftpflichtrecht und die Abgrenzung adäquater Unfallfolgen von inadäquaten in beiden Rechtsgebieten demnach unterschiedlich ausfallen könne. Schliesslich weist der unter den Adäquanzkriterien aufgelistete Grad und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, wie sie im Sozialversicherungsrecht nunmehr auf Unfälle mit Schleudertrauma der Halswirbelsäule (
BGE 117 V 359
) und Schädel-Hirntrauma (
BGE 117 V 369
;
122 V 415
, unveröffentlichte E. 3a) analog Anwendung finden, auf die spezifische sozialversicherungsrechtliche Zielsetzung hin.
Auch das Bundesgericht hat in
BGE 113 II 86
E. 1c S. 90 f. unter Hinweis auf
BGE 96 II 398
festgehalten, die Abgrenzung adäquater Unfallursachen und -folgen von inadäquaten brauche im Sozialversicherungsrecht nicht gleich auszufallen wie im Haftpflichtrecht, da nach
Art. 91 KUVG
(SR 832.10) unfallfremde Mitursachen eines Schadens berücksichtigt werden könnten, die den Haftpflichtanspruch nicht zu beeinflussen vermöchten. Daran ändert auch nichts, dass das Bundesgericht anschliessend ausführt, es sei nicht einzusehen, weshalb ein Umstand, der sich in beiden Bereichen auswirke, in jenem erheblich, in diesem hingegen unerheblich sein solle. Damit ist lediglich gesagt, dass ein solcher Umstand im allgemeinen in beiden Rechtsgebieten berücksichtigt werden muss, nicht aber unter welchen rechtlichen Gesichtspunkten die Berücksichtigung zu erfolgen habe. Das Haftpflichtrecht erlaubt nämlich eine Berücksichtigung im Rahmen der Schadenersatzbemessung, während es im Anwendungsbereich des UVG (SR 832.20) um die Alternative des Alles-oder-nichts geht, soweit sich vorbestandene Gesundheitsschäden nicht auf die Erwerbsfähigkeit ausgewirkt haben (
Art. 36 Abs. 2 UVG
, 2. Satz e contrario).
c) Aus diesen Gründen vermag auch die Auffassung der Beklagten, dass an die Adäquanz im Haftpflichtrecht höhere Anforderungen zu stellen seien, wenn die Zurechnungskriterien schon nicht dieselben sein sollten, nicht zu überzeugen. In
BGE 113 II 86
E. 1b S. 89 f. führte das Bundesgericht denn auch aus, nach Lehre und Rechtsprechung zum rechtserheblichen Kausalzusammenhang genüge es
BGE 123 III 110 S. 115
grundsätzlich, dass der Haftpflichtige eine Schadensursache gesetzt habe, ohne die es nicht zum Unfall gekommen wäre, während Mitursachen - in jenem Fall die konstitutionelle Prädisposition des Geschädigten - den adäquaten Kausalzusammenhang in der Regel weder zu unterbrechen noch auszuschliessen vermöchten. Hingegen könne ein vorbestehendes Leiden des Geschädigten für den Umfang der Haftpflichtansprüche gemäss Art. 42 bis 44 OR von Bedeutung sein. Demgegenüber kann das soziale Unfallversicherungsrecht Gesundheitsschädigungen, die vor dem Unfall bestanden haben, jedoch nicht zu einer Verminderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, gemäss
Art. 36 Abs. 2 UVG
nicht durch eine angemessene Kürzung der Entschädigungszahlung Rechnung tragen. Die Zurechnung kann auch in Grenzfällen nicht abgestuft werden, sondern nur über den adäquaten Kausalzusammenhang und damit über den Haftungsgrundsatz erfolgen. Im Haftpflichtrecht dagegen kann der geringen Intensität einer Unfallursache im Zusammenspiel mit andern im Rahmen der Ersatzbemessung Rechnung getragen werden (OFTINGER/STARK, a.a.O., Rz. 24 ff., S. 116 f.; BREHM, a.a.O., N. 53 f. zu
Art. 43 OR
; von TUHR/PETER, a.a.O., S. 98 f.). Bei der Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs dürfen derartige Unterschiede nicht unberücksichtigt bleiben. Die Vorinstanz durfte daher die Adäquanzprüfung bundesrechtskonform unter Ausserachtlassung der dafür im Sozialversicherungsrecht geltenden Kriterien vornehmen, so dass offen bleiben kann, ob die Adäquanz in Anwendung dieser Kriterien zu verneinen gewesen wäre. | null | nan | de | 1,997 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb15f3f0-88ab-4ffa-9d1c-a1df88c5800e | Urteilskopf
120 Ia 126
20. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 6. Mai 1994 i.S. Verband der Unterhaltungsautomaten-Branche (VUB) u. Mitb. gegen Kanton Zürich und Büro des Kantonsrates des Eidgenössischen Standes Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 4, 22ter, 31 und 35 BV, Art. 2 ÜbBest. BV sowie persönliche Freiheit; Verbot von Geldspielautomaten; abstrakte Normenkontrolle.
Das Verbot von Geschicklichkeits-Geldspielautomaten verstösst nicht gegen die Bundesverfassung. Überprüfung der Vereinbarkeit des Verbots mit:
1. dem Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts nach Art. 2 ÜbBest. BV i.V.m.
Art. 35 BV
(E. 3);
2. der Handels- und Gewerbefreiheit gemäss
Art. 31 BV
(Bestätigung der Rechtsprechung; E. 4);
3. der Eigentumsgarantie nach
Art. 22ter BV
(E. 5);
4. dem Gleichbehandlungsgebot gemäss
Art. 4 und 31 BV
(E. 6);
5. der persönlichen Freiheit (E. 7). | Sachverhalt
ab Seite 127
BGE 120 Ia 126 S. 127
Das zürcherische Gesetz über das Unterhaltungsgewerbe vom 27. September 1981 (Unterhaltungsgewerbegesetz, UG) enthielt in seiner ursprünglichen Fassung (Zürcher Gesetzessammlung, Bd. 48, S. 290) unter anderem folgende Regelung:
"Geldspielapparate
a) Einsatz
§ 4 Der Geldeinsatz bei Spielapparaten, die Geld- oder Warengewinne ermöglichen, darf nicht mehr als einen Franken je Einzelspiel betragen. Dieser Höchsteinsatz kann vom Regierungsrat erheblichen Veränderungen des Geldwertes angepasst werden.
b) Standort
§ 5 Spielapparate, die Geld- oder Warengewinne ermöglichen, sind nur in ständig überwachten Gastwirtschaftsräumen und Spielsalons gestattet. Verboten ist das Aufstellen insbesondere in Treppenhäusern, WC-Räumlichkeiten und im Freien."
§ 9 lit. b UG unterstellte Betriebe mit zwei und mehr Spielapparaten als Spielsalons einer Bewilligungspflicht. Inhaber eines Gastwirtschaftspatentes benötigten für das Aufstellen von Spielapparaten keine zusätzliche Bewilligung (§ 10 Abs. 1 lit. a UG).
BGE 120 Ia 126 S. 128
Durch eine erste, am 18. September 1987 eingereichte und in der Volksabstimmung vom 2. Dezember 1990 (mit 147'972 zu 91'443 Stimmen) gegen den Antrag von Regierungsrat und Parlament angenommene formulierte Volksinitiative ("Stopp dem Wildwuchs von Spielsalons und Geldspielautomaten") wurde das Unterhaltungsgewerbegesetz unter anderem wie folgt revidiert (vgl. Zürcher Gesetzessammlung, Bd. 51, S. 361):
Der Höchstgewinn pro Einzelspiel wurde, in Ergänzung von § 4 UG, auf Fr. 100.-- beschränkt. Spielverknüpfungen waren verboten. Sodann mussten bei erfolgreicher Ausnützung der Geschicklichkeit mindestens 90% der Geldeinsätze an die Spieler zurückfliessen. Für Besucher von Spielsalons wurde ein Mindestzutrittsalter von 18 Jahren festgesetzt (§ 14 Abs. 2 UG). Nach § 14a UG konnten Gemeinden bis 10'000 Einwohner die Bewilligung für Spielsalons mit Geldspielautomaten verweigern, höchstens aber eine einzige Bewilligung erteilen. Für grössere Gemeinden bestand eine entsprechende, an die Einwohnerzahl anknüpfende Limitierung. Schliesslich wurden in § 7a UG Geldspielautomaten einer besonderen Automatensteuer unterworfen.
Diese - unangefochten gebliebene - Änderung des Unterhaltungsgewerbegesetzes trat am 1. Februar 1991 in Kraft.
Am 6. April 1989 - rund zwei Jahre nach der ersten Initiative, aber noch unter der Geltung der ursprünglichen Fassung des Unterhaltungsgewerbegesetzes - wurde eine zweite formulierte Volksinitiative "Verbot von Geldspielautomaten" eingereicht, welche in der gesetzestechnisch bereinigten Fassung (Zürcher Gesetzessammlung, Bd. 52, S. 547) folgende Gesetzesänderungen vorsieht:
"I. Das Gesetz über das Unterhaltungsgewerbe (Unterhaltungsgewerbegesetz) vom 27. September 1981 wird wie folgt geändert:
§ 4 Das Aufstellen und der Betrieb von Geldspielautomaten und anderen Apparaten, bei welchen gegen Leistung eines Einsatzes Geld- oder Warengewinne abgegeben werden, ist verboten.
§§ 5 und 9 lit. b werden aufgehoben.
II. Das Gastgewerbegesetz vom 9. Juni 1985 wird wie folgt geändert:
§ 51 Abs. 2 Geldspielapparate sind auch in einem Wirtschaftsbetrieb nicht gestattet.
III. Der Regierungsrat bestimmt das Inkrafttreten der neuen Bestimmungen."
Diese zweite Initiative wurde, wiederum gegen den Antrag von Regierungsrat und Parlament, in der Volksabstimmung vom 2. Juni 1991 mit 151'315 Ja gegen 145'512 Nein angenommen.
BGE 120 Ia 126 S. 129
Die Abstimmung zur zweiten Initiative gab - unter anderem wegen einer Geldzuwendung der Gemeinde Wallisellen an das private Initiativkomitee - zu einer Reihe von Stimmrechtsbeschwerden Anlass. Mit Urteil vom 8. April 1992 hob das Bundesgericht (I. öffentlichrechtliche Abteilung) einen Beschluss des Kantonsrates vom 30. September 1991, auf die bei ihm gegen die Abstimmung erhobenen Beschwerden nicht einzutreten, auf (vgl. ZBl 93/1992, S. 471 ff.). Der Kantonsrat wies in der Folge die Beschwerden am 14. Dezember 1992 ab. Am 4. August 1993 wies das Bundesgericht seinerseits die bei ihm - zum Teil unmittelbar gegen die Abstimmung, zum Teil gegen den zweiten Beschluss des Kantonsrates vom 14. Dezember 1992 - erhobenen staatsrechtlichen Beschwerden ab, soweit es darauf eintrat (
BGE 119 Ia 271
).
Der Kantonsrat erwahrte daraufhin mit Beschluss vom 6. September 1993 das Ergebnis der Abstimmung vom 2. Juni 1991 und erklärte die Volksinitiative "Verbot von Geldspielautomaten" als angenommen. Dieser Beschluss wurde im Amtsblatt des Kantons Zürich vom 10. September 1993 veröffentlicht (Amtsblatt des Kantons Zürich 1993, Textteil, S. 1111).
Im Anschluss an die Publikation dieses Erwahrungsbeschlusses führen eine Reihe von Einzelpersonen, Unternehmungen und Verbänden, wovon unter anderem der Verband der Unterhaltungsautomaten-Branche (VUB), staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht mit dem Antrag, die in der Volksabstimmung vom 2. Juni 1991 beschlossenen Änderungen des Unterhaltungsgewerbegesetzes und des Gastgewerbegesetzes aufzuheben.
Die Beschwerdeführer berufen sich auf
Art. 31 BV
(Handels- und Gewerbefreiheit), darüber hinaus zum Teil auch auf
Art. 4 BV
(Rechtsgleichheitsgebot), auf
Art. 22ter BV
(Eigentumsgarantie), auf das ungeschriebene verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit und auf Art. 2 ÜbBest. BV (derogatorische Kraft des Bundesrechts).
Der Regierungsrat des Kantons Zürich beantragt in seiner Vernehmlassung vom 3. November 1993 sinngemäss die Abweisung der Beschwerden. Mit Eingabe vom 4. November 1993 schliesst sich das Büro des Kantonsrates dieser Stellungnahme an.
Am 7. März 1993 - das heisst nach Annahme der hier in Frage stehenden kantonalen Volksinitiative betreffend das Verbot von Geldspielautomaten - stimmten Volk und Stände einschliesslich des Kantons Zürich einer Aufhebung des in
Art. 35 BV
verankerten Spielbankenverbotes zu (vgl. Bundesratsbeschluss vom 27. April 1993 über das Ergebnis der
BGE 120 Ia 126 S. 130
Volksabstimmung vom 7. März 1993, BBl 1993 I 1587). Die neue Fassung gemäss dem Bundesbeschluss vom 9. Oktober 1992 (vgl. BBl 1992 VI 58) lautet wie folgt:
"1 Die Gesetzgebung über die Errichtung und den Betrieb von Spielbanken einschliesslich Glücksspielautomaten mit Geldgewinn ist Sache des Bundes.
2 Spielbanken bedürfen einer Konzession des Bundes. Er berücksichtigt bei der Konzessionserteilung regionale Gegebenheiten, aber auch die mit den Glücksspielen verbundenen Gefahren.
3 Die Gesetzgebung legt die Einsatzlimiten fest. 4 Die Zulassung von Geschicklichkeitsspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit bleibt der kantonalen Gesetzgebung vorbehalten.
5 Eine ertragsabhängige Spielbankabgabe von maximal 80 Prozent der Bruttospielerträge aus dem Betrieb der Spielbanken ist dem Bund abzuliefern. Sie wird zur Deckung des Bundesbeitrages an die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung verwendet.
6 Der Bund kann auch in Beziehung auf die Lotterien geeignete Massnahmen treffen."
Am 1. Februar 1994 wurde bei der Staatskanzlei des Kantons Zürich eine dritte Volksinitiative (sogenannte "Fairplay-Initiative", "Volksinitiative für Glaubwürdigkeit im Spielbetrieb - gegen schwere Sozialfolgen") eingereicht, welche - unter anderem unter Hinweis auf das Ergebnis der eidgenössischen Volksabstimmung vom 7. März 1993 über die Aufhebung des Spielbankenverbots - den Betrieb von Geldspielautomaten wieder gestatten will. Soweit ersichtlich, soll damit der Rechtszustand vor Annahme der hier streitigen zweiten Initiative wieder hergestellt werden.
Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab
Erwägungen
aus den folgenden Erwägungen:
3.
a) Einzelne Beschwerdeführer erblicken im angefochtenen Geldspielautomatenverbot einen Verstoss gegen die derogatorische Kraft des Bundesrechts (Art. 2 ÜbBest. BV). Sie berufen sich auf die in der eidgenössischen Volksabstimmung vom 7. März 1993 angenommene neue Fassung von
Art. 35 BV
(Aufhebung des Spielbankenverbotes) und machen geltend, das vom zürcherischen Gesetzgeber erlassene vollständige Verbot von Geldspielautomaten stehe mit dieser bundesrechtlichen Regelung, insbesondere mit dem neuen
Art. 35 Abs. 4 BV
, nicht im Einklang.
b) Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde kann grundsätzlich nur auf Tatsachen, die vor dem Zeitpunkt des letzten kantonalen Entscheides
BGE 120 Ia 126 S. 131
eingetreten sind, beziehungsweise auf Rechtsnormen, die in diesem Zeitpunkt bereits in Kraft waren, abgestellt werden (
BGE 102 Ia 76
E. 2f, 243 E. 2; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1994, S. 370).
Der neue
Art. 35 BV
ist nicht schon mit der Annahme in der Volksabstimmung in Kraft getreten, sondern muss gemäss der - ebenfalls Gegenstand der Abstimmung bildenden - Ziff. II Abs. 2 des betreffenden Bundesbeschlusses vom Bundesrat erst noch in Kraft gesetzt werden (vgl. BBl 1992 VI 59). Ein solcher Inkraftsetzungsbeschluss wurde bis anhin nicht publiziert. Es wird damit offenbar aus dem Grund zugewartet, weil die neue Verfassungsordnung erst zusammen mit den erforderlichen eidgenössischen Ausführungsvorschriften sinnvoll Wirkung entfalten kann. Da somit die neue Regelung von
Art. 35 BV
noch nicht in Kraft ist, kann sie dem angefochtenen zürcherischen Geldspielautomatenverbot zum vornherein nicht entgegenstehen. Dessen Zulässigkeit beurteilt sich im vorliegenden Normenkontrollverfahren allein nach den heute noch geltenden bundesrechtlichen Vorschriften.
Das in Ausführung des bisherigen
Art. 35 BV
erlassene und zurzeit noch in Kraft stehende Bundesgesetz vom 5. Oktober 1929 über die Spielbanken (SR 935.52) regelt lediglich den Umfang des Verbotes von Spielbanken sowie der diesen gleichzustellenden Glücks-Geldspielautomaten und schliesst kantonale Vorschriften über die Geschicklichkeits-Geldspielautomaten, welche nicht unter das bundesrechtliche Verbot fallen und im vorliegenden Verfahren einzig zur Diskussion stehen, nicht aus. Die heutige Bundesgesetzgebung lässt, wie das Bundesgericht wiederholt festgestellt hat, auch Raum für ein generelles kantonales Verbot von Geldspielautomaten (
BGE 101 Ia 336
E. 4 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 106 Ia 191
E. 6a). Die Beschwerdeführer stellen dies nicht in Abrede.
Die Rüge der Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV ist somit unbegründet. Sie vermöchte übrigens, wie die nachfolgenden Ausführungen (E. 4d) zeigen, auch dann nicht durchzudringen, wenn der neue
Art. 35 BV
bereits in Kraft stünde.
c) Von der Rüge der Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV nicht scharf abtrennen lässt sich ein anderes Vorbringen der Beschwerdeführer. Danach fragt sich, ob und wieweit die voraussehbaren tatsächlichen Auswirkungen der vom Bundesverfassungsgeber verbindlich beschlossenen, aber noch nicht in Kraft gesetzten Neuregelung des Spielbankenwesens die Handlungsfreiheit des
BGE 120 Ia 126 S. 132
kantonalen Gesetzgebers für den ihm verbleibenden Regelungsbereich der Geschicklichkeits-Geldspielautomaten allenfalls indirekt beschränken. In diesem Sinne wird zu prüfen sein, ob dadurch die im Zusammenhang mit
Art. 31 BV
vorzunehmende Interessenabwägung beziehungsweise Beurteilung der Verhältnismässigkeit beeinflusst wird (E. 4d).
4.
a) Mit sämtlichen Beschwerden wird in erster Linie eine Verletzung von
Art. 31 BV
gerügt. Das gewerbsmässige Aufstellen und Betreiben von Spielautomaten steht als wirtschaftliche Erwerbstätigkeit unter dem Schutz der Handels- und Gewerbefreiheit. Die Kantone dürfen solche Tätigkeiten indessen beschränken, denn
Art. 31 Abs. 2 BV
behält kantonale Bestimmungen über die Ausübung von Handel und Gewerben vor. Zulässig sind neben polizeilich motivierten Massnahmen namentlich auch sozialpolitisch begründete Einschränkungen.
Sie bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, müssen durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten (
BGE 119 Ia 59
E. 6a mit Hinweisen; betreffend Geldspielautomatenverbot:
BGE 106 Ia 191
E. 5b;
BGE 101 Ia 336
E. 5 am Anfang).
b) Im vorliegenden Fall ist die gesetzliche Ordnung selber angefochten, welche die Grundlage für das Verbot von Geldspielautomaten bildet. Das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage ist damit erfüllt, soweit dies im abstrakten Normenkontrollverfahren überhaupt massgeblich sein kann. Es fragt sich somit nur, ob die angefochtene Regelung durch ein hinreichendes öffentliches Interesse gedeckt ist und dem Gebot der Verhältnismässigkeit entspricht.
c) Das Bundesgericht hat in einem den Kanton Basel-Landschaft betreffenden Urteil vom 24. September 1975 die Verfassungsmässigkeit eines kantonalen Geldspielautomatenverbotes bejaht. Zur Begründung führte es aus, dass die Gefahr der Umwandlung der als Geschicklichkeitsspiele zugelassenen Apparate in - bundesrechtlich verbotene - reine Glücksspielgeräte erheblich sei und der zur Durchsetzung der bundesrechtlichen Schranken erforderliche hohe Kontrollaufwand ein vollständiges Verbot von Geldspielautomaten rechtfertige.
Ob ein solches Verbot auch zum Schutz des Publikums vor der Gefahr der Spielsucht erlassen werden könnte, wurde offengelassen (
BGE 101 Ia 336
).
In einem weiteren, den Kanton Basel-Stadt betreffenden Urteil vom 20. Juni 1980 liess das Bundesgericht diese Frage nicht mehr offen, sondern stellte
BGE 120 Ia 126 S. 133
- in Anknüpfung an entsprechende frühere Entscheide (
BGE 80 I 350
und
BGE 90 I 321
) - fest, dass der Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren der Spielsucht ein ausreichender Grund für ein Verbot von Geldspielautomaten sei. Selbst wenn nur echte Geschicklichkeitsgeräte zum Einsatz kämen, bestehe die Gefahr, dass die Spieler durch die in Aussicht stehenden Geldgewinne zu wiederholtem Spielen verleitet würden und damit erhebliche Verluste erleiden könnten. Wenn der kantonale Gesetzgeber davon ausgehe, dass vor allem Jugendliche und sozial Benachteiligte auf diese Weise einen beträchtlichen Teil ihres Geldes verlieren, und daher den Betrieb von Geldspielautomaten verbiete, so sei diese Massnahme durch hinreichende soziale und sozialpolitische Gründe gedeckt. Ob darüber hinaus auch der staatliche Kontrollaufwand ein solches Verbot zu rechtfertigen vermöchte, sei unerheblich (
BGE 106 Ia 191
E. 6).
d) Den anwaltlich vertretenen Beschwerdeführern ist diese Rechtsprechung bekannt. Sie halten jedoch dafür, dass sich die damals beurteilte Situation von der vorliegenden wesentlich unterscheide.
aa) Einzelne Beschwerdeführer berufen sich insbesondere auf die am 7. März 1993 von Volk und Ständen angenommene neue Regelung von
Art. 35 BV
. Mit der Aufhebung des Spielbankenverbotes sei der Betrieb von Spielcasinos künftig von Bundesrechts wegen grundsätzlich zulässig. Damit werde auch im Kanton Zürich das Geldspiel mit viel grösseren Einsätzen möglich sein. In diesen Spielcasinos müssten zudem nebst den üblichen Tischspielen wie Roulette, Black Jack, Baccarat und Poker auch Säle mit Geldspielautomaten eingerichtet werden, damit die Unternehmungen rentabel seien. Die in den Spielbanken aufgestellten Geldspielautomaten würden viel höhere Einsätze und Gewinne erlauben als die im vorliegenden Fall streitigen Geräte, wobei dieser Teil der Spielbanken, wie ein Blick auf die bestehenden europäischen Casinos zeige, nicht nur abends geöffnet sei. Insofern verfügten die Casinos mangels Registrierungs- oder Ausweispflicht wie auch mangels Kleidervorschriften über die gleiche Kundenstruktur wie die bestehenden zürcherischen Spielbetriebe.
Die Einwendungen der Beschwerdeführer lassen sich dahin zusammenfassen, dass zwischen der neuen bundesverfassungsrechtlichen Ordnung von
Art. 35 BV
und dem angefochtenen kantonalen Geldspielautomatenverbot hinsichtlich Zielsetzung und Wertung der berührten Interessen ein Widerspruch bestehe.
BGE 120 Ia 126 S. 134
Während der Bund nunmehr von der Eigenverantwortlichkeit des Bürgers ausgehe und diesem die Möglichkeit zum Geldspiel grundsätzlich eröffnen wolle, schliesse der Kanton Zürich dies wiederum vollständig aus. Das kantonale Totalverbot von geschicklichkeitsabhängigen Geldspielautomaten erweise sich daher im Hinblick auf die künftige bundesrechtliche Zulassung von Glücksspielautomaten auch als unverhältnismässig.
bb) Zwischen den Wertungen, welche der neuen liberalen Bundesregelung zugrunde liegen, und den gesetzespolitischen Anliegen des zürcherischen Gesetzgebers, die zum Erlass des hier angefochtenen Geldspielautomatenverbotes führten, besteht zweifellos ein gewisser Gegensatz.
Ausschlaggebend für die neue Bundesregelung war die Überlegung, dass die Schutzwirkung des bisherigen Spielbankenverbotes wegen der leichten Erreichbarkeit der grenznahen ausländischen Casinos weitgehend dahingefallen sei. Das leicht umgehbare Verbot sei nicht mehr zeitgemäss und entspreche nicht dem heutigen Freiheitsverständnis. Die Zulassung attraktiver Spielbanken liege im Interesse des Fremdenverkehrs. Im Vordergrund standen allerdings, wie schon der äussere Rahmen der Vorlage zeigt ("Sanierungsmassnahmen 1992 für den Bundeshaushalt", vgl. BBl 1992 III 349), finanzpolitische Überlegungen: Der Bund erhofft sich aus dem Betrieb der von ihm zu konzessionierenden Spielbanken jährliche Einnahmen von rund 150 Millionen Franken (BBl 1992 III 355 und 379 f.; Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 7. März 1993, S. 11).
Das hier angefochtene zürcherische Geldspielautomatenverbot beruht demgegenüber, wie aus der Begründung der betreffenden Volksinitiative (vgl. Amtsblatt des Kantons Zürich 1990, Textteil, S. 161 f.) hervorgeht, weitgehend auf gegensätzlichen Wertungen. Der zürcherische Gesetzgeber erblickt im Betrieb von Geldspielautomaten eine Gefährdung der jugendlichen Benützer und anderer anfälliger Personen aus sozial schwachen Schichten, welche bei diesem Freizeitvergnügen innert kürzester Frist hohe Geldverluste erleiden und der Automatenspielsucht verfallen könnten. Zur Vermeidung der damit verbundenen schädlichen Sozialfolgen sollen Geldspielautomaten, soweit sie in die Kompetenz der Kantone fallen, vollständig verboten werden.
cc) Auch in diesem Zusammenhang ist vorweg festzuhalten, dass im Zeitpunkt, als die hier angefochtene Gesetzesänderung von den Zürcher Stimmberechtigten angenommen wurde, also am 2. Juni 1991, der neue
BGE 120 Ia 126 S. 135
Art. 35 BV
noch nicht beschlossen war. Es lag damals noch nicht einmal die entsprechende Botschaft des Bundesrates vom 25. März 1992 (BBl 1992 III 349) vor. Massgebend für die Beurteilung der Verfassungsmässigkeit sind jedoch die Verhältnisse, wie sie bei Anordnung des angefochtenen Hoheitsaktes bestanden (KÄLIN, S. 370, mit Hinweisen). Daran ändert auch nichts, dass selbst der Kanton Zürich die neue Verfassungsbestimmung mit einer Mehrheit von rund 68% angenommen hat (vgl. BBl 1993 I 1590).
Davon abgesehen ist heute mangels der erforderlichen Ausführungsgesetzgebung zum neuen
Art. 35 BV
noch nicht bekannt, in welchem Umfang Spielbanken und die allenfalls dazugehörigen Glücksspielautomaten künftig tatsächlich zugelassen werden. Auch wenn eine entsprechende Ausführungsgesetzgebung in absehbarer Zeit einmal in Kraft treten sollte, so werden solche Einrichtungen jedenfalls nicht beliebig, sondern nur aufgrund einer Konzession des Bundes, das heisst in einer begrenzten Anzahl, betrieben werden können (neuer
Art. 35 Abs. 2 BV
) und einer strengen behördlichen Aufsicht unterworfen sein (BBl 1992 III 380; Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 7. März 1993, S. 11). Weiter ist offen, welche allfälligen Zugangsbeschränkungen für den Spielcasinobesuch der Bundesgesetzgeber festlegen wird.
Entscheidend ist aber, dass sich die Regelungskompetenz des Bundes auch nach dem neuen
Art. 35 BV
allein auf Spielbanken und Glücksspielautomaten beschränkt, während der Entscheid über die Zulassung von Geschicklichkeitsspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit ausdrücklich weiterhin den Kantonen vorbehalten bleibt (neuer
Art. 35 Abs. 4 BV
). Die Bundesverfassung lässt mit dieser Aufteilung des Regelungsgegenstandes Raum dafür, dass die Kantone den ihnen zugewiesenen Sachbereich der Geschicklichkeits-Geldspielautomaten - im Rahmen der allgemeinen verfassungsrechtlichen Schranken - selbständig ordnen können, ohne an die vom Bundesgesetzgeber für den Bereich der Spielbanken und Glücksspielautomaten vorgenommenen Wertungen gebunden zu sein. Auch wenn zwischen den beiden Regelungsgebieten eine sachliche Verwandtschaft besteht, bleibt der kantonale Gesetzgeber bei der Gewichtung der berührten Interessen grundsätzlich autonom. Das will nicht heissen, dass die tatsächlichen Verhältnisse, wie sie sich unter anderem aufgrund der bundesrechtlichen Spielbankenregelung in Zukunft entwickeln können, bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit kantonaler Verbote nach dem neuen
Art. 35 Abs. 4 BV
überhaupt keine Rolle spielen dürften; doch besteht keine
BGE 120 Ia 126 S. 136
direkte Verpflichtung des kantonalen Gesetzgebers, sich an die bundesrechtliche Ordnung anzulehnen.
dd) Es fragt sich sogar, ob der Bundesverfassungsgeber mit dem neuen
Art. 35 Abs. 4 BV
, wonach "die Zulassung" von Geschicklichkeitsspielapparaten mit Gewinnmöglichkeit "der kantonalen Gesetzgebung vorbehalten" bleibt, die Möglichkeit der Nichtzulassung beziehungsweise eines vollständigen Verbots nicht bereits verbindlich als verfassungsrechtlich zulässige Lösungsvariante einstuft (vgl. dazu
BGE 103 Ia 360
E. 2 bezüglich einer ähnlichen, die Möglichkeit eines Verbots aber ausdrücklich vorsehenden Ermächtigung in Art. 2 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 8. Juni 1923 betreffend die Lotterien und die gewerbsmässigen Wetten, SR 935.51). Die Materialien zum neuen
Art. 35 Abs. 4 BV
(vgl. insb. BBl 1992 III 380 sowie Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 7. März 1993, S. 13) sprechen aber dafür, dass die Kantone von der dortigen Ermächtigung nur nach Massgabe der Voraussetzungen von
Art. 31 BV
und der übrigen verfassungsrechtlichen Schranken Gebrauch machen können, wie dies bisher unter der Geltung des aktuellen Spielbankengesetzes der Fall gewesen ist.
Einzelne Beschwerdeführer vertreten demgegenüber die Auffassung, aus dem neuen
Art. 35 BV
liesse sich im Gegenteil ableiten, die Kantone müssten Geschicklichkeitsspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit in einem bestimmten Umfang zulassen; solche Geräte könnten zwar gewissen Beschränkungen unterworfen, nicht aber verboten werden. Dem Bundesverfassungsgeber musste jedoch bewusst sein, dass der Betrieb solcher Geräte heute in vielen Kantonen untersagt ist. Hätte er solche Verbote als unzulässig erklären wollen, hätte er einen entsprechenden Wortlaut wählen können und auch müssen.
e) Zu prüfen bleibt, ob das angefochtene Geldspielautomatenverbot bei Berücksichtigung der gesamten sonstigen Umstände vor
Art. 31 BV
standhält beziehungsweise ob gegenüber den vom Bundesgericht bisher beurteilten Fällen unterschiedliche Verhältnisse bestehen, welche zu einem andern Ergebnis führen.
aa) Dass der bisher mit dem Betrieb von Geldspielautomaten verbundene staatliche Kontrollaufwand, zwecks Verhinderung der Umfunktionierung der Geräte in bundesrechtlich verbotene reine Glücksspielautomaten, im Sinne der Rechtsprechung von
BGE 101 Ia 336
Anlass zum angefochtenen Verbot gegeben habe, wird von keiner Seite behauptet.
BGE 120 Ia 126 S. 137
bb) Es kann somit einzig darum gehen, ob das dem Geldspielautomatenverbot zugrundeliegende sozialpolitische Ziel ein diese Massnahme rechtfertigendes, überwiegendes öffentliches Interesse darstellt.
Zur Begründung des Verbotes wurde von den Initianten des Volksbegehrens angeführt, dass es im Kanton Zürich Hunderte von süchtigen Geldspielgerätebenützern gebe. Die Automatenspielsucht sei die Ursache von verheerenden Sozialfolgen wie Verschuldung, familiäre Zerrüttung und berufliches Versagen. Betroffen seien vor allem Jugendliche, Rentner, Hausfrauen und einsame Menschen. Geldverluste von Fr. 300.-- bis Fr. 450.-- in einer einzigen Spielstunde seien keine Seltenheit. Ganze Lohntüten wanderten frankenstückweise in die Geldspielautomaten. Das Spielen an Geldspielautomaten fördere bei Jugendlichen eine unrealistische Einstellung zum Geld und zum Erfolg. Schliesslich spielten diese Apparate auch als Ursache von Beschaffungsdelikten eine zunehmende Rolle (vgl. Begründung zur Volksinitiative Verbot von Geldspielautomaten, a.a.O., S. 161 f.).
Die Beschwerdeführer widersprechen dieser Darstellung. Sie bestreiten, zum Teil unter Hinweis auf eine entsprechende Studie über die von den Sozialdiensten erfassten Fälle, dass überhaupt eine nennenswerte Zahl spielsüchtiger Automatenspieler existiere. Eine individuelle Betreuung der wenigen Spielsüchtigen reiche als Abwehrmassnahme völlig aus. Einen ähnlichen Standpunkt vertraten auch Regierungsrat und Kantonsrat in ihren Stellungnahmen zur betreffenden Initiative (vgl. etwa den Bericht des Regierungsrates vom 13. Dezember 1989 an den Kantonsrat [in: Amtsblatt des Kantons Zürich 1990, Textteil, S. 160, insb. S. 164 ff.] sowie in der Abstimmungsvorlage zur Volksinitiative Verbot von Geldspielautomaten, S. 6). Die Beschwerdeführer verweisen sodann auf die vielen anderen, nach wie vor erlaubten Spielmöglichkeiten (Zahlenlotto, Toto-X, Sport-Toto, Bingos, Pferdewetten usw.), bei denen, zum Teil mit viel höheren Einsätzen, jedermann um Geld spielen könne. Zudem sei es den interessierten Spielern bei der heutigen Mobilität ohne weiteres möglich, auf Nachbarkantone oder ins nahegelegene Ausland auszuweichen, um die dort gestatteten Geldspielmöglichkeiten ausüben zu können. Seitens des Regierungsrates wurde auch die Befürchtung geäussert, ein vollständiges Verbot von Geldspielautomaten schaffe die Gefahr der Bildung illegaler Spielclubs und des Ausweichens auf unerlaubte Formen von Glücksspielen (Bericht vom 13. Dezember 1989 an den Kantonsrat, a.a.O., S. 165 f.).
BGE 120 Ia 126 S. 138
cc) Diese gegensätzlichen Standpunkte lassen sich je in guten Treuen vertreten. Dass die Meinungen über die Zweckmässigkeit eines Geldspielautomatenverbotes geteilt sind, zeigt auch die unterschiedliche Ordnung der einzelnen Kantone. Nach unbestrittener Darstellung des Regierungsrates (Bericht vom 13. Dezember 1989 an den Kantonsrat, a.a.O., S. 163) sind Geldspielautomaten heute etwa in der Hälfte der Kantone mit unterschiedlichen Einschränkungen erlaubt, in der andern Hälfte dagegen untersagt.
Art. 31 BV
lässt dem zuständigen kantonalen Gesetzgeber bei der Bewertung der berührten Interessen und der Wahl geeigneter Lösungen einen weiten Spielraum. Im vorliegenden Verfahren ist nicht darüber zu befinden, ob die angefochtene zürcherische Regelung zweckmässig ist und den berührten Anliegen völlig gerecht wird. Dafür trägt der kantonale Gesetzgeber die Verantwortung. Zu entscheiden ist einzig, ob sich diese Regelung an die verfassungsrechtlichen Schranken von
Art. 31 BV
hält.
Das dem streitigen Verbot zugrundeliegende sozialpolitische Ziel, Jugendliche und sozial schwache Bevölkerungsschichten vor der Gefahr der Spielsucht und dem Risiko übermässiger Geldverluste zu bewahren, stellt grundsätzlich ein zulässiges Eingriffsmotiv dar, wie bereits in
BGE 106 Ia 191
E. 6 entschieden wurde. Wohl scheint die Zahl der von den Sozialdiensten und Fürsorgeämtern erfassten Spielsüchtigen gering zu sein, wofür die Beschwerdeführer zum Teil auch Anhaltspunkte vorlegen können. Dies vermag aber die Annahme des zürcherischen Gesetzgebers, wonach viele Jugendliche und andere Angehörige sozial schwacher Schichten einen übermässigen Anteil ihrer Mittel an Geldspielautomaten verlieren, nicht zu widerlegen.
Dass neben den Geldspielautomaten nach wie vor noch andere auf Geldeinsatz und Geldgewinn angelegte Spielmöglichkeiten bestehen und künftig sogar - aufgrund des neuen
Art. 35 BV
- eigentliche Spielbanken den Betrieb aufnehmen werden, stellt die sachliche Vertretbarkeit des hier streitigen Verbotes ebenfalls nicht in Frage. Geldspielautomaten unterscheiden sich einerseits von übrigen Spielen um Geldgewinne (Lotterien usw.) - von den Spielbanken abgesehen - vor allem durch die Unmittelbarkeit der möglichen Gewinnauszahlung. Andererseits sind solche Geräte in Spielsalons und Gaststätten überall vorhanden und insofern für den angesprochenen Benützerkreis leichter zugänglich als die voraussichtlich nur in sehr beschränkter Anzahl zugelassenen Spielbanken.
BGE 120 Ia 126 S. 139
dd) Nach den Darlegungen in einzelnen Beschwerdeschriften entfällt der grösste Teil des Umsatzes in den Spielbetrieben auf Geldspielautomaten. Bei einem Verbot derselben seien eine Reihe von bestehenden Unternehmen der Unterhaltungsautomaten-Branche mangels Rentabilität des Restbetriebes nicht mehr existenzfähig, womit insgesamt Hunderte beziehungsweise bis zu 1'000 Arbeitsplätze bedroht seien.
Ein Inkrafttreten des Geldspielautomatenverbotes würde die im Kanton Zürich tätigen Unternehmen dieser Branche unzweifelhaft einschneidend treffen. Auch den Wirten entginge die Möglichkeit dieses Zusatzerwerbes. Die Massnahme hätte, über die den beteiligten Firmen und ihren Arbeitnehmern drohenden Nachteile hinaus, zudem negative volkswirtschaftliche Auswirkungen und entsprechende Steuerausfälle für den Staat zur Folge. Nach der Stellungnahme des Regierungsrates zur streitigen Volksinitiative entgeht den Städten und Gemeinden durch den Wegfall der Sondersteuer auf Geldspielapparaten ein jährlicher Betrag von rund 20 beziehungsweise 17 Millionen Franken (so gemäss dem Bericht des Regierungsrates vom 13. Dezember 1989 an den Kantonsrat, a.a.O., S. 166, sowie gemäss der Abstimmungsvorlage zur Volksinitiative Verbot von Geldspielautomaten, S. 6). In einer Beschwerdeschrift wird der von der Spielautomaten-Branche jährlich insgesamt aufgebrachte Steuerbetrag sogar auf 45 Millionen Franken geschätzt.
Der Umfang dieser drohenden wirtschaftlichen und finanziellen Folgen zeigt aber zugleich, dass im Kanton Zürich mit dem Geldspielautomatengeschäft sehr hohe Umsätze erzielt werden und demzufolge die von den Spielern erlittenen Verluste ein entsprechendes Mass erreichen. Damit erhält auch das hinter dem streitigen Verbot stehende sozialpolitische Anliegen, der Spielsucht und übermässigen Geldverlusten des angesprochenen Benützerkreises vorzubeugen, ein entsprechend grösseres Gewicht. Die von den Beschwerdeführern geltend gemachten weitreichenden finanziellen Interessen von Wirtschaft und Staat am Weiterbetrieb des Geldspielautomatengeschäftes stellen insoweit noch keine Besonderheit der zürcherischen Verhältnisse dar, welche hier bei der Interessenabwägung zu einem andern Ergebnis führen müsste als in den vom Bundesgericht bisher beurteilten Fällen.
ee) In einer Beschwerde wird der Einwand erhoben, der Kanton Zürich stelle insofern einen Sonderfall dar, als Geldspielautomaten hier von Anfang an, das heisst seit ihrem Aufkommen, stets zugelassen gewesen seien. Gesetzgeber und Behörden hätten dementsprechend über lange Jahre hinweg ein
BGE 120 Ia 126 S. 140
dichtes Netz der Reglementierung und Kontrolle aufgebaut. Im Vertrauen auf diese gesetzgeberischen Dispositionen seien im betreffenden Wirtschaftszweig Hunderte von Millionen Franken investiert und ein Berufsstand mit über 1'000 Beschäftigten, rund 130 Betriebsstätten sowie zahlreichen Geschäftsniederlassungen aufgebaut worden. Der Regierungsrat habe denn auch den Erlass eines Geldspielautomatenverbotes mit aller Deutlichkeit abgelehnt und in seiner Stellungnahme zu einem dahingehenden parlamentarischen Vorstoss darauf hingewiesen, dass der Betrieb dieser Apparate "praktisch zu keinen Beanstandungen Anlass" gebe (Antrag des Regierungsrates vom 15. Juni 1988 an den Kantonsrat zu einer Motion betreffend Erlass eines Verbotes von Geldspielautomaten mit Geldgewinnen).
Des weitern habe der zürcherische Gesetzgeber am 2. Dezember 1990, das heisst wenige Monate vor dem hier streitigen Verbot, in Gutheissung einer andern Initiative eine Revision des Unterhaltungsgewerbegesetzes unter anderem mit neuen einschränkenden Bestimmungen zum Schutze der Spielapparatebenützer beschlossen, deren Auswirkungen gar nicht abgewartet worden seien. Inzwischen habe diese am 1. Februar 1991 in Kraft getretene Änderung ihre Wirksamkeit bewiesen. Es seien keine neuen Spielbetriebe mehr entstanden, und in den Zürcher Medien seien auch keine Berichte über angebliche Spielsuchtprobleme mit Automaten erschienen. Durch diese neue Regelung seien die geltend gemachten sozialpolitischen Belange ausreichend gewahrt. Die Verhältnisse des Kantons Zürich unterschieden sich damit von der in
BGE 106 Ia 191
beurteilten Situation des Kantons Basel-Stadt. In diesem Kanton sei der Betrieb von Geldspielautomaten damals keinerlei Beschränkungen und auch keiner Kontrolle unterworfen gewesen. Im Kanton Zürich bestehe dagegen aufgrund der geltenden strengen Reglementierung gar kein Bedürfnis nach Erlass eines vollständigen Verbotes.
Es fällt in der Tat auf, dass die Gesetzgebung des Kantons Zürich über Spielsalons und Geldspielautomaten kurz hintereinander zweimal wesentlich geändert worden ist, ohne dass zwischen den beiden Vorlagen eine sachliche Koordination bestanden hätte. Mit der ersten Revision wurde der Betrieb von Geldspielautomaten verschärften Zulassungs- und Benützungsvorschriften sowie einer neuen Sondersteuer unterworfen. Mit der wenige Monate später beschlossenen zweiten Revision wird der Betrieb solcher Geräte vollständig untersagt. Dieser ungewöhnliche Ablauf erklärt sich damit, dass es sich
BGE 120 Ia 126 S. 141
nicht um vom Kantonsparlament beschlossene Vorlagen, sondern um von unterschiedlichen Gruppen getragene formulierte Volksinitiativen handelte. Kurzfristig hintereinander folgende gegenläufige Gesetzesrevisionen könnten unter dem Gesichtswinkel der Rechtssicherheit, allenfalls auch unter jenem der Verhältnismässigkeit, verfassungsrechtliche Bedenken erwecken. Ob bei formulierten Volksinitiativen diesbezüglich ein anderer Massstab am Platze ist als bei parlamentarischen Vorlagen, kann hier dahingestellt bleiben.
Im vorliegenden Fall wird von den Beschwerdeführern nicht geltend gemacht oder jedenfalls nicht dargetan, dass sie aufgrund der am 1. Februar 1991 in Kraft getretenen ersten Gesetzesrevision im Vertrauen auf eine gewisse Beständigkeit der Rechtsordnung bedeutsame Investitionen in die erforderlichen Anpassungen getätigt hätten. Einer solchen Argumentation wäre auch entgegenzuhalten, dass das Zustandekommen der weitergehenden zweiten, ebenfalls zur Abstimmung anstehenden Volksinitiative schon seit der Gültigerklärung durch den Kantonsrat am 15. Februar 1988 bekannt war und mit der Möglichkeit eines späteren vollständigen Geldspielautomatenverbotes gerechnet werden musste. Im übrigen handelte es sich bei der am 1. Februar 1991 in Kraft getretenen ersten Gesetzesrevision, von der neu erhobenen Sondersteuer auf Geldspielapparaten sowie der Limitierung der Spielsalons nach den Einwohnerzahlen abgesehen, um Vorschriften, die in der Praxis im wesentlichen offenbar schon vorher befolgt worden waren (so der Bericht des Regierungsrates an den Kantonsrat vom 30. August 1989 zur Volksinitiative "Stopp dem Wildwuchs von Spielsalons und Geldspielautomaten", in: Amtsblatt des Kantons Zürich 1989, Textteil, S. 1352 ff., insb. S. 1359 ff.).
Der Einwand, wonach bereits diese vor kurzem in Kraft getretene Neuregelung die vom Gesetzgeber angestrebte Verbesserung der Verhältnisse bewirken werde beziehungsweise in der Zwischenzeit bewirkt habe, erscheint insoweit nicht als stichhaltig. Auf jeden Fall bildet die vorangegangene mildere Regelung unter den vorliegenden Umständen verfassungsrechtlich kein Hindernis für den Erlass eines vollständigen Geldspielautomatenverbotes, wie es auch in einer Reihe von anderen Kantonen besteht.
f) Die Rüge der Verletzung von
Art. 31 BV
erweist sich somit als unbegründet.
5.
In zwei Beschwerden wird zusätzlich eine Verletzung der Eigentumsgarantie gerügt.
BGE 120 Ia 126 S. 142
a) Einerseits wird vorgebracht, das Geldspielautomatenverbot greife in die durch
Art. 22ter BV
geschützte Befugnis des Wirtes ein, seine Gaststube so zu benützen und sein Angebot so zu gestalten, wie er es für richtig halte. Die neue Regelung verhindere sodann die Weiterführung langfristiger Verträge sowie die Erzielung eines notwendigen Nebeneinkommens, was ebenfalls die Eigentumsgarantie berühre.
Nach
Art. 22ter BV
sind Beschränkungen des Eigentums nur zulässig, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind (
BGE 118 Ia 165
E. 3b mit Hinweisen). Wieweit die Eigentumsgarantie im vorliegenden Zusammenhang neben
Art. 31 BV
überhaupt zum Zuge kommt beziehungsweise eine weitergehende Schutzwirkung entfalten kann, braucht nicht weiter abgeklärt zu werden (vgl.
BGE 113 Ia 126
E. 8a mit Hinweisen). Auf jeden Fall wären gleichermassen wie bei der Handels- und Gewerbefreiheit auch die Eingriffsvoraussetzungen nach
Art. 22ter BV
erfüllt.
b) Weiter wird von der Seite der Unternehmen der Automatenbranche geltend gemacht, das Geldspielapparateverbot laufe auf eine materielle Enteignung der davon erfassten Automaten hinaus. Der Wert der von den betreffenden Beschwerdeführerinnen im Kanton Zürich aufgestellten Geräte betrage über 20 Millionen Franken. Durch das angefochtene Verbot werde ihnen nicht nur der bisherige, sondern auch jeder künftige Gebrauch dieser Sachen verunmöglicht. Insbesondere könnten diese Apparate nicht ausserhalb des Kantons verkauft oder eingesetzt werden, da der Markt überall restlos gesättigt sei. Das streitige Verbot verletze damit mangels eines ausreichenden öffentlichen Interessen sowie wegen der Unverhältnismässigkeit des Eingriffs die Eigentumsgarantie.
Wieweit solche Auswirkungen überhaupt in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie fallen, kann auch hier offenbleiben (vgl. allenfalls
BGE 118 Ib 241
E. 5). Das öffentliche Interesse, welches die angefochtene Massnahme als mit der Handels- und Gewerbefreiheit vereinbar erscheinen lässt, reicht aus, um die erwähnten Eingriffsfolgen gegebenenfalls auch unter dem Gesichtswinkel der Eigentumsgarantie zu rechtfertigen. Dieses Grundrecht enthält für den vorliegenden Fall gegenüber
Art. 31 BV
keine zusätzlichen Wertungselemente, welche zu einem andern Ergebnis führen könnten.
c) Die Beschwerdeführer berufen sich im Zusammenhang mit der Eigentumsgarantie auch vergeblich auf die Übergangsordnung zur
BGE 120 Ia 126 S. 143
am 1. Februar 1991 in Kraft getretenen Revision in § 20a des Unterhaltungsgewerbegesetzes. Diese Bestimmung regelte, was mit den Spielsalons mit Geldspielautomaten in jenen Gemeinden zu geschehen hatte, in denen die für solche Betriebe neu eingeführte Verhältniszahl nicht eingehalten war. Sie gewährte jenen Spielsalons den "unveränderten Fortbestand", welche die übrigen gesetzlichen Anforderungen vollständig erfüllten, während die andern Betriebe sich der neuen Ordnung "anzupassen", das heisst auf die Verwendung von Geldspielautomaten zu verzichten hatten. Daraus kann jedoch entgegen der Meinung der Beschwerdeführer weder für die Betriebe, welche die Verhältniszahl respektieren, noch für die übrigen Unternehmen eine gesetzliche Bestandesgarantie abgeleitet werden, welche der heute angefochtenen Gesetzesänderung als wohlerworbenes Recht entgegengehalten werden könnte.
Im übrigen wird das Vorliegen eines solchen Anspruches nicht in einer den Anforderungen von
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
genügenden Weise begründet (vgl. dazu
BGE 117 Ia 10
E. 4b;
BGE 110 Ia 1
E. 2a). Dass in die Anpassung der bestehenden Geldspielautomaten an die am 1. Februar 1991 in Kraft getretene Neuregelung erhebliche Mittel investiert worden seien und das kurz darauf folgende vollständige Verbot solcher Apparate aus diesem Grunde einen Verstoss gegen Treu und Glauben darstelle, wird von den Beschwerdeführern ebenfalls nicht geltend gemacht, jedenfalls nicht näher dargetan und belegt.
6.
In mehreren Beschwerden wird das Geldspielautomatenverbot auch wegen Verletzung des Gleichbehandlungsgebotes angefochten.
a) Die Beschwerdeführer sehen eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebotes nach
Art. 4 BV
oder des Gebotes der Gleichbehandlung der Gewerbegenossen gemäss
Art. 31 BV
darin, dass die bisher als gefährlicher betrachteten reinen Glücks-Geldspielautomaten in Spielbanken künftig voraussichtlich zugelassen sein werden, während die der kantonalen Gesetzgebungshoheit unterstehenden Geschicklichkeits-Geldspielautomaten trotz gleicher Kundenstruktur und geringeren Risikos verboten seien. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die beanstandete Unterscheidung durch eine entsprechende Aufteilung der Regelungskompetenz auf Bund und Kantone in der Verfassung selber verankert ist (neuer
Art. 35 Abs. 1 und 4 BV
, vgl. dazu oben E. 4d). Konsequenzen der erwähnten Art müssen daher grundsätzlich in Kauf genommen werden. Im übrigen besteht zwischen den hier in Frage stehenden Geldspielautomaten und den in den Spielbanken vorhandenen
BGE 120 Ia 126 S. 144
Einrichtungen in bezug auf Anzahl und Zugänglichkeit ein erheblicher Unterschied (E. 4 e/cc). Die erhobene Rüge dringt daher nicht durch.
b) Als Verletzung des Gleichbehandlungsgebotes wird ferner gerügt, dass der Kanton Zürich nur gerade die Geldspielautomaten verbiete, während Nichtgeldspielapparate wie Videogames, Flipper usw. sowie sonstige kostspielige Vergnügungsmöglichkeiten wie etwa die in jüngster Zeit aufgekommenen Telefonplaudereinrichtungen, mit denen ebenfalls viel Geld verspielt werden könne, gestattet blieben. Diese letzteren Betätigungsmöglichkeiten seien umso gefährlicher, als die Kosten erst später zu bezahlen seien, während sich die Verluste bei Geldspielautomaten unmittelbar einstellten.
Zwischen den beiden verglichenen Kategorien besteht allerdings insoweit ein erheblicher Unterschied, als bei den Geldspielautomaten das Ziel des Geldgewinnes im Vordergrund steht, was für das Verhalten des Spielers mit anderen Risiken verbunden ist als die Benützung von Nichtgeldspielapparaten, bei denen es allein um das Vergnügen am Spiel geht. Was die Betätigungsmöglichkeiten am Telefon betrifft, so liegt die Regelungskompetenz hiefür - jedenfalls in überwiegendem Masse - beim Bund, weshalb dieser Tatbestand dem Kanton Zürich nicht entgegengehalten werden kann.
Auch der Vergleich mit den übrigen auf Geldgewinn ausgerichteten Spielen wie Lotterien, Wetten usw. ist nicht stichhaltig. Geldspielautomaten unterscheiden sich von diesen anderen Spielen durch die Unmittelbarkeit des möglichen Geldgewinnes (vgl. E. 4e/cc). Hierin liegt ein vertretbares Abgrenzungskriterium für ein Verbot.
Es stellt des weitern auch keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung dar, dass der zürcherische Gesetzgeber nur gerade den Betrieb von Geldspielautomaten zur Vermeidung einer Selbstgefährdung der Benützer verbietet, während andere schädliche oder gefährliche Tätigkeiten wie der Genuss von Alkohol und Tabak, Bergsteigen, Drachenfliegen, Wildwasserfahren, Tauchen und Skifahren, die ebenfalls in exzessiver Weise ausgeübt werden können, erlaubt bleiben. Der kantonale Gesetzgeber kann, soweit er dafür zuständig ist, das Bedürfnis nach solchen Vergnügungs- und Freizeitbetätigungsmöglichkeiten sowie die Notwendigkeit allfälliger staatlicher Verbote und Beschränkungen für die einzelnen Sachgebiete je unterschiedlich beurteilen. Eine Verletzung von
Art. 4 BV
liegt erst dann vor, wenn gleiche oder im wesentlichen gleichgelagerte Sachverhalte ohne ausreichende sachliche Begründung unterschiedlich geregelt werden
BGE 120 Ia 126 S. 145
(
BGE 117 Ia 257
E. 3b). Das trifft jedoch für die angerufenen Vergleichstatbestände offensichtlich nicht zu.
c) Schliesslich wird eine Verletzung des in
Art. 31 BV
enthaltenen Gebotes der Gleichbehandlung der Gewerbegenossen sowie der "im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft" gewährleisteten Handels- und Gewerbefreiheit (
Art. 31 Abs. 1 BV
) darin erblickt, dass etliche andere Kantone kein Geldspielautomatenverbot kennen. Auch dieser Einwand ist offensichtlich unbegründet.
Art. 4 und 31 BV
schliessen nicht aus, dass die gewerblichen Betätigungsmöglichkeiten durch das öffentliche Recht der einzelnen Kantone in unterschiedlicher Weise oder in unterschiedlichem Masse eingeschränkt werden. Das ist eine Folge der föderalistischen Struktur des schweizerischen Staatswesens und der Eigenständigkeit der Kantone (
BGE 99 Ia 370
E. 6b;
BGE 97 I 116
E. 5a). Durch den neuen
Art. 35 Abs. 4 BV
werden die Kantone zur selbständigen Gestaltung des fraglichen Sachbereiches künftig sogar ausdrücklich ermächtigt.
7.
Von einer Gruppe von Einzelpersonen wird das Geldspielautomatenverbot auch wegen Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit angefochten.
a) Dieses ungeschriebene Verfassungsrecht schützt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als zentrales Freiheitsrecht nicht nur die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung bilden (
BGE 119 Ia 99
E. 2b). Indessen berührt nicht jeder beliebige Eingriff in den persönlichen Bereich des Bürgers den Schutzbereich dieses Grundrechts. Die persönliche Freiheit hat nicht die Funktion einer allgemeinen Handlungsfreiheit, auf die sich der einzelne gegenüber jedem staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt, berufen kann (
BGE 118 Ia 427
E. 4b mit Hinweisen).
Von dieser Umschreibung ausgehend gelangte das Bundesgericht in
BGE 101 Ia 336
E. 7 zum Schluss, die Möglichkeit, mit Spielapparaten um Geld zu spielen, gehöre nicht zu den "elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung". Das Verbot des Aufstellens von Geldspielapparaten tangiere die potentiellen Spieler nicht in jenem Kernbereich freier menschlicher Betätigung, der durch das Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit geschützt sei.
b) Die Beschwerdeführer stellen diese Beurteilung in Frage. Zur Bestimmung dessen, was zu den elementaren Entfaltungsmöglichkeiten eines Menschen gehöre, müsse auf die individuelle Persönlichkeit abgestellt werden.
BGE 120 Ia 126 S. 146
Für den geselligen Persönlichkeitstyp könne dies der Besuch des Theaters, des Kinos oder eben des Spielsalons sein, für den nachdenklichen Persönlichkeitstyp zum Beispiel der Besuch von Ausstellungen, Kunstsammlungen usw. Das Spielen bilde einen unerlässlichen Bestandteil des menschlichen Daseins; es gehöre zu den Urbedürfnissen der menschlichen Natur, ähnlich wie Schlafen, Essen und Trinken. Die Freizeitbeschäftigung an Geldspielautomaten stelle in diesem Sinne für die Beschwerdeführer ein wichtiges Element ihrer Persönlichkeitsentfaltung dar. Sie stehe daher unter dem Schutz der persönlichen Freiheit. Da der beanstandete Eingriff in dieses Grundrecht auf keinem öffentlichen Interesse beruhe und gegen das Gebot der Verhältnismässigkeit verstosse, sei das Verbot von Geldspielautomaten aufzuheben.
c) Das Spielen an sich bildet zweifellos einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Natur. Das heisst aber noch nicht, dass auch jede bestimmte Form des Spielens eine elementare Persönlichkeitsentfaltung darstellt. Die Argumente der Beschwerdeführer erscheinen in diesem Sinne nicht als geeignet, die Ausführungen des Bundesgerichts zum Schutzbereich der persönlichen Freiheit in
BGE 101 Ia 336
E. 7 in Frage zu stellen. Letztlich kann dies aber offenbleiben. Die persönliche Freiheit geniesst, von gewissen hier nicht in Betracht fallenden Schranken abgesehen, keinen absoluten Schutz. Einschränkungen dieses Grundrechtes sind wie bei anderen Grundrechten zulässig, wenn sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind (
BGE 118 Ia 427
E. 5a mit Hinweisen).
Selbst wenn die Möglichkeit des Spielens an Geldspielautomaten im Sinne der Ausführungen der Beschwerdeführer zum Schutzbereich der persönlichen Freiheit zu rechnen wäre, besässen die zur Rechtfertigung des Geldspielautomatenverbotes angeführten sozialpolitischen Gründe genügend Gewicht, um diese - gesamthaft gesehen doch eher nebensächliche - Beschränkung der individuellen Betätigungsmöglichkeiten auch unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit als zulässig erscheinen zu lassen. Eine solche Wertung lag auch dem bisher in der Bundesverfassung verankerten Spielbankenverbot zugrunde, und der neue
Art. 35 Abs. 4 BV
lässt für diese Betrachtungsweise nach wie vor Raum. | public_law | nan | de | 1,994 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
eb178a46-8f1e-40e0-9357-d3e2b4b5b077 | Urteilskopf
103 Ib 288
46. Auszug aus dem Urteil vom 3. Juni 1977 i.S. M. gegen Kantonale Rekurskommission Bern | Regeste
Art. 28 Abs. 2 VStG
.
Rückerstattung der Verrechnungssteuer auf Kapitalerträgen, die während des ausländischen Wohnsitzes eines UNO-Beamten schweizerischer Nationalität fällig geworden sind? | Sachverhalt
ab Seite 288
BGE 103 Ib 288 S. 288
M. war vom 1. Februar 1973 bis 31. Januar 1974 als Beamter des Eidg. Amtes für Verkehr beurlaubt, um im Auftrag des Büros für technische Zusammenarbeit der Vereinten Nationen als Experte für Verkehrsfragen in Gabun einen Fünfjahresplan vorzubereiten. Es wurde davon ausgegangen, dass M. während dieser Zeit von den Steuern in der Schweiz und Gabun befreit werde, dass er aber eine UNO-Abgabe entrichten müsse. Hinsichtlich seiner Entlöhnung vereinbarte M. mit der Direktion des Personals der Vereinten Nationen, dass sein Netto-Gehalt (Gehalt minus UNO-Abgabe) seinem schweizerischen Netto-Einkommen (Gehalt als eidg. Beamter minus schweizerische Steuerbelastung) entsprechen solle. Anlässlich der Veranlagung für die Jahre 1975/76 stellte M. ein Gesuch um Rückerstattung der während der Jahre 1973 und 1974 erhobenen Verrechnungssteuer. Mit Entscheid vom 6. Januar 1976 gab das Verrechnungssteueramt des Kantons Bern diesem Gesuch teilweise statt, stellte aber fest, dass M. keinen Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer habe,
BGE 103 Ib 288 S. 289
welche auf den während seines Auslandaufenthaltes fällig gewordenen Erträgen erhoben worden sei. Eine gegen diesen Entscheid erhobene Einsprache wurde abgewiesen. Auch ein bei der Kantonalen Rekurskommission eingelegter Rekurs hatte keinen Erfolg.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt M., der Entscheid der Rekurskommission sei aufzuheben und dem Antrag auf Rückerstattung der in der Zeit vom 1. Februar 1973 bis 31. Januar 1974 abgezogenen Verrechnungssteuer sei gestützt auf
Art. 28 Abs. 2 VStG
zu entsprechen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Die Verrechnungssteuer wird beim Schuldner der Erträge bestimmter Kapitalanlagen zu Lasten des Gläubigers erhoben. Ist der Gläubiger eine natürliche Person, wird ihm die Verrechnungssteuer u.a. dann zurückerstattet, wenn er bei Fälligkeit der steuerbaren Leistung im Inland Wohnsitz hatte (
Art. 22 Abs. 1 VStG
) und somit grundsätzlich in der Schweiz bezüglich Einkommen und Vermögen steuerpflichtig war. Der Anspruch auf Rückerstattung wird verwirkt, wenn die mit der Verrechnungssteuer belasteten Einkünfte oder Vermögen, woraus solche Einkünfte fliessen, entgegen gesetzlicher Vorschrift der zuständigen Steuerbehörde nicht angegeben werden (
Art. 23 VStG
).
b) Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer haben auch verschiedene Personen, welche in der Schweiz Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt haben und darum hier grundsätzlich steuerpflichtig wären, aber aufgrund bestimmter Umstände von der schweizerischen Einkommens- und Vermögenssteuer befreit worden sind. So steht den in der Schweiz niedergelassenen internationalen Organisationen und ihren Beamten ein Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer zu, wenn sie bei Fälligkeit der steuerbaren Leistung nach gesetzlicher Vorschrift, Vertragsrecht oder Übung von der Errichtung kantonaler Steuern auf Wertpapieren und Bankguthaben sowie auf dem Ertrag solcher Werte befreit waren (
Art. 28 Abs. 2 VStG
).
Steuerbefreiungen von Beamten internationaler Organisationen werden in den sog. Sitzabkommen zwischen der Schweiz und den betreffenden Organisationen geregelt.
BGE 103 Ib 288 S. 290
Gemäss Art. V Abs. 16 des Abkommens vom 19. April 1946 über die Vorrechte und Immunitäten der Organisation der Vereinigten Nationen zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und dem Generalsekretär der Vereinigten Nationen (AS 1956, S. 1092 ff.) revidiert durch Briefwechsel vom 5./19. April 1963 (AS 1963, S. 406) geniessen der Generalsekretär, die Unter-Generalsekretäre und die gleichgestellten Beamten sowie ihre Ehegatten und minderjährigen Kinder die Vorrechte, Immunitäten, Befreiungen und Erleichterungen, die nach Völkerrecht und internationaler Übung den diplomatischen Gesandten zuteil werden. Nach dieser Bestimmung geniessen ausserdem die Beamten der vom Generalsekretär oder von der durch ihn beauftragten Person bezeichneten und vom Schweizerischen Bundesrat genehmigten Kategorien die Vorrechte, Immunitäten, Befreiungen und Erleichterungen, die den diplomatischen Vertretern, die nicht Missionschefs sind, zuteil werden. Auf die genannten beiden Gruppen von hohen UNO-Beamten (Beamten der sog. ersten Kategorie) kommt Art. 34 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961 (AS 1964, S. 435 ff.) zur Anwendung, wonach diplomatische Vertreter (mit gewissen in lit. a bis f genannten Vorbehalten) von allen staatlichen, regionalen und kommunalen Personal- und Realsteuern oder -abgaben befreit sind.
Eine zweite Kategorie von UNO-Beamten, deren Namen der Generalsekretär dem Bundesrat periodisch bekanntgibt, ist gemäss Art. V Abs. 15 lit. b des genannten Sitzabkommens mit der UNO nur von den Steuern auf Gehältern und Vergütungen befreit, die von der UNO ausbezahlt werden. Das interne schweizerische Recht hat allerdings zum Teil für diese zweite Kategorie von UNO-Beamten auch eine Steuerbefreiung bezüglich des nicht geschäftsmässig investierten Kapitals und des daraus fliessenden Ertrages eingeführt (vgl. die Regelung im Kanton Genf: GERARD MENETREY, Les privilèges fiscaux des fonctionnaires internationaux, RDAF 29/1973, S. 244; GEORGES PERRENOUD, Régime des Privilèges et Immunités des Missions diplomatiques étrangères et des Organisations internationales en Suisse, Diss. Genf, 1949, S. 202; ferner die Regelung bei der Wehrsteuer: MASSHARDT, Kommentar zur eidg. Wehrsteuer 1971-1982, Ausgabe 1972, N. 8 lit. a zu Art. 17 WStB).
BGE 103 Ib 288 S. 291
c) Keinen Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer haben grundsätzlich natürliche Personen mit Wohnsitz im Ausland, welche in Bezug auf die Einkommens- und Vermögenssteuer nicht der schweizerischen Steuerhoheit unterstehen. Für diese Personen wird die Verrechnungssteuer zu einer definitiven, besonderen fiskalischen Belastung. Vorbehalten bleiben allerdings Bestimmungen, welche in Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung vereinbart worden sind.
2.
Der Beschwerdeführer hatte während seiner Mission in Gabun in der Schweiz keinen Wohnsitz. Er stützt seine Forderung auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer darum zu Recht nicht auf
Art. 22 Abs. 1 VStG
, da diese Bestimmung nur Personen mit Wohnsitz in der Schweiz einen solchen Anspruch einräumt.
Da der Beschwerdeführer während der Dauer seiner Tätigkeit in Gabun der schweizerischen Steuerhoheit mangels Wohnsitz in der Schweiz nicht unterstellt war, hatte er während dieser Zeit keine kantonalen Steuern auf Wertpapieren und Bankguthaben sowie den Erträgen solcher Werte zu bezahlen. Der Beschwerdeführer scheint demgegenüber der Auffassung zu sein, der Grund, weshalb er in der Schweiz keine Steuer zu zahlen hatte, liege in einer Steuerbefreiung gemäss Art. V Abs. 15 lit. b des genannten Sitzabkommens mit der UNO. Dies trifft jedoch nicht zu. Der Beschwerdeführer konnte nämlich nicht von einer Steuer befreit werden, zu deren Bezahlung er von vorneherein nicht verpflichtet war.
Für eine Rückerstattung der Verrechnungssteuer nach
Art. 28 Abs. 2 VStG
bildet eine Befreiung von grundsätzlich geschuldeten kantonalen Steuern auf den genannten Vermögenswerten und den daraus fliessenden Erträgen die Voraussetzung. Der Beschwerdeführer erfüllt diese Voraussetzung nicht. Es steht ihm darum gestützt auf diese Bestimmung kein Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer zu.
3.
Infolge seines Wohnsitzes im Ausland ist der Beschwerdeführer vielmehr grundsätzlich verpflichtet, während dieser Zeit die Verrechnungssteuer als definitive fiskalische Belastung zu tragen. Ein Doppelbesteuerungsabkommen, welches die Steuerpflicht anders regeln würde, ist zwischen der Schweiz und Gabun nicht abgeschlossen worden.
BGE 103 Ib 288 S. 292
Auch eine anderweitige, auf internationales Recht gestützte Befreiung des Beschwerdeführers von der schweizerischen Verrechnungssteuer ist nicht ersichtlich. Aus der in Art. 34 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen festgelegten umfassenden Steuerbefreiung kann der Beschwerdeführer jedenfalls nichts für sich ableiten, da diese nur bei der ersten Kategorie der UNO-Beamten, d.h. bei den hohen Beamten zur Anwendung kommt. Zu dieser Kategorie gehört der Beschwerdeführer aber nicht. Zudem könnte er sich als Schweizerbürger ohnehin gegenüber der Schweiz nicht auf diese Bestimmung berufen (vgl. Art. 38 des Wiener Übereinkommens und BBl. 1963 I, S. 255 f.).
Bei dieser Sachlage kann offen bleiben, ob die hohen UNO-Beamten die Verrechnungssteuer auch dann zurückfordern könnten, wenn sie im Ausland Wohnsitz haben. Eine solche Befreiung von der durch die Verrechnungssteuer bewirkten fiskalischen Belastung der im Ausland wohnhaften Gläubiger bestimmter Kapitalerträge erscheint bei den hohen UNO-Beamten im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 34 des Wiener Übereinkommens nicht als ausgeschlossen. In diesem Fall wäre das Kreisschreiben der Eidg. Steuerverwaltung vom 30. Juli 1957 (PFUND, Die Praxis der Bundessteuern, II. Teil, Bd. 3, X, N. 21 zu Art. 1, Abs. 1 der Vfg. 1a) sowie die sich darauf stützende Argumentation der Vorinstanz, wonach ein UNO-Beamter die Verrechnungssteuer generell nur zurückfordern könne, wenn er in der Schweiz Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt habe, bezüglich der hohen UNO-Beamten nicht zutreffend.
Die Argumentation der Vorinstanz trifft jedoch auf die weitaus grössere Anzahl der UNO-Beamten der zweiten Kategorie zu. Diese haben keinesfalls einen völkerrechtlichen Anspruch auf Befreiung von der Verrechnungssteuer, wenn sie im Ausland Wohnsitz haben. Zur Rückforderung der Verrechnungssteuer sind diese Beamten - wie sich aus den obenstehenden Erwägungen ergibt - nur berechtigt, wenn ihr bewegliches Vermögen und die daraus fliessenden Erträge in der Schweiz versteuert werden müssen oder aber hier von der Steuer befreit sind. Beides ist nur denkbar, wenn die betreffenden UNO-Beamten in der Schweiz Wohnsitz bzw. dauernden Aufenthalt haben. Somit hat es die Vorinstanz zu Recht abgelehnt, dem Beschwerdeführer die Verrechnungssteuer,
BGE 103 Ib 288 S. 293
welche auf den während seines Auslandaufenthaltes fällig gewordenen Kapitalerträgen erhoben worden war, zurückzuerstatten. | public_law | nan | de | 1,977 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
eb18f5ff-dfd8-4870-ad11-9676d33241c9 | Urteilskopf
97 I 329
47. Urteil vom 12. Mai 1971 i.S. Grosheintz gegen Regierungsrat des Kantons Solothurn. | Regeste
Art. 89 OG
, Massgeblichkeit der tatsächlichen Zustellung des kantonalen Entscheides bei Benützung der Post.
Solothurnischer Gebührentarif für die Nachführung der Vermessungswerke vom 25. November 1938.
Charakter der Gebühr als Entgelt für eine staatliche Leistung; massgebende Gesichtspunkte für die Bemessung.
Eine Gebühr von 7‰ des Verkehrswertes der abgetrennten Parzelle verstösst, wenn sie zum objektiven Wert der staatlichen Leistung in einem offensichtlichen Missverhältnis steht, gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit und wird zur Gemengsteuer. | Sachverhalt
ab Seite 330
BGE 97 I 329 S. 330
A.-
Der Beschwerdeführer übernahm durch Erbteilungsvertrag vom 30. März 1965 mit seinem Bruder das Grundstück Kataster Nr 2536 in der Gemeinde Dornach im Halte von 7'394 m2. Der Anrechnungspreis betrug für 3'000 m2 Fr. 60.-/m2 und für 4'394 m2 Fr. 40.-/m2. Für den Verkaufsfall wurde dem Miterben ein begrenztes Beteiligungsrecht am Mehrerlös eingeräumt und zur Lokalisierung des Gewinnbeteiligungsrechts die parzellenmässige Abtrennung der davon betroffenen Fläche vereinbart. Der Grundbuchgeometer trennte eine östliche Parzelle Kataster Nr. 3299 und eine westliche Parzelle Kataster Nr. 3300 von der Parzelle ab und stellte dem Beschwerdeführer mit Fr. 3'670.60 Rechnung. Davon entfallen Fr. 3'084.-- auf Gebühren für die Nachführung der Vermessungswerke, entsprechend dem kantonalen Gebührentarif, der Rest auf Vermessungsarbeiten. Am 26. September 1967 verkaufte der Beschwerdeführer die Parzelle Nr. 3299 zum Preise von Fr. 40.-/m2 und gab hievon dem kantonalen Justizdepartement Kenntnis. Er bezahlte die Kosten der Vermessungsarbeiten sowie die feste Taxe für die Nachführung des Vermessungswerkes, erhob aber gegen die als variabel bezeichnete Komponente von Fr. 3'084.-- beim Departement Einsprache. Der Regierungsrat des Kantons Solothurn wies diese mit Entscheid vom 20. Mai 1969 ab. Der Entscheid stützt sich auf§ 2 des soloth. Gebührentarifs für die Nachführung der Vermessungswerke vom 25. Nov. 1938. Dieser bestimmt:
"Dem Grundeigentümer werden folgende Gebühren auferlegt:
A.- Grenzänderungen.
1. Für jede Grenzänderung (Grundtaxe, einmal pro Mutation) Fr. 4.-
2. Für Fr. 1'000.-- Verkehrswert der abgetrennten Fläche: Fr. 7.-
Für Verkehrswert unter Fr. 500.--: Fr. 3.50
Für jedes angebrochene Tausend ist der volle Wert-
zuschlag zu berechnen."
3. ....
BGE 97 I 329 S. 331
In den Erwägungen des Entscheides wird ausgeführt: Mit dem Tarif sei beabsichtigt, die Entschädigung des Grundbuchgeometers entsprechend seiner Arbeit und die Belastung des Grundeigentümers entsprechend den Wertverhältnissen des Nachführungsobjektes zu gewährleisten. Ferner verfolge der Tarif das Ziel, die frühere ungleiche Belastung der Grundeigentümer in den Gemeinden mit oder ohne Berechtigung auf einen Bundesbeitrag an die Kosten der Nachführung zu beseitigen. Zur Verwirklichung dieses Zieles sei für die Entschädigung der Grundbuchgeometer der Akkordtarif als anwendbar erklärt und für die Gebührenbelastung des Grundeigentümers bei Grenzänderungen die Berücksichtigung des Verkehrswertes der abgetrennten Fläche vorgeschrieben worden. Die Umlegung der Auslagen des Staates für die Nachführungsarbeiten auf die Grundeigentümer nach Massgabe der Wertverhältnisse des Nachführungsobjektes sei gewollt. Es entspreche einem allgemeinen gebührenrechtlichen Grundsatz, bei der Gebührenbemessung nicht allein auf die Grösse des Arbeitsaufwandes und die Zeitdauer der Inanspruchnahme abzustellen, sondern auch auf den Wert und die Bedeutung des Geschäftes für den Gebührenpflichtigen Rücksicht zu nehmen. Die erhobene Gebühr stelle keine Steuer dar. Die erzielten Nettogewinne hätten in den letzten Jahren abgenommen und hätten betragen: Im Jahre 1965 Fr. 6'500.--, 1966 ca Fr. 116'500.--, 1967 ca Fr. 92'000.-- und 1968 Fr. 35'500.--. Angesichts der Gesamtaufwendungen für das Vermessungswesen von Fr. 872'000.-- für 1968 sei ein Gewinn von Fr. 35'500.-- bescheiden. Die Höhe des Verkehrswertes der in Frage stehenden Parzelle schätze der Grundbuchverwalter auf mindestens Fr. 100.--/m2. Für eine andere Schätzung bestünden keine Gründe.
B.-
Dr. Pierre Grosheintz führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der
Art. 4 BV
und 62 sol. KV. Er beantragt, der Entscheid des Regierungsrates sei aufzuheben und die geschuldete Gebühr von Fr. 3'080.-- auf Null, eventuell auf Fr. 140.-- herabzusetzen; weiter eventuell habe das Bundesgericht sie auf einen Betrag zwischen Fr. 440.-- und Fr. 660.--, weiter eventuell auf Fr. 567.-- bis Fr. 644.-- bzw. Fr. 1'232.-- herabzusetzen. Der Regierungsrat sei anzuweisen, über den Aufgaben- und Tätigkeitsbereich des kantonalen Vermessungsamtes und den auf die einzelnen Tätigkeiten entfallenden Anteil der Gesamtkosten des Amtes sowie über die allfällig ohne
BGE 97 I 329 S. 332
Gebühren nachgeführten Arbeiten erschöpfend Aufschluss zu geben und dem Beschwerdeführer hierauf Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen.
Die Begründung dieser Anträge ergibt sich soweit notwendig aus den nachfolgenden Erwägungen.
C.-
Der Regierungsrat des Kantons Solothurn beantragt, auf die Beschwerde wegen Verspätung nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen.
Dem Beschwerdeführer wurde Gelegenheit zu einer Replik gegeben, und er hat hievon Gebrauch gemacht. Auf Grund der Antwortvorbringen hat er durch Anfrage beim Grundbuchgeometer feststellen lassen, dass in den Fr. 882.50, mit denen der Geometer vom Staat entschädigt worden sei, auch die Vermarkungskosten, Gehilfenlöhne sowie die Arbeitsstunden des Geometers selbst von Fr. 586.60 inbegriffen sind.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der den Gegenstand der staatsrechtlichen Beschwerde bildende Entscheid wurde am 29. Mai 1969 mit einer Nachnahme von Fr. 21.- belastet zur Post gegeben. Der Beschwerdeführer hat die Sendung nach der Rückkehr von einer Auslandsreise am 7. Juni 1969 eingelöst. Die staatsrechtliche Beschwerde hat er am 5. Juli 1969 zur Post gegeben.
Um rechtzeitig zu sein, muss die staatsrechtliche Beschwerde binnen 30 Tagen von der nach dem kantonalen Recht massgebenden Eröffnung oder Mitteilung des Entscheides an gerechnet, dem Bundesgericht eingereicht werden (
Art. 89 OG
). Wird für die Zustellung die Post benützt, so ist die tatsächliche Zustellung, nicht der Tag massgebend, an welchem die Zustellung erfolgt wäre, wenn der Briefträger den Adressaten an dessen Wohnort getroffen hätte. Das gilt nicht bloss, wenn die Sendung dem Adressaten in die Ferien oder an eine neue Adresse nachgesandt werden muss, sondern auch, wenn in der Zustellung eine geringfügige Verzögerung eintritt, weil der Adressat seine Wohnung oder das Büro wegen eines Todesfalles, einer Reise oder aus andern Gründen für wenige Tage geschlossen hat. Denn in der nicht sofortigen Annahme liegt in solchen Fällen vorübergehender Abwesenheit vom Wohnort keine Annahmeverweigerung, welche die Beschwerdefrist in Lauf setzen würde. Eine Annahmeverweigerung könnte nur angenommen werden, wenn der Adressat längere Zeit ohne Angabe der
BGE 97 I 329 S. 333
Adresse oder mit der Absicht abwesend ist, Zustellungen an ihn zu verhindern (
BGE 78 I 129
).
Es steht nicht fest, wann erstmals versucht wurde, die Sendung vom 29. Mai 1969 dem Beschwerdeführer zuzustellen. Der Briefumschlag, in welchem die Zustellung erfolgte, trägt bloss den Vermerk: "Frist 7.6." Das entspricht insofern der Vorschrift von Art. 157 der Vollziehungsverordnung zum Postverkehrsgesetz (AS 1967, 1457), als danach dann, wenn der Bezugsberechtigte nicht anzutreffen ist, eine Abholungseinladung mit Fristangabe zu hinterlassen ist. Freilich wird darin auch verlangt, dass der Zustellungsversuch auf der Sendung vorzumerken ist. Wenn das heisst, dass der Tag des Zustellungsversuches anzugeben sei, wäre dies hier nicht geschehen. Doch steht fest, dass die Sendung am 7. Juni 1969 und damit innert der dafür gesetzten Frist eingelöst wurde. Diese effektive Zustellung ist für den Fristenlauf massgebend. Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Beschwerdeführer habe den Wohnsitz bis zum 7. Juni 1969 verlassen, um Zustellungen an ihn zu vereiteln. Die Beschwerdefrist begann somit am 8. Juni 1969 zu laufen und sie endigte am 7. Juli. Die am 5. Juli zur Post gegebene Beschwerde ist rechtzeitig.
Bei dieser Sachlage kann unerörtert bleiben, ob die mit einer Nachnahme belastete Sendung die Beschwerdefrist überhaupt in Laufzu setzen vermag (was in
BGE 23 II 1398
für die Berufungsfrist verneint wird; vgl. auch
BGE 63 I 26
).
2.
Die staatsrechtliche Beschwerde hat für den Regelfall ausschliesslich kassatorische Funktion. Sie kann im Fall der Gutheissung bloss zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides, nicht zu einer neuen eigenen Sachentscheidung des Staatsgerichtshofes führen. Für Beschwerden gegen die Erhebung angeblich verfassungswidriger Gebühren gilt von diesem Grundsatz keine Ausnahme. Auf die Eventualanträge, das Bundesgericht wolle die Gebühr selbst festsetzen, kann deshalb nicht eingetreten werden.
3.
Der Beschwerdeführer hat in der Einsprache an den Regierungsrat die Herabsetzung des Abgabesatzes von 7‰ auf 1‰ verlangt. Er erklärt, daran nicht mehr festhalten zu wollen. Sein Antrag gehe auf Aufhebung des Entscheides des Regierungsrates "wegen Verfassungswidrigkeit der staatlichen Forderung". Da die behauptete Verfassungswidrigkeit sich daraus ergeben soll, dass die Gebühr nach dem im Zeitpunkt des Erlasses
BGE 97 I 329 S. 334
der Verordnung geltenden Wert der Grundstücke bemessen wurde, dieser Wert sich aber um ein Vielfaches erhöht habe, und die Herabsetzung der danach berechneten Gebühr verlangt wird, richtet sich die Beschwerde dem Sinn nach doch gegen die Verfassungsmässigkeit des Reglementes als solche.
Wegen Verfassungswidrigkeit einer generellen Norm kann die staatsrechtliche Beschwerde nicht bloss an den Erlass, sein Inkrafttreten, sondern noch an jede Anwendungsverfügung angeschlossen werden (
BGE 90 I 79
,
BGE 91 I 459
,
BGE 92 I 364
E. 1). Wird die Verfassungswidrigkeit bejaht, führt dies nicht zur Aufhebung, sondern zur Nichtanwendung des Erlasses auf den Beschwerdeführer.
4.
Der Beschwerdeführer behauptet eine Verletzung von Art. 62 sol. KV. Danach sind Bestimmungen über direkte Besteuerung und indirekte Abgaben Sache der Gesetzgebung. Doch anerkennt der Beschwerdeführer, dass für die Erhebung von Gebühren eine dem Regierungsrat eingeräumte Ermächtigung, die Gebühr auf dem Verordnungswege festzusetzen genügt. Art. 62 KV soll deshalb verletzt sein, weil die Gebühr von § 2 lit. A Ziff. 2 des Reglementes infolge der Entwicklung der Grundstückpreise den Charakter als Gebühr weitgehend verloren hat und zur Gemengsteuer geworden sei. Es ist also nicht streitig, dass das Reglement des Regierungsrates für die Erhebung einer Gebühr eine ausreichende gesetzliche Grundlage darstellt, sondern nur, ob die Gebühr unter den veränderten Verhältnissen den Rahmen einer eigentlichen Gebühr überschreitet und deshalb zur Gemengsteuer geworden ist.
5.
Die Gebühr unterscheidet sich von der Steuer dadurch, dass sie nicht voraussetzungslos geschuldet ist, sondern ein Entgelt darstellt für eine staatliche Leistung. Es gilt, wenn die Abgabe ihren Gebührencharakter behalten und nicht zur Steuer werden soll, das Kostendeckungsprinzip (
BGE 72 I 397
,
BGE 82 I 300
,
BGE 84 I 165
mit Verweisungen auf die frühere Rechtsprechung; A. GRISEL, Droit administratif suisse, p. 164/5). Danach soll der gesamte Ertrag der Gebühren die gesamten Kosten des betreffenden Verwaltungszweiges in der Regel nicht übersteigen (IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Nr. 412, IV 510). Es können also auch die allgemeinen Unkosten des betreffenden Verwaltungszweiges mitberücksichtigt werden. Die Gebühr darf den objektiven Wert der staatlichen Leistung überschreiten, weil unter dieser nicht bloss die unmittelbare
BGE 97 I 329 S. 335
Aufwendung für die veranlasste Amtshandlung zu verstehen ist. Die allgemeinen Kosten brauchen nicht unbedingt so auf die einzelne Mühewaltung der Verwaltung verteilt zu werden, wie es dem dadurch verursachten Arbeits- und Kostenaufwand entsprechen würde. Es ist zulässig, das Interesse des Pflichtigen an der Amtshandlung und seine Leistungsfähigkeit so zu berücksichtigen, dass die Gebühren für bedeutendere Geschäfte den Ausfall für Verrichtungen ausgleichen, für welche wegen der Geringfügigkeit des Interesses keine kostendeckende Entschädigung verlangt werden kann. Der Verteilung der gesamten Kosten auf die einzelnen gebührenpflichtigen Verrichtungen sind jedoch Schranken gesetzt. Sie ergeben sich aus dem Wesen der Gebühr sowie dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit und aus dem Grundsatz der rechtsgleichen Behandlung. Die Gebühr darf zum objektiven Wert der Leistung nicht in ein offensichtliches Missverhältnis geraten und muss sich in vernünftigen Grenzen bewegen. Ein derartiges Missverhältnis kann auch bei Grenzänderungen eintreten, wenn der Wert der zu vermessenden Parzelle gross ist, ihm aber eine verhältnismässig geringe Leistung des Staates oder seiner Organe gegenübersteht. Für derartige Fälle drängt sich die Forderung auf, dass entweder der einen bestimmten Betrag übersteigende Wert eines Grundstückes nicht mehr berücksichtigt werden darf, oder dass der Prozentsatz, nach welchem sich die Gebühr bestimmt, bei einem hohen Wert der Parzelle zu senken ist.
Der Regierungsrat verweist auf die Urteile des Bundesgerichtes vom 24. Januar 1951 i.S. Constantin von Arx und vom 2. Juli 1958 i.S. Carl Hartmann und macht geltend, dass seit dem Erlass dieser Urteile die Gebühren nicht unangemessen geworden seien. Denn der Beschwerdeführer übersehe das starke Ansteigen der Vermessungskosten. Im ersten Fall entstand bei Anwendung des Tarifs zur Leistung des Staates kein Missverhältnis. Die Gebühr wurde bei Vermessungskosten von Fr. 116.50 auf Fr. 179.-- festgesetzt. Das Urteil stellte deshalb fest, dass die Abgabe zur Tätigkeit, für welche sie verlangt werde, noch in einem angemessenen Verhältnis stehe. Es bezeichnet dagegen bereits als fraglich, ob der Umstand die geforderte Abgabe noch als Gebühr erscheinen lasse, dass der Nettoüberschuss im Durchschnitt der Jahre 1939 bis 1949 etwa 12% der Ausgaben oder nicht ganz Fr. 7'300.-- ausmachte. Es liess die Frage offen. Seither hat sich nach den Feststellungen des Regierungsrates
BGE 97 I 329 S. 336
das Verhältnis zwischen den Ausgaben der Staatskasse für die allgemeinen Aufwendungen für die Nachführung des Vermessungswerkes und dem Überschuss der Gebühren wesentlich verändert. Die Einnahmenüberschüsse betrugen im Mittel etwa 26% der Auslagen, nämlich bei mittleren jährlichen Ausgaben von Fr. 202'906.-- insgesamt Fr. 52'563.--. Wenn sie in den Jahren 1939 bis 1949 etwa 12% ausmachten und für die Jahre 1939 bis 1968 im Mittel 26% betrugen, müssen sie für die Periode von 1949 bis 1968 noch wesentlich angewachsen sein. Dabei sind in den Auslagen nicht nur Vermessungskosten im engern Sinn, sondern auch Kosten in Anschlag gebracht, die sich nicht oder nur entfernt darauf beziehen, wie Prüfung der von privaten Nachführungsgeometern erstellten Rechnungen, Kosten von Grenzstreitigkeiten, Erstellung von Ergänzungsplänen, Versicherung und Information usw. Die Veränderung erhellt insbesondere aus den Zahlen über die Nettogewinne, die z.B. in den Jahren 1966 Fr. 116'500.-- und 1967 Fr. 92'000.-- betragen haben.
Daraus ist ersichtlich, dass die Gebühr bei Zugrundelegung des Verkehrswertes eines Grundstückes eindeutig zur Gemengsteuer geworden ist und den Gebührencharakter eingebüsst hat. Zwischen der staatlichen Leistung der Grenzfestsetzung oder grundbuchmässigen Abtrennung eines Grundstückes und der Abgabe ist ein offensichtliches Missverhältnis entstanden. Die neuere Rechtsprechung hat ein derartiges Missverhältnis nicht erst bei einem Abgabesatz von 7‰ des Verkehrswertes der abgetrennten Parzelle, sondern schon bei einem solchen von 5‰ angenommen und erklärt, die nach Massgabe von Ziff. 1 des Tarifes des Vermessungsamtes der Stadt Bern über die Nachführungsarbeiten vom 7. Dezember 1960 für Nachführungsarbeiten erhobene Grundtaxe von Fr. 30.- nebst einem Zuschlag von 5‰ des Verkehrswertes der abgetrennten Grundstücksflächen stehe in keinem vernünftigen Verhältnis zum Arbeitsaufwand des Gemeinwesens und zum Wert der erbrachten Leistung und verstosse somit gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit (
BGE 97 I 208
, Erw. 7c).
Bei der dem Beschwerdeführer auferlegten Abgabe von Fr. 3'670.60 entfallen Fr. 3'084.-- auf die tarifmässige Gebühr von 7‰ des Verkehrswertes der abgetrennten Fläche und nur Fr. 586.60 auf Vermarkungskosten, Gehilfenlöhne und Verschiedenes und Fr. 295.90 auf das Guthaben des Geometers, das
BGE 97 I 329 S. 337
dem Staat belastet ist. Dieses macht keinen Zehntel der tarifmässigen Gebühr aus. Das Missverhältnis zwischen staatlicher Leistung und Entschädigung ist offenkundig.
Der Entscheid des Regierungsrates ist deshalb aufzuheben.
6.
Da es sich um ein Vermögensinteresse des Staates handelt, sind die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens dem Kanton Solothurn aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 2 aoG).
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Solothurn vom 20. Mai 1969 aufgehoben. | public_law | nan | de | 1,971 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eb1add50-b507-423b-89f7-6845d4829afd | Urteilskopf
107 V 246
59. Arrêt du 13 novembre 1981 dans la cause Negro contre Caisse de compensation de la Société suisse des entrepreneurs et Commission cantonale genevoise de recours en matière d'AVS | Regeste
Art. 84 Abs. 1 und
Art. 86 AHVG
. Der Beschwerdeführer ist berechtigt, seine Beschwerde zurückzuziehen, um eine drohende reformatio in peius zu vermeiden (Erw. 1a).
Art. 85 Abs. 2 lit. d AHVG
und
Art. 4 BV
.
- Im Falle einer möglichen reformatio in peius hat der Richter den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Er ist aber nicht verpflichtet, den Beschwerdeführer auf die Möglichkeit des Beschwerderückzugs hinzuweisen (Erw. 1a).
- Das Eidg. Versicherungsgericht prüft von Amtes wegen, ob der erstinstanzliche Richter den Anspruch auf das rechtliche Gehör verletzt hat (Erw. 1b).
- Wann kann der Mangel vor dem Eidg. Versicherungsgericht geheilt werden: bei erweiterter Kognition und bei enger Kognition (Präzisierung der Rechtsprechung; Erw. 3)? | Sachverhalt
ab Seite 246
BGE 107 V 246 S. 246
A.-
Par décision du 22 avril 1980, la Caisse de compensation de la Société suisse des entrepreneurs a alloué à Cosimo Negro une rente entière d'invalidité pour couple, assortie de rentes complémentaires pour enfants. Ladite caisse se fondait sur deux
BGE 107 V 246 S. 247
prononcés de la Commission de l'assurance-invalidité du canton de Genève: le premier, du 21 juin 1979, reconnaissant à Anna-Rosaria Negro, épouse de Cosimo, un degré d'invalidité de 100%; le second, du 25 février 1980, fixant celui de l'assuré à 50%, en exécution d'un jugement du 1er juin 1979 de la Commission de recours du canton de Genève qui avait été saisie d'un recours dirigé contre un refus de rente notifié le 16 mars 1979 au prénommé.
B.-
Cosimo Negro a recouru contre la décision du 22 avril 1980, en se fondant sur divers rapports médicaux; il estimait ne pouvoir "faire face aux dépenses nécessaires, en bénéficiant seulement d'une demi-rente".
La Commission de recours du canton de Genève l'a débouté par jugement du 2 septembre 1980, tout en annulant la décision de rente du 22 avril 1980, sans avoir donné à l'intéressé la faculté de se déterminer sur une éventuelle "reformatio in peius". L'autorité cantonale a considéré, en bref, que si l'on pouvait admettre l'intérêt de l'assuré à recourir contre l'estimation de son propre degré d'invalidité, bien qu'en raison de celle de son épouse il bénéficiât déjà d'une rente entière pour couple, il convenait en revanche de réformer à son détriment la décision litigieuse. En effet, il aurait refusé de collaborer aux mesures de réadaptation professionnelle ordonnées par l'assurance-invalidité, et il eût fallu lui refuser une rente, en application de l'
art. 31 al. 1 LAI
.
C.-
L'assuré interjette recours de droit administratif en concluant au rétablissement de la décision lui octroyant une rente entière d'invalidité pour couple, à moins qu'il ne s'avère que son invalidité soit de 66 2/3 % ou plus, auquel cas il devrait bénéficier d'une rente entière au même titre que sa femme. Il a en outre requis l'effet suspensif du recours.
La caisse intimée s'abstient de conclure, alors que l'Office fédéral des assurances sociales propose le rejet du recours.
Par ordonnance du 21 avril 1981, le président du Tribunal fédéral des assurances a rejeté la requête d'effet suspensif précitée.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
a) L'
art. 85 LAVS
, applicable par analogie en matière d'assurance-invalidité en vertu de l'
art. 69 LAI
, a notamment pour objet de prescrire aux cantons les règles minimales auxquelles doit satisfaire la procédure de recours devant l'autorité cantonale
BGE 107 V 246 S. 248
compétente. En ce qui concerne la possibilité d'une "reformatio in peius vel melius", l'
art. 85 al. 2 let
. d dispose:
"Le juge n'est pas lié par les conclusions des parties. Il peut
réformer au détriment du recourant la décision attaquée ou accorder plus
que le recourant n'avait demandé; il doit cependant donner aux parties
l'occasion de se prononcer."
Ce dernier membre de phrase garantit le droit d'être entendu au recourant dont il apparaît que la situation sera aggravée, à la suite de la procédure qu'il a lui-même mise en oeuvre. On peut, sur ce point, renvoyer aux commentaires de la doctrine sur la disposition similaire qui figure à l'
art. 62 al. 3 PA
(ZIMMERLI, Zur reformatio in peius vel melius im Verwaltungsrechtspflegeverfahren des Bundes, dans: Mélanges Zwahlen, Lausanne 1977, pp. 524-525, ad ch. 2.2.5; KEISER, Die reformatio in peius in der Verwaltungsrechtspflege, Zurich 1979, p. 66).
Or, quand l'occasion de se déterminer sur une telle éventualité lui a été donnée, le recourant préfère parfois retirer son recours pour éviter que le procès ne tourne à son désavantage. Il s'agit d'un cas d'application de la maxime de disposition qui donne aux parties la maîtrise de l'objet du procès. Un tel retrait a tous les effets d'un désistement d'instance et il entraîne l'entrée en force de chose jugée de la décision contre laquelle le recours était dirigé (
ATF 97 V 252
; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, Berne 1979, p. 184; PFEIFER, Der Untersuchungsgrundsatz und die Offizialmaxime im Verwaltungsverfahren, Bâle 1980, pp. 140-141; KNAPP, Précis de droit administratif, Bâle 1980, No 994, p. 223). Le droit fédéral ne prescrit toutefois pas au juge des assurances sociales d'attirer expressément l'attention de l'intéressé sur la faculté qui est la sienne de retirer le recours.
b) Par ailleurs, la violation du droit d'être entendu doit être constatée d'office par la Cour de céans. En effet, lorsqu'il statue sur un recours de droit administratif, le Tribunal fédéral des assurances n'est pas lié par les moyens du recourant (
art. 114 al. 1 OJ
) et, conformément au principe suivant lequel il applique le droit d'office ("jura novit curia"), il peut entrer en matière même sur des griefs qui ne sont pas articulés (RDAF 1981, p. 46 consid. 3 in fine;
ATF 104 Ib 219
consid. 6 et 278 consid. 2;
ATF 96 I 517
consid. 2). D'ailleurs, les conditions formelles de validité et de régularité de la procédure administrative doivent être examinées d'office (
ATF 96 I 191
consid. 1). En outre, on ne saurait, d'une manière générale,
BGE 107 V 246 S. 249
admettre à la légère qu'un administré a renoncé à son droit d'être entendu (
ATF 101 Ia 313
-314).
2.
En l'espèce, la commission de recours a considéré qu'il était superflu de donner au recourant l'occasion de s'exprimer sur l'éventualité d'une réforme à son détriment de la décision de rente contre laquelle il avait recouru. Pour justifier son point de vue, elle prétend tout d'abord qu'en vertu de l'
art. 69 LAI
la règle contenue à l'
art. 85 al. 2 let
. d LAVS ne s'applique que par analogie aux procédures de recours en matière d'assurance-invalidité. De plus, dit-elle, l'argumentation du recourant tendant à prouver que son degré d'invalidité est supérieur à 50% vaut aussi et à plus forte raison pour établir qu'il n'est pas inférieur à la moitié.
Un tel raisonnement doit être qualifié d'arbitraire. En effet, qu'on le déduise directement de l'
art. 4 Cst.
ou, comme c'est le cas ici, d'une norme légale expresse, le droit d'être entendu est un principe essentiel de n'importe quelle procédure judiciaire. Le respect de ce principe s'impose de façon particulièrement intense quand l'autorité de recours est appelée à prendre une décision qui modifie en l'aggravant la situation d'une partie telle qu'elle résulte de l'acte administratif entrepris (
ATF 106 Ia 5
-6, avec les renvois aux arrêts antérieurs).
3.
Une violation par les premiers juges du droit d'être entendu étant établie en l'occurrence, il faut examiner s'il pouvait être remédié à ce vice devant l'autorité fédérale de recours.
A cet égard, la Cour de céans a jugé que la violation du droit d'être entendu est réparée lorsque le recourant qui n'a pu s'exprimer en première instance a eu la faculté de le faire devant le Tribunal fédéral des assurances et que celui-ci peut revoir librement tant les faits que le droit (
ATF 103 V 133
consid. 1,
ATF 99 V 61
). Cette jurisprudence doit cependant être précisée. S'agissant en effet de replacer le plaideur dans la situation où il se serait trouvé si son droit d'être entendu n'avait pas été violé, force est de constater que la réparation du vice est parfois possible, alors même que le Tribunal fédéral des assurances jouit seulement d'un pouvoir d'examen limité; il en va par exemple ainsi lorsqu'est en cause une pure question de droit (arrêt non publié Macmillan S.A. de ce jour). Inversement, le pouvoir d'examen étendu de l'autorité de dernière instance (
art. 132 OJ
) ne permet pas toujours de remédier à la violation du droit d'être entendu intervenue en première instance judiciaire; tel est précisément le cas lorsque ladite violation consiste dans le fait de ne pas avoir donné au
BGE 107 V 246 S. 250
recourant la possibilité de se déterminer sur une "reformatio in peius". Car on ne peut présumer de quelle manière l'intéressé se serait alors exprimé et s'il aurait, éventuellement, retiré son recours, mettant fin du même coup à la procédure et laissant subsister la décision litigieuse.
Il faut, par conséquent, sans examiner le fond de l'affaire, annuler le jugement attaqué et renvoyer la cause à la commission de recours qui devra, préalablement à tout autre procédé, inviter le recourant à se prononcer sur l'éventualité d'une réforme à son détriment de la décision litigieuse.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral des assurances prononce:
Le recours est admis dans ce sens que le jugement attaqué est annulé et la cause, renvoyée à la commission de recours pour qu'elle procède dans le sens des considérants. | null | nan | fr | 1,981 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb1cc3d9-0b34-429b-b74e-cd1afb3577d8 | Urteilskopf
105 V 234
51. Arrêt du 24 juillet 1979 dans la cause Office fédéral de l'industrie, des arts et métiers et du travail contre Corbery et Commission cantonale de recours en matière d'assurance-chômage, Genève | Regeste
Art. 28 Abs. 1 und 2 AlVG
und
Art. 324 Abs. 1 OR
.
Von der Pflicht des Arbeitgebers, den Lohn zu entrichten, und vom Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. | Sachverhalt
ab Seite 234
BGE 105 V 234 S. 234
A.-
Pierre Corbery, né en 1946, travaillait depuis le 5 janvier 1971 comme technicien-dessinateur au service de l'entreprise X.
En date du 17 mars 1978, l'employeur a communiqué à son collaborateur que la récession l'obligeait à réduire l'horaire de travail de moitié dès le 28 mars 1978 (jours chômés: jeudi, vendredi et lundi matin), mesure que le Secrétariat patronal de la métallurgie du bâtiment a autorisée pour la période du 28 mars au 28 avril 1978. Puis, par lettre du 30 mars 1978, invoquant une évolution défavorable et la nécessité d'adapter sa structure technique aux commandes, l'entreprise a résilié le contrat de travail du prénommé pour le 31 mai 1978, alors qu'elle avait indiqué à l'assurance qu'elle estimait à deux mois la durée prévisible du chômage partiel. Pierre Corbery a protesté, mais en vain, contre cette mesure, le 10 avril 1978.
Ce dernier lui ayant présenté le 28 mars 1978 une demande d'indemnité pour le chômage partiel subi à partir du même
BGE 105 V 234 S. 235
jour, la Caisse cantonale genevoise d'assurance contre le chômage a pris le 6 avril 1978 une décision niant le droit à l'indemnité. Elle a considéré que l'employeur avait introduit la réduction d'horaire en même temps qu'il signifiait son congé à l'assuré et que, de ce fait, il devait lui payer le salaire complet tout au long de la période de dédit.
B.-
Pierre Corbery a recouru le 17 avril 1978 contre cette décision auprès des Services de chômage. Il a joint à son mémoire photocopies notamment de la lettre par laquelle il s'opposait à la réduction de l'horaire de travail simultanément avec le licenciement, de la réponse de l'employeur du 12 avril 1978, qui niait pareille simultanéité, et d'une demande du 17 avril 1978 requérant l'assignation de l'entreprise devant le tribunal des prud'hommes.
Les Services de chômage l'ayant débouté par prononcé du 28 avril 1978, l'assuré s'est adressé à la Commission cantonale genevoise de recours en matière d'assurance-chômage. Celle-ci a considéré que, vu les circonstances, le recourant devait être mis au bénéfice de l'
art. 28 al. 2 LAC
. Par jugement du 14 juillet 1978, elle a ainsi annulé le prononcé entrepris et dit que Pierre Corbery devait être indemnisé pour le chômage partiel subi en avril et mai 1978 dans la mesure où il remplissait toutes les conditions d'octroi de l'indemnité, que la caisse était subrogée dans les droits éventuels de l'assuré envers l'employeur à concurrence des prestations versées et que les Services de chômage devaient inviter la caisse à procéder à toutes démarches utiles en vue de recouvrer auprès de l'employeur la contre-valeur des indemnités payées à l'assuré.
C.-
L'Office fédéral de l'industrie, des arts et métiers et du travail interjette recours de droit administratif. Invoquant l'
art. 28 al. 1 LAC
et les directives émises par lui le 24 juillet 1975, il allègue en bref que, si l'employeur a licencié des collaborateurs en même temps qu'une réduction d'horaire était introduite, les travailleurs congédiés ont droit au salaire complet durant le délai de congé, même s'ils ont un horaire réduit durant cette période; que tel est le cas en l'espèce, où le chômage s'est étendu, à l'exception de deux jours, uniquement sur le délai de résiliation, soit les mois d'avril et mai 1978; que le droit de l'intéressé au plein salaire étant incontestable, on ne se trouve pas dans la situation visée par l'
art. 28 al. 2 LAC
, qui autorise la caisse - sans l'y obliger - à servir les indemnités de
BGE 105 V 234 S. 236
chômage lorsqu'il y a doute sur les droits que l'assuré peut faire valoir à l'égard de son employeur. Il conclut à l'annulation du jugement cantonal et au rétablissement de la décision des Services de chômage.
Dans sa réponse, l'intimé demande au Tribunal fédéral des assurances de prendre position sur la lettre du 17 mars 1978, derrière laquelle l'employeur se retranche. Il demande par ailleurs pourquoi l'entreprise, si elle était de bonne foi, ne l'a pas réembauché à plein temps dès la lettre de licenciement du 30 mars 1978 pour la durée légale du délai de congé.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Le droit à l'indemnité de chômage n'est donné que si l'assuré, du fait de son chômage, subit une perte de gain (
art. 24 al. 2 let
. c LAC; cf. art. 8 AAC). La perte de gain subie n'ouvre cependant pas droit à l'indemnité notamment lorsque l'assuré doit être indemnisé pour le chômage dont elle découle par l'employeur en vertu du contrat de travail (
art. 28 al. 1 LAC
; cf. art. 8 AAC).
a) L'
art. 28 al. 1 LAC
vise à empêcher que l'employeur ne fasse supporter à l'assurance-chômage, en tout ou en partie, le salaire qu'il est tenu de payer en vertu de ses obligations contractuelles (DTA 1978 No 29, p. 114; 1977 No 17, p. 84; ATFA 1962, p. 83; 1953, p. 173; arrêt non publié Kuhn du 19 octobre 1977). Et si le salarié renonce, expressément ou par acte concluant, à faire valoir ses droits découlant du contrat de travail et en particulier de l'
art. 324 CO
, il devra en supporter les conséquences en matière d'assurance-chômage, c'est-à-dire qu'il perdra de ce fait son droit aux indemnités de chômage (cf.
ATF 104 V 207
, où le Tribunal fédéral des assurances a jugé que le salarié qui renonce à l'indemnisation d'heures de travail effectuées ne peut prétendre d'indemnités pour le manque à gagner encouru de ce fait).
Or l'
art. 324 al. 1 CO
, qui reprend en substance l'ancien art. 332 en vigueur jusqu'au 31 décembre 1971, dispose que, s'il empêche par sa faute l'exécution du travail ou se trouve en demeure de l'accepter pour d'autres motifs, l'employeur reste tenu de payer le salaire sans que le travailleur doive encore fournir son travail. L'employeur supporte donc les aléas économiques, tels qu'une absence de commandes: même si un
BGE 105 V 234 S. 237
manque de travail ne lui est pas imputable à faute, il doit en principe verser le salaire tant que durent les rapports de service et jusqu'à l'échéance du délai de résiliation (voir p. ex. DTA 1978 No 29, p. 114; 1977 No 17, p. 84; arrêt Kuhn précité, voir aussi SCHWEINGRUBER, Kommentar zum Arbeitsvertrag, 2e éd., pp. 101 ss; HOLZER, Kommentar zum AlVG, p. 135). Cette règle, auparavant de droit dispositif, est devenue dès 1972 de droit impératif en ce sens qu'il ne peut y être dérogé au détriment du travailleur par voie d'accord, contrat type de travail ou convention collective (
art. 362 al. 1 CO
; DTA 1978 No 29, p. 114).
b) La jurisprudence a cependant très tôt apporté certains tempéraments à la règle de l'
art. 28 al. 1 LAC
. Elle a ainsi prononcé que la renonciation du salarié à son salaire n'entraînait pas pour lui perte du droit aux indemnités de chômage, si cette renonciation tendait à éviter la résiliation du contrat de travail en cas d'interruptions - ou de réductions horaires - passagères et objectivement inévitables de travail dues à des fluctuations économiques, et si pareil comportement répondait aux conditions existantes dans la branche professionnelle en cause (voir p. ex. DTA 1977 No 17, p. 84; ATFA 1964, p. 53; 1962, p. 83, 1960, p. 326, 1959, p. 206, 1953, p. 176 consid. 2; arrêt Kuhn précité; cf. DTA 1978 No 29, p. 114). Instaurée sous l'empire de l'ancien
art. 332 CO
, cette jurisprudence garde sa raison d'être et sa valeur sous celui de l'actuel
art. 324 CO
(arrêt Kuhn susmentionné et aussi p. ex. SCHWEINGRUBER, op. cit., p. 103 ch. 6).
Il faut cependant relever que l'assuré ne peut disposer selon son bon vouloir de ses droits envers l'employeur et prétendre ensuite des prestations de l'assurance-chômage pour des jours pour lesquels il a renoncé à une indemnisation conformément au contrat de travail. S'il ne s'agit pas d'éviter une rupture totale et prochaine des rapports de travail et un chômage imminent qui s'ensuivrait, on doit exiger de l'assuré qu'il fasse valoir son droit au salaire envers l'employeur. C'est ainsi notamment que le salarié dont l'engagement a été résilié n'a d'une façon générale aucun motif valable d'accepter encore une réduction de travail assortie d'une perte de gain (voir p. ex. DTA 1977 No 17, p. 84; HOLZER, op. cit., p. 136). Et c'est à raison que les directives administratives notent en particulier que, si l'employeur a licencié des collaborateurs en même temps
BGE 105 V 234 S. 238
qu'une réduction d'horaire était introduite, les travailleurs congédiés ont droit au salaire complet durant le délai de congé, même s'ils travaillent à horaire réduit durant cette période, et qu'il n'existe dans ce cas aucune prétention aux indemnités de chômage durant le délai de congé (Circulaire de l'Office fédéral de l'industrie, des arts et métiers et du travail du 24 juillet 1975, ch. 3; cf.
ATF 104 V 207
déjà cité ci-dessus).
2.
En l'espèce, l'employeur a informé l'assuré par lettre du 17 mars 1978 que la récession l'obligeait à réduire l'horaire de travail de moitié dès le mardi 28 mars 1978. Cette réduction d'horaire a été autorisée le 31 mars 1978 par le Secrétariat patronal de la métallurgie du bâtiment, Service paritaire de l'emploi, pour une durée allant du 28 mars au 28 avril 1978; l'employeur indiquait pour sa part, dans la déclaration établie le 29 mars 1978 à l'intention de l'assurance-chômage, une durée prévisible de deux mois. Mais le jeudi 30 mars 1978, invoquant une évolution défavorable et la nécessité d'adapter sa structure technique aux commandes, l'entreprise résiliait le contrat de travail de l'intéressé pour le 31 mai 1978. Ce congé a ainsi été signifié deux jours après l'introduction formelle de l'horaire réduit et le jour même où le chômage partiel en découlant devenait effectif, la réduction d'horaire ayant lieu sous forme de suspension du travail les jeudi, vendredi et lundi matin.
On ne saurait contester que les circonstances économiques rendaient une réduction d'horaire objectivement inévitable. Aussi Pierre Corbery se devait-il d'accepter la réduction proposée par lettre du 17 mars 1978 et la perte de gain découlant de ce chômage partiel, pour autant que la renonciation au plein salaire tendait à surmonter des difficultés passagères et à éviter la résiliation du contrat de travail. Au vu des déclarations de l'employeur, le prénommé pouvait alors croire de bonne foi que ces conditions étaient données, et son comportement répondait par ailleurs aux conditions existantes dans la branche professionnelle en cause.
Le jour même où la réduction de l'horaire de travail était introduite en fait, l'employeur signifiait cependant son congé à l'assuré. Aussi celui-ci n'avait-il dès cet instant plus aucun motif valable d'accepter la réduction introduite et la perte de gain en découlant; il s'est opposé à juste titre le 10 avril 1978 à pareille réduction simultanément avec le licenciement. Sans vouloir soupçonner l'entreprise d'avoir sciemment trompé la
BGE 105 V 234 S. 239
confiance de l'assuré et d'avoir réduit l'horaire de travail en vue de faire supporter à l'assurance-chômage une part du salaire durant le délai de congé, force est de constater qu'elle a pêché à tout le moins par un optimisme inexcusable; elle devait raisonnablement savoir dès le 17 mars 1978 - et à plus forte raison lorsqu'elle a établi la déclaration du 29 mars 1978 - que le maintien de l'emploi grâce à une simple réduction du temps de travail était un leurre, puisqu'elle était amenée le 30 mars 1978 à licencier l'intéressé et, qui plus est, à demander et obtenir du juge le 26 avril 1978 déjà un sursis concordataire.
On est loin de ces cas où l'employeur, après s'être efforcé par une réduction momentanée du temps de travail de conserver son personnel dans l'espoir que les difficultés seront passagères et que l'emploi pourra être maintenu, sans que reproche puisse lui être adressé de l'avoir fait à la légère, se voit finalement contraint au licenciement. S'il peut dans de tels cas se présenter des situations où il serait contraire à la bonne foi, de la part d'un assuré, de rétracter le consentement antérieurement donné à une réduction d'horaire, de mettre l'employeur en demeure au moment précis où il se voit forcé de procéder à des licenciements et d'exiger le paiement du plein salaire durant le délai de congé (voir p. ex. ATFA 1959, p. 206), la situation n'est en rien comparable en l'espèce.
3.
Le droit de l'assuré au salaire est ici incontestable. Contrairement à l'avis du juge cantonal, on ne se trouve pas dans la situation réglée par l'
art. 28 al. 2 LAC
(cf. art. 8 AAC), qui autorise la caisse - sans l'y obliger (HOLZER, op. cit., pp. 138-139; DTA 1978 No 29, p. 114) - à servir les indemnités de chômage lorsqu'il y a doute sur les droits que l'assuré peut faire valoir à l'égard de l'employeur, mais dans celle visée par l'
art. 28 al. 1 LAC
. L'
art. 47 OAC
, qui concerne les fonctionnaires (arrêt non publié Rhyn du 5 juin 1979), n'est par ailleurs pas applicable. L'assuré devant être indemnisé par l'employeur en vertu du contrat de travail, la perte de gain découlant de la réduction de l'horaire de travail durant le délai de congé ne lui ouvre pas droit à l'indemnité de chômage.
Dans ces conditions, il y a lieu d'admettre le recours de l'Office fédéral de l'industrie, des arts et métiers et du travail et d'annuler le jugement déféré à la Cour de céans, aux fins de rétablir la décision de refus confirmée par les Services de chômage.
BGE 105 V 234 S. 240
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral des assurances prononce:
Le recours est admis, le jugement du 14 juillet 1978 de la Commission cantonale genevoise de recours en matière d'assurance-chômage étant annulé. | null | nan | fr | 1,979 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb1d0825-cad3-4841-8271-afb3a93a1502 | Urteilskopf
97 I 809
116. Auszug aus dem Urteil vom 15. Dezember 1971 i.S. Gerber und Wimmer gegen Einwohnergemeinde Muri und Verwaltungsgericht des Kantons Bern. | Regeste
Eigentumsgarantie,
Art. 4 BV
; materielle Enteignung.
1. Verhältnis zwischen formeller und materieller Enteignung; Bemessungszeitpunkt für die Entschädigung bei materieller Enteignung (Erw. 1).
2. Wird die Enteignungsentschädigung nicht im Zeitpunkt der Bemessung ausbezahlt, so kann das Gemeinwesen verpflichtet werden, diese Leistung von dem Tage an zu verzinsen, an dem der Entschädigungsanspruch erstmals in unverkennbarer Weise geltend gemacht wird (Erw. 3 a).
Willkürliche Anwendung dieser Regel im vorliegenden Falle (Erw. 3 b). | Sachverhalt
ab Seite 809
BGE 97 I 809 S. 809
Auszug aus dem Sachverhalt:
A.-
Die Einwohnergemeinde Muri bei Bern beschloss am 25. Mai 1956 einen Alignementsplan mit Sonderbauvorschriften, einen neuen Bauzonenplan und eine Revision des Baureglementes. Durch den am 2. Oktober 1956 vom Regierungsrat des Kantons Bern genehmigten Alignementsplan "Halden" mit Sonderbauvorschriften wurden die Parzelle Nr. 56 des Rudolf Gerber vollständig und die Parzelle Nr. 175 des Wilhelm Wimmer teilweise mit einem Bauverbot belegt. Im Genehmigungsbeschluss des Regierungsrates wird festgestellt, die Gemeinde Muri anerkenne, dass es sich um eine Massnahme der Zwangsenteignung handle, und habe sich zum Ankauf des vom
BGE 97 I 809 S. 810
Bauverbot betroffenen Terrains bereit erklärt. Ein Kaufvertrag kam jedoch in der Folge nicht zustande.
B.-
Mit Eingabe vom 10. Oktober 1966 ersuchten die beiden Grundeigentümer Gerber und Wimmer die zuständige Enteignungs-Schätzungskommission Kreis 2 um Festsetzung der ihnen von der Gemeinde Muri geschuldeten Enteignungsentschädigungen für die Parzellen Nr. 56 und 175.
Mit Entscheid vom 15. April 1969 entsprach die Kommission diesem Begehren. Für die Bewertung teilte sie die in Frage stehenden Grundstücke in vier verschiedene Zonen ein: Waldabstandszone, Bauzone, Hangzone, Lischland. Sie zog sodann in Erwägung, dass bei einer Überbauung die Grundeigentümer zweifellos zur Leistung von Beiträgen an den Ausbau der Haldenstrasse verpflichtet worden wären und brachte den dafür mutmasslich geschuldeten Betrag vom Verkehrswert in Abzug. Die Schätzungskommission kam auf diesem Wege zu folgenden Entschädigungen:
a) für Rudolf Gerber:
3350 m2 Waldabstandsland à Fr. 45.- FR. 150'750.--
3810 m2 Bauland "" 130.-- " 495'300.--
2660 m2 Hangland "" 20.- " 53'200.--
3247 m2 Lischland "" 1.- " 3'247.--
FR. 702'497.-- abzüglich mutmasslicher Grundeigentümerbeitrag
an den Ausbau der Erschliessungsstrasse Fr. 18'000.--
Total Fr. 684'497.--
b) für Wilhelm Wimmer:
1890 m2 Waldabstandsland à Fr. 45.- FR. 85'050.--
2950 m2 Bauland "" 130.-- " 383'500.--
1500 m2 Hangland "" 20.- " 30'000.--
2530 m2 Lischland "" 1.- " 2'530.--
FR. 501'080.--
abzüglich Grundeigentümerbeitrag
an den Ausbau der Erschliessungsstrasse Fr. 12'000.--
Total = Fr. 489'080.--
BGE 97 I 809 S. 811
C.-
Den Entscheid der Schätzungskommission zog die Gemeinde Muri an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern weiter. Dieses ging davon aus, dass der Einbezug der beiden Parzellen in die Grün- und Landschaftsschutzzone und ihre Belegung mit einem Bauverbot eine öffentlichrechtliche Eigentumsbeschränkung darstelle, die nach den Grundsätzen der materiellen Enteignung zu entschädigen sei. Es entschied, im vorliegenden Falle setze sich die Entschädigung aus dem Verkehrswert der Parzellen per 2. Oktober 1956 (Genehmigung des Alignementsplanes) und der Steigerung des Kulturlandwertes vom 2. Oktober 1956 bis 15. April 1969 (Entscheid der Schätzungskommission) zusammen.
Gestützt auf eine gerichtliche Expertise setzte es folgende Entschädigungen fest:
R. Gerber:
Verkehrswert der Parzelle Nr. 56 als Bauland per 2. Oktober 1956: Fr. 509'300.--
zuzüglich Wertsteigerung des Kulturlandes entsprechend der Verkehrswertdifferenz vom 2. Oktober 1956 bis 15. April 1969 (Fr. 32'700.-- minus Fr. 23'600.--): Fr. 9'100.--
Enteignungsentschädigung: Fr. 518'400.--
W. Wimmer:
Verkehrswert der Parzelle Nr. 175 als Bauland per 2. Oktober 1956: Fr. 303'900.--
zuzüglich Wertsteigerung des Kulturlandes entsprechend der Verkehrswertdifferenz vom 2. Oktober 1956 bis 15. April 1969 (Fr. 20'100.-- minus Fr. 14'600.--): Fr. 5'500.--
Enteignungsentschädigung: Fr. 309'400.--
Das Verwaltungsgericht bestimmte überdies, dass jener Teil der Enteignungsentschädigung, der als Schadenersatz für das Bauverbot zu betrachten sei, von dem Zeitpunkt an zu 5% verzinst werden müsse, in welchem die Enteigneten ihre Ansprüche gegenüber dem Gemeinwesen erstmals in aller Form geltend gemacht hätten.
BGE 97 I 809 S. 812
D.-
Rudolf Gerber und Wilhelm Wimmer reichten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wegen Verletzung von
Art. 4 und
Art. 22 ter BV
staatsrechtliche Beschwerde ein mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, die Entschädigungen im Sinne der in der Beschwerde enthaltenen Erwägungen neu festzusetzen.
Die Begründung der Beschwerde geht soweit wesentlich aus den nachfolgenden Erwägungen hervor.
E.-
Die Einwohnergemeinde Muri beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde. In gleichem Sinne liess sich das Verwaltungsgericht des Kantons Bern vernehmen, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu stellen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Zwischen den Beschwerdeführern einerseits und der Einwohnergemeinde Muri anderseits ist in erster Linie der Bemessungszeitpunkt für die unbestrittenermassen geschuldete Entschädigung streitig. Die These, es sei auf den Zeitpunkt des Entscheides der Schätzungskommission, nicht auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung abzustellen, wird in der Beschwerde alternativ auf zwei Argumente gestützt: Einerseits wird geltend gemacht, zur Zeit der Beschlussfassung über dieses Bauverbot (1956) habe man im Kanton Bern zwischen formeller und materieller Enteignung gar nicht unterschieden und in jedem Fall die Entschädigung nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Schätzung bemessen. Anderseits wird für den Fall der Unterscheidung zwischen formeller und materieller Enteignung die Auffassung vertreten, es handle sich hier um eine formelle, nicht um eine materielle Enteignung, da die Beschwerdeführer von Anfang an (gemäss § 13 Abs. 2 Ziff. 2 des Alignementsgesetzes) die Übernahme der mit Bauverbot belegten Parzellen verlangt hätten und die Einwohnergemeinde sich zur Übernahme bereit erklärt habe.
a) Als die hier in Frage stehende Grünzone geschaffen wurde, galt im Kanton Bern noch das sogenannte Alignementsgesetz von 1894 (Gesetz betreffend die Aufstellung von Alignementsplänen und von baupolizeilichen Vorschriften durch die Gemeinden vom 15. Juli 1894). Weder dieses Gesetz noch das damals geltende Enteignungsgesetz vom 2. September 1868 enthalten allgemeine Vorschriften über den Tatbestand, der
BGE 97 I 809 S. 813
heute als materielle Enteignung bezeichnet wird. Das alte Enteignungsgesetz geht dort, wo es von Eigentumsbeschränkungen spricht, davon aus, dass es sich um die formelle Einräumung von Rechten (Dienstbarkeiten) handelt, nicht um öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkungen im heutigen Sinne. In § 13 Abs. 2 Ziff. 3 des Alignementsgesetzes - 1894 - wird ein Sonderfall der materiellen Enteignung geregelt:
"Wenn die Gemeinde vorschreibt, dass eine Strasse nur auf einer Seite bebaut werden dürfe, so können die Eigentümer solcher auf der andern Seite gelegener Grundstücke, welche sich sonst zum Bauen eignen würden, von der Gemeinde sofortige Übernahme der Grundstücke gegen Vergütung ihres Wertes vor der Beschränkung oder Ersatz für den durch die Beschränkung entstehenden Minderwert verlangen."
In Abs. 1 von § 13 wird der Grundsatz aufgestellt, dass - abgesehen von den in Abs. 2 geregelten Ausnahmen - "wegen der in diesem Gesetz auferlegten Beschränkung der Baufreiheit" eine Entschädigung nicht verlangt werden könne.
In Art. 30 des Gesetzes über die Bauvorschriften vom 26. Januar 1958, welches das Alignementsgesetz von 1894 aufhob, wurde dann die Frage der Entschädigungspflicht für Grün- oder Freiflächen folgendermassen geregelt:
"Der Eigentümer kann verlangen, dass die Gemeinde nach ihrer Wahl entweder das Grundstück sofort erwerbe oder ihm für den Entzug der Baufreiheit Schadenersatz leiste, wenn das Land für eine Grün- oder Freifläche (Art. 9) beansprucht wird."
Weder diesen gesetzlichen Vorschriften noch den von den Beschwerdeführern zitierten Entscheidungen lässt sich entnehmen, dass im Kanton Bern 1956 bei materieller Enteignung die Schätzung als Bemessungszeitpunkt betrachtet worden sei. Soweit eine Entschädigungspflicht anerkannt wurde, ist von sofortiger Übernahme bzw. von "Ersatz für den durch die Beschränkung entstehenden Minderwert" die Rede. Die Frage von Preisschwankungen zwischen dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Beschränkung und der Schätzung ist in diesen Vorschriften nicht ausdrücklich geregelt; aus dem Wortlaut ist aber doch eher zu schliessen, dass das Inkrafttreten der Beschränkung massgebend sein soll. Fehlt für die gegenteilige Ansicht jeder konkrete Anhaltspunkt, so verstösst die mit der heute herrschenden Auffassung übereinstimmende Lösung des bernischen Verwaltungsgerichts, wonach grundsätzlich
BGE 97 I 809 S. 814
bei materieller Enteignung - auch wenn sie 1956 erfolgt ist, - für die Bemessung der Entschädigung auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung abzustellen ist, weder gegen
Art. 4 BV
noch gegen die Eigentumsgarantie. Dass das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit der Wahl dieses Bemessungszeitpunktes im Widerspruch zu einer konstanten Praxis der Berner Enteignungsbehörden stehe und daher gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstosse, ist in keiner Weise belegt.
b) Die Beschwerdeführer bestreiten an sich nicht, dass bei materieller Enteignung heute richtigerweise in der Regel die Verhältnisse im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung für die Bemessung der Entschädigung massgebend sind (
BGE 93 I 144
; bern. Enteignungsgesetz 1965 Art. 21 Abs. 2). Sie vertreten jedoch die Auffassung, diese Regel komme im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung, weil es sich gar nicht um eine materielle Enteignung handle.
Aus den Akten ergibt sich, dass die Gemeinde schon 1956 die Bereitschaft erklärte, die mit einem Bauverbot belegten Flächen zu übernehmen. Dieser Umstand macht die materielle Enteignung jedoch nicht zu einer formellen Enteignung. Das Wesen der sogenannten materiellen Enteignung besteht darin, dass die Folgen öffentlich-rechtlicher Eigentumsbeschränkungen nachträglich entschädigt werden, weil sie als enteignungsähnlich zu qualifizieren sind. Die formelle Enteignung hingegen schafft die Voraussetzungen für den Übergang von Rechten auf den Enteigner. Die formelle Enteignung steht nach ihrer Struktur und Funktion dem Vertrag näher; sie geht grundsätzlich der zwangsweisen Übertragung des Rechtes voran, während bei der sogenannten materiellen Enteignung der durch den enteignungsähnlichen Eingriff bewirkte Schaden hinterher - nach Inkrafttreten der Eigentumsbeschränkung - festgesetzt und vergütet wird (vgl. hiezu
BGE 93 I 143
). - Bringt man diese Kriterien auf den vorliegenden Fall zur Anwendung, so lässt sich nicht bezweifeln, dass das durch den Alignementsplan geschaffene Bauverbot unter den Begriff der materiellen Enteignung zu subsumieren ist: Es geht nicht um den Erwerb eines Rechtes auf dem Wege der formellen Enteignung, sondern um die Frage der Entschädigung des durch die öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung bewirkten enteignungsähnlichen Eingriffs. Dass das entschädigungspflichtige Gemeinwesen und die
BGE 97 I 809 S. 815
Grundeigentümer übereingekommen sind, statt der blossen Entschädigung des Minderwertes solle die Übernahme der Parzellen erfolgen, ändert an der rechtlichen Natur des die Entschädigungspflicht auslösenden Eingriffs und an der Bemessung des dadurch bewirkten Schadens nichts (anderer Auffassung WIEDERKEHR, Expropriationsentschädigung S. 165). Die materielle Enteignung wird durch die Übernahme des Grundstückes nicht in eine formelle Enteignung umgewandelt, sondern lediglich allenfalls durch eine formelle Expropriation ergänzt, soweit es um die Bewertung und Übernahme des bereits durch die Eigentumsbeschränkung belasteten, auf den Kulturlandwert reduzierten Grundstückes geht. Das Inkrafttreten der Eigentumsbeschränkung hat aber in jedem Falle den Minderwert verursacht und eine nachfolgende Wertsteigerung als Bauland verhindert. Insoweit ist eine formelle Enteignung weder nötig noch möglich. Die Argumente, welche bei materieller Enteignung im allgemeinen für die Bemessung der Entschädigung im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Beschränkung sprechen, gelten, inbezug auf die Feststellung des infolge eines Bauverbotes eingetretenen Minderwertes auch für den Fall der spätern Übernahme des belasteten Grundstückes durch das entschädigungspflichtige Gemeinwesen, immer unter der Voraussetzung, dass die enteignungsähnliche Wirkung der Eigentumsbeschränkung im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens erkennbar ist und dass der Betroffene seinen Entschädigungsanspruch sofort geltend machen kann (
BGE 93 I 146
). Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die enteignungsähnliche Wirkung des Bauverbotes sogleich erkennbar war und dass den Grundeigentümern ein Rechtsweg zur Geltendmachung ihrer Entschädigungsansprüche offen stand. Da die enteignungsähnliche Beschränkung unabhängig von der Festsetzung und Bezahlung einer Entschädigung in Kraft tritt, hat das den Eingriff bewirkende Gemeinwesen kein Interesse daran, das Entschädigungsverfahren in Gang zu setzen, sondern wird die Initiative weitgehend dem betroffenen Grundeigentümer überlassen, der zu beurteilen hat, ob der Eingriff für ihn enteignungsähnlich wirkt und ob er deshalb eine Entschädigung beanspruchen will. Bei dieser Situation soll der Betroffene nicht durch spekulatives Zuwarten die Bemessung der Entschädigung beeinflussen können. Ob das entschädigungspflichtige Gemeinwesen schliesslich das Grundstück übernimmt oder ob es nur den durch die
BGE 97 I 809 S. 816
Eigentumsbeschränkung verursachten Minderwert vergütet, vermag die Bemessung des primär verursachten Minderwertes nicht zu beeinflussen. Aus der dogmatischen Erwägung, dass die Eigentumsbeschränkung als solche eine gewisse Verwendungsmöglichkeit eo ipso beseitigt und dass daher spätere Preissteigerungen, welche sich auf diese bereits beseitigte Verwendungsmöglichkeit beziehen, für die Entschädigung unbeachtlich sind sowie aus der praktischen Überlegung, dass der Bemessungszeitpunkt fest und spekulativen Manipulationen entzogen sein muss, erscheint der Entscheid der Vorinstanz als richtig. Sie hat den Minderwert nach den Verhältnissen im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bauverbotes (1956) bemessen und beim verbleibenden Kulturlandwert die Preissteigerung bis zum Datum der Schätzung berücksichtigt. Dieses Vorgehen entspricht dem verfassungsmässigen Grundsatz der vollen Entschädigung.
Eine Einschränkung wäre nur zu machen, sofern die betroffenen Grundeigentümer nicht von Anfang an die Möglichkeit zur Geltendmachung ihrer Ansprüche gehabt hätten oder wenn sie vom entschädigungspflichtigen Gemeinwesen gegen Treu und Glauben von der formellen Einleitung eines Schätzungsverfahrens abgehalten worden wären. Das wird nun aber im vorliegenden Verfahren nicht behauptet. Im Beschluss des Regierungsrates vom 2. Oktober 1956 über die Genehmigung des Alignementsplanes heisst es ausdrücklich, dass Entschädigungsansprüche von den Einsprechern gegebenenfalls vor dem Expropriationsrichter geltend zu machen seien. Dieser Weg wurde trotzdem zunächst nicht eingeschlagen. Es fanden angeblich mündliche Verhandlungen statt, die aber nicht zu einer Einigung führten. Erst im Jahre 1963 wandten die Beschwerdeführer sich schriftlich an die Gemeinde. - Es besteht somit kein Anlass, im vorliegenden Falle von dem grundsätzlich als zweckmässig und richtig erkannten Bemessungszeitpunkt bei materieller Enteignung abzuweichen. Ob die Beschwerdeführer tatsächlich aus spekulativen Gründen zunächst von der formellen Durchsetzung ihrer Ansprüche absahen oder ob andere Überlegungen zur Verzögerung führten, ist hier ohne Belang. Auf jeden Fall fehlt der Nachweis einer tatsächlichen oder rechtlichen Behinderung, welche das Abstellen auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bauverbotes als unbegründet erscheinen liesse.
2.
-- ...
BGE 97 I 809 S. 817
3.
Im angefochtenen Entscheid wird festgestellt, dass die Beschwerdeführer im Rahmen ihres gesetzlichen Anspruchs auf volle Entschädigung auch Anspruch auf einen Zins auf jenem Teil der Enteignungsentschädigung haben, der als Schadenersatz für das Bauverbot zu betrachten ist. Der Zinsanspruch beginnt - nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts - in dem Zeitpunkt, "in welchem der Enteignete seinen Entschädigungsanspruch gegenüber dem Gemeinwesen in aller Form geltend macht". Demgegenüber bringen die Beschwerdeführer vor, richtigerweise sei der Zins vom Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung an zu zahlen. Auf dieses Vorbringen ist einzutreten, obschon die Beschwerdeführer im Verfahren vor Verwaltungsgericht keinen Zins verlangt haben; das Verwaltungsgericht hatte das Recht von Amtes wegen anzuwenden und neue rechtliche Vorbringen sind daher in der staatsrechtlichen Beschwerde nicht ausgeschlossen (
BGE 95 I 132
Erw. 5 und 655 Erw. 5).
a) Zunächst ist zu prüfen, ob die vom Verwaltungsgericht in Ermangelung einer gesetzlichen Ordnung aufgestellte Regel mit der Eigentumsgarantie im Einklang steht. In der Ausgestaltung der Einzelheiten ihres Enteigungsrechtes sind die Kantone im Rahmen der Eigentumsgarantie frei. Das Bundesgericht auferlegt sich dementsprechend bei der Überprüfung kantonaler Entscheide eine gewisse Zurückhaltung, wenn, wie im vorliegenden Falle inbezug auf die Verzinsung der Entschädigungssumme, diese Gestaltungsfreiheit der Kantone in Frage steht. Unter dem Aspekt des Verfassungsrechtes ist bei solchen Fragen nicht eine "allein richtige Lösung" zu bestimmen, sondern lediglich festzustellen, ob die vom Kanton gewählte Ordnung mit der Eigentumsgarantie vereinbar ist.
Der verfassungsrechtliche Anspruch auf volle Entschädigung darf nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass das entschädigungspflichtige Gemeinwesen die Zahlung der Entschädigung verzögert und so den Anspruchsberechtigten hindert, die ihm zustehende Entschädigungsleistung zu nutzen. Als Ausgleich eines solchen zusätzlichen Schadens durch die zeitliche Hinausschiebung der Zahlung kann ein Zins zugesprochen werden. Der verfassungsmässigen Eigentumsgarantie könnte auch eine andere Form des angemessenen Ausgleichs gerecht werden. Mit der Zusprechung eines Zinses von 5% - analog dem Ansatz in OR Art. 73 und Art. 104 - hat das Verwaltungsgericht eine
BGE 97 I 809 S. 818
Lösung getroffen, welche mit der verfassungsmässigen Eigentumsgarantie vereinbar ist.
Das gleiche gilt für die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Beginn des Zinsenlaufs setze eine gewisse Aktivität des betroffenen Grundeigentümers voraus. Enteignungsähnliche Eigentumsbeschränkungen, die eine Entschädigungspflicht des Gemeinwesens nach sich ziehen, können nicht ohne weiteres zivilrechtlicher Schadensverursachung oder dem formellen Entzug einer Eigentümerbefugnis gleichgestellt werden. Die Eigentumsbeschränkung beeinträchtigt unter Umständen die vom Eigentümer gewollte Nutzung des Landes nicht und wird von ihm entschädigungslos akzeptiert. Während im Haftpflichtrecht kurze Verjährungsfristen (
Art. 60 OR
: 1 Jahr;
Art. 83 SVG
: 2 Jahre) den Anspruchsberechtigten zwingen, seine Forderungen geltend zu machen, fehlen inbezug auf die materielle Enteignung entsprechende Vorschriften; der Eigentümer hat Zeit, um sich zu überlegen, ob er eine Entschädigung verlangen will. Dass allenfalls nach zehn Jahren die Verjährung eintritt (vgl.
BGE 97 I 624
ff.), ist hier ohne Belang; die Verjährung des Anspruches wird nicht behauptet. Kann bei der materiellen Enteignung der Anspruchsberechtigte den Zeitpunkt der Geltendmachung seiner Forderung in einem weiten Rahmen frei wählen, so muss die durch sein Abwarten verursachte Verzögerung der Entschädigungszahlung nicht unbedingt zu einem Anspruch auf Verzinsung führen. Es ist mit der Eigentumsgarantie vereinbar, dass der Grundeigentümer, solange er sich mit der verbleibenden (bisherigen) Nutzung seines Landes begnügt und keine Entschädigungsforderung stellt, auch keine Verzinsung des später allenfalls eruierten Minderwertes beanspruchen kann, und dass die Pflicht zur Verzinsung der Entschädigung erst in dem Zeitpunkt beginnt, wo der Entschädigungsanspruch gegenüber dem Gemeinwesen in unverkennbarer Weise geltend gemacht wird.
b) Erweist sich somit die von der Vorinstanz aufgestellte Regel als verfassungskonform, so bleibt zu prüfen, ob ihre Anwendung im konkreten Falle vor dem Willkürverbot standhält. Aus den Akten ergibt sich, dass offenbar vor der Genehmigung des Alignementsplanes durch den Regierungsrat von der Entschädigungspflicht der Einwohnergemeinde die Rede war und dass damals die Gemeinde sich zur Übernahme der mit einem Bauverbot belegten Grundstücke bereit erklärt hat.
BGE 97 I 809 S. 819
Es mag sein, dass in der Folge zwischen den Organen der Gemeinde und den Beschwerdeführern gewisse mündliche Verhandlungen stattfanden, ohne dass es zu einer Einigung über den Preis der Parzellen kam. Die Beschwerdeführer liessen aber dann die Angelegenheit längere Zeit ruhen. Für die Zeit von 1956 bis Frühling 1963 fehlt jeder Beleg dafür, dass die Beschwerdeführer eine Entschädigung ernstlich verlangten. Aus welchen Gründen sie zuwarteten, kann offen bleiben. Sie behaupten selber nicht, die Einwohnergemeinde habe sie wider Treu und Glauben von der Geltendmachung der Ansprüche und von der Einleitung eines richterlichen Schätzungsverfahrens abgehalten. Erst durch Brief vom 15. März 1963 (Gerber) und 16. Juni 1963 (Wimmer) verlangten sie formell eine Entschädigung bezw. die Übernahme der Grundstücke. Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts läuft die Verzinsung ab 9. November 1964; unter diesem Datum wurde der Gemeinde Muri vom Anwalt der Beschwerdeführer ein Gesuch mit konkreten Angaben über die Höhe der Ansprüche unterbreitet. Diese Festsetzung des Beginns der Verzinsung verstösst gegen
Art. 4 BV
. In seinem Brief vom 15. März 1963 verlangte der Beschwerdeführer Gerber unmissverständlich, dass ihm ein Vorschlag über die Höhe der Entschädigung unterbreitet werde; der Beschwerdeführer Wimmer hat am 14. Juni 1963 sogar ein detailliertes Angebot für die Erledigung seiner Entschädigungsansprüche unterbreitet. Nach dem Eingang dieser beiden Schreiben wusste der Gemeinderat, dass die beiden Grundeigentümer Ansprüche stellten und eine baldige Erledigung der Angelegenheit wünschten. Nachdem die Gemeinde sich in der Beschwerdeantwort zu diesem Punkte nicht geäussert hat, ist anzunehmen, dass die erwähnten Briefe der Grundeigentümer - gemäss der Darstellung in der Beschwerde - tatsächlich unbeantwortet blieben. Ein Schreiben des Anwaltes der Beschwerdeführer vom 10. Dezember 1963 blieb ebenfalls unbeantwortet, und auf ein weiteres Schreiben des Anwaltes vom 26. August 1964 erteilte der Gemeinderat Muri am 8. September 1964 eine ausweichende vorläufige Antwort. Diesen Schriftstücken ist zu entnehmen, dass die Verzögerung der Erledigung der Entschädigungsfrage spätestens vom 15. Juni 1963 an auf das Verhalten der Gemeindeorgane zurückzuführen ist. Dass die Beschwerdeführer nicht sogleich das Schätzungsverfahren einleiteten, sondern auf dem Verhandlungswege zu einer Einigung zu kommen suchten, kann ihnen nicht zur Last
BGE 97 I 809 S. 820
gelegt werden. Die den Beschwerdeführern für das Bauverbot zugesprochenen Entschädigungen von Fr. 485'700.-- (Gerber) und Fr. 289'300.-- (Wimmer) sind somit spätestens ab 15. Juni 1963 zu verzinsen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird bezüglich des Beginns des Zinsenlaufs im Sinne der Erwägungen teilweise gutgeheissen, im übrigen abgewiesen. | public_law | nan | de | 1,971 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eb20ab96-e877-49ff-af31-6c87fe025a3b | Urteilskopf
90 III 99
23. Arrêt du 2 décembre 1964 dans la cause Schiumarini. | Regeste
Betreibung für Miet- und Pachtzinse. Retentionsrecht.
1. Will der Schuldner das Retentionsrecht des Vermieters bestreiten, so hat er Rechtsvorschlag zu erheben. Will er dagegen die Pfändbarkeit der in der Retentionsurkunde verzeichneten Gegenstände bestreiten, so hat er den Beschwerdeweg zu beschreiten (Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 1).
2. Ein Widerspruchsverfahren nach Art. 106/7 SchKG kann zwischen dem das Retentionsrecht des Vermieters ausübenden Gläubiger und dem Schuldner nicht stat finden. Eine dennoch dem Gläubiger angesetzte Frist zur Anhebung einer solchen Klage ist jederzeit von Amtes wegen als nichtig zu betrachten (Erw. 2 und 3).
3. Das Beschwerdeverfahren ist unentgeltlich (Erw. 4). | Sachverhalt
ab Seite 99
BGE 90 III 99 S. 99
A.-
Eric Kaufmann, à La Chaux-de-Fonds, est poursuivi par plusieurs créanciers au for de son domicile. En outre, son bailleur Dante Schiumarini lui réclame 600 fr. représentant le loyer échu d'une ferme sise à VillarsBurquin. Il lui a intenté une poursuite pour loyers et fermages de ce montant, qui porte le no 5902 de l'office de Grandson. Le débiteur avait formé opposition au commandement
BGE 90 III 99 S. 100
de payer. Il a retiré son opposition le 24 janvier 1964, à la suite d'une transaction passée le même jour avec le créancier poursuivant.
Le 28 novembre 1963, l'Office des poursuites de Grandson a dressé l'inventaire des objets soumis au droit de rétention. Il y a mentionné, notamment, un char à pneus qui se trouve dans la grange de la ferme, à Villars-Burquin. Le même char a été saisi par l'Office des poursuites de La Chaux-de-Fonds. Il a été réalisé le 23 juin 1964 par l'office de Grandson. Le produit de la réalisation s'élève à 550 fr.
B.-
Le 8 juillet 1964, le mandataire de Kaufmann a informé l'office de La Chaux-de-Fonds que son client contestait le droit de rétention invoqué par le bailleur. L'office précité a avisé Schiumarini de la contestation et lui a fixé, le 14 juillet, un délai de dix jours pour introduire une action en reconnaissance de son droit contre le débiteur. Il s'est servi de la formule no 23, intitulée "fixation de délai pour ouvrir l'action prévue à l'art. 107 LP", qu'il a modifiée en remplaçant le mot "créancier" par celui de "débiteur" dans la phrase mentionnant le défendeur à qui l'action doit être intentée. L'avis rappelait au destinataire que s'il n'ouvrait pas action dans le délai fixé, il serait réputé renoncer à son droit (art. 107 LP). Schiumarini n'a donné aucune suite à cette communication.
Le 19 octobre 1964, l'office de La Chaux-de-Fonds a invité celui de Grandson à lui remettre le produit de la réalisation du char inventorié et saisi. Le 27 octobre, le préposé à l'office de Grandson a communiqué cette décision au mandataire de Schiumarini, en lui assignant un délai de dix jours pour porter plainte à l'autorité de surveillance.
C.-
Le 5 novembre 1964, Schiumarini a déposé une plainte. Il requérait que la décision du 19 octobre 1964 fût annulée. Il demandait en outre à l'autorité de surveillance de déclarer que le débiteur Kaufmann n'était plus fondé à contester le droit de rétention, parce qu'il n'avait pas porté plainte contre la prise d'inventaire, et d'autoriser
BGE 90 III 99 S. 101
l'office de Grandson à lui verser le produit de la réalisation du char.
Statuant le 10 novembre 1964, l'Autorité de surveillance du canton de Neuchâtel a rejeté la plainte. Elle a considéré qu'en s'abstenant de porter plainte contre la prise d'inventaire, le poursuivi avait perdu le droit d'invoquer l'art. 92 LP; il conservait en revanche la faculté de contester le droit de rétention pour d'autres motifs. La décision du 14 juillet était définitive, du moment qu'elle n'avait pas été attaquée en temps utile par la voie de la plainte. En vertu de l'art. 107 al. 3 LP, le plaignant était réputé avoir renoncé à son droit de rétention.
D.-
Schiumarini recourt au Tribunal fédéral. Il reprend les conclusions de sa plainte et demande l'allocation de dépens.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Le recourant prétend qu'en s'abstenant de contester le droit de rétention dans les dix jours qui ont suivi la notification de la poursuite, le débiteur aurait rendu ce droit définitif à son égard. Assurément, le débiteur poursuivi selon les art. 282 ss. LP pour un loyer ou un fermage, qui entend contester le droit de rétention, doit faire valoir ses moyens par la voie de l'opposition, à défaut de quoi il est censé reconnaître le droit allégué par son créancier (RO 59 III 10, 83 III 36). Toutefois, s'il conteste non pas le droit de rétention lui-même, mais la saisissabilité des objets portés à l'inventaire, il peut déposer une plainte à l'autorité de surveillance dans les dix jours dès la réception du procès-verbal d'inventaire (art. 272 al. 3 CO, 92 LP; RO 82 III 79/80, consid. 2, 83 III 37).
En l'espèce, le débiteur a retiré, d'une part, l'opposition qu'il avait formée au commandement de payer. De même que le défaut d'opposition, ce retrait doit être considéré comme une reconnaissance implicite du droit de rétention invoqué par le bailleur. D'autre part, le débiteur n'a pas tenté, par le dépôt d'une plainte, de faire constater
BGE 90 III 99 S. 102
l'insaisissabilité des objets mentionnés à l'inventaire. Il a donc admis également que le char inventorié fût réalisé au profit du poursuivant. Aussi la contestation du droit de rétention formulée tardivement par son mandataire est-elle inopérante.
2.
La décision du 14 juillet 1964 fixant au recourant un délai pour introduire l'action prévue à l'art. 107 LP était sans objet. En effet, la procédure de revendication des art. 106 et 107 LP n'est pas applicable dans les relations entre le créancier qui invoque le droit de rétention du bailleur et son débiteur. L'Office des poursuites de La Chaux-de-Fonds se réfère à l'arrêt publié au RO 81 III 7 ss. Mais il perd de vue que cet arrêt, comme la jurisprudence antérieure qu'il rappelle (RO 68 III 59, 77 III 166/7), concerne le cas différent où le créancier du loyer ou fermage prétend exercer son droit de rétention sur des objets déjà saisis à la réquisition d'un autre créancier; il s'agit alors de vider une contestation entre deux créanciers, non entre le créancier du loyer ou fermage et son débiteur (cf. aussi STOCKER, FJS 985, VI 1/2, p. 7/8).
3.
Peu importe que le recourant n'ait pas porté plainte en temps utile contre l'avis du 14 juillet 1964 qui lui fixait à tort un délai pour intenter une action en reconnaissance de son droit de rétention. L'acte en question était manifestement illégal, et partant nul. Or cette nullité doit être constatée d'office en tout temps (cf. RO 84 III 82 ss., 87 III 99, 88 III 80, 89 IV 79). La situation de droit acquise entre le bailleur et son débiteur n'a pas été modifiée par la mesure entachée de nullité. Le produit de la réalisation du char porté à l'inventaire servira donc à désintéresser en premier lieu le créancier titulaire du droit de rétention. Comme le prix obtenu est inférieur au montant de la créance de loyer en poursuite, il sera versé intégralement au bailleur. La décision de l'office de La Chaux-de-Fonds réclamant à celui de Grandson le produit de la réalisation, afin de le distribuer aux autres créanciers saisissants, est par conséquent mal fondée et doit être annulée.
BGE 90 III 99 S. 103
4.
Le recourant ne saurait obtenir les dépens qu'il réclame. La procédure de plainte est en effet gratuite, y compris le recours au Tribunal fédéral (art. 69 et 78 Tarif LP, RO 85 III 60/1, consid. 1).
Dispositiv
Par ces motifs, la Chambre des poursuites et des faillites:
Admet partiellement le recours, annule la décision rendue le 10 novembre 1964 par l'Autorité de surveillance des offices de poursuite pour dettes et de faillite du canton de Neuchâtel et prononce:
a) La décision du 19 octobre 1964 par laquelle l'Office des poursuites de La Chaux-de-Fonds a invité l'office de Grandson à lui remettre le produit de la réalisation du char à pneus vendu dans la poursuite pour loyers ou fermages no 5902, est annulée;
b) L'office de Grandson est autorisé à verser le produit de la réalisation au créancier Dante Schiumarini. | null | nan | fr | 1,964 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb20dde3-3de2-455e-b6cd-229b17320a80 | Urteilskopf
118 Ia 331
45. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. September 1992 i.S. Ehegatten S. und Mitb. gegen Einwohnergemeinde Niederried und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
; kantonale Organisations- und Verfahrenshoheit.
Das Recht des Einzelnen auf einen unabhängigen Richter, der Nutzungspläne, soweit sie einen Enteignungstitel schaffen, umfassend auf ihre Rechtmässigkeit überprüfen kann, ist bundesrechtlich verbindlich und rechtfertigt einen Eingriff in die kantonale Organisations- und Verfahrenshoheit durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtes selbst dann, wenn es die Stimmberechtigten des Kantons im Rahmen einer Gesetzesrevision abgelehnt haben, die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen solche Pläne zuzulassen (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 332
BGE 118 Ia 331 S. 332
Vom 21. November bis 23. Dezember 1988 lag in der Gemeinde Niederried eine Uferschutzplanung öffentlich auf. Das Planwerk besteht aus dem Uferschutzplan, Überbauungsvorschriften und einem Realisierungsprogramm. Die Uferschutzplanung stützt sich auf das kantonale Gesetz über See- und Flussufer vom 6. Juni 1982 (See- und Flussufergesetz, SFG) und legt Uferschutzzonen, Baubeschränkungen und allgemein benützbare Freiflächen fest. Weiter ist der Bau eines Uferweges geplant. Gegen dieses Werk erhoben mehrere betroffene Eigentümer Einsprache. Am 14. April 1989 beschloss die Gemeindeversammlung von Niederried die Uferschutzplanung, welche von der Baudirektion des Kantons Bern mit Beschluss vom 14. Mai 1990 unter Vornahme einzelner Änderungen genehmigt wurde. Die gegen diesen Genehmigungsbeschluss geführten Beschwerden wies der Regierungsrat des Kantons Bern am 16. Oktober 1991 ab.
Mit staatsrechtlichen Beschwerden verlangen die Einsprecher die Aufhebung des regierungsrätlichen Entscheides vom 16. Oktober 1991. Sie berufen sich namentlich auf eine Verletzung von
Art. 4 und 22ter BV
. Sodann rügen sie,
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
werde verletzt, und sie führen an, mit der umstrittenen Uferschutzplanung werde der Gemeinde Niederried das Enteignungsrecht erteilt; sie hätten
BGE 118 Ia 331 S. 333
einen Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem Richter gehört werde, dem eine umfassende Rechtskontrolle zustehe.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) (Vereinigung sämtlicher Beschwerden; vgl.
Art. 40 OG
in Verbindung im
Art. 24 BZP
;
BGE 113 Ia 394
E. 1.)
b) (Keine Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör nach
Art. 4 BV
, wenn einer Partei die Einsicht in Akten eines abgeschlossenen Verfahrens verweigert wird, sofern die umfassende Wahrung der Rechte eines Bürgers eine Akteneinsicht nicht gebietet; vgl.
BGE 113 Ia 4
E. 4a mit Hinweisen.)
2.
(Letztinstanzlichkeit. Rechtsmittel im Kanton Bern, Überweisung an das Berner Verwaltungsgericht (dazu eingehend
BGE 118 Ia 214
).)
3.
a) Die Beschwerdeführer H. wenden in ihrer Vernehmlassung vom 24. August 1992 gegen dieses Vorgehen ein, im Rahmen der in den Jahren 1988 und 1989 beratenen und beschlossenen Revision des bernischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes sei nicht zuletzt mit Blick auf
BGE 114 Ia 114
betreffend Schiessanlage "Grafeschüre" in Burgdorf die Frage diskutiert worden, ob die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Pläne, mit deren Genehmigung dem Gemeinwesen das Enteignungsrecht erteilt wird, zugelassen werden solle. Der bernische Grosse Rat habe dies in zwei Lesungen ausdrücklich abgelehnt. Daraus folge, dass das Verwaltungsrechtspflegegesetz zu dieser Frage eine bewusste Lücke aufweise. Es liege ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vor, welches nicht durch Richterrecht gebrochen werden dürfe. Ein Urteil des Verwaltungsgerichtes über eine Beschwerde gegen einen Plan, mit dessen Genehmigung das Enteignungsrecht erteilt werde, sei demzufolge nichtig.
Weiter sei zu beachten, dass eine Rückweisung der vorliegenden Sache an das Verwaltungsgericht viele Fragen offen lasse. Einerseits könne nicht gesagt werden, dass der bernische Gesetzgeber - könnte er frei entscheiden - Beschwerden gegen die erwähnten Pläne dem Verwaltungsgericht zuweisen würde; er könne auch ein Spezialgericht schaffen. Anderseits schaffe eine Rückweisung an das Verwaltungsgericht das Problem, dass nach
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
die richterliche Überprüfung nur im Enteignungspunkt, nicht aber betreffend den umstrittenen Plan generell vorgeschrieben sei, was für das
BGE 118 Ia 331 S. 334
Verwaltungsgericht unhaltbare Abgrenzungsprobleme biete. Offen sei die Frage der Überprüfung von Enteignungstiteln in umfassenden Ortsplanungen. Einer eingehenden Regelung bedürfe sodann die Überprüfung in Plänen nach der Unterscheidung materieller und formeller Enteignung. Die Rüge der Unangemessenheit könne vor Verwaltungsgericht nicht vorgebracht werden (Art. 80 VRPG). Auch fehlten klare Bestimmungen über das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht. Die Beschwerdeführer wüssten nicht, welche Rügen sie erheben dürfen und welche nicht.
Schliesslich müssten nicht nur das Verwaltungsrechtspflegegesetz, sondern namentlich auch das kantonale Baugesetz und das Enteignungsgesetz geändert werden. Die Einführung der kantonalen Verwaltungsgerichtsbeschwerde bedinge eine formelle Gesetzesänderung, die nur dem Stimmvolk zustehe. Ein Urteil des Verwaltungsgerichtes in der hier vorliegenden Streitsache würde demgemäss die politischen Rechte der Beschwerdeführer verletzen.
b) Diese Einwendungen sind unbegründet. Es trifft zwar zu, dass die Anwendung von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
zur Folge haben kann, dass in die kantonale Organisations- und Verfahrensautonomie eingegriffen wird. Doch ist diese Autonomie nicht unbeschränkt. Wie das Bundesgericht im bereits mehrfach erwähnten
BGE 118 Ia 214
in Erw. 1c ausführte, zählt der von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
verlangte gerichtliche Rechtsschutz zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bundesrechts, denen die Kantone Rechnung zu tragen haben. Es gilt insoweit grundsätzlich nichts anderes als etwa mit Bezug auf die Anforderungen an das kantonale Verfahren, soweit diese aus
Art. 4 und 58 BV
abgeleitet werden (PETER SALADIN in Kommentar BV, Art. 3, Rz. 245). Das Recht auf einen unabhängigen Richter, der Pläne, soweit sie einen Enteignungstitel schaffen, umfassend auf ihre Rechtmässigkeit überprüfen kann, ist hoch zu werten, zumal es für den Betroffenen zu einer klaren Verbesserung des Rechtsschutzes führt, was einen Eingriff in die Organisationshoheit der Kantone rechtfertigt (vgl. PETER SALADIN, a.a.O., Rz. 105). Unter diesen Umständen hat sich das Verwaltungsgericht zu Recht bereit erklärt, die vorliegenden Beschwerden an die Hand zu nehmen. Allein deshalb kann somit nicht gesagt werden, sein Urteil werde nichtig sein, wie dies die Beschwerdeführer H. meinen.
Der Bundesgesetzgeber hat verschiedentlich im Bereich des Verfahrensrechtes in die Souveränitätsrechte der Kantone eingegriffen. Zu denken ist etwa an
Art. 98a Abs. 1 OG
gemäss Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom
BGE 118 Ia 331 S. 335
4. Oktober 1991, nach welcher Bestimmung die Kantone richterliche Behörden als letzte kantonale Instanzen bestellen, soweit gegen deren Entscheide unmittelbar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig ist. Sodann ist insbesondere auf Art. 33 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700) hinzuweisen. In einem den Kanton Luzern betreffenden Fall hat das Bundesgericht in Anwendung von
Art. 33 RPG
das Verwaltungsgericht mangels einer anderen in Frage kommenden unabhängigen Beschwerdebehörde im Sinne von
Art. 33 RPG
direkt verpflichtet, auf Beschwerden gegen vom Regierungsrat festgesetzte Nutzungspläne einzutreten, obwohl die Luzerner Baugesetzgebung Planungen von der Kontrolle durch das Verwaltungsgericht ausdrücklich ausnimmt (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 31. Oktober 1990 i.S. Z. und Mitb. gegen Regierungsrat des Kantons Luzern, E. 3d).
Es ist richtig, dass Eingriffe in die Organisationshoheit der Kantone seitens des Bundes grundsätzlich den kantonalen Stimmbürger binden. Doch wird dadurch seine Mitwirkung trotzdem nicht völlig ausgeschaltet (vgl. dazu etwa
Art. 98a Abs. 2 OG
in der Fassung vom 4. Oktober 1991). Es ist namentlich denkbar, dass der Kanton Bern für die Überprüfung von Plänen, die das Enteignungsrecht erteilen, ein besonderes Gericht schafft und dafür die nötigen Verfahrensbestimmungen erlässt. Auch hat der Kanton Bern zu prüfen, ob einzelne Bestimmungen der Bau-, Enteignungs- und Verfahrensgesetzgebung entsprechend der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtes anzupassen sind. Die Beschlussfassung über die entsprechenden Änderungen steht im Rahmen des die politischen Rechte regelnden kantonalen (Verfassungs-)Rechts dem Stimmbürger zu. Dies steht einer Entgegennahme der vorliegenden Beschwerden durch das Verwaltungsgericht gestützt auf die bundesrechtliche Norm des
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
ebensowenig entgegen wie im vorerwähnten, den Kanton Luzern betreffenden Fall, in welchem es um die Anwendung des
Art. 33 RPG
ging, zumal sich der Regierungsrat des Kantons Bern mit diesem Vorgehen - wie erwähnt - im Interesse einer Verbesserung des Rechtsschutzes der Privaten ausdrücklich einverstanden erklärt hat.
Auch den weiteren geäusserten Bedenken ist nicht zu folgen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer bestehen klare Regeln für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht; soweit diese verletzt werden, steht den Beschwerdeführern der Rechtsschutz zu. Was die Frage der zulässigen Rügen betrifft, kann auf die vorstehende Erw. 2d
BGE 118 Ia 331 S. 336
und auf die nachstehende Erw. 4 verwiesen werden. Abgrenzungsprobleme bei der Überprüfung der umstrittenen Planung sind nicht zu sehen. Das Verwaltungsgericht hat entsprechende Befürchtungen zu Recht auch nicht geäussert. Dieses hat die Planung entsprechend den Einwendungen der Beschwerdeführer einer umfassenden Rechtskontrolle zu unterziehen und dabei namentlich zu prüfen, ob die für den Eigentumseingriff geltend gemachten öffentlichen Interessen die privaten überwiegen. | public_law | nan | de | 1,992 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
eb26f99e-8b8b-4121-ba11-c317849a45fd | Urteilskopf
140 V 543
69. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_648/2013 vom 17. Oktober 2014 | Regeste
Art. 42
sexies
IVG
;
Art. 39e und 39f IVV
; Assistenzbeitrag.
Das standardisierte Abklärungsinstrument FAKT2 ist grundsätzlich geeignet, den gesamten Hilfebedarf einer versicherten Person zu ermitteln (E. 3.2.2). Die Höhe des Pauschalansatzes für den Assistenzbeitrag von Fr. 32.50 resp. 32.80 pro Stunde gemäss
Art. 39f Abs. 1 IVV
ist gesetzeskonform (E. 3.3). Im Verfahren betreffend den Assistenzbeitrag kann eine neue Abklärung von Aspekten der Hilflosigkeit namentlich dann angezeigt sein, wenn sie zwar nicht für den Schweregrad der Hilflosigkeit und den entsprechenden Entschädigungsanspruch, jedoch für den Anspruch auf Assistenzbeitrag bedeutsam sind (E. 3.4.4). Was unter einer Institution im Sinne von
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
und
Art. 39e Abs. 4 IVV
zu verstehen ist, ergibt sich in erster Linie aus
Art. 3 IFEG
. Die in
Art. 39e Abs. 4 IVV
vorgesehene pauschale Kürzung des Höchstansatzes entsprechend dem regelmässigen Aufenthalt in einer solchen Institution ist gesetzmässig (E. 3.5). Die Höchstansätze von
Art. 39e IVV
beinhalten die durch die Hilflosenentschädigung und allfällige Beiträge für Dienstleistungen Dritter oder an Grundpflege nach
Art. 25a KVG
zu deckende Zeit (E. 3.6.3). | Sachverhalt
ab Seite 544
BGE 140 V 543 S. 544
A.
Der 1983 geborene A. erlitt 1991 bei einem Unfall ein schweres Schädel-Hirntrauma, das bleibende gesundheitliche Beeinträchtigungen zur Folge hatte. Seit 1. März 2004 bezieht er bei einem Invaliditätsgrad von 92 % eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Mit Verfügung vom 26. November 2004 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle) eine Entschädigung für mittlere Hilflosigkeit zu. Am 18. und 19. Juli 2006 bestätigte die IV-Stelle einen unveränderten Anspruch auf Invalidenrente und Hilflosenentschädigung. Nach rund zwei Jahren Aufenthalt in einem Wohnheim bezog der Versicherte Ende September 2012 eine eigene Wohnung. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihm die IV-Stelle mit Verfügung vom 15. Januar 2013 einen Assistenzbeitrag von monatlich Fr. 302.60 resp. jährlich Fr. 3'630.90 ab 28. September 2012 zu.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 19. Juni 2013 ab.
C.
C.a
A. lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der Entscheid vom 19. Juni 2013 sei aufzuheben und die IV-Stelle sei zu verpflichten, ihm "einen höheren jährlichen Assistenzbeitrag von 12x120hx32.50, mithin Fr. 3'630.90" (recte wohl: Fr. 46'800.-) auszubezahlen. Ferner sei die IV-Stelle dazu anzuhalten, einerseits das Verfahren bezüglich der Festsetzung der Hilflosenentschädigung separat, losgelöst von der Evaluation des
BGE 140 V 543 S. 545
Assistenzbedarfs durchzuführen, und anderseits den Sachverhalt bezüglich des behinderungsbedingten Assistenzbedarfs in finanzieller, zeitlicher und qualitativer Hinsicht unter Beizug eines externen Gutachters abzuklären.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Zur nachträglichen Eingabe des A. vom 23. Oktober 2013 nimmt das BSV am 27. November 2013 Stellung.
C.b
Die I. und die II. sozialrechtliche Abteilung haben zu Rechtsfragen betreffend die Eignung des Abklärungsinstrumentes FAKT2, die Höhe des Pauschalansatzes gemäss
Art. 39f Abs. 1 IVV
(SR 831.201), die Abklärung von Aspekten der Hilflosigkeit, den Begriff der Institution im Sinne von
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
und
Art. 39e Abs. 4 IVV
, die Gesetzmässigkeit von
Art. 39e Abs. 4 IVV
und die Höchstansätze von
Art. 39e IVV
ein Verfahren nach
Art. 23 Abs. 2 BGG
durchgeführt.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Anspruch auf einen Assistenzbeitrag haben Versicherte, denen eine Hilflosenentschädigung der IV nach Artikel 42 Absätze 1-4 ausgerichtet wird, die zu Hause leben und volljährig sind (
Art. 42
quater
Abs. 1 IVG
). Ein Assistenzbeitrag wird gewährt für Hilfeleistungen, die von der versicherten Person benötigt und regelmässig von einer natürlichen Person (Assistenzperson) unter bestimmten Voraussetzungen erbracht werden (
Art. 42
quinquies
IVG
).
Grundlage für die Berechnung des Assistenzbeitrags ist die für die Hilfeleistungen benötigte Zeit. Davon abgezogen wird die Zeit, die folgenden Leistungen entspricht: (a) der Hilflosenentschädigung nach den Artikeln 42-42
ter
; (b) den Beiträgen für Dienstleistungen Dritter anstelle eines Hilfsmittels nach Artikel 21
ter
Absatz 2; (c) dem für die Grundpflege ausgerichteten Beitrag der obligatorischen Krankenpflegeversicherung an Pflegeleistungen nach Artikel 25a KVG (
Art. 42
sexies
Abs. 1 IVG
). Bei einem Aufenthalt in stationären und teilstationären Institutionen wird der für Hilfeleistungen im Rahmen des Assistenzbeitrags anrechenbare Zeitbedarf entsprechend reduziert (
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
). Der Bundesrat legt u.a. die Bereiche
BGE 140 V 543 S. 546
und die minimale und maximale Anzahl Stunden, für die ein Assistenzbeitrag ausgerichtet wird, sowie die Pauschalen für Hilfeleistungen pro Zeiteinheit im Rahmen des Assistenzbeitrags fest (
Art. 42
sexies
Abs. 4 lit. a und b IVG
).
1.2
Nach
Art. 39c IVV
kann u.a. in den folgenden Bereichen Hilfebedarf anerkannt werden: (a) alltägliche Lebensverrichtungen; (b) Haushaltsführung; (c) gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung; (h) Überwachung während des Tages; (i) Nachtdienst.
Dabei gelten für Hilfeleistungen in den Bereichen nach Artikel 39c Buchstaben a-c pro alltägliche Lebensverrichtung, die bei der Festsetzung der Hilflosenentschädigung festgehalten wurde, folgende monatlichen Höchstansätze: 1. bei leichter Hilflosigkeit: 20 Stunden, 2. bei mittlerer Hilflosigkeit: 30 Stunden, 3. bei schwerer Hilflosigkeit: 40 Stunden (
Art. 39e Abs. 2 lit. a IVV
). Die Überwachung nach Artikel 39c Buchstabe h ist auf 120 Stunden limitiert (
Art. 39e Abs. 2 lit. c IVV
). Die Höchstansätze werden für jeden Tag und jede Nacht, die die versicherte Person pro Woche in einer Institution verbringt, um 10 Prozent gekürzt (
Art. 39e Abs. 4 IVV
).
Der Assistenzbeitrag beträgt in der Regel Fr. 32.50 resp. Fr. 32.80 pro Stunde (
Art. 39f Abs. 1 IVV
in der bis 31. Dezember 2012 resp. seit 1. Januar 2013 geltenden Fassung).
2.
Die Verwaltung traf am 1. und 2. Oktober 2012 Abklärungen vor Ort und erstattete dazu einerseits den Abklärungsbericht für Hilflosenentschädigung vom 5. Oktober 2012 und anderseits den mit dem standardisierten Abklärungsinstrument "FAKT2" (nachfolgend: FAKT2) erstellten Abklärungsbericht Assistenzbeitrag. Die Vorinstanz hat diesen Berichten Beweiskraft beigemessen und namentlich einen Bedarf an persönlicher Überwachung im Rahmen der Hilflosigkeit für nicht ausgewiesen erachtet. Folglich hat sie gestützt auf die genannten Berichte den Anspruch auf einen Assistenzbeitrag von jährlich Fr. 3'630.90 bejaht und die Verfügung vom 15. Januar 2013 bestätigt.
3.
(...)
3.2
3.2.1
Nach dem Wortlaut von
Art. 42
sexies
Abs. 1 IVG
ist der Ausgangspunkt für die Berechnung des Assistenzbeitrages die gesamthaft für Hilfeleistungen benötigte Zeit. Dazu ist in der Regel eine Abklärung an Ort und Stelle (
Art. 57 Abs. 1 lit. f IVG
in Verbindung mit
Art. 69 IVV
) erforderlich.
BGE 140 V 543 S. 547
Ein Abklärungsbericht unter dem Aspekt der Hilflosigkeit (
Art. 9 ATSG
[SR 830.1]) oder des Pflegebedarfs hat folgenden Anforderungen zu genügen: Als Berichterstatterin wirkt eine qualifizierte Person, welche Kenntnis der örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus den seitens der Mediziner gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen und Hilfsbedürftigkeiten hat. Bei Unklarheiten über physische oder psychische Störungen und/oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen sind Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden Personen zu berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im Bericht aufzuzeigen sind. Der Berichtstext schliesslich muss plausibel, begründet und detailliert bezüglich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sowie den tatbestandsmässigen Erfordernissen der dauernden Pflege und der persönlichen Überwachung (
Art. 37 IVV
) und der lebenspraktischen Begleitung (
Art. 38 IVV
) gemäss sein. Schliesslich hat er in Übereinstimmung mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben zu stehen. Das Gericht greift, sofern der Bericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage im eben umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen der die Abklärung tätigenden Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen vorliegen. Das gebietet insbesondere der Umstand, dass die fachlich kompetente Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das im Beschwerdefall zuständige Gericht (
BGE 133 V 450
E. 11.1.1 S. 468;
BGE 130 V 61
E. 6.2 S. 63;
BGE 128 V 93
; SVR 2012 IV Nr. 54 S. 195, 8C_756/2011 E. 3.2). Diese Rechtsprechung ist auch massgeblich beim Eruieren des gesamten Hilfebedarfs mit Blick auf den Assistenzbeitrag.
3.2.2
3.2.2.1
Die IV-Stellen benutzen zur Berechnung des Assistenzbeitrags das vom BSV entwickelte standardisierte Abklärungsinstrument FAKT2. Dessen Funktionsweise in Bezug auf den gesamten Hilfebedarf wird für die hier interessierenden Bereiche in den Rz. 4001-4032 und 4061-4077 des Kreisschreibens des BSV über den Assistenzbeitrag (KSAB;
www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:34/lang:deu
) erläutert.
Verwaltungsweisungen richten sich grundsätzlich nur an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Indes berücksichtigt das Gericht die Kreisschreiben insbesondere dann und weicht nicht ohne triftigen Grund davon ab, wenn
BGE 140 V 543 S. 548
sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen und eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben enthalten. Dadurch trägt es dem Bestreben der Verwaltung Rechnung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten (
BGE 138 V 346
E. 6.2 S. 362;
BGE 137 V 1
E. 5.2.3 S. 8;
BGE 133 V 257
E. 3.2 S. 258 mit Hinweisen; vgl.
BGE 133 II 305
E. 8.1 S. 315). Auf dem Wege von Verwaltungsweisungen dürfen keine über Gesetz und Verordnung hinausgehenden Einschränkungen eines materiellen Rechtsanspruchs eingeführt werden (
BGE 132 V 121
E. 4.4 S. 125).
3.2.2.2
Der Beschwerdeführer rügt die standardisierte Ermittlung des Hilfebedarfs. Dieser sei individualisiert festzulegen; ein entsprechendes Instrument sei indessen derzeit nicht auf dem "Markt". Die in diesem Zusammenhang neu eingereichten Unterlagen (Stellungnahmen der Mutter des Versicherten vom 5. September 2013 und des lic. phil. I B. vom 21. Oktober 2013) sind als (echte) Noven unzulässig (
Art. 99 Abs. 1 BGG
; MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 43 zu
Art. 99 BGG
); zudem ist nicht ersichtlich, weshalb solche Stellungnahmen nicht vor Erlass des angefochtenen Entscheids (vgl. etwa die Eingaben im Vorbescheidverfahren) hätten eingeholt und in das vorinstanzliche Verfahren eingebracht werden können.
3.2.2.3
Der Umstand, dass der mittels FAKT2 eruierte Hilfebedarf geringer ausfällt als der Umfang der tatsächlich geleisteten Hilfe, lässt nicht von vornherein Zweifel an der Tauglichkeit des Abklärungsinstruments aufkommen. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers werden "Planung/Organisation des Helfernetzes/der Assistenz" in Ziff. 2.1.1 und "persönliche Überwachung" in Ziff. 8 von FAKT2 berücksichtigt. Dass ein Überwachungsbedarf indessen grundsätzlich nur anerkannt wird, soweit dieser auch für die Hilflosenentschädigung zu berücksichtigen ist (vgl. E. 3.4.4; Rz. 4061-4068 KSAB; vgl. auch Rz. 8035-8039 des Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH],
www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/3950/lang:deu/category:34
), ist nicht zu beanstanden, entspricht dies denn auch der gesetzlichen Vorgabe (
Art. 42
quater
Abs. 1 lit. a IVG
). Die persönliche Überwachung als Leistungskategorie ist namentlich von indirekter Hilfe in den verschiedenen Bereichen alltäglicher Lebensverrichtungen und von lebenspraktischer Begleitung abzugrenzen. In welchen Punkten das
BGE 140 V 543 S. 549
Abklärungsinstrument an sich unvollständig sein soll, wird nicht weiter dargelegt und ist auch nicht ersichtlich.
Der Versicherte macht geltend, es resultiere vor allem für Wartezeiten beim Arzt oder für indirekte Hilfe eine zu niedrige Einstufung resp. ein zu geringer Minutenwert. Damit stellt er nicht in Abrede, dass die einzelnen - abgestuften - zeitlichen Vorgaben in FAKT2 auf einem wissenschaftlich begleiteten Pilotversuch (vgl. Botschaft vom 24. Februar 2010 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket]; BBl2010 1817, 1836 Ziff. 1.1.3, 1865 Ziff. 1.3.4; BALTHASAR/MÜLLER, Evaluation des Pilotversuchs "Assistenzbudget", Soziale Sicherheit 2008 S. 50 ff.) beruhen und den durchschnittlichen Aufwand für die entsprechenden Hilfeleistungen wiedergeben (MARYKA LAÂMIR-BOZZINI, Der Assistenzbeitrag, Pflegerecht - Pflegewissenschaft 2012 S. 212). Die Vorgabe bestimmter Zeiteinheiten dient der Objektivierung des Bedarfs, den nach subjektiven Gesichtspunkten festzulegen das Gleichbehandlungsgebot (
Art. 8 BV
) gerade verbietet (vgl. LAÂMIR-BOZZINI, a.a.O., S. 221). Den individuellen Gegebenheiten ist dennoch Rechnung zu tragen, was einerseits durch die Wahl der zutreffenden Stufe und anderseits durch die allfällige Berücksichtigung von Zusatz- und Minderaufwand (Reduktionen) geschieht. Dieses Vorgehen mittels standardisierter Abklärung der individuellen Situation entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BBl 2010 1902 zu
Art. 42
quinquies
IVG
). Inwiefern es rechtswidrig sein soll, ist nicht nachvollziehbar.
Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, dass etwa Ferienbegleitung und Notfalleinsätze nicht abgedeckt seien, zielt er ins Leere: Zum einen berücksichtigt Ziff. 3.4 von FAKT2 auch "Reisen/Ferien"; zum anderen ist nach dem klaren Wortlaut von
Art. 42
quinquies
IVG
für den Assistenzbeitrag lediglich der regelmässig und nicht der nur punktuell anfallende Hilfebedarf zu berücksichtigen (ebenso BBl 2010 1902 und 1903).
3.2.2.4
Der Versicherte legt nicht näher dar (vgl.
Art. 106 Abs. 2 BGG
) und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern in diesem Zusammenhang das Recht auf ein faires Verfahren (
Art. 29 Abs. 2 BV
;
Art. 6 EMRK
) oder das Diskriminierungsverbot (
Art. 8 Abs. 2 BV
; Art. 5 Ziff. 1 und Art. 8 in Verbindung mit
Art. 14 EMRK
) verletzt sein sollen. Nach dem Gesagten ist FAKT2 grundsätzlich ein geeignetes Instrument zur Abklärung des Hilfebedarfs.
BGE 140 V 543 S. 550
3.2.3
Was der Versicherte gegen die konkrete Abklärung des Hilfebedarfs resp. die Beweiskraft des Abklärungsberichts Assistenzbeitrag vorbringt, hält nicht Stand: Bei der Abklärung an Ort und Stelle (E. 3.2.1) handelt es sich nicht um ein Gutachten im Sinne von
Art. 44 ATSG
, weshalb der Verweis auf
BGE 137 V 201
(recte wohl: 210) unbehelflich ist. Zwar ist aus dem Abklärungsbericht nicht ersichtlich, inwiefern der Beschwerdeführer resp. seine Mutter über Einstufung und Minutenwerte eine abweichende Auffassung vertrat. Indessen wurden im Vorbescheidverfahren Einwände dagegen vorgebracht, wozu die Abklärungsperson in der Verfügung vom 15. Januar 2013 ausführlich und nachvollziehbar Stellung nahm. Sodann fehlt es an Anhaltspunkten für eine mangelnde fachliche Kompetenz der Abklärungsperson; zudem wird die entsprechende Behauptung erstmals vor Bundesgericht vorgebracht, weshalb sie ohnehin unzulässig ist (
Art. 99 Abs. 1 BGG
).
In materieller Hinsicht ist nicht ersichtlich und legt der Beschwerdeführer nicht substanziiert dar, inwieweit er über den anerkannten Gesamtbedarf an indirekter Dritthilfe hinaus persönliche Überwachung (vgl. MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014, S. 499 Rz. 28) benötigen sollte. Zudem wurde bereits anlässlich der 2004 erfolgten Abklärung der Hilflosigkeit angegeben, der Versicherte könne ein paar Stunden alleine bleiben und bedürfe keiner regelmässigen Überwachung. Weiter wurde im Abklärungsbericht Assistenzbeitrag festgehalten, dass der Versicherte nachts allein in seiner Wohnung sei. Dass dies nicht zutreffen oder nur unter unzumutbaren Umständen geschehen soll, wird nicht geltend gemacht, und eine ärztliche Verordnung nächtlicher Hilfestellungen fehlt ebenfalls (vgl. Rz. 4072 KSAB). Demzufolge hat die Abklärungsperson einen Hilfebedarf in der Nacht zu Recht verneint. Sodann wird die Beweiskraft des Abklärungsberichts Assistenzbeitrag auch durch die Wegleitung zum Einstufungssystem für den Individuellen Betreuungsbedarf (IBB) nicht erschüttert, bezieht sich diese doch auf den Aufenthalt in einer Institution (vgl. E. 3.5.2) und nicht auf das Leben in der eigenen Wohnung. Gleiches gilt für die Stellungnahme der Werkstätte X. vom 27. Mai 2013; daraus geht ebenfalls nicht hervor, inwiefern der durch die Abklärungsperson erhobene Hilfebedarf ungenügend sein sollte. Schliesslich lässt sich auch aus dem Bericht der Klinik D. vom 4. April 2012 nichts für den Versicherten ableiten: Er steht nicht im Widerspruch zum Abklärungsbericht Assistenzbeitrag oder zu den früheren
BGE 140 V 543 S. 551
medizinischen Unterlagen und enthält keine Hinweise auf eine Veränderung der medizinischen Situation oder der Fähigkeiten des Versicherten.
3.2.4
Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz nicht Bundesrecht verletzt, indem sie dem Abklärungsbericht Assistenzbeitrag Beweiskraft beigemessen und den darin ermittelten Hilfebedarf von 130 Minuten pro Tag resp. 65,9 Stunden pro Monat bestätigt hat. Damit erübrigt sich die beantragte Abklärung durch einen externen Gutachter.
3.3
Soweit der Beschwerdeführer die Höhe des - für die gesamte Schweiz geltenden - Pauschalansatzes von Fr. 32.50 resp. 32.80 als zu gering rügt, richtet sich seine Kritik nicht gegen FAKT2 oder den Abklärungsbericht Assistenzbeitrag, sondern gegen die Bestimmung von
Art. 39f Abs. 1 IVV
. Ein Zwang zur Verletzung von Arbeitgeberpflichten gemäss OR lässt sich daraus nicht ableiten. Dass sie sonst wie gesetzeswidrig sein soll, ist ebenfalls nicht ersichtlich: Einerseits hat der Gesetzgeber in
Art. 42
sexies
Abs. 4 lit. b IVG
explizit den Bundesrat mit der Festlegung von Pauschalen beauftragt (vgl. auch BBl 2010 1905 f.). Anderseits entspricht die Höhe der Pauschale - die eine Ferienentschädigung von 8,33 % beinhaltet (Erläuterungen betreffend Änderungen der IVV vom 1. März 2012 S. 18, abrufbar unter
www.bsv.admin.ch/themen/iv/00025/index.html?lang=de
; nachfolgend: Erläuterungen) - in etwa dem Durchschnittslohn für persönliche Dienstleistungen gemäss Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (BBl 2010 1869) resp. den im Rahmen des Pilotversuchs gemachten Erfahrungen (BBl 2010 1869; Erläuterungen S. 18). Weiter liegt es in der Natur der Sache, dass Pauschalen von den tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls abweichen können, was namentlich aus Gründen der Praktikabilität in Kauf zu nehmen ist (Urteil 2C_192/2012 vom 7. Juni 2012 E. 3.3) und im Gegenzug die Rechtssicherheit erhöht. Schliesslich deckt der Assistenzbeitrag nach dem klaren Wortlaut von Art. 42
quinquies
f. IVG lediglich Hilfeleistungen, nicht aber Spesen und Auslagen für die Assistenzperson ab; davon unberührt bleibt indessen ein allfälliger Anspruch auf Vergütung solcher Kosten im Rahmen von Ergänzungsleistungen (vgl.
Art. 14 Abs. 1 lit. b ELG
[SR 831.30]).
3.4
3.4.1
Ausgehend vom Gesamtbedarf an Hilfeleistungen ist der für den Assistenzbeitrag anrechenbare Zeitaufwand zu bestimmen. Ist dieser geringer als der ermittelte Gesamtbedarf (E. 3.2), bildet er die obere Grenze für den Leistungsanspruch (
Art. 42
sexies
Abs. 4 lit. a IVG
;
BGE 140 V 543 S. 552
LAÂMIR-BOZZINI, a.a.O., S. 221). In concreto macht der Beschwerdeführer zunächst geltend, über die Hilflosigkeit resp. den Anspruch auf Hilflosenentschädigung sei vorgängig in einem separaten Verfahren zu befinden. Zudem sei er in mindestens vier und nicht nur in drei Bereichen alltäglicher Lebensverrichtungen eingeschränkt, was einen monatlichen Höchstansatz von 120 statt 90 Stunden ergebe.
3.4.2
Der Anspruch auf Hilflosenentschädigung bildete nicht Gegenstand der Verfügung vom 15. Januar 2013 und des vorinstanzlichen Verfahrens. Auf das entsprechende Rechtsbegehren ist daher von vornherein nicht einzutreten (
Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG
; vgl.
BGE 125 V 413
E. 1 S. 414 f.). Allerdings ist die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung eng verknüpft mit dem Anspruch auf Assistenzbeitrag (E. 2; BBl 2010 1865 Ziff. 1.3.4,
BGE 125 V 1900
zu
Art. 42
quater
IVG
; Erläuterungen S. 15, 17); unter diesem Aspekt sind die Vorbringen betreffend die Hilflosigkeit zulässig und zu prüfen. Somit hatte und hat der Beschwerdeführer im Rahmen der Beurteilung des Anspruchs auf Assistenzbeitrag Gelegenheit, sich zu den Einschränkungen in den einzelnen Bereichen alltäglicher Lebensverrichtungen zu äussern, wovon er denn auch Gebrauch gemacht hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (
Art. 29 Abs. 2 BV
;
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
) ist daher gewahrt.
3.4.3
Für die Verfügung betreffend Hilflosenentschädigung vom 26. November 2004 ging die IV-Stelle von einer Hilflosigkeit in den Bereichen An-/Auskleiden, Essen, Körperpflege und "Fortbewegung/Pflege gesellschaftlicher Kontakte", mithin in vier Bereichen alltäglicher Lebensverrichtungen, aus. Für die Verfügung betreffend Assistenzbeitrag hat sie sich u.a. auf den Abklärungsbericht für Hilflosenentschädigung vom 5. Oktober 2012 gestützt. Darin wurde lediglich in den Bereichen An-/Auskleiden, Essen und Körperpflege weiterhin eine Hilflosigkeit anerkannt. In Bezug auf "Fortbewegung/Pflege gesellschaftlicher Kontakte" wurde festgehalten, der Versicherte sei funktionell selbstständig bei der Fortbewegung. Eingeübte Wege, z.B. zur Arbeit, zur Therapie, zum Einkaufsladen, könne er selbstständig gehen. Er benötige aber in allen Belangen der Terminplanung und der weiteren Pflege gesellschaftlicher Kontakte massive Unterstützung, was bei der lebenspraktischen Begleitung berücksichtigt werde. Folglich hat sie den Höchstansatz gemäss Art. 39e Abs. 2 lit. a Ziff. 2 IVV auf 90 Stunden festgelegt, welches Vorgehen die Vorinstanz stillschweigend bestätigt hat.
BGE 140 V 543 S. 553
3.4.4
Fraglich ist, ob der Bericht vom 5. Oktober 2012 eine grundsätzlich zulässige Grundlage für die Festlegung der monatlichen Höchstansätze darstellt. Nach dem Wortlaut von
Art. 39e Abs. 2 lit. a IVV
ist die Anzahl der "bei der Festsetzung der Hilflosenentschädigung" ("lors de la fixation de l'allocation pour impotent", "per la fissazione dell'assegno per grandi invalidi") festgehaltenen Bereiche alltäglicher Lebensverrichtungen massgeblich. Dass damit an die Hilflosigkeit gemäss
Art. 37 IVV
angeknüpft wird, liegt auf der Hand; daran ändert auch nichts, dass in FAKT2 der Bereich "Fortbewegung/Pflege gesellschaftlicher Kontakte" nicht separat ausgewiesen wird (Rz. 4020 KSAB). Das bedeutet indessen nicht, dass damit zwingend auf die Grundlagen der Verfügung betreffend die Hilflosenentschädigung abzustellen und eine neue Abklärung im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs auf Assistenzbeitrag, wie sie in concreto am 5. Oktober 2012 erfolgte, ausgeschlossen ist (vgl.
BGE 137 V 373
E. 5 S. 376;
BGE 135 IV 113
E. 2.4.2 S. 116;
BGE 135 V 382
E. 11.4.1 S. 404). Im Gegenteil kann eine solche - namentlich mit Blick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. E. 3.4.2) - etwa dann angezeigt sein, wenn ein Aspekt der Hilflosigkeit wie z.B. die Anzahl der eingeschränkten alltäglichen Lebensverrichtungen zwar nicht für den Schweregrad der Hilflosigkeit und den entsprechenden Entschädigungsanspruch (vgl. namentlich die alternativen Voraussetzungen von
Art. 37 Abs. 2 IVV
), jedoch für den Anspruch auf Assistenzbeitrag bedeutsam ist. Das Resultat einer allfälligen solchen Abklärung ist in der Verfügung betreffend den Anspruch auf Assistenzbeitrag zu berücksichtigen.
3.4.5
Im konkreten Fall steht der Abklärungsbericht für Hilflosenentschädigung vom 5. Oktober 2012 resp. die darin fehlende Anerkennung einer Hilflosigkeit im Bereich "Fortbewegung/Pflege gesellschaftlicher Kontakte" in klarem Widerspruch (E. 3.2.1) zu den Erkenntnissen, die sich aus FAKT2 resp. dem Abklärungsbericht Assistenzbeitrag (E. 3.2) ergeben. Darin wurde unter Ziff. 3.2 zum Punkt "gesellschaftliche Kontakte" u.a. vermerkt, dass solche für den Versicherten immer hergestellt werden müssen; der Ziff. 3.3 zu "Mobilität (draussen)" lässt sich entnehmen, dass er nur ganz wenige kurze, gut vertraute Wegstrecken selbstständig bewältigen kann und sonst immer Anleitung und Begleitung braucht; unter Ziff. 3.4 zu "Reisen/Ferien" wird u.a. festgehalten, dass er sich in fremder Umgebung nicht orientieren kann. Demgemäss wurde jeweils ein Hilfebedarf der Stufe 3 anerkannt, was bedeutet, dass die versicherte Person nur geringe Eigenleistungen vollbringen kann und in grossem Umfang direkte
BGE 140 V 543 S. 554
Hilfe oder häufig Überwachung benötigt (vgl. Rz. 4013 KSAB). Unter diesen Umständen besteht kein Anlass, im Bereich "Fortbewegung/Pflege gesellschaftlicher Kontakte" von der 2004 erfolgten Beurteilung der Hilflosigkeit abzuweichen: Einerseits liegen keine konkreten Anhaltspunkte für deren Fehlerhaftigkeit, etwa aufgrund einer Veränderung der Fähigkeiten des Versicherten, vor. Anderseits beinhaltet die lebenspraktische Begleitung (
Art. 38 IVV
;
BGE 133 V 450
E. 8.2.3 S. 465 f.), wofür im Abklärungsbericht vom 5. Oktober 2012 ein Bedarf anerkannt wurde, nicht die Dritthilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen, sondern stellt ein eigenständiges Institut der Hilfe dar (
BGE 133 V 450
E. 9 S. 466; SVR 2009 IV Nr. 23 S. 65, 9C_18/2008 E. 2.3).
3.4.6
Nach dem Gesagten ist eine Hilflosigkeit des Versicherten in vier Bereichen alltäglicher Lebensverrichtungen ausgewiesen. Der Höchstansatz für den Hilfebedarf beträgt demnach gemäss Art. 39e Abs. 2 lit. a Ziff. 2 IVV 120 Stunden. In diesem Punkt ist die Beschwerde begründet.
3.5
3.5.1
Sodann ist die weitere Kürzung des Höchstansatzes wegen Aufenthalts in einer teilstationären Institution (
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
in Verbindung mit
Art. 39e Abs. 4 IVV
; E. 1) umstritten. Der Versicherte ist an fünf Tagen pro Woche in der Werkstätte X. beschäftigt. Er bringt vor, der Gesetzgeber habe bei "stationären und teilstationären Institutionen" eher an Tageskliniken und nicht an Institutionen mit geschützten Arbeitsplätzen gedacht; zudem gehe es bei seiner Tätigkeit in der Werkstätte X. lediglich um die Ausschöpfung seiner Restarbeitsfähigkeit und nicht um Hilfeleistungen gemäss den Ziff. 1 bis 3 von FAKT2.
3.5.2
Der Assistenzbeitrag bezweckt die Unterstützung der selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung in einer Privatwohnung (BBl 2010 1865; HARDY LANDOLT, Der Assistenzbeitrag [Art.42
quater
ff. E-IVG], HAVE 2011 S. 308). Demgegenüber falleninstitutionelle Hilfen in den Aufgabenbereich der Kantone (Art. 1 und 2 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen [IFEG;SR 831.26]). Daher schliesstder Aufenthalt in einer stationären oder teilstationären Institution den Anspruch auf Assistenzbeitrag (teilweise) aus (BBl 2010 1903). Was unter einer Institution im Sinne von
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
und
Art. 39e Abs. 4 IVV
zu verstehen ist,
BGE 140 V 543 S. 555
ergibt sich folglich in erster Linie aus
Art. 3 IFEG
; dafür sprechen sowohl Sinn und Zweck von
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
als auch die Gesetzessystematik (vgl. auch Erläuterungen S. 18). Dass im französischen resp. italienischen Wortlaut die unterschiedlichen Begriffe "établissement hospitalier ou semi-hospitalier" resp. "stabilimento ospedaliero o semiospedaliero" (
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
), "institution" resp. "istituto" (
Art. 39e Abs. 4 IVV
) und "institutions" resp. "istituzioni" (
Art. 3 IFEG
) verwendet werden, steht dem nicht entgegen. Wie es sich mit Tageskliniken, Pflegeheimen o.ä. verhält, braucht an dieser Stelle nicht beantwortet zu werden. Als Institutionen gelten demnach insbesondere Werkstätten, die dauernd intern oder an dezentral ausgelagerten Arbeitsplätzen invalide Personen beschäftigen, die unter üblichen Bedingungen keine Erwerbstätigkeit ausüben können (
Art. 3 Abs. 1 lit. a IFEG
). Voraussetzung für eine Anerkennung als Institution in diesem Sinn ist u.a., dass sie über ein den Bedürfnissen der betroffenen Personen entsprechendes Infrastruktur- und Leistungsangebot sowie über das nötige Fachpersonal verfügt (
Art. 5 Abs. 1 lit. a IFEG
).
Die Werkstätte X. ist eine kantonal anerkannte Institution gemäss
Art. 3 und 5 IFEG
, die auf die Beschäftigung und Betreuung geistig und mehrfach Behinderter ausgerichtet ist (
www.sozialamt.zh.ch/internet/sicherheitsdirektion/sozialamt/de/soziale_einrichtungen/Einrichtungen_behindertenhilfe.html
). Der anrechenbare Zeitbedarf wurde daher zu Recht reduziert.
3.5.3
Der Aufenthalt in der Werkstätte X. vermindert zwar sowohl den gesamten Hilfebedarf (E. 3.2) als auch den anrechenbaren Zeitaufwand (E. 3.4.1). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers wird dadurch aber nicht ein doppelter Abzug vorgenommen, handelt es sich doch um Vergleichsgrössen, bei denen er jeweils nur einmal berücksichtigt wird.
3.5.4
Weiter kritisiert der Versicherte, dass nicht die tatsächliche Zahl der jährlichen Aufenthaltstage ermittelt wurde. Er machte und macht indessen nicht geltend, in der Regel weniger als fünf Tage pro Woche in der Werkstätte X. zu verbringen oder mehr als fünf Wochen Ferien pro Jahr zu beziehen.
Nach dem klaren Wortlaut von
Art. 42
sexies
Abs. 2 IVG
ist der Aufenthalt in einer Institution beim Zeitbedarf für den Assistenzbeitrag in Abzug zu bringen. Weiter liegt es nach
Art. 42
sexies
Abs. 4 IVG
in der Kompetenz des Bundesrates, zeitliche Höchstgrenzen für die
BGE 140 V 543 S. 556
Abgeltung der Assistenz festzulegen. In diese Bestimmung schloss der Gesetzgeber auch die Regelungskompetenz in Bezug auf den hier fraglichen Abzug ein (BBl 2010 1905). Eine solche wäre indessen von vornherein hinfällig gewesen, wenn jeweils die individuelle Situation unter Berücksichtigung jeglicher Ferienabwesenheiten (vgl. immerhin Rz. 4017 KSAB in der ab 1. Januar 2014 geltenden Fassung) und Feiertage sowie der durchschnittlichen Krankheitstage massgeblich wäre, wie der Beschwerdeführer vorbringt. Über die Art und Weise der Umsetzung durch den Bundesrat gibt es keine gesetzliche Vorgabe. Hinzu kommt, dass der Assistenzbeitrag lediglich für regelmässig, nicht aber für punktuell anfallenden Hilfebedarf ausgerichtet wird (E. 3.2.2.3 in fine). Sodann sprechen Praktikabilität und Rechtssicherheit (vgl. E. 3.3) für eine pauschale Kürzung des anrechenbaren Zeitbedarfs in dem Sinn, als ein prozentualer Abzug auf der Grundlage des regelmässigen Aufenthalts in einer Institution vorzunehmen ist (
Art. 39e Abs. 4 IVV
). Somit ist diese Regelung nicht gesetzeswidrig, geschweige denn willkürlich (
Art. 9 BV
), welche Rüge den qualifizierten Begründungsanforderungen (vgl.
Art. 106 Abs. 2 BGG
) ohnehin nicht genügt.
Der Beschwerdeführer bringt nichts vor gegen die Höhe des Abzugs von zehn Prozent für jeden Tag und jede Nacht, der resp. die wöchentlich (vgl. den Wortlaut von
Art. 39e Abs. 4 IVV
; Erläuterungen S. 17 in fine) regelmässig in einer Institution verbracht wird. Diesbezüglich erübrigen sich weitere Ausführungen.
3.5.5
Nach dem Gesagten beträgt im konkreten Fall der anerkannte Hilfebedarf des Versicherten (vgl. E. 3.4.1), d.h. der Höchstansatz gemäss Art. 39e Abs. 2 lit. a (vgl. E. 3.4.6) und
Art. 39e Abs. 4 IVV
, 60 Stunden pro Monat.
3.6
3.6.1
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, dass die auf die Hilflosenentschädigung entfallende Zeit von monatlich 35,69 Stunden in FAKT2 - wie in Rz. 4105-4109 KSAB vorgesehen und von der Vorinstanz implizite bestätigt - vom Höchstansatz gemäss
Art. 39e IVV
(vgl. E. 3.5.5) statt vom Gesamtbedarf (vgl. E. 3.2.4) abgezogen wurde.
3.6.2
Ein Problem in diesem Zusammenhang ergibt sich nur, wenn - wie hier - der
anerkannte Hilfebedarf
(
Art. 39e IVV
in Verbindung mit
Art. 42
sexies
Abs. 4 lit. a IVG
) kleiner als der ermittelte
Gesamtbedarf
(
Art. 42
sexies
Abs. 1 Satz 1 IVG
) ist. Ansonsten ist von
BGE 140 V 543 S. 557
vornherein klar, dass die auf Hilflosenentschädigung, Hilfsmittelersatz und Grundpflege entfallende Zeit (
Art. 42
sexies
Abs. 1 Satz 2 IVG
) vom Gesamtbedarf abzuziehen ist.
Der Wortlaut von
Art. 42
sexies
Abs. 1 IVG
, wonach die der Hilflosenentschädigung entsprechende Zeit von der "für die Hilfeleistungen benötigten Zeit" ("temps nécessaire aux prestations d'aide"; "tempo necessario per fornire le prestazioni d'aiuto") abgezogen wird, spricht zwar nicht gegen die Auffassung des Beschwerdeführers. Die Bestimmung enthält indessen auch keine zwingende Vorgabe über die Vorgehensweise bei der Bemessung des Assistenzbeitrages; zudem liegt es gemäss
Art. 42
sexies
Abs. 4 IVG
beim Bundesrat, die Stunden, für die ein Assistenzbeitrag ausgerichtet wird, zu limitieren. Fraglich ist, ob sich der anerkannte Hilfebedarf gemäss
Art. 39e IVV
auf Leistungen bezieht, die lediglich durch den Assistenzbeitrag abzudecken sind, oder auf die gesamten Leistungen, mithin auch solche, die durch Hilflosenentschädigung oder Beiträge für Dienstleistungen Dritter oder an Grundpflege nach
Art. 25a KVG
gedeckt werden (so LAÂMIR-BOZZINI, a.a.O., S. 221 f.). Mit Blick auf die genannte Delegationsnorm ist beides zulässig; je nach Auffassung wird der Bundesrat die Höchstansätze höher oder niedriger festgesetzt haben.
3.6.3
Aus dem Wortlaut von
Art. 39e IVV
ergibt sich für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage nichts. Hingegen geht aus dem Katalog von
Art. 39c IVV
hervor, dass der anerkannte Hilfebedarf alle Leistungsbereiche umfasst. Sodann beruhen die Vorgaben der Rz. 4105-4109 KSAB ebenso wie die vom Bundesrat festgesetzten Höchstansätze auf den Erfahrungen aus dem Pilotversuch (BBl 2010 1869 Ziff. 1.3.4, 1906). Weiter trifft zwar zu, dass schwerer Behinderte mit tendenziell höherem Hilfebedarf gegenüber solchen mit leichteren Einschränkungen und geringerem Bedarf in Bezug auf die Höchstgrenzen - wie grundsätzlich bei allen limitierten Leistungen - benachteiligt sein können. Das stellt aber keine unzulässige Diskriminierung (
Art. 8 Abs. 2 BV
) dar: Einerseits ist dies Folge des klaren Willens des Gesetzgebers, die Kostenfolgen des Assistenzbeitrages als auf den 1. Januar 2012 neu eingeführte Leistung für die Invalidenversicherung unter Kontrolle zu halten (vgl. BBl 2010 1872 Ziff. 1.3.4) und über den Bundesrat dafür u.a. zeitliche Höchstgrenzen festlegen zu lassen. Anderseits wird Unterschieden im Behinderungsgrad mit abgestuften Höchstansätzen Rechnung getragen (vgl.
Art. 39e Abs. 2 lit. a IVV
). Sodann trägt das Vorgehen gemäss Rz. 4105-4109
BGE 140 V 543 S. 558
KSAB dem Gleichbehandlungsgebot insofern besser Rechnung, als nebst der Hilflosenentschädigung auch Dienstleistungen Dritter und Grundpflege nach KVG zu berücksichtigen sind. Würden solche Hilfeleistungen vom Gesamtbedarf abgezogen, liesse sich die Höhe des Assistenzbeitrages durch entsprechende (externe) Organisation der Hilfe steigern. Werden sie hingegen beim anerkannten Hilfebedarf berücksichtigt, ist der gesamte Hilfebedarf, unbesehen wodurch er gedeckt wird, gleichmässig limitiert. Nach dem Gesagten beinhalten die Höchstansätze von
Art. 39e IVV
die durch die Hilflosenentschädigung und allfällige Beiträge für Dienstleistungen Dritter oder an Grundpflege nach
Art. 25a KVG
zu deckende Zeit; diesbezüglich sind auch die Rz. 4105-4109 KSAB verordnungs- und gesetzeskonform.
3.7
Damit steht fest, dass der durch den Assistenzbeitrag abzudeckende monatliche Hilfebedarf des Versicherten 24,31 Stunden beträgt. Das entspricht bei einem Assistenzbeitrag von Fr. 32.50 pro Stunde einem Betrag von monatlich Fr. 790.10 und jährlich Fr. 9'481.20; bei einem Beitrag von Fr. 32.80 pro Stunde ergeben sich monatlich Fr. 797.35 und jährlich Fr. 9'568.40. | null | nan | de | 2,014 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb2a42ce-5772-4213-9594-87b2b1e659f5 | Urteilskopf
82 III 63
22. Entscheid vom 20. April 1956 i.S. Rionda. | Regeste
Arrestvollzug. Die Arrestierung von Gegenständen, die nach eigener Behauptung des Gläubigers nicht dem Schuldner, sondern emem Dritten gehören oder im Gesamteigentum des Schuldners und weiterer Personen stehen, ist als nichtig von Amtes wegen aufzuheben (Art. 13, 271 Abs. 1 und 274 Ziff. 4 SchKG,
Art. 1 VVAG
). Gilt eine Ausnahme, wenn sämtliche Teilhaber eines Gemeinschaftsverhältnisses für eine Solidarschuld belangt werden?
Ein von einem örtlich unzuständigen Betreibungsamt erlassener Zahlungsbefehl ist nicht von Amtes wegen, sondern nur auf rechtzeitige Beschwerde hin aufzuheben.
Die postalische Zustellung von Betreibungsurkunden nach Frankreich ist unzulässig (
Art. 66 Abs. 3 SchKG
; Art. 6 der Haager Übereinkunft vom 17. Juli 1905, Art. 2 und 7 der Erklärung zwischen der Schweiz und Frankreich vom 1. Februar 1913). Nichtigkeit solcher Zustellungen. | Sachverhalt
ab Seite 64
BGE 82 III 63 S. 64
A.-
Am 22. Februar 1939 errichtete Henry de Reding im Auftrag des Finanzministers der im Bürgerkrieg unterlegenen Regierung der Spanischen Republik in London nach englischem Recht den Spanish Refugee Trust. Verschiedene Werte des Trustvermögens wurden bei der Bank Hans Seligmann-Schürch & Co. in Basel hinterlegt. Trustee war neben Reding während mehrerer Jahre Manuel Portela Valladares. Nach dessen Tod im Jahre 1951 wurde Mariano Anso zum Cotrustee Redings ernannt.
B.-
Am 29. Januar 1955 richtete Angela Rionda, die als Erbin des Manuel Portela Valladares eine Honorarforderung von Fr. 135'000.-- gegen den Trust geltend macht,
BGE 82 III 63 S. 65
an die Arrestbehörde von Basel-Stadt das Gesuch, es sei ihr für diese Forderung ein bei der Bank Seligmann zu vollziehender Arrest gegen Reding und Anso zu bewilligen. Zur Begründung dieses Gesuchs berief sie sich gegenüber dem in Frankreich wohnenden Anso auf
Art. 271 Ziff. 4 SchKG
(Mangel eines Wohnsitzes in der Schweiz), gegenüber dem in Saxon (Kt. Wallis) wohnhaften Reding auf
Art. 271 Ziff. 2 SchKG
, weil er in der Absicht, sich seinen Verbindlichkeiten zu entziehen, die Trustwerte auf den Spanischen Staat zu übertragen suche. (Reding hatte am 13. Februar 1954 im Einverständnis Ansos mit dem Spanischen Staat eine Vereinbarung geschlossen, wonach er diesem alle in der Schweiz liegenden Werte des Spanish Refugee Trust herauszugeben hat). Als Arrestgegenstände nannte das Arrestgesuch:
"Sämtliche Wertschriften, Aktiven, Guthaben, Gelder oder sonstigen Werte, die im Eigentum der Herren de Reding oder Anso stehen, oder die als gegenwartiges oder früheres Eigentum des Spanish Refugee Trust bezeichnet sind.
1. Insbesondere die Konten Henry de Reding 1939, 1954 eventuell 1955, die Wertschriften gemäss Anlage II des Berichtes der Schweiz. Treuhandgesellschaft vom 27. Oktober 1949, auch wenn diese Titel bei anderen Banken auf Rechnung der Hans Seligmann-Schürch & Co. deponiert worden sind.
2. Die bei Hans Seligmann-Schürch & Co. liegenden oder von ihr verwalteten 100 Aktien zu je Fr. 1000.-- nominal der Valfruits SA
3. Das Guthaben des "Spanish Refugee" Trust gegenüber der Valfruits SA von Fr. 228'925.-- (Konto H. de Reding 1954).
4. Die Guthaben der einzelnen Konten der Bank Hans Seligmann-Schürch & Co. zu Gunsten des Spanish Refugee Trust (Konto 1939 und Henry de Reding 1939) gemäss Bericht der Schweiz. Treuhandgesellschaft vom 27. Oktober 1946 S. 56 ff., insbesondere Guthaben von Schweizer Franken 75'331.70, USA-Dollars 12'517.15, francs français 146'869.86, Liren 2'412.-- und £ 1835. 15.00.
5. Sämtliche Wertschriften, Aktiven, Konten etc., die auf Herrn Henry de Reding persönlich und privat lauten.
6. Sämtliche Konten, Wertschriften, Aktiven etc., die auf Herrn Mariano Anso persönlich und privat lauten."
Am 31. Januar 1955 erliess die Arrestbehörde gegen "Henry de Reding ... (in solidum mit Mariano Anso ..., beide als Trustees des Spanish Refugee Trust)" und gegen
BGE 82 III 63 S. 66
"Mariano Anso ... (in solidum mit H. de Reding ..., beide als Trustees des Spanish Refugee Trust)" je einen Arrestbefehl, worin die Arrestgegenstände gleich bezeichnet waren wie im Arrestgesuch. Das Betreibungsamt Basel-Stadt vollzog diese Befehle am 1. Februar 1955 (Arreste 8 und 9). Die Bezeichnung der bei der Bank Seligmann arrestierten Gegenstände in der Arresturkunde deckt sich genau mit den Angaben in den Arrestbefehlen. Die Bank weigerte sich unter Berufung auf das Bankengeheimnis, über diese Gegenstände nähere Auskunft zu erteilen.
C.-
Am 14. Februar 1955 machte der Spanische Staat sein Eigentum an den in den Verfahren gegen Reding und Anso arrestierten Vermögenswerten geltend. Er verwies dabei auf eine Klage auf Herausgabe, die er am 30. März 1954 gegen die Bank Seligmann eingeleitet habe. Am 4. März 1955 verfügte das Betreibungsamt auf Ersuchen der Arrestgläubigerin und des Drittansprechers, die Fristansetzung für das Widerspruchsverfahren werde bis auf weiteres sistiert.
D.-
Zur Prosequierung der Arreste leitete die Gläubigerin gegen Reding und Anso Betreibungen ein (Nrn. 41604 und 41275). Dem von Reding erklärten Rechtsvorschlag liess sie die Klage auf Anerkennung der Arrestforderung folgen. Der Zahlungsbefehl für Anso wurde diesem durch die Post übermittelt. Laut Rückschein erfolgte die Zustellung in Biarritz am 25. Februar 1955. Am 22. März 1955 sandte das Betreibungsamt der Gläubigerin die für sie bestimmte Ausfertigung des Zahlungsbefehls gegen Anso mit dem Vermerke, dass kein Rechtsvorschlag erhoben worden sei.
E.-
Nachdem die Gläubigerin in der Betreibung gegen Anso das Fortsetzungsbegehren gestellt hatte, ersuchte dieser das Dreiergericht Basel-Stadt um Bewilligung des nachträglichen Rechtsvorschlags. Das Dreiergericht entsprach diesem Gesuch am 29. April 1955 unter Hinweis darauf, dass der Zahlungsbefehl staatsvertragswidrig durch die Post statt auf diplomatischem Wege zugestellt worden
BGE 82 III 63 S. 67
und daher nichtig sei. Mit Entscheid vom 30. August 1955 (schriftlich motiviert am 21. September 1955) hob das Appellationsgericht dieses Erkenntnis auf und wies die Sache an das Dreiergericht zurück. Dabei führte es aus, unter Vorbehalt des hier nicht gegebenen Falles, dass eine Betreibungshandlung offensichtlich nichtig sei, müsse die Feststellung der Nichtigkeit der Aufsichtsbehörde vorbehalten bleiben.
F.-
Hierauf stellte Anso bei der Aufsichtsbehörde über das Betreibungs- und Konkursamt des Kantons Basel-Stadt mit Eingabe vom 3. Oktober 1955 den Antrag, die durch die Post erfolgte Zustellung des Zahlungsbefehls in der Betreibung Nr. 41'275 sei von Amtes wegen als nichtig aufzuheben. Die Aufsichtsbehörde holte eine Vernehmlassung des Betreibungsamtes ein und zog das Arrestbegehren und die Akten der Arreste Nr. 8 und 9 sowie der Betreibung Nr. 41'275 bei. Sie fand, die postalische Zustellung des Zahlungsbefehls an den in Frankreich wohnenden Schuldner Anso erweise sich nach Massgabe der am 17. Juli 1905 im Haag abgeschlossenen Internationalen Übereinkunft betreffend Zivilprozessrecht und der schweizerisch-französischen Erklärung betreffend die Übermittlung von gerichtlichen und aussergerichtlichen Aktenstücken sowie von Requisitorien in Zivil- und Handelssachen vom 1. Februar 1913 als unzulässig, zumal da die Schweiz sich ihrerseits die Postzustellung in Zivil- und Handelssachen gegenüber sämtlichen Mitgliedstaaten der Haager Übereinkunft ausdrücklich verbeten habe. Die Zustellung des Zahlungsbefehls an Anso, die übrigens der eben erwähnten Erklärung auch deshalb nicht entsprochen habe, weil der Zahlungsbefehl weder französisch abgefasst noch von einer französischen Übersetzung begleitet gewesen sei, erweise sich daher als nichtig. Nichtig sei aber auch schon der Vollzug der beiden Arreste. Es sei nämlich versäumt worden, in den Arrestbefehlen die zu arrestierenden Gegenstände eindeutig als Eigentum des vom einzelnen Befehl betroffenen Schuldners zu bezeichnen, wie es nach
BGE 82 III 63 S. 68
Art. 274 Ziff. 4 in Verbindung mit
Art. 271 Abs. 1 SchKG
unerlässlich gewesen wäre. Die Bezeichnung der Arrestgegenstände erwecke den Eindruck, dass der Arrest gegen Anso auch Eigentum Redings, derjenige gegen Reding auch Eigentum Ansos erfassen und dass beide Arreste sich auf Vermögenswerte des Spanish Refugee Trust erstrecken sollten. Das Trustvermögen stelle nach der Begründung des Arrestbegehrens Gesamteigentum der beiden Trustees dar, so dass sich der Arrest gegen diese nach Art. 1 der Verordnung über die Pfändung und Verwertung von Anteilen an Gemeinschaftsvermögen vom 17. Januar 1923 (VVAG) nicht auf einzelne zu diesem Vermögen gehörende Gegenstände, sondern nur auf den dem einzelnen Schuldner zufallenden Liquidationsanteil beziehen könne. Der Arrestvollzug verstosse also gegen zwingendes Recht und hätte daher vom Betreibungsamt abgelehnt werden sollen. Die auf Rechnung der Bank Seligmann bei andern Banken hinterlegten Gegenstände (Ziff. 1) hätten im übrigen, soweit ausserhalb des Arrestkreises Basel-Stadt gelegen, vom Betreibungsamt Basel-Stadt auch wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht arrestiert werden dürfen. Das gleiche gelte auch für das unter Ziff. 3 der Arresturkunde genannte Guthaben des Spanish Refugee Trust gegen die Valfruits SA, weil Reding in Saxon, Anso in Frankreich und die Drittschuldnerin Valfruits SA in Fully (Kt. Wallis) domiziliert sei. Die Aufhebung der Arrestvollzüge entziehe einem allfälligen Widerspruchsverfahren den Boden. Nach einem allfälligen neuen Arrestvollzuge sei von einer Sistierung dieses Verfahrens, da unzweckmässig, abzusehen. Auf Grund dieser Erwägungen hat die kantonale Aufsichtsbehörde am 27. Februar 1956 erkannt:
1. In Gutheissung der Beschwerde wird die Zustellung des Zahlungsbefehls vom 18. Februar 1955 in Betreibung Nr. 41'275 an den Rekurrenten als nichtig aufgehoben.
2. Ausserdem wird der Vollzug der von der Arrestbehörde Basel-Stadt am 31. Januar 1955 erlassenen und am 1. Februar 1955 durch das Betreibungsamt Basel-Stadt vollzogenen Arrestbefehle gegen Henry de Reding (Arrest Nr. 8) und Mariano Anso (Arrest Nr. 9) von Amtes wegen aufgehoben.
BGE 82 III 63 S. 69
3. Das Betreibungsamt wird angewiesen, bei allenfalls erneutem Arrestvollzug gegen Henry de Reding oder Mariano Anso ein möglicherweise dannzumal in Bezug auf Eigentumsansprüche des Spanischen Staates einzuleitendes Widerspruchsverfahren ohne Sistierung durchzuführen.
G.-
Gegen diesen Entscheid hat die Gläubigerin an das Bundesgericht rekurriert mit den Anträgen:
1. Es sei in Aufhebung des Entscheides der Aufsichtsbehörde ... vom 27. Februar 1956 das Betreibungsamt anzuweisen, die von der Arrestbehörde Basel-Stadt am 31. Januar 1955 erlassenen Arrestbefehle ... gegen Henry de Reding und Mariano Anso zu vollziehen.
2. Es sei die Beschwerde des Mariano Anso vom 4. Oktober 1955 ... abzuweisen und festzustellen, dass in der Arrestprosekutionsbetreibung Nr. 41275 der Zahlungsbefehl richtig an Herrn Mariano Anso zugestellt worden ist.
3. Es sei festzustellen, dass das Betreibungsamt ... berechtigt gewesen ist, das Widerspruchsverfahren ... mit Einwilligung beider Parteien zu sistieren und es sei die das Gegenteil verfügende Anweisung der Aufsichtsbehörde ... aufzuheben.
Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Das Betreibungsamt hat den Vollzug eines Arrestbefehls abzulehnen, wenn hiezu Massnahmen getroffen werden müssten, die sich als Verletzung der beim Vollzug zu beachtenden Vorschriften darstellen (
BGE 64 III 129
,
BGE 75 III 26
). Vollzieht das Betreibungsamt einen Arrestbefehl, dem es keine Folge hätte geben sollen, so sind die von ihm getroffenen Massnahmen auf Beschwerde hin aufzuheben. Falls die verletzten Vorschriften zwingender Natur sind, haben die Aufsichtsbehörden von Amtes wegen einzuschreiten, auch wenn die Beschwerdefrist unbenützt abgelaufen ist, sobald ihnen der Sachverhalt auf irgendeinem Wege, z.B. durch eine nach Fristablauf eingereichte Beschwerde, bekannt wird (vgl. z.B.
BGE 73 III 103
Erw. 3) Dies ergibt sich aus
Art. 13 SchKG
(vgl.
BGE 79 III 9
). Die Aufhebung des Arrestvollzugs wegen Verletzung der hiefür massgebenden Vorschriften hat entgegen der Auffassung der Rekurrentin mit der Arrestaufhebung im Sinne von
Art. 279 Abs. 2 SchKG
, die dem Richter vorbehalten ist, nichts zu tun.
BGE 82 III 63 S. 70
2.
Nach
Art. 271 Abs. 1 SchKG
kann der Gläubiger "Vermögensstücke des Schuldners" mit Arrest belegen lassen. Diese Vermögensstücke hat er zu nennen, damit sie im Arrestbefehl angegeben werden können (
Art. 274 Ziff. 4 SchKG
). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass ein Arrest nur solche Gegenstände erfassen kann, die nach der Meinung des Gläubigers dem Schuldner gehören.
Daraus, dass der Gläubiger die Arrestierung eines bestimmten Gegenstandes verlangt, ist in der Regel zu schliessen, dass er geltend machen will, dieser Gegenstand stehe dem Schuldner zu. An diese Rechtsbehauptung hat sich das Betreibungsamt zu halten und den Arrest zu vollziehen, sofern die übrigen Voraussetzungen hiefür gegeben sind. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Gläubiger einen Arrest auf Vermögensstücke erwirkt hat, die dem Namen nach einem Dritten gehören. Der Gläubiger, der z.B. die Arrestierung von auf den Namen eines Dritten hinterlegten Wertschriften oder von auf einen Dritten lautenden Guthaben verlangt, will damit gewöhnlich behaupten, dass diese Wertschriften oder Guthaben in Wirklichkeit dem Schuldner zustehen. Wenn dann der Schuldner die zu arrestierenden Gegenstände als Eigentum eines Dritten bezeichnet oder ein Dritter das Eigentum daran beansprucht, so kann dies nicht zur Ablehnung oder Aufhebung des Arrestvollzugs führen, sondern gibt nur Anlass zur Einleitung eines Widerspruchsverfahrens.
Anders verhält es sich jedoch, wenn der Gläubiger die Gegenstände, deren Arrestierung er verlangt, selber als Eigentum eines Dritten bezeichnet. Gehören die Arrestgegenstände nach der eigenen Behauptung des Gläubigers nicht dem Schuldner, sondern einem Dritten, so verstösst der Arrestvollzug offenkundig gegen die Natur des Arrestes, der nur der Sicherung des Gläubigers durch Vermögensstücke des Schuldners dienen soll, und stellt einen unzulässigen Eingriff in die Rechte einer am Verfahren nicht beteiligten Person dar. Er ist daher abzulehnen und, wenn erfolgt, als nichtig von Amtes wegen aufzuheben.
BGE 82 III 63 S. 71
Mit einem solchen Falle hat man es hier zu tun. Die Rekurrentin liess bei jedem der beiden Arrestschuldner nicht nur die nach ihrer Auffassung dem Schuldner gehörenden Gegenstände arrestieren, sondern auch diejenigen, die im Eigentum des Dritten stehen, den sie neben dem Schuldner solidarisch für ihre Forderung haftbar macht ("Sämtliche Wertschriften ..., die im Eigentum des Arrestschuldners oder Mariano Anso stehen" und umgekehrt). Ausserdem liess sie in beiden Arrestbefehlen die als gegenwärtiges oder früheres "Eigentum" des Spanish Refugee Trust bezeichneten Werte als Arrestgegenstände aufführen, sodass man sich fragen kann, ob die beiden Arreste auch noch Vermögensstücke einer weitern Drittperson erfassen sollen. Welche Vermögenswerte sie im einen und andern Verfahren als Eigentum des Arrestschuldners und welche sie als Dritteigentum ansieht, lässt sich, wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, der Aufzählung unter Ziff. 1-6 des Arrestgesuchs und Arrestbefehls nicht mit Sicherheit entnehmen. Wen sie als Eigentümer betrachtet, ist nicht einmal bei den Vermögenswerten klar, als deren Titular entweder Reding oder Anso ohne weitern Zusatz angegeben ist (Ziff. 1, 5, 6), weil die Tatsache, dass die Ziffern 3 und 4 als Guthaben des Trusts zum Teil bereits unter Ziffer 1 erwähnte Konten Redings erwähnen, darauf schliessen lässt, dass die Rekurrentin den Titular nicht ohne weiteres als den in Wirklichkeit Berechtigten betrachtete, und weil die übereinstimmende Bezeichnung der Arrestgegenstände in beiden Arresten und die den Ziffern 1-6 vorausgehende allgemeine Umschreibung zeigen, dass die Rekurrentin fand, es komme gar nicht darauf an, was dem einen oder andern Schuldner oder allenfalls dem Trust gehöre, so dass sie hierüber keine Angaben zu machen brauche. Schon wegen dieser Unklarheit hätte das Betreibungsamt den Arrestbefehlen keine Folge geben sollen und muss der erfolgte Vollzug aufgehoben werden.
3.
Zum gleichen Ergebnis führt eine weitere Überlegung.
BGE 82 III 63 S. 72
Nach dem Arrestgesuch und den Ausführungen in der Rekursschrift ist anzunehmen, dass die Rekurrentin sich deswegen für berechtigt hielt, in beiden Arrestverfahren neben den als Eigentum des Trusts bezeichneten Werten alle Depots und Guthaben Redings und Ansos bei der Bank Seligmann beschlagnahmen zu lassen, weil sie davon ausging, mindestens bei einem Teil dieser Vermögensstücke handle es sich wie bei den ausdrücklich auf den Namen des Trusts angelegten Werten um Trustvermögen, das für die gegen den Trust gerichtete Arrestforderung hafte. Die zum Trustvermögen gehörenden Werte stehen aber nach ihrer eigenen Behauptung in den erwähnten Eingaben im Gesamteigentum der beiden Cotrustees Reding und Anso. Gegenstände, die sich nicht im Alleineigentum des Schuldners, sondern im Gesamteigentum des Schuldners und weiterer Personen befinden, können für die Verbindlichkeiten des Schuldners nicht selber gepfändet oder arrestiert werden. Vielmehr gilt bei derartigen Verhältnissen der in
Art. 1 VVAG
ausgesprochene, aus dem materiellen Recht zwingend hervorgehende Grundsatz, dass die Pfändung (oder der Arrestvollzug) sich nur auf den Liquidationsanteil erstrecken kann, der dem Schuldner im Falle der Auflösung der das Gesamteigentum begründenden Gemeinschaft zufällt. Auch beim Vorliegen von blossem Miteigentum kann sich im übrigen die Pfändung oder der Arrest nicht auf den Gegenstand des Miteigentums, sondern nur auf das Anteilsrecht des Schuldners beziehen. Nur dieses ist Vermögen des Schuldners. Aus den eigenen Ausführungen der Rekurrentin ergibt sich also, dass die streitigen Arreste mindestens hinsichtlich eines Teils der arrestierten Gegenstände gegen
Art. 1 VVAG
verstossen. Welche Gegenstände sie als Alleineigentum des einen oder andern Cotrustees und welche sie als Trustgut und damit als Gesamteigentum beider betrachtet, hat die Rekurrentin im Arrestgesuch nicht präzisiert. Auch unter dem Gesichtspunkte von
Art. 1 VVAG
war es deshalb richtig, dass die Vorinstanz den Arrestvollzug hinsichtlich aller beschlagnahmten
BGE 82 III 63 S. 73
Gegenstände aufhob. In der Rekursschrift nimmt die Rekurrentin nun übrigens den Standpunkt ein, dass es sich bei allen auf den Namen Redings oder Ansos oder des Trustes lautenden Vermögenswerten um Trustvermögen und mithin um Gesamteigentum handeln könne und auch handle (S. 21/22). Angesichts dieser Stellungnahme ist vollends klar, dass die Arreste vor der erwähnten Vorschrift nicht Bestand haben können.
Ob nach dem einschlägigen materiellen Recht eine Liquidation des Gesamthandverhältnisses stattfinden darf oder nicht, ist entgegen der Meinung der Rekurrentin gleichgültig. Wenn eine solche Liquidation nach dem von der Rekurrentin als massgebend erachteten englischen Recht ausgeschlossen wäre, so hätte dies höchstens zur Folge, dass die Vollstreckung der Arrestforderung auf dem Wege der Schuldbetreibung in der Schweiz nicht zum Ziel führen könnte. Es kann keine Rede davon sein, dass die Betreibungsbehörden den Besonderheiten einer fremden Rechtsordnung durch ein gesetzwidriges Verfahren Rechnung tragen dürften. Im übrigen ist zu bemerken, dass die von der Rekurrentin angestrebte Verwertung von Gegenständen des Gemeinschaftsvermögens ja nichts anderes bedeutet als eine mindestens partielle Liquidation der Gemeinschaft.
Der Hinweis aufBGE 73 III 113f. kann der Rekurrentin auch nicht helfen. Es kann sich von vornherein fragen, ob die dort angestellte Erwägung, dass im Falle der Betreibung sämtlicher Teilhaber eines Gemeinschaftsvermögens für eine Solidarschuld keiner von ihnen an der Einhaltung des Grundsatzes von
Art. 1 VVAG
interessiert sei, wirklich den Schluss erlaube, dass in einem solchen Falle auf Verlangen des Gläubigers anstelle der Anteilsrechte der Betriebenen, die allein zu ihren Vermögen gehören, die das Gemeinschaftsgut bildenden Gegenstände selbst gepfändet werden dürfen. Diese Frage braucht hier jedoch nicht näher untersucht zu werden. Auf jeden Fall kann nämlich das in Frage stehende Verfahren höchstens dann zugelassen werden,
BGE 82 III 63 S. 74
wenn ausser Zweifel steht, dass niemand an der Befolgung des juristisch allein korrekten Verfahrens ein Interesse hat. Diese Annahme mochte sich im FalleBGE 73 III 111ff. rechtfertigen, wo man es mit übersichtlichen Verhältnissen zu tun hatte. (Die Betriebenen bildeten dort zusammen mit dem Gläubiger eine Erbengemeinschaft im Sinne des schweizerischen Rechts; mit der Betreibung wurde eine Erbschaftsschuld geltend gemacht; Gegenstand des Gesamteigentums waren genau bekannte Vermögensstücke, nämlich die Bestandteile des Nachlasses, insbesondere Liegenschaften in Nyon.) Im vorliegenden Falle sind dagegen die Verhältnisse keineswegs derart bekannt, dass die Betreibungsbehörden annehmen dürften, es sei niemand daran interessiert, dass gemäss
Art. 1 VVAG
vorgegangen werde.
Es bleibt also dabei, dass sich die Arrestierung der in den Arrestbefehlen gegen Reding und Anso genannten Gegenstände auf Grund der eigenen Vorbringen der Rekurrentin als absolut unzulässig erweist.
4.
Die Aufhebung des Arrestvollzugs gegen Reding und Anso entzieht dem Betreibungsamt Basel-Stadt die örtliche Zuständigkeit für die Durchführung der Betreibungen gegen diese beiden Schuldner, die sich allein aus
Art. 62 SchKG
(Betreibungsort des Arrestes) ergeben könnte. Ein Zahlungsbefehl, der von einem örtlich nicht zuständigen Amte erlassen wurde, ist jedoch wegen dieses Mangels nicht von Amtes wegen, sondern nur auf rechtzeitige Beschwerde hin aufzuheben, weil die Einleitung einer Betreibung am unrichtigen Ort anders als die durch ein unzuständiges Amt vollzogene Pfändung oder Arrestierung weder öffentliche Interessen noch Interessen dritter, nicht am Verfahren beteiligter Personen verletzt (
BGE 56 III 232
,
BGE 68 III 35
; abweichend, jedoch ohne nähere Begründung,
BGE 73 III 103
Erw. 3 a.E.). Der Streit darüber, ob die Zustellung des Zahlungsbefehls an Anso wegen Verletzung staatsvertraglicher Vorschriften nichtig sei, wird also durch die Aufhebung des Arrestvollzugs nicht gegenstandslos, wie die Rekurrentin anzunehmen scheint.
BGE 82 III 63 S. 75
5.
Wohnt der Schuldner im Auslande, so erfolgt die Zustellung der Betreibungsurkunden nach
Art. 66 Abs. 3 SchKG
durch die Vermittlung der dortigen Behörden oder durch die Post. Die zweite Zustellungsart kann sich jedoch aus völkerrechtlichen Gründen als unzulässig erweisen.
Die Haager Übereinkunft betreffend Zivilprozessrecht, der die Schweiz und Frankreich beigetreten sind, beschränkt die Möglichkeit, gerichtliche oder aussergerichtliche Urkunden in Zivil- und Handelssachen den im Ausland befindlichen Beteiligten durch die Post zuzustellen, auf die Fälle, wo Abkommen zwischen den beteiligten Staaten sie zulassen oder wo in Ermangelung von Abkommen der Staat, auf dessen Gebiet die Zustellung erfolgen soll, nicht widerspricht (Art. 6). Zu den hier genannten Urkunden zählen gemäss ständiger Praxis auch die Betreibungsurkunden. Ein Abkommen zwischen der Schweiz und Frankreich, das die Zustellung amtlicher Urkunden durch die Post als zulässig erklären würde, besteht nicht. Insbesondere enthält die Erklärung zwischen der Schweiz und Frankreich betreffend die Übermittlung von gerichtlichen und aussergerichtlichen Aktenstücken sowie von Requisitorien in Zivil- und Handelssachen vom 1. Februar 1913 (BS 12, deutsch S. 298, französisch S. 286) keine solche Vorschrift. Sie bestimmt gegenteils in Art. 2, dass die gerichtlichen und aussergerichtlichen Aktenstücke, welche für Personen in Frankreich bestimmt sind, durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement oder die zuständige kantonale Behörde unmittelbar dem französischen Staatsanwalt übersandt werden, in dessen Bezirk der Adressat sich befindet (eine Zustellungsart, die gegenüber der in Art. 1 der Haager Übereinkunft vorgesehenen eine Vereinfachung bedeutet). Anderseits ist freilich ein Widerspruch gegen die Zustellung durch die Post von Seiten Frankreichs bis heute nicht erfolgt. Das Ausbleiben eines Widerspruchs lässt jedoch diese Zustellungsart nach Art. 6 der Haager Übereinkunft nur "in Ermangelung von Abkommen" ("à défaut de conventions") zwischen den beteiligten Staaten, d.h. dann als zulässig erscheinen, wenn
BGE 82 III 63 S. 76
zwischen diesen Staaten ein Sonderabkommen über die Zustellung von Urkunden der in Frage stehenden Art überhaupt nicht besteht. Ist dagegen ein solches Abkommen vorhanden, so soll es nach der erwähnten Bestimmung allein Regel machen (vgl.
BGE 76 III 78
/79; dass das Bundesgericht sich hier in Abweichung vonBGE 41 III 209auf die eben dargestellte Auslegung von Art. 6 der Haager Übereinkunft gestützt hat, lässt sich im Hinblick auf den ersten Satz von Erw. 3 auf S. 79 nicht bezweifeln). Da die Schweiz und Frankreich am 1. Februar 1913 ein Abkommen geschlossen haben, das die Zustellung durch die Post nicht vorsieht, muss diese demnach als durch die Haager Übereinkunft ausgeschlossen gelten, obschon Frankreich keinen Widerspruch im Sinne von Art. 6 dieser Übereinkunft erhoben hat (so im Ergebnis auch schon der Entscheid der Staatsrechtlichen Abteilung vom 13. Juli 1923 i.S. Bigorre). Mit Recht hat die Vorinstanz aber auch hervorgehoben, dass die Vornahme postalischer Zustellung nach Konventionsstaaten durch die schweizerischen Behörden schon deswegen Bedenken weckt, weil die Schweiz sich ihrerseits gegen die postalische Zustellung aus diesen Ländern verwahrt hat (vgl.
BGE 76 III 79
Erw. 3).
Im Verhältnis zu Frankreich wird die Unzulässigkeit der Zustellung durch die Post übrigens durch Art. 7 der Erklärung vom 1. Februar 1913 bestätigt. Wenn es den diplomatischen und konsularischen Vertretern versagt ist, im andern Staate Zustellungen vorzunehmen, dann muss dies doch erst recht für die im eigenen Gebiete tätigen Behörden gelten, die eine Zustellung mit Hilfe der Post bewirken möchten. Denn es dürfte klar sein, dass Art. 7 den erwähnten Auslandvertretungen nicht bloss die eigenhändige Zustellung an den Adressaten verbietet, sondern dass sie sich für Aktenzustellungen auch nicht der Post des andern Staates bedienen dürfen. Andernfalls wäre nicht recht einzusehen, welchen Sinn Art. 7 haben soll. Wenn der zweite Satz dieser Bestimmung als Ausnahme von dem im ersten Satz aufgestellten Verbote zulässt, dass Aktenzustellungen
BGE 82 III 63 S. 77
an die eigenen Staatsangehörigen "unmittelbar" (und ohne Zwang) bewirkt werden, so kann damit vernünftigerweise nicht gemeint sein: "ohne Vermittlung der Post", woraus vielleicht geschlossen werden könnte, dass das Verbot von Satz 1 die postalische Zustellung nicht erfasse, sondern der fragliche Ausdruck kann hier offensichtlich nur bedeuten: "unter Umgehung der nach Art. 1 und 2 zuständigen Behörde des andern Staates".
Eine in Verletzung staatsvertraglicher Bestimmungen vorgenommene postalische Zustellung einer Betreibungsurkunde nach dem Ausland ist nichtig (
BGE 57 III 30
Erw. 4).
6.
Die Weisung, welche die Vorinstanz dem Betreibungsamt in Disp. 3 ihres Entscheides für den Fall eines eventuellen spätern Arrestes erteilt hat, kann nicht Gegenstand eines Rekurses sein, da erst deren spätere Befolgung eine Beschwernis für die Rekurrentin bilden könnte. In diesem Punkte ist also auf den Rekurs nicht einzutreten.
Dispositiv
Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:
Der Rekurs wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. | null | nan | de | 1,956 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb2cdd42-9b67-4c26-b6fe-1d30ccc85479 | Urteilskopf
118 Ia 446
60. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 9. September 1992 i.S. Gemeinde Alvaneu gegen B., Departement des Innern und der Volkswirtschaft des Kantons Graubünden sowie Verwaltungsgericht (Kammer 4) des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Bauvorhaben in der Bündner Erhaltungszone; Gemeindeautonomie.
1. Die Bündner Erhaltungszone kann mit einer beschränkten Bauzone verglichen werden, welche eine Nichtbauzone überlagert; sie stützt sich auf
Art. 18 Abs. 1 RPG
und kommt hinsichtlich ihrer Zielsetzung einer Schutzzone nahe. Im vorliegenden Fall erübrigt es sich allerdings, die Frage der Rechtsnatur dieser Erhaltungszone abschliessend zu beurteilen (E. 2a/c).
2. Das Interesse an der Bewahrung des ursprünglichen Ortsbildes des Maiensässes überwiegt das Interesse des Bauherrn daran, das strittige Bauvorhaben zu verwirklichen (grösserer Sonnenkollektor zur Betreibung einer Solar-Schwerkraftheizung). Das kantonale Verwaltungsgericht hat das Vorhaben auf willkürliche Weise als zonenkonform bezeichnet und damit die Autonomie der das Projekt ablehnenden Gemeinde verletzt (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 447
BGE 118 Ia 446 S. 447
B. ist Eigentümer einer Maiensäss-Liegenschaft in der Erhaltungszone "Aclas Dafora" oberhalb der Gemeinde Alvaneu. Am 26. Juli 1990 unterbreitete er der Gemeinde ein Baugesuch zwecks Umbauarbeiten an seiner Maiensäss-Hütte. Er ersuchte einerseits um die Bewilligung dafür, einen neuen Kamin mit einem Holzkochherd und einen neuen Fussboden mit Isolationseffekt im Erdgeschoss einbauen zu dürfen; und andererseits sei ihm zu bewilligen, zwecks Betreibung einer Solar-Schwerkraftheizung einen Sonnenkollektor mit den Massen 3,0 m x 1,25 m (3,75 m2) auf dem Dach der erwähnten Baute montieren zu können.
Mit Verfügung vom 10. September 1990 lehnte der Gemeindevorstand von Alvaneu als Baubehörde das von B. eingereichte Baugesuch ab und begründete dies im wesentlichen damit, das Vorhaben sei nicht mit der bestehenden Erhaltungszone in "Aclas Dafora" vereinbar. Insbesondere ermögliche die Solar-Schwerkraftheizung eine Komfortsteigerung und führe dadurch zu einer erweiterten Gebäudenutzung, die dem Sinn einer Erhaltungszone als nicht dauernd bewohntem Siedlungsgebiet zuwiderlaufe. Sodann sei die Installation solcher Sonnenkollektoren als Ausbau bestehender Erschliessungs- bzw. Infrastrukturanlagen zu qualifizieren, was mit den einschlägigen Gesetzesbestimmungen der Gemeindebauordnung ebenfalls nicht in Einklang zu bringen sei. Aus ästhetischer Sicht sei ferner festzustellen, dass eine auf dem Dach anzubringende Kollektorenfläche von 3,75 m2 unter Berücksichtigung der vom Baugesetz geforderten einheitlichen Dachbedeckung nicht mehr akzeptabel sei, dies im Gegensatz zu kleinflächigeren Sonnenkollektoren. Insgesamt verstosse demnach die Erteilung der nachgesuchten Baubewilligung sowohl gegen die Zielsetzungen einer Erhaltungszone als auch gegen die Anforderungen, die in gestalterischer Hinsicht an die Dachlandschaft der Maiensäss-Siedlung "Aclas Dafora" gestellt würden.
BGE 118 Ia 446 S. 448
Gegen diese Verfügung erhob B. Rekurs an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, welchen dieses mit Entscheid vom 21. November 1990 guthiess, soweit er nicht gegenstandslos geworden war. Gegenstandslosigkeit ergab sich insoweit, als die Gemeinde Alvaneu den projektierten Einbau eines neuen Heizungskamines und die Installation eines neuen Fussbodens mit Isolationseffekt im Erdgeschoss anerkannte. Die im übrigen erfolgte Gutheissung des Rekurses wurde im wesentlichen damit begründet, die Zuteilung der B. gehörenden Maiensäss-Hütte zur Erhaltungszone "Aclas Dafora" sei zwar zu Recht erfolgt; entgegen der Ansicht der Gemeinde könne aber im Hinblick auf die für diese Zone geltenden Vorschriften nicht gesagt werden, die vorgesehene Dachinstallation von Sonnenkollektoren sei unzulässig.
Mit Eingabe vom 28. Januar 1991 erhob die Gemeinde Alvaneu staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht mit dem Antrag, der Entscheid des Verwaltungsgerichtes des Kantons Graubünden vom 21. November 1990 sei aufzuheben.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die Verordnung über die Raumplanung vom 2. Oktober 1989 (RPV; SR 700.1), die am 20. Oktober 1989 in Kraft getreten ist, enthält die folgenden für den vorliegenden Fall interessierenden Vorschriften:
"3. Abschnitt: Erhaltung bestehender Bausubstanz
Art. 23 Kleinsiedlungen ausserhalb der Bauzonen
Zur Erhaltung bestehender Kleinsiedlungen ausserhalb der Bauzonen können besondere Zonen nach Artikel 18 RPG (wie Weiler- oder Erhaltungszonen) bezeichnet werden, wenn der kantonale Richtplan (
Art. 8 RPG
) dies in der Karte oder im Text vorsieht.
Art. 24 Ausnahmen ausserhalb der Bauzonen
1 In Gebieten mit traditioneller Streubauweise, die von Abwanderung betroffen sind und in denen die Dauerbesiedelung im Hinblick auf die anzustrebende räumliche Entwicklung gestärkt werden soll, können die Kantone als standortgebunden (Art. 24 Abs. 1 Bst. a RPG) bewilligen:
a. Die Änderung der Nutzung bestehender Gebäude mit Wohnungen zu landwirtschaftsfremden Wohnzwecken, wenn das Gebäude nach der Änderung ganzjährig bewohnt wird;
b. die Änderung der Nutzung bestehender Gebäude oder Gebäudekomplexe mit Wohnungen zu Zwecken des örtlichen Kleingewerbes (wie
BGE 118 Ia 446 S. 449
Käsereien, holzverarbeitende Betriebe, mechanische Werkstätten, Schlossereien, Detailhandelsläden, Wirtshäuser); der Gewerbeanteil darf nicht mehr als die Hälfte des bestehenden Gebäudes oder Gebäudekomplexes beanspruchen.
2 In Landschaften mit schützenswerten Bauten und Anlagen können die Kantone die Änderung der Nutzung bestehender Gebäude als standortgebunden (Art. 24 Abs. 1 Bst. a RPG) bewilligen, wenn das Gebäude durch Verfügung der für Ortsbild- und Landschaftsschutz zuständigen Behörde als landschaftstypisch geschützt ist und die dauernde Erhaltung der Bausubstanz nicht anders sichergestellt werden kann.
3 Bewilligungen setzen voraus, dass
a. die Gebiete nach den Absätzen 1 und 2 im kantonalen Richtplan (
Art. 8 RPG
) örtlich festgelegt sind;
b. das Gebäude für die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr benötigt wird;
c. die äussere Erscheinung und die bauliche Grundstruktur des Gebäudes im wesentlichen unverändert bleiben;
d. die Änderung keine zusätzliche Verkehrserschliessung erfordert;
e. keine überwiegenden Interessen entgegenstehen (Art. 24 Abs. 1 Bst. b RPG). "
Das Raumplanungsgesetz für den Kanton Graubünden vom 20. Mai 1973 (KRG) weist in Art. 27a folgende Bestimmungen auf:
"Art. 27a Für die Erhaltung von landschaftlich oder kulturgeschichtlich wertvoller Bausubstanz können die Gemeinden Erhaltungszonen festlegen. In den Erhaltungszonen sind Neubauten unzulässig. Der Zweck bestimmungsgemäss nutzbarer Bauten darf innerhalb der bestehenden Bausubstanz geändert werden. Die Bauarbeiten sind in der herkömmlichen Bauweise auszuführen.
Bei abgelegenen Erhaltungszonen können die Gemeinden besondere Vorschriften über die Erschliessung erlassen."
Sodann ist Art. 14 der Raumplanungsverordnung für den Kanton Graubünden (KRVO) vom 26. November 1986 von Bedeutung. Er lautet wie folgt:
"Art. 14 Erhaltungszonen umfassen in der Regel Baugruppen von mindestens 5 Gebäuden.
Kleinere Baugruppen oder besondere Bauobjekte können im Rahmen einer Gesamtbeurteilung als Erhaltungszone bestimmt werden. Voraussetzung hiefür ist die Inventarisierung aller Bauten ausserhalb der Bauzonen in der betreffenden Gemeinde.
Die Regierung kann im Genehmigungsverfahren über den Umfang von Zweckänderungen sowie Art und Weise der Ausbaumöglichkeiten der einzelnen Gebäude Weisungen erteilen.
Baubewilligungen für Bauvorhaben in der Erhaltungszone sind dem Amt für Raumplanung mitzuteilen.
BGE 118 Ia 446 S. 450
Die Regierung bestellt eine 3- bis 5-köpfige Kommission, die der zuständigen kantonalen Behörde in Fragen der Erhaltungszonen beratend zur Verfügung steht."
Am 27. November 1991 hat der Grosse Rat des Kantons Graubünden Art. 14 Abs. 1 KRVO ergänzt. Diese Bestimmung lautet neu wie folgt:
"Erhaltungszonen umfassen in der Regel Baugruppen von mindestens 5 Gebäuden. Ihre Ausscheidung setzt voraus, dass der kantonale Richtplan dies vorsieht."
Schliesslich ist auf Art. 67bis des Baugesetzes der Gemeinde Alvaneu in der Fassung vom 22. Januar 1982 (BauG), vom Regierungsrat genehmigt am 27. September 1982, hinzuweisen, der folgenden Wortlaut hat:
"4) Schaffung von 2 Erhaltungszonen Aclas Davains und Aclas Dafora Art. 67bis Die Erhaltungszonen in Aclas Davains und Aclas Dafora, gemäss Zonenplan 1:5000, bezwecken die Erhaltung der Baugruppen als Bestandteile der Kulturlandschaft. In diesen Zonen können alle bestehenden, nicht mehr landwirtschaftlich genutzten Bauten zu Ferienzwecken umgebaut werden, wenn nachstehende Bedingungen erfüllt sind:
a) Das Gruppenbild und der Maiensässcharakter muss erhalten bleiben.
b) Die Gebäude dürfen weder in Form noch im Volumen verändert werden. Die Neugestaltung von aussen sichtbaren Gebäudeteilen ist in Form, Material und Farbe in herkömmlicher Weise vorzunehmen. Das Mauerwerk ist mit Rasapietra- oder Grubenkalk-Verputz zu verkleiden. Balkone und grosse Fenster sind nicht zulässig. Die Dächer dürfen nicht mit Blech oder Welleternit eingedeckt werden.
c) Die Bauvorhaben sollen vor der Projektierung mit dem von der Gemeinde bezeichneten Fachmann besprochen werden. Sie sind vor Erteilung der Baubewilligung durch diesen zu begutachten, wobei die Kosten zu Lasten des Baugesuchstellers gehen.
d) Die bestehende landwirtschaftliche Nutzung des Gebäudeumschwunges muss auch nach dem Umbau gewährleistet sein. Die Herrichtung gartenähnlicher Anlagen und die Erstellung von festen Abzäunungen irgendwelcher Art sind verboten. Nur während der Atzung sind ablegbare Zäune gestattet. Terrainveränderungen sind nur zulässig, wenn die Herbeiführung des ursprünglichen natürlichen Zustandes es erfordert.
e) Die Baubehörde ist berechtigt, bestehende maiensässfremde Bauten auf Kosten des Eigentümers abändern zu lassen.
f) Bestehende Erschliessungsanlagen dürfen erneuert, jedoch nicht ausgebaut werden. Die Erstellung neuer Anlagen, wie Wege, elektrische Leitungen oder Telefonleitungen ist nicht zulässig. Der Anschluss an die Stromversorgung oder an das Telefonnetz kann gestattet werden. Sämtliche Anschlüsse sind zu verkabeln.
BGE 118 Ia 446 S. 451
g) Für Abwasser- und Fäkalienbeseitigung ist eine Bewilligung des kantonalen Amtes für Gewässerschutz einzuholen. Der Kehricht ist von den Bewohnern in einem in Alvaneu-Dorf, Abzweigung Kantons-/Maiensäss-Strasse, bereitgestellten Kehrichtschopf zu deponieren. Es gelten die entsprechenden Bestimmungen des Regulativs der Gemeinde und des Kehrichtverbandes.
h) Der Bauherr hat an geeigneter Stelle die nach Art. 46 des Baugesetzes erforderlichen Abstellplätze auf eigenem oder fremdem Boden zu erstellen und allfällige Rechte an fremdem Boden grundbuchlich nachzuweisen. Vorbehalten bleibt die Beteiligung an einer gemeinschaftlichen Parkierungsanlage.
i) Der Gemeinde dürfen durch den Umbau oder die spätere Benützung des Gebäudes keine Kosten entstehen."
c) Nach der Praxis des Bundesgerichtes ist die Festsetzung von Kleinstbauzonen ausserhalb des Baugebietes, welche eine die Landschaft und die geordnete Siedlungsentwicklung beeinträchtigende Streubauweise sanktioniert, nicht nur unzweckmässig, sondern gesetzwidrig (nicht publ. Urteil vom 26. März 1991 betr. Gemeinde Sent, BGE vom 23. Mai 1984 in: Informationshefte des BRP 1/85, S. 12 [= BVR 1984 S. 294 ff.], und BGE vom 3. Februar 1982 in: ZBl 83/1982 S. 351 ff. [= BVR 1982 S. 249 ff. bzw. BR 4/82 S. 79]; s. auch KARL SPÜHLER, Die Nutzung leeren Gebäudevolumens ausserhalb der Bauzonen, ZBJV 125/1989 S. 339; CHRISTOPH BANDLI, Bauen ausserhalb der Bauzonen, Diss. Bern 1989, N. 98 S. 70; HEINZ AEMISEGGER, RPG/NO, Nr. 4/1982, S. 5 f.). Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch nicht auf Erhaltungszonen der hier umstrittenen Art. Sie ist vielmehr auf eigentliche, allgemeine Bauzonen im Sinne von
Art. 15 RPG
ausgerichtet, in denen vor allem auch Neu- und Erweiterungsbauten vorgesehen sind. Solche Bauzonen im Sinne von
Art. 15 RPG
müssen allgemeinen planerischen Erwägungen hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung des Siedlungsgebietes und der rationellen Erschliessung gemäss
Art. 19 RPG
entsprechen. Sie haben sich auf die in
Art. 22quater BV
sowie namentlich in den Art. 1, 3, 15 und 19 RPG enthaltenen Planungsgrundsätze auszurichten. Im Lichte dieser Grundsätze sind Kleinstbauzonen, welche für Neubauvorhaben ausgeschieden werden, unzulässig. Ganz anders verhält es sich aber bei den hier umstrittenen Erhaltungszonen. Ihre Ausscheidung wird von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ausdrücklich begrüsst. So wird in
BGE 115 Ib 151
dargelegt, die Zuweisung von bestehenden Kleinsiedlungen in Bauzonen müsse nicht dazu führen, dass an sich unerwünschte Kleinstbauzonen für Neubauten entstünden. Das Bundesgericht geht in diesem Entscheid
BGE 118 Ia 446 S. 452
davon aus, solche Erhaltungszonen seien beschränkte Bauzonen und keine Nichtbauzonen. So verhält es sich auch hinsichtlich der zur Diskussion stehenden Erhaltungszone "Aclas Dafora". Die erwähnte, vom Departement des Innern und der Volkswirtschaft des Kantons Graubünden diesbezüglich dargelegte Rechtsauffassung ist weitgehend zutreffend. Sie ist allerdings nachfolgend in gewissen Punkten zu präzisieren.
Die Bündner Erhaltungszone bezweckt die Erhaltung bestehender, insgesamt betrachtet wertvoller Bausubstanz, die vor dem Zerfall gerettet werden soll. Sie will solche Bausubstanz einer zweckmässigen Nutzung zuführen und verfolgt damit Zielsetzungen des Ortsbild- und Landschaftsschutzes. Diese Zielsetzungen könnten auch in Anwendung von
Art. 17 Abs. 2 RPG
in Verbindung mit
Art. 24 RPG
und
Art. 24 RPV
verwirklicht werden. In diesem Fall wären auf den Einzelfall zugeschnittene Schutzmassnahmen zu treffen und gestützt darauf Bewilligungen im Sinne von
Art. 24 RPG
zu erteilen (s. in diesem Zusammenhang nicht publ. Urteil des Bundesgerichtes vom 19. April 1989 betr. Gemeinde Alterswil). Zur Erhaltung der Bündner Maiensässe ist aber der Weg der Ausscheidung von Erhaltungszonen oft zweckmässiger. Wie die Gemeinde in ihrer im bundesgerichtlichen Verfahren erstatteten Replik zutreffend darlegt, sind Baugesuche, welche sich an den Rahmen von Art. 67bis BauG halten und damit zonenkonform sind, auf dem ordentlichen Baubewilligungsweg in Anwendung von
Art. 22 RPG
zu beurteilen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie es sich verhält, wenn Baugesuche eingereicht werden, die den Rahmen des gestützt auf Art. 67bis BauG Zulässigen sprengen. Sind dann allenfalls Ausnahmebewilligungen gemäss
Art. 23 RPG
zulässig, oder ist in einem solchen Fall
Art. 24 RPG
anwendbar? Mit Rücksicht auf die besondere Natur der hier zur Diskussion stehenden Erhaltungszone muss letzteres zutreffen. Dies bedeutet, dass die Bündner Erhaltungszone mit einer eine Nichtbauzone überlagernden beschränkten Bauzone verglichen werden kann, die sich auf
Art. 18 Abs. 1 RPG
stützt; hinsichtlich ihrer Zielsetzung steht sie einer Schutzzone nahe (s. hierzu EJPD/BRP, Erläuterungen zum RPG, N. 27 f. zu Art. 17, sowie LEO SCHÜRMANN, Bau- und Planungsrecht, 2. Aufl., Bern 1984, S. 171 f.). Überschreitet ein Vorhaben den Rahmen dessen, was in einer solchen auf die Erhaltung der bestehenden Bausubstanz beschränkten Nutzungszone zonenkonform ist, so kommen die Vorschriften der Grundnutzungszone zur Anwendung, welche von der Erhaltungszone überlagert wird. In einem solchen Fall stellt sich dann die Frage, ob das in der
BGE 118 Ia 446 S. 453
Erhaltungszone zonenwidrige Bauvorhaben der Grundnutzungsordnung entspricht und mit Rücksicht darauf gestützt auf
Art. 22 RPG
im ordentlichen Baubewilligungsverfahren bewilligt werden kann. Trifft dies nicht zu, so ist das betreffende Baugesuch, das den Rahmen der Erhaltungszone sprengt, gestützt auf
Art. 24 RPG
und das dazu erlassene kantonale Ausführungsrecht zu überprüfen. Die Verhältnisse liegen mithin ähnlich wie bei einer eine Landwirtschaftszone überlagernden Kiesabbauzone, die nach Abbau und Rekultivierung des Landes erneut der landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung stehen soll. Es ist auch denkbar, eine Erhaltungszone der erwähnten Art im Sinne einer auf die Erhaltung der bestehenden Bausubstanz beschränkten Nutzungszone gestützt auf
Art. 18 Abs. 1 RPG
als Grundnutzungszone auszuscheiden. Eine solche könnte allerdings nicht als Bauzone im Sinne von
Art. 15 RPG
gelten, was zur Folge hätte, dass
Art. 24 RPG
auf alle Bauvorhaben anwendbar wäre, die mit den Nutzungsvorschriften der Erhaltungszone unvereinbar wären (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Regelung in bezug auf die Freihaltezone gemäss § 40 Abs. 1 des Planungs- und Baugesetzes des Kantons Zürich vom 7. September 1975 in der Fassung vom 1. September 1991). Im Hinblick auf die nachfolgenden Erwägungen erübrigt es sich hier allerdings, die Frage der Rechtsnatur der Bündner Erhaltungszone abschliessend zu beurteilen.
3.
a) Die vorstehenden Erwägungen führen zum Ergebnis, dass das hier umstrittene Bauvorhaben in zutreffender Weise im Verfahren gemäss
Art. 22 RPG
auf seine Zonenkonformität und damit auf seine Übereinstimmung mit Art. 67bis BauG überprüft worden ist. Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, das Verwaltungsgericht habe derart auf willkürliche Weise kantonales Recht und damit auch ihre Gemeindeautonomie verletzt. Zutreffend hat sie diese Rüge im Rahmen der staatsrechtlichen Beschwerde vorgetragen. Durch den angefochtenen Entscheid wird die Beschwerdeführerin in ihrer Eigenschaft als Trägerin hoheitlicher Gewalt getroffen. Sie ist daher beschwerdelegitimiert. Ob ihr im betreffenden Bereich tatsächlich Autonomie zusteht, ist keine Frage der Legitimation, sondern Gegenstand der materiellen Beurteilung (
BGE 117 Ia 354
f. E. 3a,
BGE 116 Ia 43
E. 1a,
BGE 114 Ia 76
E. 1, 81 E. 1a und 467 E. 1a,
BGE 113 Ia 202
E. 1a, mit Hinweisen).
b) Eine Gemeinde ist in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt (BGE 117 Ia
BGE 118 Ia 446 S. 454
355 f. E. 4a, mit Hinweisen). Ist diese Voraussetzung erfüllt, so kann sich die Gemeinde mit staatsrechtlicher Beschwerde dagegen zur Wehr setzen, dass die kantonale Behörde im Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder dass sie bei der Anwendung der kommunalen, kantonalen und bundesrechtlichen Normen, die den betreffenden Sachbereich ordnen, gegen das Willkürverbot verstösst, oder, soweit kantonales oder eidgenössisches Verfassungsrecht in Frage steht, dieses unrichtig auslegt oder anwendet (
BGE 115 Ia 44
, 114 Ia 169 f. und 372 E. 2a, 112 Ia 270 E. 2a, je mit Hinweisen).
c) Wie das Bundesgericht schon vielfach festgestellt hat, sind die Bündner Gemeinden in weiten Bereichen der Raumplanung und des Bauwesens autonom (
BGE 110 Ia 207
E. 2b, 108 Ib 238 E. 3b, mit Hinweisen). Diese Autonomie erstreckt sich klarerweise auf die Frage der Zonenkonformität, welche sich nach den im kantonalen und kommunalen Baurecht enthaltenen Grundsätzen beurteilt. Im vorliegenden Fall sind in dieser Hinsicht die
Art. 27a KRG
und 67bis BauG massgebend. Es ist zu prüfen, ob das Bauvorhaben des Beschwerdegegners in der Erhaltungszone "Aclas Dafora" namentlich im Lichte von Art. 67bis BauG zonenkonform ist. Bei der Anwendung dieser Vorschrift steht der Gemeinde Alvaneu zweifellos eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu.
4.
Die Beschwerdeführerin begründet ihre Willkürrüge in bezug auf Art. 67bis BauG damit, diese Vorschrift bezwecke die Erhaltung der Maiensäss-Siedlungen als Bestandteil der Kulturlandschaft. Ursprünglich hätten die Bergbauern die Maiensässe als Unterkunft im Herbst benützt, wenn sie das Vieh hätten ausfüttern müssen. Daher wiesen die Maiensässe auch einen Stall- und einen Wohnteil auf. Diese Bausubstanz sei erhaltenswert, zeige sie doch deutlich die kulturhistorische Bedeutung der Maiensässe auf. Infolge des Bedeutungsverlustes der Berglandwirtschaft hätten auch die Maiensässe ihre ursprüngliche Funktion verloren. Trotzdem habe die Gemeinde Alvaneu den besonderen Charakter solcher Siedlungen bewahren wollen. Um die bestehenden Bauten einem erweiterten Nutzungszweck zu öffnen, habe die Gemeinde in ihrem Baugesetz eine Ferienhausnutzung ermöglicht, welche jedoch nur unter Einhaltung strengster Bedingungen zulässig sein solle. So enthalte Art. 67bis BauG ein ausdrückliches Ausbauverbot der bestehenden Erschliessungsanlagen. Das zeige deutlich, dass die bestehenden Verhältnisse gewahrt werden sollten und die Wohnnutzung auf denjenigen Rahmen beschränkt sei, welcher mit der bestehenden Erschliessung
BGE 118 Ia 446 S. 455
vereinbar und verträglich sei. Das Verwaltungsgericht habe den Zweck der Erhaltungszone krass falsch definiert. Die bestehende Bausubstanz solle nur beschränkt dem Wohnen dienen, und vor allem solle der ursprüngliche Zustand erhalten werden. Es gehe darum, einen künftig drohenden Zerfall der Maiensäss-Hütten zu verhindern und die Bausubstanz zu bewahren. Deshalb sei die Erhaltungszone auch nicht diejenige Zone, in welcher vor allem die umweltverträglicheren Alternativenergien gefördert werden sollten. Das sei bei Bauvorhaben in der eigentlichen Bauzone zu tun. In der Erhaltungszone sei ein Aus- und Neubau unzulässig. Die Gemeinde Alvaneu werde daher den Einbau eines Solar- oder konventionellen Ölheizungssystems in einem Gebäude der Erhaltungszone nie bewilligen, da sonst eine zonenwidrige Benutzung möglich wäre. Sie wolle alle Vorkehren treffen, um einen solchen zonenwidrigen Zustand zu verhindern, weshalb sie auch noch nie den Einbau eines Heizsystems in einer Maiensäss-Hütte bewilligt habe. Darüber hinaus hätten auch die bestehenden Blechdächer keinen Einfluss auf den Zweck der Erhaltungszone. Die Erhaltungszone sei u.a. gerade deshalb ausgeschieden worden, um derartige Missgriffe in Zukunft zu verhindern. Die Gemeinde habe seit 1982 kein Blechdach mehr bewilligt. Die Maiensäss-Siedlung "Aclas Dafora" sei trotz der altrechtlichen Bausünden von ausnehmender Schönheit und deshalb erhaltenswert.
Trotz diesen von der Beschwerdeführerin geäusserten Bedenken entschied das Verwaltungsgericht, die Baubewilligung für die Installation eines Sonnenkollektors mit den Massen 3,0 m x 1,25 m (3,75 m2) auf dem Dach der Maiensäss-Hütte des Beschwerdegegners sei zu erteilen. Dies sei sowohl im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 67bis BauG als auch angesichts des Zwecks der Erhaltung von Wohnsubstanz notwendig. Am bundesgerichtlichen Augenschein hat sich ergeben, dass die Gemeinde die Bewilligung der vom Beschwerdegegner für die Betreibung einer Solar-Schwerkraftheizung projektierten Anlage vor allem bekämpft, weil sie ein negatives Präjudiz für die übrigen Dachflächen des Maiensässes "Aclas Dafora" befürchtet. Bisher wurden dort zwar Sonnenkollektoren bewilligt, aber nur kleinflächige von in der Regel rund 1/3 m2. Diese dienen ausschliesslich zur Stromerzeugung für Beleuchtungs-zwecke. Die Gemeinde liess diese Anlagen nicht zuletzt deshalb zu, weil sie wesentlich ungefährlicher sind als andere Beleuchtungssysteme, wie etwa Petrol- oder Gaslampen. Im Interesse der Zielsetzungen der Erhaltungszone "Aclas Dafora" wurde der Nutzen dieser Lichtstromanlagen höher gewertet als die Interessen am Schutz des Ortsbildes. Die
BGE 118 Ia 446 S. 456
vom Beschwerdegegner vorgesehene Sonnenkollektoranlage soll Heizzwecken dienen. Sie ersetzt aber die bestehende Holzheizung nicht, sondern soll diese lediglich unterstützen und ergänzen. Am Augenschein ist klar geworden, dass der Heizungsbeitrag der geplanten Anlage im Verhältnis zum gesamten Heizungsbedarf unwesentlich ist. Schon aus diesem Grund ist es willkürlich, wenn das Verwaltungsgericht das Interesse an der Erhaltung des Ortsbildes des in Frage stehenden Maiensässes weniger hoch bewertete als das Interesse des Beschwerdegegners an der Errichtung der Heizungsanlage.
Aber auch aus einem weiteren Grund ist der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichtes verfassungsrechtlich nicht haltbar. Würde dem Beschwerdegegner die umstrittene Sonnenkollektoranlage bewilligt, so müsste dies auch gegenüber weiteren Hausbesitzern des Maiensässes getan werden. Dadurch würde aber die heute - von einzelnen, wenn auch nicht unübersehbaren Ausnahmen abgesehen - guterhaltene Dachlandschaft des Maiensässes "Aclas Dafora" stark beeinträchtigt. Eine solche Beeinträchtigung des Ortsbildes wollen aber die erwähnten kommunalen und kantonalen Vorschriften betreffend die Erhaltungszone "Aclas Dafora" offensichtlich verhindern. Davon, dass das ursprüngliche Ortsbild des Maiensässes schon an verschiedenen Stellen beeinträchtigt ist, hat sich die bundesgerichtliche Delegation am Augenschein überzeugen können. Dies ist zwar bedauerlich, vermag aber das Interesse daran, das auch heute noch sehr schöne und beeindruckende Erscheinungsbild des Maiensässes mit verhältnismässigen Vorkehren zu erhalten, nicht wesentlich herabzumindern. Die Gemeinde bemüht sich im übrigen seit einigen Jahren mit ihrer am Augenschein näher dargelegten Baubewilligungspraxis sehr um die sinnvolle und zweckmässige Erhaltung des Maiensässes, wobei sie ganz besonders auf ästhetische Belange achtet. Sie beabsichtigt, vorhandene Beeinträchtigungen nach Möglichkeit zu beseitigen und neue zu verhindern. Das ist keine leichte Aufgabe, besonders wenn es auch darum geht, eigenmächtigem unbewilligtem Vorgehen von Hauseigentümern zu begegnen.
Indem das Verwaltungsgericht den geplanten Sonnenkollektor mit Solar-Schwerkraftheizung in der Erhaltungszone "Aclas Dafora" von Alvaneu als zonenkonform bezeichnet hat, hat es somit die Bestimmungen gemäss
Art. 27a KRG
in Verbindung mit Art. 67bis BauG in verfassungsrechtlich unhaltbarer Weise angewendet. Sein Urteil verstösst daher gegen die Gemeindeautonomie. Aus diesen Gründen ist die Beschwerde der Gemeinde Alvaneu gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. | public_law | nan | de | 1,992 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
eb2fd1eb-4253-4647-a4fd-35b054272a80 | Urteilskopf
121 I 54
7. Extrait de l'arrêt de la Cour de cassation pénale du 24 mars 1995 en la cause G. et J. contre Département des finances du canton de Vaud et Ministère public du canton de Vaud (recours de droit public) | Regeste
Art. 4 BV
,
Art. 133bis Abs. 1 lit. a BdBSt
; Anspruch auf einen begründeten Entscheid, Anforderungen an die Bemessung der Zusatzstrafe.
Ist gemäss
Art. 133bis Abs. 1 lit. a BdBSt
eine Zusatzstrafe auszufällen, so hat der Richter die Grundsätze von
Art. 68 Ziff. 1 StGB
anzuwenden und anzugeben, welche Strafe er jeweils für eine der beiden Straftaten ausspricht, damit das Bundesgericht gegebenenfalls weiss, welche Strafe er wegen des Vergehens gegen die direkte Bundessteuer verhängt hat, welches allein Gegenstand einer eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde sein kann (E. 2). | Sachverhalt
ab Seite 55
BGE 121 I 54 S. 55
Lors de l'établissement des comptes de la société D. pour les années 1985 à 1989, diverses ristournes, pour un montant total de 134'431 francs, qui avaient été versées à l'entreprise sous forme d'argent ou de chèques par des fournisseurs, n'ont pas été comptabilisées avec le bénéfice. Dans les déclarations d'impôts pour les périodes fiscales 1987-1988 et 1989-1990, la société a déclaré un bénéfice inférieur d'autant, en produisant les comptes inexacts à titre de pièces justificatives. Lors de l'établissement des comptes pour l'année 1989, la société a également omis de comptabiliser avec le bénéfice des ristournes de fournisseurs, pour un montant de 56'117 francs, puis a déclaré un bénéfice inférieur d'autant dans sa déclaration d'impôts pour la période fiscale 1991-1992 en produisant les comptes inexacts à titre de pièces justificatives. Les ristournes en question étaient groupées puis réparties en fin d'année entre les administrateurs et certains cadres actionnaires; pour les années 1985 à 1989, G. a ainsi touché 60'490,25 francs et J. 66.483 francs.
Le 3 août 1992, l'Administration cantonale des impôts s'est adressée à la société D., en lui donnant la possibilité de collaborer au redressement d'une situation conforme au droit, ce qu'elle a accepté. A l'issue de la procédure, le Département des finances a décidé, le 4 mai 1993, de procéder auprès de la société précitée à des rappels d'impôts cantonaux et communaux pour un montant total de 68'334,40 francs ainsi qu'à des rappels d'impôt fédéral direct pour un montant de 21'076 francs et de lui infliger deux amendes, de 31'600 francs et 13'000 francs.
L'Administration fédérale des contributions a infligé à G. et J. une amende de 7'000 francs chacun, pour soustraction de l'impôt anticipé dans le cadre de leur responsabilité comme administrateurs de la société D. De plus, G., qui avait omis, dans sa propre déclaration d'impôts, de déclarer les ristournes perçues de la part de la société, s'est vu notifier, le 30 juin 1993, des rappels d'impôts de 7'852,90 francs et 16'222,70 francs ainsi que des amendes de 6450 francs et 7'100 francs, pour soustraction, respectivement, de l'impôt fédéral direct et des impôts cantonaux et communaux. Pour les mêmes motifs, J. s'est vu notifier, le 29 juin 1993, des rappels d'impôts de 2'931,90 francs et 6'703,85 francs et des amendes de 2'800 francs et 3'400 francs, respectivement pour l'impôt fédéral direct et les impôts cantonaux et communaux. Enfin, par décision du 27 octobre 1992,
BGE 121 I 54 S. 56
l'Administration fédérale des contributions a facturé à la société D. la somme de 53'845,40 francs, représentant l'impôt anticipé impayé, plus 11'182,60 francs d'intérêts.
Le 24 août 1993, le Département des finances, par l'intermédiaire du chef de l'Administration cantonale des impôts, a déposé plainte pénale contre G. et J. et les a dénoncés pour infraction à l'art. 129bis al. 1 de la loi vaudoise du 26 novembre 1956 sur les impôts directs cantonaux (LI) et à l'art. 130bis al. 1 de l'arrêté du Conseil fédéral du 9 décembre 1940 sur la perception d'un impôt fédéral direct (AIFD; RS 642.11).
Par jugement du 27 avril 1994, le Tribunal correctionnel du district de Morges a notamment condamné G., pour usage de faux, complicité d'usage de faux, faux et complicité de faux, à la peine de 2 mois d'emprisonnement avec sursis pendant 2 ans, et J., pour usage de faux et faux, à la peine de 2 mois d'emprisonnement avec sursis pendant 2 ans. Par arrêt du 4 juillet 1994, la Cour de cassation du Tribunal cantonal vaudois a rejeté les recours interjetés par G. et J. contre ce jugement.
G. et J. ont déposé un recours de droit public au Tribunal fédéral; invoquant les
art. 4 Cst.
, 452 let. f du code de procédure pénale vaudois (CPP/ VD) et 129bis de la loi vaudoise du 26 novembre 1956 sur les impôts directs cantonaux (LI), ils se plaignent d'une violation de leur droit d'être entendu, notamment de leur droit à une décision motivée, ainsi que d'une application arbitraire du droit cantonal et concluent à l'annulation de la décision attaquée. La cour cantonale et le Ministère public ont renoncé à formuler des observations. Le Département des finances, par l'Administration cantonale des impôts, conclut au rejet du recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
2.
Invoquant l'
art. 4 Cst.
et l'
art. 452 let
. f CPP vaud., les recourants se plaignent d'une violation de leur droit à une décision motivée découlant du droit d'être entendu. Exposant s'être plaint en instance cantonale d'une violation de l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
parce que les premiers juges avaient fixé une peine globale, et non pas une peine complémentaire, et avoir expressément pris une conclusion tendant à la réforme du jugement en ce sens, ils reprochent à la cour cantonale de n'avoir pas statué sur ce grief.
a) Le droit d'être entendu est déterminé en premier lieu par le droit cantonal, dont le Tribunal fédéral examine l'application sous l'angle
BGE 121 I 54 S. 57
étroit de l'arbitraire. Si la protection accordée par ce droit est inférieure ou équivalente à celle offerte par les garanties minimales et subsidiaires découlant de l'
art. 4 Cst.
, le justiciable peut invoquer celles-ci, dont le Tribunal fédéral examine librement le respect (
ATF 118 Ia 17
consid. 1b, 117 Ia 5 consid. 1a,
ATF 116 Ia 94
consid. 3a).
b) L'
art. 452 let
. f CPP vaud. prescrit que tout arrêt de la cour de cassation indique la décision motivée sur chacune des questions examinées. Il n'apparaît pas que cette disposition assurerait une protection plus étendue que celle découlant de l'
art. 4 Cst.
; du moins, les recourants ne le démontrent pas, ni n'établissent une application arbitraire de l'
art. 452 let
. f CPP vaud.; il suffit donc d'examiner le grief sous l'angle de l'
art. 4 Cst.
c) Le droit d'être entendu déduit directement de l'
art. 4 Cst.
implique notamment l'obligation pour le juge de motiver ses décisions, afin que le justiciable puisse les comprendre et exercer ses droits de recours à bon escient (
ATF 117 Ia 1
consid. 3a,
ATF 116 II 625
consid. 4d p. 632,
ATF 114 Ia 233
consid. 2d p. 242,
ATF 112 Ia 107
consid. 2b,
ATF 111 Ia 1
consid. 2a,
ATF 107 Ia 246
consid. 3a). Il suffit cependant, selon la jurisprudence, que le juge mentionne, au moins brièvement, les motifs qui l'ont guidé et sur lesquels il a fondé sa décision, de manière à ce que l'intéressé puisse se rendre compte de la portée de celle-ci et l'attaquer en connaissance de cause (
ATF 117 Ib 64
consid. 4 p. 86,
ATF 114 Ia 233
consid. 2d p. 242,
ATF 112 Ia 107
consid. 2b et 3b, 107 Ia 246 consid. 3a,
ATF 102 Ia 1
consid. 2e). Il n'a pas l'obligation d'exposer et de discuter tous les faits, moyens de preuve et griefs invoqués par les parties, mais peut au contraire se limiter à ceux qui, sans arbitraire, apparaissent pertinents (
ATF 117 Ib 64
consid. 4 p. 86,
ATF 114 Ia 233
consid. 2 p. 242,
ATF 112 Ia 107
et les références).
En l'espèce, si la cour cantonale a certes relevé, à la page 10 let. c in fine de son arrêt, que les recourants avaient pris devant elle la conclusion qu'ils évoquent, elle n'a effectivement pas statué sur le grief correspondant. Reste à examiner si, conformément à la jurisprudence précitée, elle pouvait le considérer sans arbitraire comme non pertinent.
d) Il résulte de l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
que, lorsqu'il a notamment été fait usage de faux au sens de l'
art. 130bis AIFD
, que l'acte est également qualifié de délit selon le droit fiscal pénal cantonal et que l'auteur est condamné à une peine privative de liberté pour le délit fiscal en droit cantonal, celui commis en matière d'impôt fédéral direct est sanctionné par une peine privative de liberté complémentaire; dans la mesure où il inflige une peine complémentaire, le jugement cantonal de
BGE 121 I 54 S. 58
dernière instance peut faire l'objet d'un pourvoi en nullité conformément à l'
art. 268 PPF
. L'
art. 133bis al. 3 AIFD
prévoit par ailleurs que, sous réserve de prescriptions contraires de cet arrêté, les dispositions générales du code pénal suisse sont applicables, en précisant que l'art. 68 du code pénal suisse ne s'applique toutefois qu'aux peines privatives de liberté.
Les premiers juges, après avoir expressément relevé, à la page 9 al. 2 in fine de leur jugement, qu'en vertu de l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
, les recourants devaient être condamnés, pour le délit commis en matière d'impôt fédéral direct, à une peine privative de liberté complémentaire à celle infligée pour le délit fiscal de droit cantonal, ont fait application, pour les deux recourants, de l'
art. 68 CP
, comme cela ressort du dispositif de leur décision, et infligé à chacun d'eux une peine globale de 2 mois d'emprisonnement avec sursis pendant 2 ans. Bien qu'ils ne l'aient pas dit expressément, ils ont ainsi manifestement fixé une peine pour l'infraction la plus grave et l'ont augmentée pour tenir compte de l'autre infraction, selon l'
art. 68 ch. 1 al. 1 CP
, sans toutefois préciser dans quelle mesure la peine prononcée sanctionnait chacune des infractions retenues. Alors que, dans leur recours en instance cantonale, les recourants soutenaient que deux peines auraient dû être prononcées, l'une pour le délit fiscal de droit cantonal et l'autre pour le délit fiscal commis en matière d'impôt fédéral direct, comme ils l'exposent à nouveau dans leur recours de droit public, la cour cantonale, ainsi qu'on l'a vu, n'a pas statué sur ce grief.
A ce jour, le Tribunal fédéral ne s'est pas prononcé sur la question de savoir ce qu'il faut entendre par peine complémentaire au sens de l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
et, partant, comment la peine doit être fixée dans le cadre de cette disposition.
La doctrine estime généralement que le terme "peine complémentaire" de l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
ne doit pas être compris dans le sens technique de l'
art. 68 ch. 2 CP
(concours rétrospectif) mais en tenant compte du fait qu'en vertu de l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
seul le délit du droit fiscal fédéral peut être déféré au Tribunal fédéral par la voie du pourvoi en nullité, alors que celui commis en droit fiscal cantonal ne peut faire l'objet que d'un recours de droit public pour arbitraire (cf. ERNST KÄNZIG/URS R. BEHNISCH, Die direkte Bundessteuer (Wehrsteuer), III. Teil, 2ème éd., Bâle 1992, p. 620/621; W. ROBERT PFUND, Das Gestrüpp unseres Steuerstrafrechts, in ASA 48 (1979) p. 15/16; CLAUDE MOSSU, Les articles 130bis et 133bis AIN ou les limites du droit pénal fiscal en matière
BGE 121 I 54 S. 59
d'impôts directs, in ASA 48 (1980) p. 612/613). Elle en déduit que, tout en appliquant les principes de l'
art. 68 ch. 1 CP
, le juge doit fixer deux peines distinctes, l'une pour le délit commis en droit fiscal cantonal et l'autre pour celui commis en matière d'impôt fédéral direct, puisque ce n'est qu'autant qu'il concerne ce dernier délit que le jugement peut faire l'objet d'un pourvoi en nullité (cf. ERNST KÄNZIG/URS R. BEHNISCH, op.cit., loc.cit.; W. ROBERT PFUND, op.cit., loc.cit.; CLAUDE MOSSU, op.cit., loc.cit.; JEAN GAUTHIER, Fraude fiscale et droit pénal, in RPS 96 (1979) p. 284-286). Certains auteurs ont toutefois relevé qu'une telle distinction prêtait plus à confusion qu'elle n'apportait de clarté dans le domaine de la fixation de la peine, observant que le pourvoi en nullité au Tribunal fédéral est de toute façon ouvert si, dans un jugement, le droit fédéral a été appliqué, quand bien même il l'a été en concours avec des dispositions du droit cantonal, et qu'en outre les droits du justiciable ne sont nullement mis en péril puisque le Tribunal fédéral, s'il juge le pourvoi fondé, annule la décision attaquée et renvoie la cause à l'autorité cantonale pour nouvelle décision (cf. CLAUDE MOSSU, op.cit., p. 613; W. ROBERT PFUND, op.cit., p. 16).
Ainsi, même si c'est avec certaines réserves, la doctrine est généralement d'avis que l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
doit être interprété en ce sens que le juge, s'il doit certes prononcer une peine complémentaire pour sanctionner le délit commis en matière d'impôt fédéral direct - c'est-à-dire fixer dans un premier temps la peine pour l'infraction la plus grave puis l'augmenter afin de tenir compte de l'autre infraction -, doit cependant indiquer dans quelle mesure la peine prononcée sanctionne chacune des infractions, ceci afin que le Tribunal fédéral, le cas échéant, puisse reconnaître d'emblée quelle peine a été prononcée pour le délit commis en matière d'impôt fédéral direct, qui seule peut faire l'objet d'un pourvoi en nullité.
Avec raison. En effet, en vertu de l'
art. 133bis al. 1 let. a AIFD
, le jugement cantonal de dernière instance ne peut faire l'objet d'un pourvoi en nullité que dans la mesure où il inflige une peine complémentaire pour sanctionner le délit commis en matière d'impôt fédéral direct. Saisi d'un pourvoi en nullité sur ce point, le Tribunal fédéral ne peut revoir si c'est à juste titre que l'acte a également été qualifié de délit selon le droit fiscal cantonal et l'auteur condamné à une peine privative de liberté pour ce délit, ni revoir la fixation de la peine sanctionnant ce dernier, puisqu'il s'agit là de questions relevant du droit cantonal, dont le Tribunal fédéral ne peut revoir l'application que sous l'angle de l'arbitraire dans le cadre d'un recours de droit public. Dans le cadre du
BGE 121 I 54 S. 60
pourvoi en nullité, il peut donc uniquement examiner si l'autorité cantonale a sanctionné le délit commis en matière d'impôt fédéral direct par une peine privative de liberté complémentaire et si elle a correctement fixé cette peine, c'est-à-dire en appliquant les principes de l'
art. 68 ch. 1 CP
. Cela implique qu'il sache quelle peine a été fixée pour chacune des infractions et, partant, que l'autorité cantonale ait fourni les indications nécessaires à ce sujet. Certes, s'il admet un pourvoi, le Tribunal fédéral annule la décision attaquée et renvoie la cause à l'autorité cantonale pour qu'elle statue à nouveau, mais, dans un tel cas, il ne peut annuler que la décision concernant l'infraction de droit fédéral et l'autorité cantonale n'a pas à revenir, dans sa nouvelle décision, sur des points qui sont acquis.
Le grief soulevé par les recourants était donc pertinent, de sorte qu'en ne statuant pas sur celui-ci la cour cantonale a violé leur droit à une décision motivée découlant de leur droit d'être entendu. | public_law | nan | fr | 1,995 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eb362367-68c7-4de9-ab77-935c18f83f98 | Urteilskopf
140 IV 82
10. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen)
6B_908/2013 vom 20. März 2014 | Regeste
Art. 3 und 355 Abs. 2 StPO
; Verfahren bei Einsprache, Säumnis nach Vorladung, Rückzugsfiktion.
Die Bestimmungen der StPO sind im Gesamtzusammenhang des Gesetzes auszulegen (E. 2.5).
Die gesetzliche Fiktion, wonach bei unentschuldigtem Fernbleiben die Einsprache gegen den Strafbefehl als zurückgezogen gilt, gelangt nur zur Anwendung, wenn der Einsprecher tatsächlich Kenntnis von der Vorladung und damit auch von den Säumnisfolgen hat. Vorbehalten bleiben Fälle rechtsmissbräuchlichen Verhaltens (E. 2.7). | Sachverhalt
ab Seite 82
BGE 140 IV 82 S. 82
A.
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach sprach X. mit Strafbefehl vom 20. Dezember 2012 der groben Verkehrsregelverletzung schuldig und verurteilte sie zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 140.- und einer Busse von Fr. 600.-.
X. erhob Einsprache. In der Folge lud die Staatsanwaltschaft sie am 28. Januar 2013 zu einer Einvernahme auf den 19. März 2013 vor. Die eingeschriebene Postsendung mit der Vorladung wurde am 29. Januar 2013 zur Abholung gemeldet und am 6. Februar 2013 mit dem Vermerk "nicht abgeholt" retourniert. Nachdem X. nicht zur Einvernahme erschienen war, stellte die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 20. März 2013 fest, dass die Einsprache als
BGE 140 IV 82 S. 83
zurückgezogen gilt und der Strafbefehl vom 20. Dezember 2012 in Rechtskraft erwachsen ist.
B.
Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 5. August 2013 eine von X. gegen die Verfügung vom 20. März 2013 gerichtete Beschwerde ab.
C.
X. erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das obergerichtliche Urteil und die Verfügung der Staatsanwaltschaft aufzuheben und diese anzuweisen, das Strafverfahren weiterzuführen.
Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit darauf einzutreten ist.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Beschwerdeführerin rügt, das von der Vorinstanz angenommene Desinteresse am Fortgang des Einspracheverfahrens beruhe auf einer doppelten Fiktion. Zuerst werde die Kenntnis der Vorladung fingiert, um anschliessend aus dem durch Unkenntnis der Vorladung bedingten Fernbleiben auf den Rückzug der Einsprache zu schliessen. Die Annahme eines Einspracherückzugs lasse sich nur rechtfertigen, wenn die beschuldigte Person bewusst der Einvernahme fernblieb, und dies setze voraus, dass sie tatsächlich Kenntnis von der Vorladung hatte.
2.2
Wie die Vorinstanz feststellt, wurde die Vorladung ordnungsgemäss mit eingeschriebener Postsendung zugestellt, am 29. Januar 2013 zur Abholung gemeldet und am 6. Februar 2013 mit dem Vermerk "nicht abgeholt" an die Staatsanwaltschaft retourniert. Die Beschwerdeführerin weilte vom 28. Januar bis 8. Februar 2013 in Norddeutschland in den Ferien.
Die Vorinstanz begründet, die Beschwerdeführerin habe nach der Einsprache gegen den Strafbefehl mit behördlichen Zustellungen rechnen müssen. Gemäss
Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO
gelte die Vorladung am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch, somit am 5. Februar 2013, als zugestellt. Indem die Beschwerdeführerin trotz Einsprache nichts vorgekehrt habe, um behördliche Zustellungen auch während ihrer Ferienabwesenheit in Empfang nehmen zu können, habe sie ihr Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens bekundet. Sie sei der Einvernahme unentschuldigt ferngeblieben, sodass ihre Einsprache nach
Art. 355 Abs. 2 StPO
als zurückgezogen gelte.
BGE 140 IV 82 S. 84
2.3
Das Bundesgericht legte im Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5 mit einlässlicher Begründung dar, dass der Strafbefehl mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie (
Art. 29a BV
) bzw. dem konventionsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu einem Gericht mit voller Überprüfungskompetenz (
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
) nur vereinbar ist, weil es letztlich vom Willen des Betroffenen abhängt, ob er diesen akzeptieren oder mit Einsprache vom Recht auf gerichtliche Überprüfung Gebrauch machen will. Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung des Einspracherechts dürfe ein konkludenter Rückzug der Einsprache gegen den Strafbefehl nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen der Schluss aufdrängt, er verzichte mit seinem Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz. Der vom Gesetz an das unentschuldigte Fernbleiben geknüpfte (fingierte) Rückzug der Einsprache setze voraus, dass sich der Beschuldigte der Konsequenzen seiner Unterlassung bewusst ist und er in Kenntnis der massgebenden Rechtslage auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet.
2.4
Gemäss
Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO
ist die Zustellung bei einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch erfolgt, "sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste". Es handelt sich um eine gesetzliche Zustellungsfiktion. Dabei erfolgt keine wirkliche Übergabe, sondern es wird aus einem bestimmten Vorgang abgeleitet, die Sendung sei zur Kenntnis des Adressaten gelangt (HAUSER/SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, 2002, N. 2 zu
§ 177 GVG
).
Art. 85 StPO
betrifft nach Gesetzessystematik und Wortlaut die "Eröffnung der Entscheide und Zustellung". Der Begriff der "Zustellung" bezieht sich auf Entscheide. Andere Mitteilungen können mit persönlicher Post zugestellt werden (FRANZ RICKLIN, StPO Kommentar, 2010, N. 2 zu
Art. 85 StPO
).
Die Strafprozessordnung regelt die "Vorladung" ausführlich in den Art. 201 bis 206 StPO. Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten (
Art. 205 Abs. 1 StPO
). Wer einer Vorladung unentschuldigt nicht oder zu spät Folge leistet, kann mit Ordnungsbusse bestraft und überdies polizeilich vorgeführt werden, wobei das Abwesenheitsverfahren vorbehalten bleibt (
Art. 205 Abs. 4 und 5 StPO
).
Bleibt dagegen gemäss
Art. 355 Abs. 2 StPO
eine Einsprache erhebende Person trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, "so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen". Anders als im
BGE 140 IV 82 S. 85
Rahmen von
Art. 205 StPO
kann eine Säumnis nach
Art. 355 Abs. 2 StPO
zum Totalverlust des Rechtsschutzes führen, und dies, obwohl der Betroffene ausdrücklich Einsprache erhoben und damit genau diesen Rechtsschutz bei der zuständigen Behörde beantragt hat.
2.5
Die einzelnen Bestimmungen der Strafprozessordnung sind im Gesamtzusammenhang des Gesetzes auszulegen. Die verfahrensmässige Durchsetzung des Strafrechts ist das einschneidendste Zwangsmittel der staatlichen Gewalt (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085, 1128 Ziff. 2.1.2). Das Gesetz stellt deshalb mit den "Grundsätzen des Strafverfahrensrechts" in
Art. 3 StPO
die Achtung der Menschenwürde und das Fairnessgebot an den Anfang der Kodifikation. Als Konkretisierungen dieser Grundsätze nennt
Art. 3 Abs. 2 StPO
namentlich den Grundsatz von Treu und Glauben (lit. a), das Verbot des Rechtsmissbrauchs (lit. b), das Gebot, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen das rechtliche Gehör zu gewähren (lit. c), sowie das Verbot, bei der Beweiserhebung Methoden anzuwenden, welche die Menschenwürde verletzen (lit. d). Die ratio legis verbietet damit eine formalistische Betrachtungsweise einzelner Bestimmungen.
Diese Grundsätze sind ebenso bei der Anwendung von
Art. 355 Abs. 2 StPO
zu beachten. Die Bestimmung enthält ausdrücklich zwei Bedingungen, die für den Eintritt der Rechtsfolge massgebend sind, nämlich dass der Betroffene erstens "trotz Vorladung" und zweitens "unentschuldigt" fernbleibt. Das kann dieser nach allgemein anerkannten Grundsätzen der Verfahrensfairness und Justizförmigkeit nur, wenn er von der Vorladung und den Rechtsfolgen einer Säumnis überhaupt Kenntnis erhält. Dies setzt die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs voraus. Im Strafbefehl ist lediglich der Hinweis auf die Folgen einer unterbliebenen Einsprache vorgeschrieben (
Art. 353 Abs. 1 lit. i StPO
). Im Übrigen erscheint fraglich, ob mit einer formularmässigen, für Laien unverständlichen Belehrung über alle möglichen Rechte und Pflichten der Parteien im Strafverfahren der rechtsstaatlichen Aufklärungs- und Fürsorgepflicht nachgekommen werden kann (Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5.2). Die gesetzliche Rückzugsfiktion kann in verfassungskonformer Auslegung nur zum Tragen kommen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (
Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO
) auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5.4).
BGE 140 IV 82 S. 86
2.6
Der Strafbefehl ist ein Vorschlag zur aussergerichtlichen Erledigung der Strafsache. Einziger Rechtsbehelf ist die Einsprache. Sie ist kein Rechtsmittel, sondern löst das gerichtliche Verfahren aus, in dem über die Berechtigung der im Strafbefehl enthaltenen Deliktsvorwürfe entschieden wird (Botschaft, a.a.O., S. 1291 zu Art. 358 E-StPO bzw.
Art. 355 StPO
). Wird Einsprache erhoben, liegt die Sache zunächst wieder bei der Staatsanwaltschaft. Sie trägt damit die Verantwortung für die Einhaltung der "Grundsätze des Strafverfahrensrechts" bei der Fortsetzung des Verfahrens. Die Einsprache erhebende Person darf und muss auf ein rechtsstaatliches Verfahren vertrauen können. Auf den gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 29a in Verbindung mit
Art. 30 BV
) kann nur der informierte Beschuldigte wirksam verzichten (vgl. MARC THOMMEN, Kurzer Prozess - fairer Prozess?, Strafbefehls- und abgekürztes Verfahren zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, 2013, S. 303 ff. zur "Fairness als Teilhabe").
2.7
Nach den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (
Art. 105 Abs. 1 BGG
) hatte die Beschwerdeführerin keine Kenntnis von der Vorladung und war damit auch nicht über die Folgen eines unentschuldigten Fernbleibens belehrt. Aus ihrer Säumnis darf mangels effektiver Kenntnisnahme der Vorladung nicht geschlossen werden, sie habe ihre Einsprache zurückgezogen und damit auf die gerichtliche Überprüfung verzichtet. Mit dieser Rechtsfolge muss nach dem allgemeinen Vorladungsrecht (
Art. 201 ff. StPO
) nicht gerechnet werden.
Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Beschwerdeführerin wird von der Vorinstanz nicht festgestellt. Die Staatsanwaltschaft wusste aufgrund der Retournierung der Vorladung, dass die Beschwerdeführerin nicht informiert war. In dieser Situation wäre sie gehalten gewesen, den Vorladungsversuch zu wiederholen und damit das rechtliche Gehör zu gewährleisten (
Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO
). | null | nan | de | 2,014 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eb36940b-aea4-4de0-a501-68edd8537e2a | Urteilskopf
140 V 385
51. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle Basel-Landschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_254/2014 vom 26. August 2014 | Regeste
Art. 6 Abs. 2 und
Art. 39 Abs. 3 sowie
Art. 42
bis
Abs. 2 IVG
, je in Verbindung mit
Art. 9 Abs. 3 IVG
; Art. 1a (bis 31. Dezember 2002: Art. 1) Abs. 2 lit. a AHVG; Art. 1b lit. c (bis 31. Dezember 1998: Art. 1 lit. e bzw. lit. c) AHVV sowie
Art. 1b IVG
;
Art. 2 Abs. 1 und
Art. 3 Abs. 1 lit. h GSG
; Abkommen vom 10. Februar 1987 zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zur Regelung der rechtlichen Stellung der Bank in der Schweiz und Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich über den Status der internationalen Beamten schweizerischer Nationalität hinsichtlich der schweizerischen Sozialversicherungen (AHV/IV/EO und ALV);
Art. 8 und 14 EMRK
; Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 9 UNO-Pakt I
.
Ist ein ausländischer Beamter der BIZ nicht der obligatorischen AHV/IV unterstellt und der Ehegatte mit Wohnsitz in der Schweiz nicht erwerbstätig, sind auch die von ihnen unterhaltenen, ebenfalls hier lebenden Kinder nicht versichert und haben daher grundsätzlich keinen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (Invalidenrente, Hilflosenentschädigung; E. 4).
Frage offengelassen, ob und inwieweit sowie nach Massgabe welcher Modalitäten diese Kinder auf freiwilliger Basis der AHV/IV beitreten können (E. 4.3).
Art. 1b lit. c AHVV
ist nicht völkerrechtswidrig (E. 5). | Sachverhalt
ab Seite 387
BGE 140 V 385 S. 387
A.
A. reiste 1998 mit seinen Eltern in die Schweiz ein. Sein Vater B. arbeitet seit der Einreise bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) mit Sitz in Basel. A. leidet an ausgeprägtem frühkindlichem Autismus. Nachdem drei Leistungsgesuche (u.a. für Beiträge an die Sonderschulung und für medizinische Massnahmen) wegen Fehlens der versicherungsmässigen Voraussetzungen abgelehnt worden waren, meldeten ihn seine Eltern im Juni 2012 ein weiteres Mal bei der Invalidenversicherung an. Nach Abklärungen und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle Basel-Landschaft (nachfolgend: IV-Stelle) mit zwei separaten Verfügungen vom 16. August 2013 den Anspruch auf eine ausserordentliche Invalidenrente und auf Hilflosenentschädigung, wiederum wegen Fehlens der versicherungsmässigen Voraussetzungen.
B.
Die Beschwerde von A. wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 30. Januar 2014 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A., der Entscheid vom 30. Januar 2014 und die Verfügungen vom 16. August 2013 seien aufzuheben und die IV-Stelle sei zu verpflichten, ihm eine ausserordentliche Rente und eine Hilflosenentschädigung auszurichten.
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ersucht um Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
BGE 140 V 385 S. 388
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach Art. 1a (bis 31. Dezember 2002: Art. 1) Abs. 1 AHVG sind (obligatorisch) nach diesem Gesetz versichert u.a. die natürlichen Personen mit Wohnsitz in der Schweiz (lit. a) und die natürlichen Personen, die in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben (lit. b). Nicht versichert sind nach Abs. 2 u.a. ausländische Staatsangehörige, die Privilegien und Immunitäten gemäss den Regeln des Völkerrechts geniessen (lit. a). Als Ausländer, die Privilegien und Immunitäten im Sinne von Artikel 1a Absatz 2 Buchstabe a AHVG geniessen, gelten u.a. die begünstigten Personen nach Artikel 2 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 2007 über die von der Schweiz als Gaststaat gewährten Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen sowie finanziellen Beiträge (Gaststaatgesetz, GSG; SR 192.12) sowie deren nicht erwerbstätige Familienangehörige, wenn diese begünstigten Personen in offizieller Eigenschaft für eine zwischenstaatliche Organisation, eine internationale Institution, ein Sekretariat oder andere durch einen völkerrechtlichen Vertrag eingesetzte Organe, eine unabhängige Kommission, einen internationalen Gerichtshof, ein Schiedsgericht oder ein anderes internationales Organ im Sinne des Gaststaatgesetzes tätig sind (
Art. 1b lit. c AHVV
[SR 831.101]).
Im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 lit. a GSG
begünstigte Personen, denen der Bund Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen gewähren kann, sind namentlich Personen, die ständig oder vorübergehend, in offizieller Eigenschaft für institutionelle Begünstigte nach Absatz 1, wie zwischenstaatliche Organisationen oder internationale Institutionen (lit. a und b) tätig sind. Inhalt und Geltungsbereich der Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen werden in
Art. 3 und 4 GSG
geregelt und in der vom Bundesrat gestützt auf
Art. 33 GSG
erlassenen Gaststaatverordnung vom 7. Dezember 2007 (V-GSG; SR 192.121) näher ausgeführt. Nach
Art. 3 Abs. 1 lit. h GSG
umfassen die Vorrechte und Immunitäten u.a. die Befreiung vom schweizerischen System der sozialen Sicherheit, insbesondere somit die Ausnahme ausländischer Staatsangehöriger, die Privilegien und Immunitäten gemäss den Regeln des Völkerrechts geniessen, von der Unterstellung unter die obligatorische AHV/IV (
Art. 1a Abs. 2 lit. a AHVG
und
Art. 1b IVG
).
2.2
Eine institutionelle Begünstigte im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 GSG
ist die BIZ mit Sitz in Basel, bei welcher der Vater des
BGE 140 V 385 S. 389
Beschwerdeführers seit der Einreise in die Schweiz arbeitet. Die Rechtsstellung der Bank sowie deren Vorrechte und Immunitäten und diejenigen ihrer Beamten werden im Abkommen vom 10. Februar 1987 zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zur Regelung der rechtlichen Stellung der Bank in der Schweiz (SR 0.192.122.971.3; nachfolgend: Sitzabkommen [vgl. Botschaft vom 13. September 2006 zum Bundesgesetz über die von der Schweiz als Gaststaat gewährten Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen sowie finanziellen Beiträge [Gaststaatgesetz], BBl 2006 8017 ff., 8018 und 8023]) geregelt. Diese Vereinbarung wird ergänzt durch den Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich über den Status der internationalen Beamten schweizerischer Nationalität hinsichtlich der schweizerischen Sozialversicherungen (AHV/IV/EO und ALV [SR 0.192.122.971.4]), genehmigt von der Bundesversammlung am 4. März 1996.
Art. 11 des Sitzabkommens vom 10. Februar 1987 bestimmt betreffend die Sozialfürsorge, dass die Bank in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber nicht der schweizerischen Gesetzgebung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, die Invalidenversicherung, die Arbeitslosenversicherung, den Erwerbsersatz sowie über die obligatorische berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge untersteht (Ziffer 1). Beamte der Bank, welche die schweizerische Staatsangehörigkeit nicht besitzen, unterstehen nicht der im voranstehenden Absatz erwähnten Gesetzgebung (Ziffer 2). Gestützt auf den Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 sind mit Wirkung ab 1. Januar 1994 auch die Beamten der Bank, welche die schweizerische Nationalität besitzen, sowie ihre in der Schweiz wohnhaften nicht erwerbstätigen Ehegatten schweizerischer oder ausländischer Nationalität von der obligatorischen AHV/IV/EO und der ALV ausgenommen, wobei sie die Möglichkeit haben, auf freiwilliger Basis diesen Versicherungen beizutreten. Diese Regelung ist ebenfalls anwendbar auf Ehegatten ohne entsprechende Vorrechte und Immunitäten von ausländischen internationalen Beamten der Bank, welche aufgrund von Art. 1a (früher: Art. 1) Abs. 2 lit. a AHVG von der Sozialversicherungspflicht ausgenommen sind (Wiedergabe des Textes im französischen Originaltext [
BGE 119 V 98
E. 6b S. 108] in: GREBER/DUC/SCARTAZZINI, Commentaire des articles 1 à 16 de la loi fédérale sur l'assurance-vieillesse et survivants, 1996, S. 48).
BGE 140 V 385 S. 390
3.
3.1
Die Vorinstanz hat erwogen, Art. 11 Ziffer 2 des Sitzabkommens erwähne zwar nur die Beamten, was indessen nicht heisse, dass sich die Ausnahme von der Unterstellung unter die obligatorische AHV/IV auf diese beschränke. Vielmehr seien von dieser Regelung entsprechend den Grundsätzen der schweizerischen Gaststaatpolitik, wie sie etwa in
Art. 20 Abs. 1 lit. a und d V-GSG
(in Verbindung mit
Art. 4 V-GSG
) zum Ausdruck komme, auch die in gemeinsamem Haushalt lebenden Familienangehörigen erfasst. Weiter lasse sich aus dem Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 zum Sitzabkommen mit der BIZ keine Unterstellung unter die IV der in der Schweiz wohnenden ausländischen Kinder von ausländischen Beamten der Bank herleiten. Schliesslich ergebe sich aus
Art. 14 EMRK
in Verbindung mit
Art. 8 EMRK
nichts zugunsten des Beschwerdeführers.
3.2
Der Beschwerdeführer bringt vor, im Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 werde mit Bezug auf diejenigen Personen, deren sozialversicherungsrechtlicher Status (neu) geregelt werde, gesagt, dass sie nicht mehr obligatorisch versichert seien. Aus dieser Formulierung sei zu folgern, dass sie vorher nicht unter die Ausnahmeklausel nach aArt. 1 Abs. 2 lit. a AHVG gefallen, sondern kraft Wohnsitzes in der Schweiz der obligatorischen AHV/IV/EO/ALV unterstellt gewesen seien (aArt. 1 Abs. 1 lit. a AHVG; vgl. Rz. 2031 des Kreisschreibens des BSV über die Versicherungspflicht in der AHV/IV [KSV], in der ab 1. Januar 1990 gültigen Fassung, mit Hinweis auf
BGE 105 V 241
). In diesem (Rechts-)Sinne sei Art. 11 Ziffer 2 des Abkommens vor Inkrafttreten des Briefwechsels am 1. Januar 1994 zu verstehen. Dasselbe müsse auch für die in der Schweiz wohnenden Kinder ausländischer Beamter der BIZ gelten, welche in dieser Bestimmung ebenfalls nicht erwähnt würden. Aus dem Umstand, dass sich der Briefwechsel auf Beamte und Ehegatten von Beamten der Bank beziehe, nicht aber auf die Kinder von Beamten, folge, dass deren sozialversicherungsrechtlicher Status im Rahmen des Briefwechsels vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 nicht geändert werden sollte. Somit seien die in der Schweiz wohnenden Kinder von Beamten der BIZ unabhängig von deren Staatsangehörigkeit nach
Art. 1a Abs. 1 lit. a AHVG
und
Art. 1b IVG
der AHV/IV unterstellt. Die gegenteilige Auffassung verletze über
Art. 8 EMRK
das Diskriminierungsverbot nach
Art. 14 EMRK
.
BGE 140 V 385 S. 391
4.
4.1
Nach aArt. 1 Abs. 2 lit. a AHVG (in der bis 31. Dezember 1996 geltenden Fassung) waren Ausländer nicht versichert, die im Genusse von diplomatischen Vorrechten und Befreiungen oder besonderer steuerlicher Vergünstigungen standen.
Art. 1 AHVV
(in Kraft getreten am 1. Januar 1979, in der bis 31. Dezember 1996 geltenden Fassung) lautete wie folgt:
Als Ausländer, die im Genusse von diplomatischen Vorrechten und Befreiungen oder besonderer steuerlicher Vergünstigungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a AHVG stehen, gelten:
a. (...);
b. die Mitglieder des offiziellen Personals der bei der Schweizerischen Eidgenossenschaft akkreditierten diplomatischen Vertretungen und ihre Familien;
c. die Mitglieder der ausländischen Delegationen bei internationalen Organisationen, die ihren Sitz in der Schweiz haben, und ihre Familien;
d. (...);
e. das ausländische Personal der Vereinten Nationen, des Internationalen Arbeitsamtes, der internationalen Büros und der anderen vom Eidgenössischen Departement des Innern (...) im Einvernehmen mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten zu bezeichnenden internationalen Organisationen;
f. (...).
Die BIZ war eine internationale Organisation im Sinne von aArt. 1 lit. e AHVV. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung (auch in der französischen und italienischen Textfassung; vgl. RO 1978 und RU 1978, je S. 421) fiel lediglich das - nicht unbedingt gesamte (
BGE 98 V 182
) - ausländische Personal unter die Ausnahmeklausel des aArt. 1 Abs. 2 lit. a AHVG, dagegen nicht die Familienangehörigen der betreffenden Personen. Für diese Interpretation spricht, dass in den in lit. b und c von aArt. 1 AHVV geregelten Fällen die Ausnahme von der Unterstellung unter die obligatorische AHV ausdrücklich auf die Familien der hier erwähnten Personen ausgedehnt wurde (vgl. auch
BGE 115 V 11
E. 3a S. 13). Dagegen kann nur, aber immerhin Folgendes angeführt werden: aArt. 1 AHVV wurde auf den 1. Januar 1997 geändert, wobei lit. e anders gefasst und zu lit. c wurde. Neu galten als Ausländer, die Privilegien und Immunitäten im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a AHVG geniessen, die internationalen Beamten von internationalen
BGE 140 V 385 S. 392
Organisationen, mit welchen der Bundesrat ein Sitzabkommen abgeschlossen hat, sowie deren Familienangehörige (vgl. AHI 1996 S. 3 und 17 f.). Im Unterschied zur alten Fassung wurden somit ausdrücklich auch die Familienangehörigen von der obligatorischen Versicherung ausgenommen. In den Fassungen ab 1. Januar 1999 (nunmehr
Art. 1b lit. c AHVV
) ist die Rede von nicht erwerbstätigen Familienangehörigen. In seinen Erläuterungen führte das BSV aus, nach der Praxis der Schweizer Behörden gestützt auf Art. 42 des Wiener Übereinkommens vom 18. April 1961 über diplomatische Beziehungen, in Kraft getreten für die Schweiz am 24. April 1964 (SR 0.191.01), genössen Familienangehörige unter der Bedingung, dass sie keine Erwerbstätigkeit ausübten, dieselben Privilegien und Immunitäten gemäss den Regeln des Völkerrechts wie die betroffene Person selber. In diesem Sinne sei der Verordnungstext zu präzisieren (AHI 1998 S. 264). Diese Rechtstatsachen stellen ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass bereits unter der Geltung von aArt. 1 lit. e AHVV auch die (nicht erwerbstätigen) Familienangehörigen der in dieser Bestimmung genannten Personen von der Unterstellung unter die obligatorische AHV nach aArt. 1 Abs. 2 lit. a AHVG ausgenommen sein sollten.
4.2
Das Sitzabkommen mit der BIZ vom 10. Februar 1987 und der Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 gehen aArt. 1 lit. e AHVV vor (
BGE 131 V 390
E. 5.2 S. 398;
BGE 123 V 1
E. 4 S. 4;
BGE 122 II 140
; vgl. auch Botschaft vom 28. April 1999 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, BBl 1999 4983 ff., 5008 Ziffer 221 zu
Art. 1 AHVG
; vgl. zu ihrem Verhältnis untereinander
BGE 133 V 233
E. 4.1 S. 237 mit Hinweisen). Sie sind nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen (Art. 31 Ziffer 1 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge, in Kraft getreten für die Schweiz am 6. Juni 1990 [VRK; SR 0.111];
BGE 122 II 234
E. 4c S. 238).
4.2.1
Nach dem Wortlaut von Art. 11 Ziffer 2 des Sitzabkommens mit der BIZ sind lediglich die Beamten der Bank, welche die schweizerische Staatsangehörigkeit nicht besitzen, von der Unterstellung u.a. unter die AHV und IV ausgenommen, nicht hingegen deren (nicht erwerbstätige) Ehegatten und die im selben Haushalt lebenden Kinder. Diese Bestimmung steht zwar im I. Teil des
BGE 140 V 385 S. 393
Abkommens, der die Rechtsstellung sowie die Vorrechte und Immunitäten der Bank regelt, wie das BSV festhält, was umgekehrt indessen nicht hinderte, allenfalls auch die Familienangehörigen zu erwähnen, wenn diese ebenfalls unter die Ausnahmeklausel von aArt. 1 Abs. 2 lit. a AHVG fallen sollten.
4.2.2
Die Vorrechte und Immunitäten für Personen, die in amtlicher Eigenschaft zur Bank berufen werden, werden im II. Teil des Abkommens umschrieben. Dabei wird zwischen verschiedenen Personenkategorien unterschieden. Nach Art. 13 Ziffer 1 geniessen der Präsident, der Generaldirektor der Bank sowie die von Letzterem im Einvernehmen mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten bezeichneten hohen Beamten die Vorrechte und Immunitäten, Befreiungen und Erleichterungen, die den diplomatischen Vertretern nach Völkerrecht und internationaler Übung zuerkannt werden. Damit wird u.a. auf Art. 37 Ziffer 1 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen Bezug genommen. Danach geniessen die zum Haushalt eines diplomatischen Vertreters gehörenden Familienmitglieder, wenn sie nicht Angehörige des Empfangsstaats sind, die in den Art. 29 bis 36 bezeichneten Vorrechte und Immunitäten; sie sind namentlich von den im Empfangsstaat geltenden Vorschriften über soziale Sicherheit befreit, wenn sie nicht Angehörige dieses Staates sind (Art. 33 Ziffer 1;
BGE 136 V 161
E. 5.2 S. 166). Allerdings gilt diese vom BSV als internationale Übung bezeichnete Regelung (vgl. auch Botschaft vom 13. September 2006 zum Bundesgesetz über die von der Schweiz als Gaststaat gewährten Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen sowie finanziellen Beiträge [Gaststaatgesetz], BBl 2006 8017 ff., 8044 Ziffer 2.3.1.13 zu Art. 2 Abs. 2 Bst. c GSG) lediglich für die in Art. 13 Ziffer 1 des Sitzabkommens vom 10. Februar 1987 genannten Personen, insbesondere die hohen Beamten, wozu der Vater des Beschwerdeführers nicht gehört.
Die den übrigen (nicht hohen) Beamten der Bank zustehenden Vorrechte und Immunitäten werden in Art. 14 f. geregelt. Dabei werden die Familienangehörigen ausser in Art. 15 lit. b und d nicht erwähnt. Nach diesen Bestimmungen sind die Beamten, welche die schweizerische Staatsangehörigkeit nicht besitzen, wie auch ihre Ehegatten und die von ihnen unterhaltenen Familienmitglieder, den die Einwanderung einschränkenden Bestimmungen und den Formalitäten der Registrierung von Ausländern nicht unterstellt, und sie geniessen, wie auch die von ihnen unterhaltenen Mitglieder ihrer
BGE 140 V 385 S. 394
Familie und ihre Hausangestellten, dieselben Erleichterungen in Bezug auf die Rückkehr in ihre Heimat wie die Beamten der andern internationalen Organisationen. Dieser (Vor-)Rechte bedürfen Personen nicht, welche die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzen. Im Kontext von Bedeutung ist, dass den Ehegatten von ausländischen Beamten der Bank und ihren (unterhaltenen) Kindern die gleichen Vorrechte gewährt werden. Es kann offenbleiben, ob Familienangehörige im Genuss noch weiterer Privilegien stehen, auch wo das Sitzabkommen dies nicht ausdrücklich sagt. Die Frage der Unterstellung unter die obligatorische Versicherung oder ebenso wie der ausländische Beamte der Bank davon ausgenommen zu sein, ist aufgrund dieses Abkommens für den nicht erwerbstätigen Ehegatten mit Wohnsitz in der Schweiz und die von ihnen unterhaltenen, ebenfalls hier lebenden Kinder grundsätzlich im gleichen Sinne zu beantworten.
4.2.3
Vom Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 erfasst werden (nicht notwendigerweise alle) Personen, die nicht unter Art. 11 Ziffer 2 des Sitzabkommens vom 10. Februar 1987 oder aArt. 1 bzw.
Art. 1a Abs. 2 lit. a AHVG
fallen. Ausdrücklich werden neben den schweizerischen internationalen Beamten der BIZ und deren nicht erwerbstätigen Ehegatten mit Wohnsitz in der Schweiz, gleich welcher Nationalität, die nicht erwerbstätigen Ehegatten mit Wohnsitz in der Schweiz ohne entsprechende Privilegien und Immunitäten ("ne bénéficiant pas de privilèges et d'immunités" im französischen Originaltext; vorne E. 2.2) der ausländischen Beamten der Bank von der Unterstellung unter die obligatorische AHV/IV/EO und ALV ausgenommen. Das spricht - im Umkehrschluss - dafür, dass die betreffenden Personen nicht bereits aufgrund von Art. 11 Ziffer 2 des Sitzabkommens vom 10. Februar 1987 unter aArt. 1 Abs. 2 lit. a AHVG fielen, andernfalls es dieser Ergänzung des Abkommens nicht bedurft hätte, wie der Beschwerdeführer vorbringt. Allerdings lässt sich die Ausnahme der nicht erwerbstätigen Ehegatten schweizerischer Nationalität mit Wohnsitz in der Schweiz - unabhängig von den gewährten Vorrechten, d.h. mit oder ohne entsprechende Privilegien und Immunitäten - der schweizerischen internationalen Beamten der Bank von der Unterstellung unter die AHV/IV/EO und ALV durchaus aus dem Umstand erklären, dass dasselbe bereits für alle nicht erwerbstätigen Ehegatten von ausländischen internationalen Beamten der Bank Geltung hatte ("argumentum a maiore ad minus"). Insofern können aus der betreffenden
BGE 140 V 385 S. 395
Regelung im Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 nicht unmittelbar zwingende Rückschlüsse auf den sozialversicherungsrechtlichen Status der betreffenden Personen für die Zeit vorher gezogen werden.
Die Kinder mit Wohnsitz in der Schweiz der ausländischen oder schweizerischen internationalen Beamten der BIZ werden im Briefwechsel zwar nicht erwähnt. Daraus kann indessen nicht gefolgert werden, die Beteiligten hätten sie der obligatorischen AHV/IV unterstellen bzw. diesen durch das Sitzabkommen vom 10. Februar 1987 nicht geänderten Status beibehalten wollen. Wie in E. 4.2.2 hievor dargelegt, teilt das Abkommen den Kindern der internationalen Beamten der Bank dieselben Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen zu wie deren (nichterwerbstätigen) Ehegatten. Namentlich aus internationaler und völkerrechtlicher Sicht sind keine vernünftigen sachlichen Gründe ersichtlich, mit Bezug auf die Frage der Unterstellung unter die schweizerischen Sozialversicherungen eine unterschiedliche Regelung zu treffen. Gemäss BSV sollen - allgemein international anerkannt - die Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen den betreffenden Personen gleich welcher Nationalität ermöglichen, ihre internationale öffentliche Aufgabe möglichst ungestört und unabhängig gegenüber dem Empfangsstaat und auch dem Entsendestaat wahrzunehmen (vgl. BBl 2006 8025; GREBER/DUC/SCARTAZZINI, a.a.O., S. 45 unten Rz. 68), weshalb sich ihr Status auch auf die Familienangehörigen erstrecke (in diesem Sinne auch HANSPETER KÄSER, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 2. Aufl. 1996, S. 31 Rz. 1.59, wonach unabhängig vom Ausmass der gewährten Privilegien und Immunitäten grundsätzlich alle Personen ausländischer Staatsangehörigkeit von der Versicherung ausgeschlossen sind). Im Übrigen zeigen auch die Neufassungen von aArt. 1 lit. e AHVV, dass seit jeher die Meinung bestand, auch die nicht erwerbstätigen Familienangehörigen von Personen ausländischer Staatsangehörigkeit, welche für eine internationale Organisation mit Sitz in der Schweiz tätig sind und deren rechtliche Stellung in einem Sitzabkommen geregelt ist, sollten von der Unterstellung unter die obligatorische Versicherung ausgenommen sein (vorne E. 4.1).
4.3
Zusammenfassend sind das Sitzabkommen mit der BIZ vom 10. Februar 1987 und der Briefwechsel vom 26. Oktober/12. Dezember 1994 so zu verstehen, dass nicht nur die ausländischen und die schweizerischen internationalen Beamten der Bank von der
BGE 140 V 385 S. 396
Unterstellung unter die obligatorische AHV/IV/EO/ALV ausgenommen sein sollen, sondern auch ihre nicht erwerbstätigen Familienangehörigen mit Wohnsitz in der Schweiz, insbesondere die Ehegatten und die von ihnen unterhaltenen Kinder. Von Gesetzeswidrigkeit der (aktuellen) Verordnungsbestimmung kann demnach nicht die Rede sein. Ob und inwieweit sowie nach Massgabe welcher Modalitäten auch die unterhaltenen Kinder auf freiwilliger Basis der AHV/IV beitreten können (vgl. E. 2.2 vorne), braucht hier nicht weiter untersucht zu werden.
5.
Schliesslich ist der geltende
Art. 1b lit. c AHVV
nicht völkerrechtswidrig.
5.1
Der Beschwerdeführer bringt wie schon in der vorinstanzlichen Replik vor, er leide an einem ausgeprägten frühkindlichen Autismus. Er sei auf die Unterbringung in einer geeigneten Institution angewiesen, was sich ohne Leistungen der Invalidenversicherung kaum bewerkstelligen lasse. Andernfalls würden zum einen mangels Betreuung durch Fachpersonen, die ihn beschäftigten und in seiner persönlichen Entwicklung unterstützen könnten, Rückschritte im Verhalten und der Verlust erworbener Fähigkeiten drohen. Zum anderen wären seine Eltern, wenn sie selber vollumfänglich für seine Betreuung sorgen müssten, einer riesigen Belastung und einem enormen Stress ausgesetzt. Denn über die Hilfsbedürftigkeit in den Bereichen An-/Auskleiden, Essen, Körperpflege, Verrichten der Notdurft, Fortbewegung und Aufstehen/Absitzen/Abliegen und die Notwendigkeit der dauernden medizinisch-pflegerischen Hilfe hinaus bedürfe er der persönlichen Überwachung; er könne nicht längere Zeit unbeaufsichtigt und aus Sicherheitsgründen überhaupt nicht allein im Haus gelassen werden. Der erstgenannte Aspekt der Folgen einer fehlenden Unterbringung weise einen Bezug zum Recht auf Achtung des Privatlebens auf (Entwicklung und Erfüllung der Persönlichkeit und Aufnahme von Beziehungen zu anderen Menschen), der zweite zum Recht auf Achtung des Familienlebens (massive Beeinflussung von Qualität und Organisation des Familienlebens durch Notwendigkeit ständiger Betreuung und Überwachung durch einen Elternteil). Damit sei entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichts gemäss
BGE 139 I 155
, gegen welches Urteil im Übrigen eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hängig sei, der für die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots von
Art. 14 EMRK
erforderliche Bezug zu einer spezifischen Konventionsgarantie, hier
Art. 8 EMRK
, gegeben.
BGE 140 V 385 S. 397
Somit sei er als ausländisches Kind eines ausländischen internationalen Beamten der BIZ im Rahmen der postulierten konventionskonformen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen gleich zu behandeln wie ein schweizerisches Kind eines schweizerischen internationalen Beamten der Bank und daher als in der AHV/IV versichert zu betrachten.
Gemäss Vorinstanz kann der Beschwerdeführer mit der Berufung auf
Art. 14 EMRK
in Verbindung mit
Art. 8 EMRK
nichts zu seinen Gunsten ableiten.
Art. 8 EMRK
begründe weder einen Anspruch auf einen bestimmten Lebensstandard noch eine positive Verpflichtung, eine Sozialversicherungsleistung auszurichten, wie das Bundesgericht in Bezug auf die hier zur Diskussion stehenden ausserordentliche (Kinder-)Invalidenrente und Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung in
BGE 139 I 155
entschieden habe. Die Nichtgewährung dieser Leistungen falle nicht in den Anwendungsbereich von
Art. 8 EMRK
.
5.2
Nach
Art. 8 EMRK
hat jede Person u.a. das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Aus dieser Norm kann kein direkter Anspruch auf positive staatliche Leistungen, insbesondere Sozialversicherungsleistungen, abgeleitet werden, welche die Ausübung des Familienlebens ermöglichen oder einen bestimmten Lebensstandard garantieren (
BGE 139 I 155
E. 4.2 S. 158 und 257 E. 5.2.2 S. 261; je mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR;
BGE 138 I 225
E. 3.8.1 S. 231;
BGE 134 I 105
E. 6 S. 110). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Schweiz das Protokoll Nr. 1 vom 20. März 1952 zur EMRK nicht unterzeichnet hat. Die Rechtsprechung des EGMR, der gestützt darauf nicht diskriminierende Sozialversicherungsleistungen zugesprochen hat, etwa in dem in der Beschwerde erwähnten Urteil
Moskal gegen Polen,
Nr. 10373/05 vom 15. September 2009 § 93, ist daher nicht einschlägig (
BGE 139 I 155
E. 4.2 in fine S. 159).
Das akzessorische Diskriminierungsverbot von
Art. 14 EMRK
verbietet Unterscheidungen aufgrund bestimmter Merkmale bei der Umsetzung von in der EMRK garantierten Rechten und Freiheiten. Es kann immer schon dann angerufen werden, wenn der umstrittene Sachverhalt in den Schutzbereich einer konventionsrechtlichen Garantie fällt; deren Verletzung ist nicht erforderlich (
BGE 139 I 155
E. 4.3 S. 159). Dabei bedeutet nicht jede unterschiedliche Behandlung bereits eine Diskriminierung; eine solche liegt nur vor, wenn aufgrund eines verpönten Kriteriums (Rasse, Hautfarbe,
BGE 140 V 385 S. 398
Geschlecht, nationale oder soziale Herkunft usw.) vergleichbare Situationen unterschiedlich behandelt werden, ohne dass sich dies objektiv und sachlich rechtfertigen lässt. Die umstrittene Massnahme muss mit Blick auf den verfolgten Zweck zulässig erscheinen und die zu dessen Realisierung eingesetzten Mittel müssen verhältnismässig sein. Eine privilegierte Behandlung der eigenen Staatsangehörigen ist grundsätzlich zulässig, ist jedoch im Einzelfall jeweils hinsichtlich der konkreten Massnahme und des jeweiligen Unterscheidungskriteriums auf ihre Vereinbarkeit mit
Art. 14 EMRK
zu untersuchen (
BGE 136 II 120
E. 3.3.3 S. 128; Urteil 2C_354/2011 vom 13. Juli 2012 E. 2.7.1 und 2.7.2).
5.3
Die streitigen Leistungen der Invalidenversicherung stellen zum einen Ersatz des gesundheitlich bedingten Erwerbsausfalles dar (ausserordentliche Invalidenrente;
Art. 39 Abs. 3 IVG
), zum andern sind sie verbunden mit dem dauernden Angewiesensein auf Hilfe Dritter und persönlicher Überwachung bei den alltäglichen Lebensverrichtungen (Hilflosenentschädigung;
Art. 42
bis
Abs. 2 IVG
;
BGE 139 I 155
E. 4.3 S. 159 f.). Ob solche Leistungen ausgerichtet werden, hat nach den Vorbringen in der Beschwerde Einfluss auf den von
Art. 8 EMRK
erfassten Bereich; es gehe um die Qualität und Organisation des Familienlebens sowie um die Entwicklung und Erfüllung der Persönlichkeit und die Aufnahme von Beziehungen zu anderen Menschen. Fällt in diesem Sinne die umstrittene Leistungszusprechung bzw. -verweigerung in den Schutzbereich von
Art. 8 EMRK
, stellt sich mit Blick auf
Art. 14 EMRK
die Frage nach einer diskriminierenden Ungleichbehandlung, wobei der Beschwerdeführer als (einziges) verpöntes Unterscheidungskriterium seine ausländische Staatsangehörigkeit ins Feld führt. Eine Ungleichbehandlung gegenüber schweizerischen Kindern von internationalen Beamten der BIZ liegt, wie dargelegt, indessen nicht vor (vorne E. 4.3). Damit erweist sich auch die Rüge der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 9 UNO-Pakt I
(SR 0.103.1) als unbegründet. | null | nan | de | 2,014 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb387eea-a6f5-4952-9c4b-fc2267cfaadc | Urteilskopf
89 II 410
54. Urteil der I. Zivilabtellung vom 3. Dezember 1963 i.S. Veeser gegen Veeser. | Regeste
Auftrag zu Liegenschaftskauf oder Darlehen?
Verletzung der Vorschriften über die Beweislast (
Art. 8 ZGB
) oder Beweiswürdigung? (Erw. 2).
Ermittlung des Parteiwillens, Tat- und Rechtsfrage (Erw. 3).
Ersatzanschaffung für Frauengut?
Art. 196 Abs. 2 ZGB
(Erw. 4).
Berufung, Anforderungen an Antrag und Begründung.
Art. 55 Abs. 1 lit. b und c OG
(Erw. 6). | Erwägungen
ab Seite 410
BGE 89 II 410 S. 410
1.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Beklagte das Haus, das er im Jahre 1948 unter Verwendung von Geld der Klägerin (seiner Ehefrau, mit der er heute im Scheidungsprozess steht) auf seinen Namen erwarb, gemäss
BGE 89 II 410 S. 411
der Behauptung der Klägerin in ihrem Auftrag und als ihr Treuhänder gekauft habe, oder ob er den Liegenschaftskauf, wie er geltend macht, im eigenen Namen und auf eigene Rechnung abgeschlossen und die Klägerin ihm lediglich die dafafür erforderlichen Barmittel darlehensweise zur Verfügung gestellt habe.
Die Vorinstanz hat das Bestehen des von der Klägerin behaupteten Auftragsverhältnisses verneint und demgemäss ihr Begehren auf Übertragung der Liegenschaft abgewiesen. Mit der Berufung macht die Klägerin geltend, die Verneinung eines Auftragsverhältnisses verstosse gegen Bundesrecht.
2.
Die Vorinstanz hat festgestellt, es sei erwiesen, dass der Beklagte seine Zustimmung zu dem von der Klägerin gewünschten Hauskauf von den beiden Bedingungen abhängig gemacht habe, dass das Haus auf seinen Namen erworben werde und die Klägerin das dazu nötige Geld vorschiesse.
Die Klägerin rügt, diese Feststellung verstosse gegen
Art. 8 ZGB
, weil der Beklagte nicht nur die beiden Bedingungen, sondern auch deren Annahme durch die Klägerin zu beweisen gehabt hätte.
Diese Rüge ist unbegründet. Der Appellationshof hat nicht etwa der Klägerin den Beweis dafür auferlegt, dass sie die Bedingungen des Beklagten nicht angenommen habe. Er nimmt vielmehr an, der Beklagte habe den Beweis dafür erbracht, dass er die beiden Bedingungen gestellt und seine Zustimmung zum Erwerb der Liegenschaft von ihrer Annahme durch die Klägerin abhängig gemacht hat; aus dem Umstand, dass der Kauf abgeschlossen und von der Klägerin finanziert wurde, schliesst die Vorinstanz sodann auf die Annahme der Bedingungen durch die Klägerin. Diese Schlussfolgerung begründet die Vorinstanz insbesondere damit, dass beide Ehegatten im Grossen und Ganzen glaubhaft und übereinstimmend ausgesagt hätten, dass die Klägerin die Erklärung des Beklagten, er werde als Käufer auftreten, nie abgestritten habe und auch
BGE 89 II 410 S. 412
damit einverstanden gewesen sei, das erforderliche Geld aus ihrem Vermögen vorzuschiessen.
Die Rüge der Klägerin richtet sich somit in Wirklichkeit nicht gegen die Verteilung der Beweislast, sondern gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz. Diese kann aber vom Bundesgericht als Berufungsinstanz nicht überprüft werden, sondern es ist an die von der Vorinstanz als Ergebnis der Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen gebunden (
Art. 63 Abs. 2 OG
).
3.
Die Auffassung der Klägerin, der Beklagte habe das Haus in ihrem Auftrag und als ihr Treuhänder gekauft, liesse sich allenfalls vertreten, wenn die Vorinstanz als Wille der Parteien lediglich festgestellt hätte, dass der Beklagte als Käufer auftreten und die Klägerin das erforderliche Geld zur Verfügung stellen solle. Die Vorinstanz geht aber mit ihren Feststellungen zum Tatbestand noch einen Schritt weiter; sie erklärt, "dass das Grundstück nach dem Willen der Parteien, soweit geäussert, sowohl auf Namen als auch Rechnung des Beklagten gekauft werden sollte". Auch das ist eine Feststellung, die auf der vom Bundesgericht nicht überprüfbaren Beweiswürdigung beruht. Die Einschränkung "soweit geäussert" besagt nach dem Zusammenhang, dass die Klägerin zur Zeit des Kaufes dem Beklagten die Absicht, ihm eine Ablieferungspflicht zu überbinden, weder ausdrücklich noch stillschweigend kundgegeben hat.
War es aber der Wille der Parteien, dass der Beklagte auf seinen Namen und auf seine Rechnung kaufe, so bleibt in rechtlicher Hinsicht kein Raum für die Annahme, er habe lediglich als Beauftragter und Treuhänder seiner Frau kaufen sollen. Damit steht fest, dass der Klägerin nach dem zur Zeit des Vertragsschlusses geäusserten Parteiwillen kein Anspruch auf Übertragung der vom Beklagten mit ihrem Geld gekauften Liegenschaft zusteht.
4.
Die Klägerin glaubt, den Anspruch auf Übertragung der Liegenschaft auch damit begründen zu können, dass gemäss dem auf den vorliegenden Fall analog anwendbaren
BGE 89 II 410 S. 413
Art. 196 Abs. 2 ZGB
für Anschaffungen, die zum Ersatz für Vermögenswerte der Ehefrau gemacht werden, die Zugehörigkeit zum Frauengut zu vermuten sei.
Eine analoge Anwendbarkeit dieser Vorschrift erscheint nicht als von vorneherein ausgeschlossen. Die Gütertrennung, welche die Parteien auf Betreiben des Vaters der Klägerin vor dem Eheabschluss vereinbart hatten, wurde nämlich nach dem Tod des Vaters in ihrer Wirkung dadurch erheblich abgeschwächt, dass die Klägerin dem Beklagten die Verwaltung ihres gesamten, in Wertschriften angelegten Vermögens übertrug und ihm dafür Generalvollmacht erteilte. Mit dieser Übertragung, die zwar nicht güterrechtlicher, sondern obligationenrechtlicher Natur war (LEMP, N. 25 zu
Art. 242 ZGB
), erhielt der Beklagte Befugnisse, die denen eines Ehemanns bei Güterverbindung ähnlich waren. Doch bleiben wichtige Unterschiede. So wurde der Beklagte nicht Eigentümer der seiner Frau gehörenden Inhaberpapiere, wie dies bei Güterverbindung nach
Art. 201 Abs. 3 ZGB
der Fall gewesen wäre.
Die Frage der analogen Anwendbarkeit des
Art. 196 Abs. 2 ZGB
kann jedoch offen bleiben; denn selbst wenn sie grundsätzlich zu bejahen wäre, vermöchte dies der Klägerin nicht zu helfen. Für die in der genannten Vorschrift aufgestellte Vermutung ist nämlich kein Raum beim Erwerb dinglicher Rechte an Grundstücken, weil dann das Grundbuch den Berechtigten ausweist. Aber auch sonst ist die Vermutung widerlegbar durch den Beweis, dass der Wille bestand, den erworbenen Vermögensgegenstand Eigentum des Mannes werden zu lassen (LEMP, N. 42 und 28 zu
Art. 196 ZGB
). Dieser Beweis ist im vorliegenden Fall erbracht, da es gemäss verbindlicher Feststellung der Vorinstanz der Wille der Parteien war, dass der Beklagte die Liegenschaft auf seinen Namen und auf seine Rechnung kaufen solle.
5.
Eine Pflicht des Beklagten zur Übereignung des Grundstücks an die Klägerin könnte demnach nur auf einem Rechtstitel beruhen, der nach dem 16. September
BGE 89 II 410 S. 414
1948 geschaffen worden wäre. Dass sie aber nach diesem Tage einen solchen Rechtstitel erworben habe (was nur durch eine Vereinbarung mit dem Beklagten möglich gewesen wäre), behauptet sie selber nicht.
Damit erweist sich das Hauptbegehren der Klägerin als unbegründet.
6.
Mit ihrem Eventualbegehren verlangt die Klägerin, dass der Beklagte zur Leistung eines angemessenen, gerichtlich zu bestimmenden Schadenersatzbetrages verurteilt werde.
Auf dieses Begehren kann nicht eingetreten werden, weil es den Anforderungen von
Art. 55 Abs. 1 lit. b OG
nicht entspricht. Nach dieser Vorschrift hat die Berufungsschrift die genaue Angabe zu enthalten, welche Abänderungen des angefochtenen Entscheides beantragt werden. Danach ist für die Berufung eine Bezifferung des geforderten Schadenersatzes unerlässlich, und zwar gilt dies nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtes selbst dann, wenn das kantonale Prozessrecht das Begehren auf Zusprechung von Schadenersatz nach richterlichem Ermessen genügen lässt (
BGE 88 II 206
,
BGE 86 II 193
und dort erwähnte Entscheide). Das Fehlen einer ziffernmässigen Umschreibung des geforderten Schadenersatzes macht die Berufung unwirksam.
Abgesehen hievon könnte auf das Eventualbegehren auch aus dem weiteren Grunde nicht eingetreten werden, dass zu seiner Begründung lediglich auf die Vorbringen der im kantonalen Verfahren eingereichten Klageschrift verwiesen wird. Ein solcher Hinweis genügt aber gemäss ständiger Rechtsprechung den Anforderungen des
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
nicht (
BGE 84 II 110
und zahlreiche spätere, nicht veröffentlichte Urteile).
7.
Dass der Klägerin bei Verneinung eines Anspruchs auf Übereignung der Liegenschaft eine Forderung auf Rückerstattung des dem Beklagten gewährten Darlehens sowie auf Vergütung ihrer wertvermehrenden Aufwendungen für die Liegenschaft zusteht, ist nicht streitig. Der Beklagte
BGE 89 II 410 S. 415
hatte dieses Guthaben der Klägerin in einer Abrechnung vom 1. Juli 1961 auf Fr. 81'603.55 beziffert. Die Klägerin hatte damals diese Abrechnung nicht anerkannt, weil sie glaubte, die Übereignung der Liegenschaft beanspruchen zu können. Nachdem nun feststeht, dass sie keinen solchen Anspruch hat, werden sich die Parteien über die Geldforderung der Beklagten (die aber keine Schadenersatzforderung wegen nicht oder nicht richtig erfüllten Auftrags darstellt), noch auseinandersetzen müssen. | public_law | nan | de | 1,963 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb38f609-a905-47c9-a72e-b22c7eeb56f3 | Urteilskopf
82 I 188
28. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. Juni 1956 i.S. Wwe Keller gegen Schreiber und Regierungsrat des Kantons Thurgau. | Regeste
Erbbescheinigung als Ausweis für die Eintragung des erbrechtlichen Übergangs von Grundstücken (
Art. 18 GBV
):
1. Die von der zuständigen Behörde des letzten Wohnsitzes des Erblassers ausgestellte Erbbescheinigung ist auch vom Grundbuchamt eines andern Kantons anzuerkennen.
2. Es genügt, dass diese Bescheinigung den oder die einzigen Erben dem Sinne nach eindeutig bezeichnet.
3. Der Vorerbe kann sich als Eigentümer eintragen lassen, auch ohne zugleich die Nacherbschaft vormerken zu lassen. Ist die Vormerkungspflicht streitig, so kann sich der Nacherbe durch vorläufige Massnahmen schützen. | Sachverhalt
ab Seite 188
BGE 82 I 188 S. 188
A.-
Der am 14. Mai 1955 verstorbene Josef Keller-Mühlebach mit Wohnsitz in Luzern hatte eine Tochter aus erster Ehe, Frau Frieda Schreiber-Keller in Diessenhofen.
BGE 82 I 188 S. 189
In zweiter Ehe war er mit Frau Marie Keller-Mühlebach verheiratet. Diese zweite Ehe blieb kinderlos.
B.-
Am 23. März 1946 hatte der Erblasser mit der zweiten Ehefrau und der Tochter aus erster Ehe einen Auskaufs- und Erbvertrag abgeschlossen. Danach erhielt die Tochter zwei Liegenschaften in Diessenhofen und durch Schulderlass einen Betrag von Fr. 4000.--. Infolge dieser Leistungen verzichtete sie für den Fall, dass die zweite Ehefrau den Vater überlebe, zu deren Gunsten auf alle weitern Ansprüche am Nachlass. In diesem (wirklich eingetretenen) Falle geht der ganze Nachlass des Ehemannes laut dem Vertrag in das Eigentum der Witwe über und soll dereinst nach ihrem Tode auf die Tochter aus erster Ehe oder deren Nachkommen als Nacherben übergehen, soweit er dann noch vorhanden sein wird.
C.-
Nach dem Tode des Erblassers stellte das Teilungsamt der Stadt Luzern folgende Bescheinigung aus:
"Das Teilungsamt der Stadt Luzern bescheinigt hiemit, dass der am 14. Mai 1955 verstorbene Herr Josef Keller, Kaufmann, von Basadingen, Kanton Thurgau, wohnhaft gewesen in Luzern, Landschaustrasse 27, als gesetzliche Erben hinterlässt:
a) seine Witwe (II. Ehe), Frau MARIA Agatha KELLER-Mühlebach, geb. 1892, Landschaustrasse 27, Luzern;
b) seine Tochter (aus I. Ehe), Frau FRIEDA SCHREIBER-KELLER, geb. 1909, Ehefrau des Herrn Jakob Schreiber, Kaufmann, Steinerstrasse 5, Diessenhofen, Kanton Thurgau.
Die Eheleute Keller-Mühlebach haben am 23. März 1946 mit Frau Frieda Schreiber-Keller einen Auskaufs- und Erbvertrag abgeschlossen nach dessen Wortlaut der gesamte Nachlass des Herrn Keller-Mühlebach bei seinem Vorabsterben ins Eigentum seiner Ehefrau übergeht. An diesem Nachlass - soweit er beim Tode von Frau Maria A. Keller-Mühlebach noch vorhanden ist - wurden Frau Frieda Schreiber-Keller oder deren Nachkommen als Nacherben eingesetzt.
Die Erbschaft ist angetreten worden.
Luzern-Stadt,
Ausgefertigt zuhanden des Grundbuchamtes Diessenhofen,
Luzern, den 26. Oktober 1955.
TEILUNGSAMT DER STADT LUZERN
Der Chef:
gez.: Dr. Streich."
D.-
Auf Grund dieser Bescheinigung verlangte die Witwe bei den Grundbuchämtern Luzern und Diessenhofen
BGE 82 I 188 S. 190
die Übertragung der im Eigentum des Erblassers verbliebenen Liegenschaften. Der Grundbuchverwalter von Luzern nahm die Eintragung vor. Er verband damit anscheinend die Vormerkung einer Auslieferungspflicht zu Gunsten der Nacherbin Frau Frieda Schreiber-Keller. Dagegen weigerte sich das Grundbuchamt Diessenhofen, das dort gelegene Grundstück "zur Zinne" als Alleineigentum der Witwe einzutragen, und der Regierungsrat des Kantons Thurgau wies eine gegen diese Ablehnung eingereichte Beschwerde der Witwe am 14. Februar 1956 "im Sinne der Erwägungen" ab.
Diese Entscheidung wird damit begründet, dass die vom Teilungsamt der Stadt Luzern ausgestellte Urkunde keine Erbenbescheinigung im Sinne von
Art. 559 ZGB
sei. Nach der Grundbuchverordnung, Art. 18, müsse eine solche Bescheinigung dartun, dass die in ihr genannten Personen die einzigen Erben des Erblassers seien. Dieses hauptsächliche Erfordernis sei hier nicht erfüllt. Das Teilungsamt der Stadt Luzern betrachte denn auch das von ihm ausgefertigte Aktenstück gar nicht als Bescheinigung im Sinne von
Art. 559 ZGB
, wie Erkundigungen auf diesem Amt ergeben hätten. Ferner sei der Erbauskaufsvertrag nicht amtlich eröffnet worden, wie es § 48 der thurgauischen Notariatsverordnung vorsehe. Der Beschwerdeführerin bleibe nur übrig, sich entweder mit der Stieftochter über die Mitunterzeichnung des Eintragungsgesuches zu verständigen oder gestützt auf den Erbvertrag klagend gegen sie vorzugehen. Dann möge auch die Frage der Sicherstellung des Nacherbenrechtes ihre Abklärung finden.
E.-
Gegen den regierungsrätlichen Entscheid hat die Witwe des Erblassers die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Sie beantragt, das Grundbuchamt sei (direkt oder durch den Regierungsrat des Kantons Thurgau) zur Vornahme der nachgesuchten Eintragung anzuweisen.
In der Beschwerde wird ausgeführt, die vom Teilungsamt
BGE 82 I 188 S. 191
der Stadt Luzern ausgestellte Bescheinigung enthalte alles, was nötig sei. Auf einem unerklärlichen Irrtum müsse die Behauptung des Regierungsrates beruhen, das Teilungsamt betrachte jenes Aktenstück selber nicht als Erbenbescheinigung im Sinne von
Art. 559 ZGB
. Das Gegenteil ergebe sich aus einem Schreiben vom 28. Februar 1956. Der angefochtene Entscheid verletze Art. 18 der bundesrätlichen Grundbuchverordnung und damit eidgenössisches Recht. Unrichtig sei die darin ausgesprochene Ansicht, der Erbvertrag hätte amtlich eröffnet werden müssen. Das sei in
Art. 557 ZGB
nur für letztwillige Verfügungen vorgeschrieben. Die im Entscheid offen gelassene Frage nach einer Pflicht der Vorerbin zur Sicherstellung sei zu verneinen, denn das Nacherbenrecht bestehe nach den eindeutigen Vertragsbestimmungen nur für den Überrest. Damit sei eine Sicherstellungspflicht, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch unzweifelhaft wegbedungen. Übrigens sei es nicht Sache der Grundbuchbehörden, sich mit
Art. 490 ZGB
zu befassen. Wenn die Nacherbin eine Sicherstellung verlangen wolle, habe sie sich an die Erbschaftsbehörde (das Teilungsamt der Stadt Luzern) oder an die Gerichte zu wenden. Der Vorerbin stünde dann immer noch zur Wahl, ob sie die Sicherheit durch Vormerkung im Grundbuch oder auf andere Weise leisten wolle.
F.-
In seiner Stellungnahme zur Beschwerde hält der Regierungsrat daran fest, dass die vom Teilungsamt der Stadt Luzern ausgefertigte Urkunde nicht als Erbenbescheinigung gelten könne und deshalb für die Eintragung der Liegenschaft nicht genüge. Die Beschwerdeführerin solle zur Geltendmachung ihres Rechtes den Richter anrufen.
G.-
Frau Frieda Schreiber-Keller beantragt ebenfalls die Abweisung der Beschwerde. Sie lässt nicht gelten, dass die Vorerbin von der Pflicht zur Sicherstellung entbunden worden sei. Ziffer 4 des Vertrages gebe der Beschwerdeführerin nur das Recht, Kapitalanbrüche vorzunehmen.
BGE 82 I 188 S. 192
Der Erblasser habe gewünscht, dass sein Nachlassvermögen seiner Tochter erhalten bleibe. Deren Anspruch auf Auslieferung müsse sichergestellt werden. Ohne Vormerkung könnte die Beschwerdeführerin frei über die Liegenschaft verfügen.
H.-
Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat sich am 14. Mai 1956 zur Beschwerde vernehmen lassen. Es hält diese für unbegründet, weil die Erbenbescheinigung nicht dahin laute, die Beschwerdeführerin sei als einzige Erbin des Erblassers anerkannt. Diese Angabe dürfe das Grundbuchamt verlangen. Dagegen hätten die kantonalen Behörden ihre Abweisung nicht mit der Nichteröffnung des Erbvertrages begründen dürfen. Die Grundbuchbehörde habe zu prüfen, ob die Bescheinigung von einer dazu kompetenten Behörde ausgestellt sei. Um das Verfahren, das der Ausstellung der Bescheinigung vorausgehe, habe sie sich dagegen nicht zu kümmern.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Um sich als Alleineigentümerin einer zum Nachlass des Josef Keller-Mühlebach gehörenden Liegenschaft eintragen zu lassen, hatte sich die Beschwerdeführerin darüber auszuweisen, dass sie als einzige Erbin des Erblassers anerkannt sei. Dies ergibt sich aus Art. 18 der Grundbuchverordnung, der einen solchen Ausweis "im Falle von Erbgang" sowohl bei gesetzlichen wie bei eingesetzten Erben verlangt. Die erwähnte Vorschrift lehnt sich, was Testamentserben betrifft, an
Art. 559 ZGB
an, den sie verdeutlicht. Dass entsprechende Bescheinigungen auch gesetzlichen Erben auszustellen seien, "sobald dies nach der Sachlage zu irgend einem Zweck erforderlich sein mag", wurde bereits bei der Vorberatung des ZGB erwogen (Erläuterungen zum Vorentwurf I S. 435), und die Grundbuchverordnung verlangt nun allgemein für die Eintragung des Eigentumsüberganges auf den Alleinerben oder auf die Erben insgesamt einen solchen Ausweis.
BGE 82 I 188 S. 193
Entgegen der Ansicht des Regierungsrates ist die Bescheinigung des Teilungsamtes der Stadt Luzern als gültiger Ausweis anzuerkennen. Dass das Teilungsamt selbst der von ihm ausgestellten Urkunde diese Bedeutung beimisst und der angefochtene Entscheid sich hierüber geirrt hat, ergibt sich aus einem Schreiben des Teilungsamtes an den Luzerner Vertreter der Beschwerdeführerin. Darin wird ausgeführt, die Bescheinigung enthalte die Angaben, die der Grundbuchverwalter brauche, denn es gehe daraus hervor, wer als Erbe in Betracht komme. Deshalb sei das Amt auch nicht in der Lage, eine andere Bescheinigung auszustellen. Im interkantonalen Verkehr richte sich die Art der Bescheinigung nach dem Recht desjenigen Kantons, in dem der Erbgang abgewickelt werden müsse.
In der Tat ist die vorliegende Bescheinigung von der zuständigen Behörde des letzten Wohnsitzes des Erblassers ausgestellt und beurrkundet die Tatsache des Erbfalles, der Erbenqualität, des Erbvertrages und des ihm entsprechenden Überganges des Alleineigentums am Nachlass auf die Beschwerdeführerin. Damit ist diese im Sinne von Art. 18 der Grundbuchverordnung als erbrechtliche Alleinerwerberin ausgewiesen. Angesichts des eindeutig dahingehenden Sinnes der Bescheinigung wäre es sinnloser Formalismus, sie deswegen zu bemängeln, weil sie nicht dem Wortlaut der Verordnungsvorschrift folgend die Beschwerdeführerin als "einzige" oder "alleinige" Erbin bezeichnet. Die Bescheinigung erscheint um so mehr als einwandfrei, wenn man den ihr zugrunde liegenden Erbvertrag mitberücksichtigt und bedenkt, dass die beiden Beteiligten sich ebenfalls als die einzigen gesetzlichen Erben betrachten und den Erbvertrag als gültig anerkennen. Bei dieser Sachlage ist auch nicht einzusehen, weshalb dieser ihnen wohlbekannte Vertrag, der ausser dem Erblasser nur sie betrifft, noch hätte - ihnen - amtlich eröffnet werden sollen. Übrigens bemerkt das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement mit Recht,
BGE 82 I 188 S. 194
das Grundbuchamt habe nicht danach zu fragen, in welchem Verfahren die Erbenbescheinigung zustande gekommen sei. Und da das Bundesrecht eine Eröffnung von Erbverträgen gar nicht verlangt, hatte die am Orte des Erbganges von der zuständigen Behörde ausgestellte und den bundesrechtlichen Vorschriften genügende Erbenbescheinigung auch in jedem andern Kanton als tauglicher Ausweis zu gelten.
2.
Das Grundbuchamt hat die von der Beschwerdeführerin verlangte Eintragung nicht nur deshalb verweigert, weil es den vorgelegten Ausweis (wie dargetan, zu Unrecht) als "nicht dem Inhalt einer Erbenbescheinigung entsprechend" betrachtete, sondern ausserdem, weil nicht angegeben war, "ob im Sinne von Art. 490 Abs. 2 des Zivilgesetzbuches eine Vormerkung der Auslieferung des Erbschaftsgrundstückes an den Nacherben einzutragen ist". Indessen gehörte eine solche Angabe nicht in die Erbenbescheinigung. Vielmehr bildet die Vormerkung des Nacherbenrechtes den Gegenstand einer besondern Grundbuchanmeldung neben derjenigen des Eigentumserwerbes des Vorerben. Allerdings wird in der Literatur angenommen, diese Anmeldung habe vom Vorerben auszugehen, und es findet sich auch die Ansicht vertreten, das Nacherbenrecht lasse sich hinsichtlich Liegenschaften überhaupt nur auf solche Weise sicherstellen; der Grundbuchführer dürfe die Erbliegenschaft erst dann auf den Vorerben überschreiben, wenn (mangels anderer Abrede der Beteiligten) gleichzeitig auch die das Nacherbenrecht sicherstellende Vormerkung erfolgen könne (vgl. OSTERTAG, N. 36/37 und HOMBERGER, N. 44/45 zu
Art. 960 ZGB
). Nach anderer Ansicht hat der Vorerbe die Wahl einer andern Art der Sicherstellung (vgl. ESCHER, N. 6 zu
Art. 490 ZGB
). Im vorliegenden Fall ist vor allem streitig, ob aus der vertraglichen Beschränkung des der Beschwerdegegnerin eingeräumten Nacherbenrechtes eine gültige, obgleich nicht ausdrückliche Entbindung von der Sicherstellungspflicht
BGE 82 I 188 S. 195
der Vorerbin zu folgern sei (was die Beschwerdeführerin mit Hinweis auf ESCHER, N. 5 zu
Art. 490 ZGB
, geltend macht). Zu alldem ist hier jedoch nicht Stellung zu nehmen. Den Grundbuchbehörden steht nicht zu, über den Bestand einer Sicherstellungspflicht zu entscheiden und die Art der Sicherstellung zu bestimmen. Dem Vorerben (zumal wenn es ein gesetzliches Erbe ist) darf aber auch nicht die Eintragung seines Eigentums für solange verweigert werden, bis über eine allfällige Vormerkungspflicht gegenüber dem Nacherben ein gerichtliches Urteil vorliegt. Ist die Vormerkungspflicht, wie hier, bestritten, so steht der Eintragung des an sich einwandfrei nachgewiesenen Eigentumsüberganges vom Erblasser auf den Vorerben nichts entgegen. Die Vormerkung bildet dann, wenn sie erfolgen muss, eine auch zeitlich davon getrennte Grundbuchoperation. Gewiss hat der Nacherbe, der Anspruch auf Vormerkung seines Rechtes erhebt, ein Interesse, Verfügungen des Vorerben vorzubeugen, die seinem spätern Erwerbe vorgreifen könnten. Er kann sich aber dadurch genügend schützen, dass er, wenn der Vorerbe seinen Wunsch, das Nacherbenrecht vormerken zu lassen, nicht erfüllt, nun seinerseits an den Richter gelangt, um die Vormerkung (allenfalls für die Dauer des Prozesses in einer vorläufigen Form) zu erwirrken. Diese Verteilung der Parteirollen entspricht im übrigen der gegebenen Sachlage besser als die vom Regierungsrat ins Auge gefasste gegenteilige Lösung, da eben das Eigentumsrecht der Vorerbin an sich unbestritten, der Anspruch der Nacherben auf Sicherstellung und insbesondere auf Vormerkung dagegen bestritten ist. Die Beschwerdegegnerin widersetzt sich denn auch nach ihren Ausführungen nicht dem Eigentumseintrag als solchem, sondern will sich nur vor spätern Handlungen der an sich als Eigentümerin anerkannten Vorerbin sichern, was auf andere Weise als durch Verweigerung des Eigentumseintrages geschehen kann.
BGE 82 I 188 S. 196
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und das Grundbuchamt Diessenhofen angewiesen, den Übergang des Eigentums an der Liegenschaft "zur Zinne" in Diessenhofen auf die Beschwerdeführerin als Alleineigentümerin einzutragen. | public_law | nan | de | 1,956 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eb3e6303-c9e8-47f4-8bf6-49fbc1e5d173 | Urteilskopf
97 II 48
7. Extrait de l'arrêt de la Ie Cour Civile du 19 mars 1971 dans la cause Odier contre Blanc-Delavy | Regeste
Vorvertrag betreffend Grundstückkauf, Weigerung des Versprechenden, den Hauptvertrag abzuschliessen.
Der Vorvertrag gestattet, nicht nur auf Schadenersatz, sondern auch auf Verurteilung zum Abschluss des Hauptvertrages zu klagen. Das Urteil gilt in diesem Falle selbst dann als Willenserklärung, die der Versprechende abzugeben sich weigert, wenn keine Bestimmung des kantonalen Prozessrechts das vorsieht.
Abweisung der Klage auf unmittelbare Zusprechnung des Eigentums: die Klage. nach
Art. 665 Abs. 1 ZGB
setzt einen Hauptvertrag oder ein Urteil voraus, das an seine Stelle tritt. | Sachverhalt
ab Seite 49
BGE 97 II 48 S. 49
Résumé des faits:
Par acte passé devant notaire les 4 et 10 décembre 1957, dame Irène Blanc-Delavy, sa mère et son époux ont conclu avec Max Perrot un contrat intitulé "promesse de vente". Les parties s'obligeaient respectivement à vendre et à acquérir pour le prix de 57 528 fr. la parcelle no 2137, feuille 34, commune de Lancy. L'acte définitif de vente devait être signé "dans le terme de dix ans à compter du présent jour"; il pouvait cependant intervenir avant ce délai si les promettants-vendeurs abandonnaient la jouissance de l'immeuble ou, après entente entre les parties, en cas de décès d'un parent des promettants-vendeurs qui faisait ménage commun avec eux. La faculté était réservée à Perrot de "se substituer toute personne ou société qu'il avi sera, dans le bénéfice de la présente promesse de vente".
Perrot a fait usage de cette faculté; par acte authentique du 11 novembre 1968, il a substitué Jean-Pierre Odier dans tous les droits et obligations qui découlaient pour lui de la pro messe de vente.
Perrot et Odier ont obtenu par voie de mesures provisionnelles, ordonnées les 1er novembre 1968 et 7 janvier 1969, l'inscription provisoire au registre foncier d'une interdiction du droit d'aliéner la parcelle no 2137.
BGE 97 II 48 S. 50
Odier a ouvert action le 26 novembre 1968 contre dame Irène Blanc et ses deux filles Denise et Marie Blanc, copropriétaires de la parcelle no 2137, pour faire reconnaître son droit de propriété sur ladite parcelle et en obtenir l'inscription au registre foncier. Il soutenait qu'en dépit de la dénomination inexacte adoptée par les parties, le contrat de 1957 constituait non pas une promesse de vente, mais un contrat de vente à terme. Les défenderesses ont conclu au rejet de la demande et à la radiation de l'inscription provisoire de l'interdiction d'aliéner.
Le 11 novembre 1969, le Tribunal de première instance de Genève a débouté Odier et ordonné la radiation de l'inscription provisoire de l'interdiction d'aliéner la parcelle no 2137.
La Cour de justice du canton de Genève a confirmé ce jugement le 18 décembre 1970.
Le Tribunal fédéral a rejeté le recours en réforme interjeté par Odier.
Erwägungen
Extrait des motifs:
4.
La Cour de justice a débouté le demandeur en considérant qu'en tant que bénéficiaire d'une promesse de vente immobilière, il pouvait seulement intenter contre les défenderesses une action en dommages-intérêts, mais non pas obtenir des tribunaux la reconnaissance de sa qualité de propriétaire de la parcelle litigieuse. L'arrêt déféré se rallie au demeurant à l'interprétation que la Cour de justice, statuant le 1er novembre 1968 sur mesures provisionnelles, a donnée de la première phrase de la rubrique "délai" du contrat des 4 et 10 décembre 1957. Il a ainsi rejeté à juste titre l'opinion des intimées, selon laquelle elles n'auraient pas été liées par la promesse de vente au-delà du terme de dix ans. L'expression "dans le terme de dix ans à compter du présent jour" doit être interprétée comme signifiant "après un délai de dix ans". On ne comprendrait pas, autrement, pourquoi l'acte stipulait ensuite que la vente ne pourrait intervenir avant ce délai que dans les deux hypothèses indiquées sous lettres a et b.
a) A l'appui de sa manière de voir selon laquelle la promesse de vente ne peut faire l'objet d'une action en exécution, la Cour de justice invoque notamment l'arrêt publié au RO 56 I 195 ss. Le Tribunal fédéral y a confirmé le refus de donner suite à une réquisition d'annotation d'un pacte d'emption au registre foncier, sur la base d'une "promesse de vente
BGE 97 II 48 S. 51
et d'achat"; il n'avait donc pas à se prononcer sur la question de l'action en conclusion du contrat principal. L'arrêt déféré cite également GUHL (Le droit fédéral des obligations, 3e éd., trad. Des Gouttes, p. 82) et deux arrêts genevois (SJ 1960 p. 119 et 1964 p. 314) qui se réfèrent à cet auteur. Celui-ci exprime en effet l'opinion, dans le passage cité, que nul ne peut être contraint de faire la déclaration de volonté qui donne naissance au contrat principal et que partant une action en exécution est généralement inopérante. Mais il a amendé ce point de vue dans ses 4e (1948 p. 88) et 5e éditions (1956 p. 94/95); se référant à l'art. 78 PCF, il déclare que ladite déclaration de volonté peut être remplacée par le jugement. AEBY (Les divers aspects de la promesse de vente, JDT 1948 I 557), de même, n'exclut nullement l'action en exécution de la promesse de vente, relevant toutefois que ce moyen n'est guère employé en pratique. Avec ces auteurs, la doctrine admet dans sa majorité qu'en cas de refus du promettant de conclure le contrat principal, sa partie adverse ne dispose pas seulement de l'action en dommagesintérêts, mais qu'elle peut aussi demander qu'il soit condamné à la conclusion de ce contrat, la déclaration de volonté à laquelle il se refuse étant alors remplacée par le jugement (OSER/SCHÖNENBERGER, ad art. 22 CO n. 9; BECKER, ad art. 22 CO n. 13; LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 2e éd., 1937, ad art. 404 n. 1; H. ROTH, Der Vorvertrag, thèse Fribourg 1928, p. 313/14; M. REHFOUS, La formation du contrat et l'avant-contrat en matière immobilière, SJ 1965 p. 330). VON TUHR/SIEGWART (I p. 253) vont plus loin et considèrent que le créancier peut actionner son cocontractant directement en exécution de la prestation, tandis que CAVIN (La promesse de contracter, SJ 1970 p. 330) envisage cette solution sans trancher la question.
Il importe peu que la loi genevoise de procédure civile ne comporte pas de disposition correspondant à celle de l'art. 78 PCF ou à celles, analogues, que consacrent d'autres droits cantonaux (cf. par exemple les art. 407-408 du code de procédure civile bernois). S'il résulte du droit fédéral qu'une partie peut, sur la base d'une promesse de contracter, actionner le promettant en conclusion du contrat principal, les cantons sont tenus de sanctionner le droit qui lui est ainsi reconnu (GULDENER, Bundesprivatrecht und kantonales Zivilprozessrecht, RDS 1961 II, p. 24 et 53; VOYAME, Droit privé fédéral et procédure
BGE 97 II 48 S. 52
civile cantonale, RDS 1961 II, p. 74/75 et 90 ss.). C'est ainsi que GULDENER (Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2e éd., 1958, p. 609) pose le principe général, valable même sans disposition expresse de la procédure cantonale, selon lequel la déclaration de volonté est remplacée en pareils cas par le jugement. Ce principe est également consacré depuis longtemps en Allemagne, en France et en Italie (cf. à ce propos KUMMER, Die Klage auf Verurteilung zur Abgabe einer Willenserklärung, RDS 1954, p. 163/64, et citations).
b) Le demandeur a conclu à l'attribution de la propriété et à son inscription au registre foncier en se fondant sur la considération erronée que le contrat des 4 et 10 décembre 1957 était un contrat de vente à terme et conditionnel, devenu exécutoire. Même si tel était le cas, son action devrait être rejetée, attendu qu'il n'est pas partie au contrat. Les noms des parties comptent en effet parmi les points essentiels de celui-ci; comme tels, ils doivent figurer dans l'acte authentique exigé par l'art. 216 al. 1 CO. Le vice qui résulte de l'inobservation de cette exigence n'est pas corrigé par le fait que la désignation du tiers bénéficiaire, prévue par le contrat, est intervenue par acte authentique.
Le demandeur n'est pas non plus fondé à demander d'emblée l'attribution de la propriété si l'on considère, à juste titre, le contrat des 4 et 10 décembre 1957 comme une promesse de vente. En sa qualité de tiers désigné par Perrot, conformément à la clause de substitution stipulée par les parties, il ne peut exiger des défenderesses que la passation du contrat principal. Or il n'a pas pris de conclusions à cet effet. L'action fondée sur l'art. 665 al. 1 CC présuppose la conclusion du contrat principal ou le prononcé du jugement qui en tient lieu. L'action du demandeur devant ainsi être rejetée, il n'est pas nécessaire d'examiner les moyens tirés par les intimées de la nullité de la promesse de vente et de la clausula rebus sic stantibus. | public_law | nan | fr | 1,971 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb418cb1-b3bf-4e93-8da8-361cc509736d | Urteilskopf
81 I 149
27. Urteil vom 20. Mai 1955 i.S. S. gegen Wehrsteuerverwaltung des Kantons Zürich. | Regeste
Wehrsteuer: Wird der Steuerpflichtige aus Gründen, die in seinem Verhalten liegen, aus der Schweiz ausgewiesen, so kann die Sicherstellung der Wehrsteuer verfügt werden. | Sachverhalt
ab Seite 150
BGE 81 I 149 S. 150
A.-
Der Beschwerdeführer war früher ungarischer Staatsangehöriger. Er ist heute staatenlos und ohne Ausweispapiere. Er lebt seit 1939 in der Schweiz. Für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit bedarf er einer besonderen Bewilligung.
Im Jahre 1947 erhielt er eine Bewilligung zur Betätigung als Korrespondent in der Einzelfirma T. B. Seit 1948 ist er mit der Inhaberin dieser Firma, einer Schweizerbürgerin, verheiratet.
B.-
Mit Verfügung der Polizeidirektion des Kts. Zürich vom 5. Juni 1953 wurde der Beschwerdeführer wegen Verletzung fremdenpolizeilicher Vorschriften aus der Schweiz ausgewiesen.
Der Regierungsrat des Kantons Zürich hat die Ausweisung mit Entscheid vom 5. November 1953 bestätigt, ebenso das eidg. Justiz- und Polizeidepartement mit Entscheid vom 1. April 1955. Immerhin wurde der Vollzug der Ausweisung aus Gründen der Humanität auf Zusehen und Wohlverhalten hin suspendiert.
C.-
Im Hinblick auf die Ausweisungsverfügung der kantonalen Justizdirektion vom 5. Juni 1953 hat die kantonale Wehrsteuerverwaltung Zürich am 24. Juli 1954 die Sicherstellung der eidg. Wehrsteuer für die Steuerjahre 1949 bis 1953 (bis 30. Juli 1953) samt Bussen und Kosten verfügt. Die Verfügung stützt sich aufprovisorische Berechnungen der Steuern, Nachsteuern und Bussen für den angegebenen Zeitraum.
D.-
Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird beantragt, die Sicherstellungsverfügung aufzuheben. Es wird geltend gemacht, die Sicherstellungsverfügung beruhe auf einer Verletzung von Bundesrecht. Zur Begründung wird ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Sicherstellungsverfügung
BGE 81 I 149 S. 151
nach Art. 118 WStB seien nicht erfüllt.
1.) Die von den Behörden errechnete Leistung stelle einen Phantasiebetrag dar, der mit den Realitäten nichts zu tun habe. Der Beschwerdeführer habe in den letzten Jahren ordnungsgemäss Steuererklärungen abgegeben, sei eingeschätzt worden und habe dementsprechend die Steuerbeträge bezahlt. Die neuen Berechnungen der Wehrsteuerverwaltung beruhten auf bisher unkontrollierten Anhaltspunkten, deren Herkunft dem Beschwerdeführer unbekannt sei.
2.) Der Beschwerdeführer habe seinen ordentlichen Wohnsitz in der Schweiz. Er sei mit einer Schweizerin verheiratet und denke nicht daran, das Domizil in der Schweiz aufzugeben. Er habe gegen die Ausweisungsverfügung Beschwerde eingereicht und damit seinen Willen, in der Schweiz zu bleiben, dokumentiert. Die Ausweisung sei sistiert. Es könne keine Rede davon sein, dass sein Verhalten den Einzug allfällig noch geschuldeter Wehrsteuerbeträge gefährden würde.
3.) Die Forderungen, die der Sicherstellungsverfügung und dem daran anschliessenden Arrest zu Grunde gelegt werden, seien offensichtlich unrichtig berechnet (
Art. 104, Abs. 2 OG
). Der Beschwerdeführer habe das ihm in den provisorischen Berechnungen zugeschriebene Einkommen nicht erzielt.
E.-
Die Wehrsteuerverwaltung des Kantons Zürich und die eidg. Steuerverwaltung beantragen Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen
Erwägungen
in Erwägung:
1.
Nach Art. 118, Abs. 1 WStB kann die kantonale Wehrsteuerverwaltung auch vor der rechtskräftigen Feststellung des Wehrsteuerbetrages jederzeit die Sicherstellung verfügen, wenn der Wehrsteuerpflichtige keinen Wohnsitz in der Schweiz hat oder die von ihm geschuldete Wehrsteuer durch sein Verhalten als gefährdet erscheint.
BGE 81 I 149 S. 152
Der Beschwerdeführer hat seinen Wohnsitz in der Schweiz. Die Sicherstellung kann ihm daher nur auferlegt werden wegen einer durch sein Verhalten bewirkten Gefährdung der Wehrsteuer. Eine solche erblickt die Behörde in der polizeilich angeordneten Landesverweisung.
2.
Die Sicherstellungsverfügung nach Art. 118 WStB dient der Vorsorge für die spätere Vollstreckbarkeit der einem Wehrsteuerpflichtigen obliegenden Steuerschuld. Als Vorsorgemassnahme ist sie dadurch charakterisiert, dass sie erlassen werden kann, bevor der Steuerbetrag rechtskräftig festgestellt ist. Gegenstand der Sicherstellung ist also nicht eine fesstehende, sondern eine lediglich mutmassliche Steuerschuld. Sind die übrigen Voraussetzungen gegeben, so muss schon die Möglichkeit einer Steuerpflicht in dem auf Grund vorläufiger Feststellungen ermittelten Umfange genügen. Die nähere Abklärung der Steuerpflicht und die Festsetzung der wirklich geschuldeten Beträge bleibt dem Einschätzungsverfahren vorbehalten.
Die behördliche Mutmassung einer Steuerpflicht beruht hier auf der Feststellung, dass der Beschwerdeführer bei Durchführung von Handelsgeschäften mitgewirkt hat, bei denen den Beteiligten aller Vermutung nach bedeutende Gewinne zugefallen sind. Wie es sich damit verhält, wird bei der der Sicherstellung nachfolgenden näheren Untersuchung im Einschätzungsverfahren abzuklären sein. Für die Sicherstellung muss vorläufig genügen, dass der Beschwerdeführer allem Anschein nach in diese Geschäfte verwickelt ist. Der Einwand, die Steuer sei nicht geschuldet, die Steuerbeträge unrichtig berechnet worden, ist im Beschwerdeverfahren betreffend die Sicherstellung nicht zu überprüfen.
3.
Die Sicherstellung darf verfügt werden, wenn die Wehrsteuer als durch das Verhalten des Steuerpflichtigen gefährdet erscheint. Die kantonalen Behörden haben mit Recht angenommen, dass der Vollzug von Wehrsteuererforderungen gefährdet ist, wenn gegen einen Steuerpflichtigen eine Ausweisungsverfügung in einem Zeitpunkt
BGE 81 I 149 S. 153
ergeht, in welchem die Steuer noch nicht rechtskräftig festgestellt ist oder aus einem andern Grunde noch nicht eingefordert werden kann. Massgebend ist dabei der Umstand, dass die Stellung des Steuerpflichtigen in der Schweiz mit der Ausweisungsverfügung unsicher geworden ist und es auch dann bleibt, wenn die Ausweisung aus dem einen oder andern Grunde vielleicht nicht unmittelbar vollzogen wird, der Wohnsitz des Steuerpflichtigen in der Schweiz also weiterbesteht. In solchen Fällen entspricht es der in Art. 118 WStB getroffenen Ordnung, dass der spätere Vollzug der Steuer gesichert wird und die Steuerbeträge, deren Einforderung noch nicht möglich ist, vorsorglich durch Hinterlagen oder auf andere Weise sichergestellt werden. Es wäre mit einer sachgemässen Durchführung der Besteuerung unvereinbar, in solchen Fällen den Abschluss des Einschätzungsverfahrens und den Fälligkeitstermin abzuwarten und es darauf ankommen zu lassen, ob der Steuerpflichtige dann noch im Lande ist. Demgemäss wird in der Praxis der Erlass einer Ausweisungsverfügung gegen einen Ausländer mit Recht als genügender Grund für die Sicherstellung der Steuerforderungen angesehen (Vgl. den amtlich nicht publizierten Entscheid vom 29. November 1946 i.S. O., ASA 16 S. 33; ferner ASA 13 S. 68 betr. Kriegsgewinnsteuer).
4.
Bei der eidg. Wehrsteuer ist allerdings weitere Voraussetzung, dass ein Verhalten des Steuerpflichtigen zum Erlasse der Ausweisungsverfügung Anlass gegeben hat. Ausweisungsverfügungen, die aus Gründen erlassen werden, die mcht in einem Verhalten des Steuerpflichtigen liegen, wären - nach der in Art. 118 WStB vorgesehenen Ordnung - kein genügender Grund für die Einforderung von Sicherheiten.
Hier durfte angenommen werden, dass ein Verhalten des Steuerpflichtigen die Ausweisungsverfügung veranlasst und damit den Grund für die Steuergefährdung gesetzt hat. Die Ausweisung wurde hauptsächlich deswegen angeordnet, weil der Beschwerdeführer sich über die Auflagen,
BGE 81 I 149 S. 154
die mit seiner Aufenthaltsbewilligung verbunden worden waren, hinweggesetzt hat, weil er an unerwünschten, den Interessen des Gastlandes zuwiderlaufenden Handelsgeschäften teilgenommen hatte und weil er Ausländern bei unbewilligter und unerwünschter Geschäftstätigkeit behilflich gewesen war.
Die Voraussetzungen, unter denen die Sicherstellung der Wehrsteuer verlangt werden darf, sind somit erfüllt. Dass sich der Beschwerdeführer um die Beibehaltung seines Wohnsitzes in der Schweiz bemüht und dass - nach dem Beschwerdeentscheid des eidg. Justiz- und Polizeidepartements - die Vollstreckung der Ausweisung vorläufig auf Zusehen hin aus Kommiserationsgründen sistiert ist, ändert daran nichts. Solange die Ausweisungsverfügung besteht, bleibt die Stellung des Beschwerdeführers in der Schweiz prekär, was es rechtfertigt, von ihm die Sicherstellung der eidgenössischen Steuern zu fordern. | public_law | nan | de | 1,955 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eb418e39-2612-4f52-9e1d-735c36aa8f29 | Urteilskopf
100 IV 17
5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Juli 1974 i.S. Jugendamt Zürich gegen X. | Regeste
Art. 98 Abs. 4 StGB
.
Diese Bestimmung ist nicht schematisch anzuwenden, sobald die zeitliche Voraussetzung erfüllt ist.
Vielmehr prüft der Richter, ob das Verhalten des fehlbaren Jugendlichen während des Jahres nach der Tat den Schluss auf eine innere Umkehr rechtfertige und jener keiner strafrechtlichen Sanktion bedürfe, wobei Art und Schwere der Tat sowie die persönlichen Verhältnisse des Jugendlichen zu berücksichtigen sind. | Sachverhalt
ab Seite 18
BGE 100 IV 17 S. 18
A.-
Der am 25. November 1954 geborene X. beging im Mai und Juni 1972 in drei verschiedenen Geschäften auf dem Platze Zürich Diebstähle, indem er sich Filmapparate und andere Geräte, die er sich hatte vorführen lassen, jeweils während einer kurzen Abwesenheit des Geschäftsinhabers aneignete und mit ihnen verschwand. Im einen Fall stahl er einen Tonhallverstärker im Einstandswert von Fr. 300.--, in zwei anderen Fällen Filmkameras im Wert von Fr. 1250.-- und Fr. 646.--.
B.-
Mit Urteil vom 1. November 1973 fand das Jugendgericht des Bezirksgerichtes Zürich X. fehlbar des wiederholten Diebstahls und verurteilte ihn zu einem Monat Einschliessung. Es schob den Vollzug der Freiheitsstrafe auf und setzte eine Probezeit von einem Jahr an.
Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 14. März 1974 den erstinstanzlichen Entscheid im Schuldpunkt, sah jedoch von einer Bestrafung in Anwendung des revidierten
Art. 98 Abs. 4 StGB
ab.
C.-
Das Jugendamt des Kantons Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des X. nach
Art. 95 ff. StGB
an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
2. - Nach
Art. 98 Abs. 4 StGB
kann die urteilende Behörde von jeder Massnahme oder Strafe absehen, wenn seit der Tat ein Jahr verstrichen ist. Es handelt sich dabei um eine der Behörde eingeräumte Befugnis, nicht um ein Obligatorium in dem Sinne, dass stets von einer Sanktion abgesehen werden müsste, wenn jene zeitliche Voraussetzung erfüllt ist (Prot. ExpKom B IV S. 52, Votum Moppert; SCHULTZ, Einführung
BGE 100 IV 17 S. 19
in den allg. Teil des Strafrechts, II S. 178 in Verbindung mit S. 170). Die zuständige Behörde ist freilich in Ausübung jener Befugnis nicht absolut frei. Ihr Ermessen muss vielmehr ein pflichtgemässes sein; sie muss sich, mit anderen Worten, nach den im Gesetz liegenden Wertungen ausrichten und ihren Entscheid auf sachlich vertretbare Gründe stützen (GERMANN, Kommentar zum StGB, Bd. I N. 15 ff. zu Art. 1; SCHULTZ, a.a.O. I S. 78 oben).
a) Wie sich aus den Vorarbeiten zum heutigen Gesetz ergibt, wollten mit dem revidierten
Art. 98 StGB
vor allem Härtefälle, denen unter der alten Ordnung zu wenig Rechnung getragen werden konnte, vermieden und dem Richter die Möglichkeit gegeben werden, "nach Mass" zu verfahren (Prot. ExpKom BVI S. 49, Voten Reich und Veillard; BBl 1965 I S. 596). Nach der von der genannten Expertenkommission beschlossenen Fassung sollte von jeder Sanktion nur abgesehen werden können, "wenn sich aus der Untersuchung ergibt, dass weder eine Massnahme noch eine Strafe notwendig ist" (analog
Art. 88 StGB
; Beschlüsse der ExpKom BVI S. 3 und 11). Auch im Entwurf der Eidg. Justizabteilung vom Mai 1964 wurde
Art. 98 StGB
noch mit den Worten eingeleitet: "Ist weder eine Massnahme noch eine Strafe notwendig, so kann...", während im analogen
Art. 88 StGB
ohne erkennbaren Grund abweichend von den Beschlüssen der Expertenkommission jener Satzteil weggefallen war (s. Prot. der stände- und nationalrätlichen Kommissionen 1964-1965 am Anfang). Entsprechend lautete sodann auch der Entwurf des Bundesrates. Auf die genannte Differenz in der Fassung von
Art. 88 und 98 StGB
wurde erstmals in der Kommission des Ständerates hingewiesen und festgestellt, dass zwischen den beiden Bestimmungen materiell kein Unterschied bestehe. In der Folge wurde der Wortlaut des
Art. 98 StGB
demjenigen des
Art. 88 StGB
angeglichen (Prot. Kommission des StR 17.19. August 1966, S. 202, Voten Zellweger und Kurt; StenBull StR 1967, S. 80).
Der Werdegang des revidierten
Art. 98 StGB
weist unzweifelhaft auf pädagogische Überlegungen hin (s. z.B. Prot. Kommission des StR 17.-19. August 1966, S. 201 in fine; REHBERG, Verhältnis von Strafe und Massnahme im schweiz. Jugendstrafrecht, in ZStR 1971, S. 231 ff), die ihren deutlichen Niederschlag vor allem in den Absätzen 2 und 3 gefunden
BGE 100 IV 17 S. 20
haben, in deren Zusammenhang denn auch Absatz 4 verstanden werden muss. Danach soll vermieden werden, dass eine sich abzeichnende günstige Entwicklung des fehlbaren Jugendlichen irgendwie durch strafrechtliche Massnahmen oder Strafen gestört werde, die zu dessen Besserung nichts mehr beitragen können (
BGE 94 IV 58
), sei es, dass bereits anderweitig, z.B. durch die Eltern usw. das Nötige vorgekehrt wurde, sei es, dass der Jugendliche durch sein eigenes aktives Verhalten seit der Tat eine innere Umkehr (z.B. tätige Reue) oder durch sein Wohlverhalten während einer längeren Zeit ernsthaft seinen Besserungswillen bekundet hat. Wenn der Gesetzgeber diese Zeit auf ein Jahr bemessen hat, so offenbar aus der Überlegung heraus, dass beim noch ungereiften Jugendlichen ein Wohlverhalten während einer solchen Zeitdauer bereits ein gewichtiges Indiz für eine Besserung sein kann, deren Fortdauer nicht durch unnötige strafrechtliche Sanktionen in Frage gestellt werden soll, zumal namentlich die Bedeutung von Strafen für den fehlbaren Jugendlichen mit zunehmender Entfernung ihres Vollzuges von der Tat auch rasch abnimmt. Der Umstand, dass die ursprüngliche Fassung des
Art. 98 StGB
nicht zum geltenden Gesetzestext erhoben wurde, ist kein Grund, die heutige Bestimmung nicht doch im Lichte der Entstehungsgeschichte auszulegen. Gegenteils besteht dazu umso mehr Anlass, als - wie bereits bemerkt - diese keinen Anhalt dafür gibt, dass von jenem zunächst klar zum Ausdruck gebrachten Zweckgedanken in der Folge bewusst und gewollt abgerückt wurde.
Ist dem aber so, dann darf der Richter
Art. 98 Abs. 4 StGB
nicht schematisch anwenden, sobald die zeitliche Voraussetzung erfüllt ist. Er muss vielmehr prüfen, ob das Verhalten des fehlbaren Jugendlichen während des Jahres nach der Tat den Schluss auf eine innere Umkehr rechtfertige und jener keiner strafrechtlichen Sanktion bedürfe (REHBERG, a.a.O. S. 238 oben). Dabei wird er Art und Schwere der Tat berücksichtigen und die persönlichen Verhältmsse des Jugendlichen in Betracht ziehen, namentlich ob es sich um einen jungen Gelegenheitsdelinquenten handelt, der aus Unwissenheit, Sorglosigkeit, Leichtsinn und dergleichen den Fehltritt begangen hat (
BGE 96 IV 12
), oder um einen sittlich verwahrlosten, verdorbenen oder gefährdeten Jugendlichen. Auch wird die Behörde beachten müssen, dass bei schweren Verfehlungen strengere
BGE 100 IV 17 S. 21
Anforderungen an die Gewähr zu stellen sind, die der Jugendliche für seine Besserung bieten muss. Wo der Richter nach pflichtgemässer Würdigung des Falles zur Überzeugung gelangt, dass eine strafrechtliche Sanktion nicht mehr notwendig ist, kann er von ihr absehen. Mehr verlangt das Gesetz nicht.
Insbesondere folgt weder aus den Materialien noch dem Wortlaut und dem Sinn des
Art. 98 Abs. 4 StGB
, dass die einjährige Frist bereits im Zeitpunkt der Einleitung der Untersuchung abgelaufen sein müsse. Eine Wende zur Besserung kann der Jugendliche auch während der Strafuntersuchung und unter Umständen gerade unter ihrem Eindruck nehmen. Warum dem unter dem erzieherischen Gesichtspunkt, der im Jugendstrafrecht vor dem Sühnegedanken den Vorrang hat (
BGE 94 IV 58
), nicht Rechnung getragen werden sollte, ist nicht zu ersehen. Freilich wird damit in vielen Fällen
Art. 98 Abs. 4 StGB
zur Anwendung gelangen können. Das aber wurde im Gesetzgebungsverfahren keineswegs übersehen (Prot. ExpKom BV S. 49, Votum Veillard; s. auch GERMANN, Grundzüge der Partialrevision des schweiz. StGB durch das Gesetz vom 18. März 1971, in ZStR 1971, S. 352). Auch werden Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit nicht in Frage gestellt noch das Jugendstrafrecht aus den Angeln gehoben, wenn die zuständige Behörde bei ihrem Ermessensentscheid pflichtgemäss verfährt (GERMANN, Kommentar zum StGB, Bd. I, N. 15.3 zu Art. 1).
b) Die Vorinstanz hat in Anwendung von
Art. 98 Abs. 4 StGB
erwogen, dass das Verschulden des Beschwerdegegners wegen des Vorgehens bei der Tat und deren Wiederholung nicht leicht wiege. Dagegen seien der übrige Leumund und die schulischen Leistungen gut. Auch sei X., der weder sittlich verwahrlost noch verdorben oder gefährdet ist, nicht vorbestraft. Das zum Teil hartnäckige Leugnen könne ihm nicht zur Last gelegt werden, weil bei den Einvernahmen immer der Vater anwesend geWesen sei, weshalb das Verhalten des Jugendlichen durchaus mit der Angst vor elterlichen Strafen erklärbar sei. Auch hätte er bei Zugabe seiner Verfehlungen mit einer Wegweisung aus dem Gymnasium rechnen müssen, was ihn kurz vor der Maturitätsprüfung hart treffen würde. X. habe sich schliesslich während 21 Monaten offensichtlich bewährt. In Würdigung all dieser Umstände und der persönlichen Verhältnisse sei ihm daher eine Gelegenheit zur Bewährung
BGE 100 IV 17 S. 22
für sein späteres Leben zu geben. Von Strafen und Massnahmen könne auch deswegen abgesehen werden, weil die Eltern des Beschwerdegegners in der Lage und fähig seien, ihrem Sohn die notwendige Führung zu bieten.
Daraus erhellt, dass das Obergericht
Art. 98 Abs. 4 StGB
nicht schematisch, sondern entsprechend den vorgenannten Grundsätzen angewendet hat. Es ist folglich von zutreffenden rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen. Auch hat es bei der Würdigung der konkreten Verhältnisse sein Ermessen nicht überschritten. Zwar ist es X. mit weitgehendem Wohlwollen begegnet. Doch kann nicht gesagt werden, es sei dabei willkürlich verfahren. Die Gründe, welche es für seinen Entscheid anführt, lassen sich sachlich vertreten. Was aber die Annahme der Vorinstanz anbelangt, das zum Teil hartnäckige Leugnen des X. sei aus der Angst vor elterlichen Strafen zu erklären, ist sie ebenso tatsächlicher Natur wie diejenige, wonach der Beschwerdegegner bei einem Geständnis mit einer Wegweisung aus dem Gymnasium hätte rechnen müssen. Beide Feststellungen binden den Kassationshof und werden deshalb vom Beschwerdeführer unzulässigerweise bestritten. Es muss somit beim angefochtenen Urteil sein Bewenden haben.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist. | null | nan | de | 1,974 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eb46b975-662b-4d4c-811b-57d2702ec3a9 | Urteilskopf
106 Ia 238
45. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. Oktober 1980 i.S. Lüthi gegen Marthaus und Kons., Einwohnergemeinde Solothurn und Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn (staatsrechtliche Beschwerde) | Regeste
Art. 89 Abs. 2 OG
.
Zustellung der Entscheidungsgründe aufgrund ständiger Praxis des solothurnischen Verwaltungsgerichtes. | Erwägungen
ab Seite 238
BGE 106 Ia 238 S. 238
Aus den Erwägungen:
1.
Die Beschwerdegegner halten die Beschwerde für verspätet, weil sie zwar binnen 30 Tagen seit Zustellung der verwaltungsgerichtlichen Erwägungen, nicht aber innert der gleichen Frist nach dem vorgängigen Erhalt des Urteilsdispositivs eingereicht worden sei. Nach
Art. 89 Abs. 2 OG
kann, sofern von Amtes wegen nachträglich Entscheidungsgründe zugestellt werden, die staatsrechtliche Beschwerde noch innert dreissig Tagen seit Eingang der Ausfertigung erhoben werden. Von Amtes wegen geschieht eine solche nachträgliche Zustellung, wenn das Gesetz sie in allgemeiner Weise - also nicht bloss für den Fall, dass eine Partei es verlangt oder gegen das Urteil ein Rechtsmittel eingelegt werden kann - vorschreibt oder wenn die Zustellung auf ständiger Praxis beruht und in jedem Fall erfolgt (
BGE 99 Ia 558
, mit Hinweisen).
Art. 89 Abs. 2 OG
gelangt dagegen nicht zur Anwendung, wenn die Gerichtskanzlei eines Kantons von Fall zu Fall und nach eigenem Gutdünken darüber befindet, ob sie einer oder beiden Parteien ein begründetes Urteil zustellen will.
Nach dem eingeholten Amtsbericht vom 19. Mai 1980 wird in Fällen, in denen - wie hier - die Urteilsberatung nicht am Verhandlungstag stattfand, anstelle der mündlichen Eröffnung eine Urteilsanzeige zugestellt. Diese wird nicht als formelle Urteilseröffnung betrachtet, weshalb sie weder als Gerichtsurkunde noch eingeschrieben, sondern mit gewöhnlicher Post zugestellt wird. Für dieses Vorgehen besteht nach dem Amtsbericht keine ausdrückliche Rechtsgrundlage. Hingegen wird nach ständiger Praxis des kantonalen Verwaltungsgerichts ein begründetes Urteil nach der mündlichen Urteilseröffnung oder der stellvertretenden schriftlichen Mitteilung des Urteilsdispositivs in allen Fällen zugestellt, und zwar unabhängig vom Begehren einer Prozesspartei. Damit sind die Voraussetzungen zur Anwendung von
Art. 89 Abs. 2 OG
gegeben, d.h. die vorliegende Beschwerde durfte noch innert dreissig Tagen seit Eingang der begründeten Urteilsausfertigung eingereicht werden. | public_law | nan | de | 1,980 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
eb49ad79-d955-45c0-bf0c-a05345326eac | Urteilskopf
84 III 29
10. Entscheid vom 25. April 1958 i.S. X. | Regeste
Lohnpfändung zugleich für eine Alimenten- und eine gewöhnliche Betreibung ohne Berücksichtigung der laufenden, das Existenzminimum voll in Anspruch nehmenden Alimentenverpflichtung: Aus den Lohneingängen ist vorab die Ah.mentenbetreibung zu befriedigen. | Sachverhalt
ab Seite 29
BGE 84 III 29 S. 29
A.-
Der Schuldner A. wurde von Dr. X. für eine Zahnarztrechnung von Fr. 560.-- und kurz darauf von seiner geschiedenen Frau für Kinderalimente von Fr. 210.-- pro Monat im rückständigen Totalbetrage von Fr. 630.-- betrieben. Am 28. September 1957 vollzog das Betreibungsamt für die beiden zu einer Gruppe vereinigten Betreibungen eine Lohnpfändung von Fr. 200.-- im Monat, ausgehend von einem Existenzminimum von Fr. 330.-- (ohne die Alimentenverpflichtung) und einem Lohn von Fr. 530.--.
BGE 84 III 29 S. 30
In der Folge setzte das Betreibungsamt die Lohnpfändung auf Fr. 180.-- herab. In der Pfändungsurkunde vermerkte es, dass die Lohneingänge vorab für die Alimentenbetreibung zu verwenden seien. So verfuhr das Betreibungsamt denn auch, sodass Dr. X. leer ausging. Im Januar 1958 führte dieser deswegen Beschwerde mit dem Antrag, das Betreibungsamt sei anzuweisen, die von jetzt an eingehenden Lohnquoten vollumfänglich ihm zuzuteilen, bzw., laut Begehren vor der oberen Aufsichtsbehörde, die seit dem Pfändungsvollzug angesammelten Beträge gemäss
Art. 144 SchKG
proportional auf die beiden Betreibungen zu verteilen.
B.-
Beide Aufsichtsbehörden haben die Beschwerde abgewiesen. Die obere führt aus, Alimentenforderungen für eine höchstens ein Jahr zurückliegende Zeitspanne gehörten zum Zwangsbedarf des Schuldners. Hätte das Betreibungsamt anlässlich des Pfändungsvollzugs bei Berechnung des Zwangsbedarfs die Unterhaltsbeiträge von monatlich Fr. 210.-- berücksichtigt, so hätte der Zwangsbedarf das Einkommen überstiegen und es wäre überhaupt keine Lohnpfändung für den Beschwerdeführer möglich gewesen. Auf die gepfändete Lohnquote von Fr. 200.-- (bzw. in der Folge Fr. 180.--) habe somit ausschliesslich die Alimentengläubigerin für ihre Betreibung Anspruch. Einen Verlustschein habe das Betreibungsamt dem Beschwerdeführer bei dieser Sachlage beim Pfändungsvollzug nicht auszustellen gehabt, da die Alimentengläubigerin für ihre damals in Betreibung gesetzte Forderung von Fr. 630.-- lange vor Ablauf des Lohnpfändungsjahres befriedigt gewesen, sodass dann - ohne eine neue Alimentenbetreibung - auch der Beschwerdeführer noch zum Zuge gekommen wäre.
C.-
Mit dem vorliegenden Rekurs hält der Beschwerdeführer an seinem Begehren fest. Er führt aus, da die Pfändung zugunsten seiner Betreibung Nr. 3890 bis zu Ende des Pfändungsjahres in Kraft stehe, seien die Eingänge, nach Deckung der Alimentenbetreibung Nr. 3953,
BGE 84 III 29 S. 31
seiner Betreibung gutzuschreiben und zwar bevor sie später vollzogenen, nachgehenden Pfändungen zugewiesen würden. Es gehe nicht an, bei Festsetzung des Existenzminimums bei der Pfändung die Alimentenforderung nicht zu berücksichtigen, sie dann aber bei der Verteilung einzukalkulieren und den gewöhnlichen Gläubiger einfach beiseite zu lassen und die Lohneingänge späteren, nachgehenden Gläubigern zuzuweisen.
Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
Nach ständiger Rechtsprechung sind Unterhaltsbeiträge an Familienmitglieder bei der Ermittlung des Existenzminimums des Schuldners als Notbedarfsausgaben mit zu berücksichtigen, soweit der Alimentengläubiger die Beiträge zur Bestreitung seines Unterhaltes wirklich benötigt und vorausgesetzt, dass der Schuldner sie auch tatsächlich bezahlt. Der Privilegierung der Alimentenforderungen vor gewöhnlichen Forderungen muss jedoch auch in Hinsicht auf den Zeitpunkt erfolgter Lohnpfändungen Rechnung getragen werden. Grundsätzlich muss sich allerdings der eine Lohnpfändung verlangende Alimentengläubiger eine früher vollzogene Lohnpfändung zugunsten eines gewöhnlichen Gläubigers entgegenhalten lassen. Ist jedoch bei der früheren Lohnpfändung die Alimentenschuld nicht berücksichtigt worden und wird nun hinterher diese in Betreibung gesetzt, muss das Betreibungsamt in der neuen Betreibung den Betrag pfänden, auf den es diese Beitragspflicht bei Festsetzung der pfändbaren Lohnquote in der ersten Betreibung geschätzt hätte. Diese Rechtsprechung geht von dem Grundsatze aus, dass dem Alimentengläubiger immer der für seinen Unterhalt notwendige Betrag vorbehalten werden muss, sogar trotz den zugunsten gewöhnlicher Gläubiger bestehenden Lohnpfändungen (
BGE 80 III 65
= Praxis Bd. 43 S. 395 f.).
Im vorliegenden Fall muss dies umso mehr gelten, als
BGE 84 III 29 S. 32
zugunsten des Rekurrenten nicht eine frühere, die Alimentenschuld nicht berücksichtigende Lohnpfändung besteht, sondern die am 28. September 1957 vollzogene zugleich für die Alimenten- und die gewöhnliche Betreibung erfolgte. Aus den eingehenden Lohnquoten war daher, wie es das Betreibungsamt schon in der Pfändungsurkunde angeordnet hat, vorab die Alimentenbetreibung zu befriedigen. Diese ging damals nur auf Fr. 630.--. Dieser Betrag wäre also aus der Lohnpfändung in vier Monaten gedeckt gewesen und nachher bis zum Ablauf des Pfändungsjahres der Rekurrent mit seiner Forderung zur Befriedigung an die Reihe gekommen, vorausgesetzt freilich, dass der Schuldner die weiterhin laufenden Alimente nicht bezahlte und die Alimentengläubigern die neu auflaufenden Beträge nicht wieder in Betreibung setzte. Es stand mithin damals noch keineswegs fest, dass der Rekurrent bis zum Ablauf des Lohnpfändungsjahres für seine Forderung nicht würde befriedigt werden, weshalb das Betreibungsamt auch keinen Verlustschein auszustellen hatte. Sobald allerdings entweder der Schuldner die Unterhaltsbeiträge bezahlt oder von der Gläubigerin dafür betrieben wird, gehen die Lohnpfändungen hiefür derjenigen für eine gewöhnliche Forderung vor. Findet infolgedessen der Rekurrent bis zum Ablauf des Jahres nicht Befriedigung und auch nicht die Möglichkeit, eine neue, nicht zufolge einer konkurrierenden Alimentenbetreibung erfolglose Lohnpfändung vornehmen zu lassen, so wird das Betreibungsamt ihm dannzumal den Verlustschein nicht vorenthalten können.
Dispositiv
Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:
Der Rekurs wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,958 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb4cbaa8-6c00-420c-a024-07860fb7d5f8 | Urteilskopf
89 II 273
37. Arrêt de la IIe Cour civile du 26 septembre 1963 dans la cause M. c. J. | Regeste
Vaterschaftsklage.
1.
Art. 315 ZGB
ist anwendbar, sobald die Merkmale des unzüchtigen Lebenswandels in objektiver Hinsicht gegeben sind, gleichgültig was die Mutter zu ihrem Verhalten bewogen haben mag (Erw. 1).
2. Der unzüchtige Lebenswandel im Sinne dieser Gesetzesnorm hindert die klagende Partei nicht, den Beweis der Vaterschaft des Beklagten durch eine anthropologisch-erbbiologische Expertise zu erbringen (Erw. 2).
3. Ist der Richter kraft Bundesrechtes verpflichtet, eine von der klagenden Partei verlangte anthropologisch-erbbiologische Expertise anzuordnen? Frage offen gelassen. (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 273
BGE 89 II 273 S. 273
A.-
Le 7 décembre 1956, E. M. mit au monde une fille, Henriette-Laure. Elle était alors mariée avec R. C. Désavouée par celui-ci selon l'art. 254 CC, Henriette-
BGE 89 II 273 S. 274
Laure fut déclarée fille illégitime de sa mère. Deux autres enfants, Laurette et Diane, nées respectivement les 19 mai 1959 et 11 juillet 1960, suivirent le même sort. Le mariage des époux C.-M. fut dissous par le divorce, prononcé le 13 février 1960. Le jugement constate notamment que la femme a commis adultère avec plusieurs hommes.
B.-
Le 29 juin 1960, Henriette-Laure M., représentée par son curateur, introduisit une action en paternité tendante à des prestations pécuniaires contre A.-L. J., avec lequel sa mère avait entretenu à de nombreuses reprises des relations intimes, en particulier du 5 au 24 mars 1956, alors que son mari accomplissait une période de service militaire. Le défendeur conclut à libération des fins de la demande, en invoquant les art. 314 al. 2 et 315 CC.
Statuant en première instance le 18 février 1963, le Tribunal du district de Lausanne admit l'action en considérant que l'expertise anthropobiologique du prof. Baumann, à Genève, dont les conclusions étaient confirmées par le prof. Thélin, à Lausanne, apportait la preuve directe de la paternité du défendeur. Au sujet du comportement de la mère avant et pendant la période légale de conception qui s'étend du 11 février au 10 juin 1956, le jugement relate notamment ce qui suit: en automne 1955, un an après son mariage, E. M. a entretenu une fois des relations sexuelles avec un nommé V.; du 1er mars au 1er septembre 1956, elle a logé en chambre un sieur P., qui a refusé de témoigner dans le procès en divorce des époux C.-M.; dans la seconde quinzaine de février 1956, elle s'est donnée à un nommé Ch., debout contre un mur, près d'une gare, par un froid intense; pendant la période de service militaire de son mari, du 5 au 24 mars 1956. elle a eu des relations intimes non seulement avec celui-ci, mais encore avec deux amants, dont le défendeur: après s'être séparée de son conjoint, elle a noué une liaison avec un Italien, qui lui a remis parfois de l'argent; dans le village où elle habitait, il était notoire qu'elle trompait
BGE 89 II 273 S. 275
son mari et recevait des visites masculines. En droit, les premiers juges ont estimé que ces faits ne constituaient pas l'inconduite au sens de l'art. 315 CC et de la jurisprudence du Tribunal fédéral, en raison du manque évident d'éducation et d'intelligence de la mère. Ils ont ajouté qu'à leur avis l'inconduite, fût-elle réalisée, ne mettrait pas obstacle à l'admission de l'action, car la preuve directe de la paternité du défendeur ne laisserait plus de place à l'exception tirée de l'art. 315 CC.
C.-
Par arrêt du 22 mai 1963, la Chambre des recours du Tribunal cantonal vaudois réforma le jugement et débouta la demanderesse de ses conclusions. Admettant l'exception d'inconduite, la Cour cantonale jugea que la preuve directe de la paternité n'était pas recevable en pareil cas. Elle ne s'est donc pas prononcée sur la valeur de l'expertise anthropobiologique.
D. - Henriette-Laure M. recourt en réforme au Tribunal fédéral en concluant derechef à l'allocation d'une pension alimentaire.
L'intimé A.-L. J. conclut au rejet du recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Aux termes de l'art. 315 CC, l'action en paternité est rejetée lorsque la mère vivait dans l'inconduite à l'époque de la conception. Selon la jurisprudence, l'inconduite suppose que la mère manifestait habituellement, durant la période considérée, une telle absence de retenue au point de vue sexuel qu'on doit en inférer qu'elle a entretenu des rapports intimes non seulement avec le défendeur, mais encore avec d'autres amants (RO 82 II 270/1;
79 II 26
). Ces conditions sont réunies en l'espèce. E. M. s'est donnée à plusieurs partenaires pendant un temps très court, commettant ainsi des adultères réitérés, tout en continuant d'entretenir simultanément des relations intimes avec son propre mari. Peu importe que son comportement soit dû à un défaut d'éducation et d'intelligence. Le but visé par l'art. 315 CC n'est pas de punir
BGE 89 II 273 S. 276
la mère parce qu'elle se serait conduite d'une manière moralement répréhensible (cf. RO 39 II 14, consid. 3), mais de tirer la conséquence logique d'une attitude qui empêche toute constatation suffisamment certaine au sujet de la paternité. Aussi la disposition précitée doit-elle être appliquée dès que les éléments objectifs de l'inconduite sont réunis, sans égard aux raisons subjectives du comportement de la mère.
2.
La Cour cantonale estime que, dans l'état actuel de la législation et de la jurisprudence, l'inconduite au sens de l'art. 315 CC entraîne la déchéance de l'action en recherche de paternité tant pour la mère que pour l'enfant, sans que la partie demanderesse puisse tenter de prouver que le défendeur est néanmoins le père de celui-ci. Laissée indécise dans l'arrêt publié au RO 87 II 65 ss., qui admet la preuve directe de la paternité au moyen de l'expertise anthropobiologique, la question doit être résolue en l'espèce.
Dans sa jurisprudence antérieure, le Tribunal fédéral a déclaré à plusieurs reprises que les dispositions des art. 314 al. 2 et 315 CC étaient inspirées toutes deux de la même idée, à savoir que l'action dirigée contre le père présumé doit être rejetée lorsque la paternité du défendeur est incertaine; leurs effets différaient toutefois sur un point: dans l'hypothèse visée à l'art. 314 al. 2 CC, la partie demanderesse conservait en principe la faculté de prouver qu'en dépit des doutes sérieux résultant de faits établis, le défendeur était bien le père de l'enfant, tandis que la contrepreuve n'était pas admise en cas d'inconduite de la mère (RO 44 II 26 et références citées;
63 II 13
;
79 II 27
). Comme le dit expressément le premier arrêt, cette différence apparaissait plus théorique que pratique, car on pensait alors que la preuve exclue par l'art. 315 CC serait presque toujours impossible (RO 44 II 26). Or les progrès de la science permettent aujourd'hui d'établir la paternité directement, c'est-à-dire sans l'aide de la présomption que l'art. 314 al. 1 CC attache à la cohabitation
BGE 89 II 273 S. 277
durant la période critique. En présence de cette situation nouvelle, la distinction qu'opérait la jurisprudence ne se justifie plus. En effet, aucune raison logique ou morale ne commande de soustraire le défendeur à l'obligation de contribuer à l'entretien d'un enfant dont il est reconnu être le père, sous le prétexte que la mère aurait vécu dans l'inconduite à l'époque de la conception. Du moment que la paternité est prouvée directement, l'art. 315 CC, dont le sens n'est pas de punir la mère et encore moins l'enfant, perd sa raison d'être (MERZ, RJB 98 (1962) 414; SCYBOZ'JdT 1961 I 527/8 et 1962 I 206). Il s'ensuit que l'inconduite de la mère ne saurait faire obstacle à l'administration de la preuve directe de la paternité du défendeur au moyen d'une expertise anthropobiologique.
3.
En l'espèce, le Tribunal cantonal vaudois ne s'est pas prononcé sur la force probante qu'il attribue aux rapports d'expertise figurant au dossier. Il a seulement jugé cette preuve dénuée de pertinence, vu l'inconduite de la mère. La cause doit dès lors lui être renvoyée pour qu'il donne son appréciation sur les conclusions des experts, sans qu'il soit nécessaire d'examiner aujourd'hui si le droit fédéral obligeait les juges de première instance à ordonner l'expertise anthropobiologique qui leur avait été demandée.
Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral
Admet le recours, annule l'arrêt attaqué et renvoie la cause à l'autorité cantonale pour nouvelle décision dans le sens des motifs. | public_law | nan | fr | 1,963 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb51223f-45f6-44a5-9300-cc2db3b963f1 | Urteilskopf
86 II 365
56. Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. Dezember 1960 i.S. Wwe. Alfred Giesbrecht Söhne gegen Vertglas, Genossenschaft der Schweizerischen Glasgrosshändler. | Regeste
1.
Art. 839 OR
. Jedenfalls wer Ziele verfolgt, die den von der Genossenschaft geförderten oder gesicherten Interessen ganz oder teilweise widersprechen, hat nicht Anspruch, als Genossenschafter aufgenommen zu werden (Erw. 1).
2.
Art. 28 ZGB
, Boykott.
a) Auch wer sich dem Willen des Boykottierenden bis zum Entscheid des Richters beugt, kann Ansprüche aus Boykott erheben (Erw. 2).
b) Der Unterlassungsanspruch aus unmittelbarem Boykott hat zur Folge, dass der Richter den Boykottierenden verpflichten muss, Verträge bestimmten Inhalts auch mit dem Boykottierten abzuschliessen (Erw. 3).
c) Der Boykott verletzt das Persönlichkeitsrecht auf freie wirtschaftliche Betätigung und ist daher grundsätzlich widerrechtlich. Nur wer mit dem Boykott offfensichtlich überwiegende berechtigte Interessen verfolgt, die er auf keine andere Weise wahren kann, verstösst nicht gegen das Recht (Erw. 4).
d) Den Beweis solcher Rechtfertigungsgründe hat der Boykottierende zu leisten (
Art. 8 ZGB
) (Erw. 4 lit. e). | Sachverhalt
ab Seite 366
BGE 86 II 365 S. 366
A.-
Die "Vertglas, Genossenschaft der Schweizerischen Glasgrosshändler", die den "gemeinsamen Einkauf von Fensterglas aller Dicken" und die "Regelung des Verkaufes" bezweckt (Art. 1 der Statuten), schliesst mit den in- und ausländischen Herstellern Kaufverträge ab, "um den gesamten inländischen Bedarf an Fensterglas aller Stärken zu decken" (Art. 2 Abs. 1 der Statuten). Die beiden schweizerischen Glashütten Moutier und Romont und die ausländischen Hüttenorganisationen haben sich ihr gegenüber verpflichtet, Fensterglas für den schweizerischen Bedarf nur an die ihr angehörenden Firmen zu liefern. Die Mitglieder der Vertglas dürfen Fensterglas für diesen Bedarf ausschliesslich bei der Vertglas beziehen (Art. 2 Abs. 1 der Statuten). Diese "regelt die Bezugsberechtigung für Fensterglas aller Stärken, Dimensionen und Qualitäten vermittelst Kontingentierung und stellt die Verkaufsbedingungen auf" (Art. 2 Abs. 2 der Statuten).
"Als Mitglied der Vertglas kann jede im schweizerischen Handelsregister eingetragene Glashandelsfirma aufgenommen werden, die in den der Aufnahme vorausgegangenen, aufeinanderfolgenden fünf Jahren ausschliesslich durch die Vertglas-Organisation gekauft, den Händlervertrag unterschrieben und je Kalenderjahr im Durchschnitt
BGE 86 II 365 S. 367
1 1/2% des Schweizerbedarfs, aber mindestens jährlich 200 Tonnen Fensterglas aller Stärken zu Vertglas-Preisen abgesetzt hat" (Art. 3 Abs. 1 der Statuten). Die Genossenschafter dürfen kein Fensterglas einsetzen (Art. 11 Abs. 1 der Statuten, Art. 1 des Händlervertrages). "Die direkte oder indirekte Übernahme sowie die Ausführung von Fensterglas-Verglasungen auf Holz" ist ihnen verboten. Sie dürfen aber Kristallglas in Schaufenster-Anlagen einsetzen, ferner die Verglasung auf Eisen- oder Betonrahmen übernehmen, wenn sie den Einsatz durch selbständige Glaser ausführen lassen (Art. 11 Abs. 1 der Statuten).
Die Kollektivgesellschaft Wwe. Alfred Giesbrecht Söhne in Bern, die sowohl Glashandel betreibt als auch das Verglasen, namentlich auf Holz, besorgt, wurde von der Vertglas am 1. Juni 1949 vertraglich als Grosskonsument anerkannt und verpflichtete sich, während der Dauer des Vertrages alles benötigte Fensterglas bei den Mitgliedern der Vertglas oder bei den dieser Genossenschaft vertraglich angeschlossenen Händlern oder Grosskonsumenten zu kaufen. Sie bezog von 1954-1958 jährlich 356-522 Tonnen Fensterglas. Auf den Preisen werden ihr 8% Mengenrabatt gewährt.
Am 24. Juli 1958 ersuchte die Firma Wwe. Alfred Giesbrecht Söhne die Vertglas, sie als Genossenschafterin aufzunehmen. Die Vertglas antwortete am 29. August 1958, der Vorstand habe das Gesuch abgelehnt, da sie den Händlervertrag nicht unterschrieben habe und folglich die Voraussetzungen der Mitgliedschaft nicht erfülle.
B.-
Am 29. Juni 1959 klagte die Firma Wwe. Alfred Giesbrecht Söhne beim Handelsgericht des Kantons Zürich mit den Begehren: 1. die Vertglas zu verpflichten, sie als Mitglied aufzunehmen, eventuell sie zu den für die Mitglieder geltenden Bedingungen zu beliefern; 2. die Vertglas zu verpflichten, ihr Fr. 13'690.-- nebst 5% Zins seit 14. April 1959 sowie von der Klageeinleitung an bis zur Aufnahme als Mitglied monatlich Fr. 3900.-- nebst 5% Zins zu bezahlen.
BGE 86 II 365 S. 368
Das Handelsgericht wies am 10. Juni 1960 die Klage entsprechend dem Antrage der Beklagten ab.
C.-
Die Klägerin hat die Berufung erklärt. Sie beantragt dem Bundesgericht, das Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 839 OR
, auf den die Klägerin das Begehren um Verleihung der Mitgliedschaft stützt, können in eine Genossenschaft jederzeit neue Mitglieder aufgenommen werden (Abs. 1). Die Statuten können unter Wahrung des Grundsatzes der nicht geschlossenen Mitgliederzahl die näheren Bestimmungen über den Eintritt treffen, dürfen diesen jedoch nicht übermässig erschweren (Abs. 2).
InBGE 69 II 45wurde ausgeführt, die Genossenschaft könne die Mitgliedschaft von der Ausübung eines bestimmten Berufes und anderen tatsächlichen und rechtlichen Eigenschaften abhängig machen und den Eintritt selbst solchen Personen verweigern, die diese Voraussetzungen erfüllten, es sei denn, die Weigerung verstosse gegen allgemeine Rechtsgrundsätze (
Art. 2, 27 ZGB
). Neuere Urteile gehen davon aus, wer die statutarischen Voraussetzungen erfülle, habe Anspruch, aufgenommen zu werden (
BGE 76 II 294
,
BGE 82 II 306
Erw. 8). Das Schrifttum deckt sich mit dieser Rechtsprechung nur zum Teil (HUBER, ZSchwR nF 59 392; MERZ, Über die Schranken der Kartellbindung, Bern 1953 59; VODOZ, Le droit d'entrer dans une société coopérative appliqué aux organisations professionnelles, Diss. Lausanne 1954 63 ff.; SECRÉTAN, JdT 105 I 200; a.M. DESCHENAUX, ZSchwR nF 70 169 f. Anm. 116; HEFTI, Der Anspruch des Aussenseiters auf Kartellmitgliedschaft, Diss. Bern 1956 44; GERWIG, Schweizerisches Genossenschaftsrecht,
BGE 86 II 365 S. 369
Bern 1957 231 ff.; MONNIER, De l'entrée dans une société coopérative, Diss. Neuchâtel 1957 128 f.).
Mag sie standhalten oder nicht, so lässt sich aus
Art. 839 OR
jedenfalls nicht ableiten, dass Anspruch auf die Mitgliedschaft auch habe, wer Ziele verfolgt, die den von der Genossenschaft geförderten oder gesicherten wirtschaftlichen Interessen ganz oder teilweise widersprechen. Anders entscheiden, hiesse die Genossenschaft verpflichten, ihren Zweck den Wünschen des Bewerbers anzupassen. Das ist nicht der Sinn des
Art. 839 OR
. Gemäss
Art. 828 Abs. 1 OR
ist jeder Genossenschaft die "Förderung oder Sicherung bestimmter wirtschaftlicher Interessen ihrer Mitglieder in gemeinsamer Selbsthilfe" eigen. Die Genossenschaft kann und muss somit - im Rahmen des Rechts und der Sittlichkeit (
Art. 52 Abs. 3 ZGB
) - bestimmen, welchen wirtschaftlichen Interessen sie dienen will. Dem Bewerber obliegt, sich den von der Genossenschaft geförderten oder gesicherten Interessen unterzuordnen, wenn er Mitglied werden will. Daher hat die Klägerin jedenfalls solange nicht Anspruch, von der Beklagten als Genossenschafterin aufgenommen zu werden, als sie das Einsetzen von Fensterglas auf Holz besorgt, das den Mitgliedern der Beklagten durch Art. 11 der Statuten und Art. 1 des Händlervertrages untersagt ist.
Hiegegen lässt sich nicht einwenden, dieses Verbot widerspreche dem Recht und den guten Sitten, weil kein sachlicher Grund es rechtfertige und es nur dazu diene, unerwünschte Mitbewerber von der Genossenschaft fernzuhalten und den gegenwärtigen Mitgliedern ein Monopol zu sichern. Ob die statutarische Beschränkung der Mitgliedschaft auf ausschliessliche Glasgrosshändler nur der Klägerin oder, wie diese behauptet, zahlreichen Firmen der Zentralschweiz den Eintritt verunmöglicht, ist unerheblich. Die Beklagte verstösst weder gegen das Recht noch gegen die guten Sitten, wenn sie nur die Belange der ausschliesslich Grossglashandel treibenden Personen und Handelsgesellschaften fördern will, nicht auch jene von
BGE 86 II 365 S. 370
Firmen, die ausserdem die Verglasung auf Holz besorgen und die daher nicht notwendigerweise die gleichen Interessen haben wie die gegenwärtigen Genossenschafter. Ob die Beschränkung, die sie sich auferlegt, wegen unnützen Zwischenhandels oder übersetzter Zwischengewinne die Ware auf dem Wege vom Hersteller zum Verbraucher verteuert und daher diesem schadet, ist unerheblich. Jedermann ist im Rahmen des Gesetzes frei, sich wirtschaftlich so zu betätigen, wie ihm beliebt, mag das auch den Interessen anderer, ja selbst denen der Allgemeinheit, widersprechen. Da das schweizerische Recht auf dem Boden der Privatwirtschaft und der Verbandsfreiheit steht, darf der Richter nicht eingreifen. Das wäre nicht Rechtsprechung, sondern staatliche Lenkung der Wirtschaft.
Auch
Art. 2 ZGB
, auf den die Klägerin sich beruft, berechtigt den Richter nicht dazu. Die Beklagte handelt nicht gegen Treu und Glauben dadurch, dass sie den Kreis der Genossenschafter nicht statutarisch so erweitert, wie die Klägerin es wünscht. Dass sie den Glashandel durch ein tatsächliches Monopol beherrscht, ändert nichts. Wenn eine Genossenschaft ihre Monopolstellung missbraucht, um Dritte als Mitbewerber der Genossenschafter auszuschalten oder ihnen die geschäftliche Tätigkeit zu erschweren, z.B. durch Lieferungsverbote oder Sonderpreise, können die Verletzten wegen Eingriffs in ihre persönlichen Verhältnisse auf Unterlassung und Schadenersatz klagen. Wer die statutarischen und dem Gesetz nicht widersprechenden Voraussetzungen nicht erfüllt, hat dagegen auch in einem solchen Falle nicht Anspruch auf Aufnahme in die Genossenschaft.
Das Aufnahmebegehren der Klägerin lässt sich auch nicht damit begründen, das Verglasungsverbot werde von den Mitgliedern der Beklagten systematisch umgangen und sei nur vorgeschoben, um unerwünschte Mitbewerber fernzuhalten. Die Klägerin hat den Beweis, dass das zutreffe, nicht erbracht. Abgesehen davon, dass sie nur wenige Firmen zu nennen vermag, die das Verbot übertreten
BGE 86 II 365 S. 371
haben sollen, stellt das Handelsgericht verbindlich fest, dass die Beklagte gegen die Verletzungen eingeschritten ist. Nach den ersten Massnahmen von 1957, die nicht sehr wirksam gewesen sein mögen, änderte die Beklagte am 30. Juni 1959 die Statuten dahin ab, dass den Genossenschaftern auch irgendwelche Beteiligung an einer Firma verboten sei, die sich mit Verglasungen befasst, deren Ausführung den Genossenschaftern selber untersagt ist, und dass die Zuwiderhandlung nach fruchtloser Mahnung zum Verlust der Mitgliedschaft führe. Die Beklagte hat diese Bestimmung tatsächlich angewendet, und es ist ihr nach der Feststellung des Handelsgerichts nicht gleichgültig, ob die Genossenschafter sie befolgen oder nicht. Unter diesen Umständen ist die Beklagte nicht verpflichtet, die Klägerin, welche die Statuten zum vornherein nicht einhalten will, als Mitglied aufzunehmen.
2.
Die Klägerin leitet den Anspruch, von der Beklagten zu den für die Genossenschafter geltenden Bedingungen beliefert zu werden, sowie die Schadenersatzforderung daraus ab, dass die Beklagte sie boykottiere. Das Handelsgericht ist dagegen der Meinung, solange die Klägerin den Vertrag von 1949 mit der Beklagten aufrecht halte und folglich auf unmittelbare Belieferung durch in- und ausländische Hersteller von Glas verzichte, könne von einem Boykott nicht die Rede sein.
Ein Boykott, der, wenn er widerrechtlich ist, Anspruch auf Unterlassung und Schadenersatz gibt, liegt in der organisierten Meidung eines Gewerbetreibenden oder Arbeitnehmers zu dem Zwecke, ihn zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen zu zwingen oder ihn für ein solches zu massregeln (
BGE 76 II 285
,
BGE 81 II 122
,
BGE 82 II 297
). Organisiertem Zwange im Sinne dieser Rechtsprechung setzt die Beklagte die Klägerin aus, denn nach den Feststellungen des Handelsgerichts kann diese sich das für ihren Betrieb benötigte Fensterglas nicht zu konkurrenzfähigen Preisen verschaffen, wenn sie sich der den Markt beherrschenden Beklagten nicht fügt. Unter dem Zwange der von der
BGE 86 II 365 S. 372
Beklagten durchgesetzten Marktregelung schloss die Klägerin mit ihr den Vertrag vom 1. Juni 1949. Damit hörte der Zwang aber nicht auf. Er dauert solange an, als die Beklagte mit Hilfe der Ausschliesslichkeitsverträge, die sie mit den Herstellern von Fensterglas verbinden, unter Festsetzung der Preise und Kontingente den Markt beherrscht und sich weigert, die Klägerin zu den gleichen Bedingungen zu beliefern wie die Genossenschafter. Solange der Zwang nicht aufhört, sind die Voraussetzungen des
Art. 29 OR
erfüllt und kann der Klägerin nicht entgegengehalten werden, sie habe den Vertrag dadurch genehmigt, dass sie ihn seit 1949 erfüllte (vgl.
BGE 84 II 625
). Sie befindet sich nicht in der gleichen Lage wie eine Person, deren Willensmangel nach dem Abschluss des Vertrages aufhört und zur Zeit des Urteils nicht mehr besteht.
Allerdings beantragt die Klägerin nicht ausdrücklich, den Vertrag unverbindlich zu erklären, noch führt sie sonstwie ausdrücklich aus, sie wolle ihn nicht mehr halten. Indem sie verlangt, dass die Beklagte verpflichtet werde, sie zu den für die Genossenschafter geltenden Bedingungen zu beliefern, zielt sie jedoch auf die Ersetzung des alten Vertrages durch einen neuen ab. Sie will, dass der Druck, unter dem das bisherige Verhältnis zustande kam und abgewickelt wird, aufhöre und die Beklagte zu einem Vertrag Hand biete, dem die Klägerin ungezwungen zustimme. Ihr Eventualbegehren schliesst in sich, dass der Richter die Unverbindlichkeit des Vertrages feststelle. Die Beklagte kann daher aus diesem nichts ableiten. Da er der Klägerin bis zur Beendigung des Zwanges die einzige Möglichkeit bietet, das für ihren Betrieb benötigte Fensterglas zu den vereinbarten Preisen zu erhalten, konnte ihr nicht zugemutet werden, ihn zu künden und erst nachher zu klagen. Damit hätte sie sich der Gefahr ausgesetzt, dass ihr Geschäft zugrunde gerichtet und sie dafür nicht sicher und voll entschädigt werde. Das Privatrecht muss nicht nur dem helfen, der dem organisierten
BGE 86 II 365 S. 373
Zwange Widerstand leistet und dadurch geschädigt wird, sondern auch dem, der sich bis zum Entscheid des Richters beugt, damit der Schaden möglichst klein bleibe. Durch dieses Vorgehen verletzt der Betroffene keine Interessen des Boykottierenden. Dieser erreicht vorläufig was er will, wenn der Boykottierte sich bis zum Entscheid des Richters fügt.
3.
Das Begehren der Klägerin, der Richter habe die Beklagte zu verpflichten, sie zu den gleichen Bedingungen zu beliefern wie die Genossenschafter, ist nicht schon deshalb abzuweisen, weil es auf einen Zwang zum Abschluss von Verträgen abzielt, also in die Vertragsfreiheit eingreift. Da dem Boykott die organisierte Unterbindung oder Erschwerung wirtschaftlicher Beziehungen mit dem Boykottierten eigen ist, schränkt der Unterlassungsanspruch, den die Rechtsprechung des Bundesgerichts im Falle unerlaubten Boykottes anerkennt, diese Freiheit stets ein. Jeder unerlaubte Boykott, gehe er dahin, dass ein Verband seinen Mitgliedern oder Dritten Vertragsabschlüsse mit einer bestimmten Person verbietet (mittelbarer Boykott), oder bestehe er darin, dass ein über ein tatsächliches Monopol verfügender Verband die Abschlüsse unterlässt oder nur zu erschwerten Bedingungen vornimmt (unmittelbarer Boykott), beruht auf einem Missbrauch der Vertragsfreiheit. Es liegt kein grundsätzlicher Unterschied darin, dass in jenem Falle die richterliche Aufhebung des vom Verbande erlassenen Verbotes genügt, um dem Boykottierten zu seinem Recht zu verhelfen, während in diesem Falle die Untersagung des Boykottes durch den Richter das Gebot an den Boykottierenden in sich schliesst, Verträge zu bestimmten Bedingungen auch mit dem Boykottierten abzuschliessen. Die Zulässigkeit dieses Gebotes verneinen, hiesse den Unterlassungsanspruch davon abhängig machen, wie der Verband die Verfolgung seiner Ziele organisiert. Ein wirksames Einschreiten gegen den unmittelbaren Boykott wäre nicht möglich. Das kann das Gesetz nicht wollen.
BGE 86 II 365 S. 374
Der Vertragsfreiheit sind durch das Recht des Boykottierten auf Teilnahme am freien Wettbewerb im Falle des unmittelbaren Boykottes die gleichen Grenzen gezogen wie beim mittelbaren Boykott.
4.
a) Das Bundesgericht vertrat ursprünglich die Auffassung, wenn ein Verband von Gewerbetreibenden durch Drohung oder Zwang Kunden oder Lieferanten vom Verkehr mit einem Aussenseiter abhalte, begehe er eine unerlaubte Handlung (BGE 22 184 f.). Bald darauf erklärte es den von Arbeitnehmerverbänden ausgeübten Zwang für zulässig, wenn er einem erlaubten Zwecke diene und mit rechtmässigen Mitteln erfolge (
BGE 25 II 801
f.,
BGE 30 II 282
ff.). Die Rechtsprechung entwickelte sich dann dahin weiter, dass der organisierte Zwang zur Wahrung wirtschaftlicher Interessen als in der Regel zulässig erklärt wurde. Als unerlaubt bezeichnete das Bundesgericht ihn nur, wenn er sich zur Vernichtung des wirtschaftlichen Auskommens des Betroffenen eigne oder wenn der mit ihm verfolgte Zweck oder die angewendeten Mittel rechtswidrig seien oder den guten Sitten widersprächen (
BGE 32 II 366
ff.,
BGE 33 II 116
ff.,
BGE 34 II 252
ff.,
BGE 36 II 562
,
BGE 37 II 383
ff., 423,
BGE 40 II 619
ff.,
BGE 41 II 443
f., 511,
BGE 44 II 479
ff.,
BGE 48 II 327
). Später entschied es, dass eine nach Zweck und Mitteln nicht zu beanstandende kollektive Zwangsmassnahme dann unerlaubt sei, wenn der erstrebte Vorteil zum zugefügten Schaden in einem offenbaren Missverhältnis stehe, dass also sogar die Vernichtung des wirtschaftlichen Auskommens des Betroffenen sie nicht notwendigerweise rechtswidrig mache, aber anderseits die Widerrechtlichkeit unter Umständen auch schon bejaht werden müsse, wenn dieses Auskommen nicht gefährdet sei (
BGE 51 II 529
ff.,
BGE 52 II 383
,
BGE 54 II 175
,
BGE 56 II 435
f.,
BGE 58 II 226
,
BGE 61 II 252
f.,
BGE 62 II 105
, 280,
BGE 69 II 82
,
BGE 73 II 76
,
BGE 75 II 313
,
BGE 76 II 287
,
BGE 81 II 125
,
BGE 82 II 299
, 315,
BGE 85 II 496
, 552; vgl.
BGE 57 II 341
, 491).
Im neueren Schrifttum (s. namentlich F. GUISAN, La protection de la personnalité et le boycott commercial,
BGE 86 II 365 S. 375
Festgabe für Carl Wieland, Basel 1934 174; O. A. GERMANN, Unlauterer Wettbewerb, Zürich 1945 302 ff.; A. SIMONIUS, Ein verkanntes Freiheitsrecht, Festgabe für Erwin Ruck, Basel 1952 261 ff.; H. MERZ, Über die Schranken der Kartellbindung, Bern 1953 29 ff.; M. KUMMER, Anwendungsbereich und Schutzgut der privatrechtlichen Rechtssätze gegen unlauteren und gegen freiheitsbeschränkenden Wettbewerb, Bern 1960 129 ff.; JÄGGI, ZBJV 96 389; H. MERZ, ZBJV 96 460 ff.) wird teils gelehrt, der Boykott sei immer widerrechtlich und auf eine Abwägung der Interessen des Boykottierenden gegenüber denen des Boykottierten komme nichts an, teils wird der Rechtsprechung zum mindesten vorgehalten, sie verkenne die grundsätzliche Unerlaubtheit des Boykottes und trage dem Interesse des Boykottierten an freier wirtschaftlicher Betätigung zu wenig Rechnung.
b) Die Auffassung, der Boykott sei grundsätzlich erlaubt, lässt sich nicht damit begründen, es stehe jedem frei, sich des Abschlusses von Rechtsgeschäften zu enthalten, und jeder dürfe sich zur Verfolgung seiner Interessen mit anderen zusammenschliessen. Gewiss begeht an sich nichts Unerlaubtes, wer es ablehnt, mit jemandem ein Rechtsverhältnis einzugehen, mag seine Haltung auch verabredet sein. Im Boykott liegt aber mehr als ein verabredetes Nichtabschliessen von Verträgen. Er besteht in der organisierten Meidung eines Gewerbetreibenden oder Arbeitnehmers mit dem Zwecke, ihn zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen zu nötigen, sei es zur Aufgabe oder Nichtaufnahme einer bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeit (Vernichtungsboykott, Verdrängungsboykott), sei es zur Ausrichtung derselben auf die ihm auferlegten Bedingungen (Unterwerfungsboykott). Die verabredete Unterlassung bestimmten rechtsgeschäftlichen Verkehrs ist nur das Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Die Erlaubtheit des Mittels macht das auf einen Erfolg gerichtete oder ihn bewirkende Verhalten nicht rechtmässig. Massgebend ist, ob dieser vom Rechte nicht missbilligt ist. Verletzt die
BGE 86 II 365 S. 376
Handlung oder Unterlassung ein fremdes Rechtsgut oder trachtet der Täter mit ihr auf eine solche Verletzung, so ist sie widerrechtlich, wenn nicht besondere Gründe, z.B. berechtigte Notwehr oder erlaubte Selbsthilfe (
Art. 52 OR
), sie rechtfertigen.
c) Das Bundesgericht hat von jeher ein Recht des Boykottierten auf Achtung und Geltung seiner Persönlichkeit im Geschäftsverkehr anerkannt (BGE 22 184 f.,
BGE 32 II 367
) und darunter "Freiheit und Recht auf Betätigung der Persönlichkeit" (
BGE 33 II 118
), das Recht jeder Person auf "Entfaltung ihrer Kräfte im Wirtschaftsleben" (
BGE 52 II 383
), auf "Betätigung der Persönlichkeit in wirtschaftlicher Beziehung" (
BGE 73 II 78
), auf "Entfaltung der wirtschaftlichen Persönlichkeit" (
BGE 82 II 299
) verstanden.
Ein solches Recht besteht in der Tat. Die Bundesverfassung gewährleistet in den von ihr selbst und der Gesetzgebung gezogenen Schranken die Freiheit des Handels und der Gewerbe (
Art. 31 BV
). Diese Bestimmung bietet unmittelbar nur Schutz gegen Eingriffe des Staates (
BGE 32 II 368
,
BGE 52 II 384
,
BGE 62 II 100
). Sie verrät aber dennoch, dass die schweizerische Wirtschaft auf freiem Wettbewerb beruhen soll (
BGE 82 II 302
). Dieser darf nicht durch private Abmachungen ausgeschaltet werden. Jeder hat nicht nur das Recht, an ihm teilzunehmen, sondern soll sich dabei auch nach den Grundsätzen des freien Wettbewerbes benehmen können, d.h. in der Lage sein, seine wirtschaftliche Tätigkeit so zu organisieren, wie ihm beliebt. Das sind Auswirkungen seiner Persönlichkeit (
Art. 28 ZGB
). Wer durch kollektive Massnahmen darauf ausgeht, die Teilnahme eines andern am Wettbewerbe dauernd oder vorübergehend zu verunmöglichen oder zu erschweren oder dem andern die Bedingungen aufzuzwingen, unter denen er soll teilnehmen können, greift in seine persönlichen Verhältnisse ein, verletzt sein privates Recht auf Handels- und Gewerbefreiheit. Dieses gibt keinen Anspruch auf ein gesichertes wirtschaftliches Auskommen
BGE 86 II 365 S. 377
(
BGE 52 II 383
) und schützt niemanden vor den Ausflüssen eines sich nach den Grundsätzen von Treu und Glauben abwickelnden Wettbewerbes, mögen die Mitbewerber dem andern einzeln oder geschlossen in die Quere kommen. Boykott aber geht über das hinaus, was jeder als Folge eines normalen freien Wettbewerbes dulden muss. Wer jemanden boykottiert, trachtet darnach, ihn auf dem Wege organisierten Zwanges als Mitbewerber zu vernichten, zu verdrängen oder zu unterwerfen oder ihn zu massregeln. Das darf er nicht tun.
Gewiss treten die Grenzen zwischen solchem Vorgehen und erlaubtem Wettbewerbe nicht immer klar zutage. Die gegenseitige Macht der Wettbewerber, die um Bezugsquellen oder Absatzmöglichkeiten ringen, ist oft im Wirtschaftskampf entscheidend. Wird ein Mitbewerber durch die Macht anderer ausgeschaltet oder behindert, so ist er nicht notwendigerweise in seiner Persönlichkeit verletzt. Wann das zutreffe, ist aber eine Frage der Umschreibung des Boykottes, nicht seiner Widerrechtlichkeit. Liegt ein Boykott vor, so verletzt er notwendigerweise das Persönlichkeitsrecht auf freie wirtschaftliche Betätigung und ist er daher grundsätzlich widerrechtlich.
d) Freilich haben auch die Boykottierenden Persönlichkeitsrechte: die Vertragsfreiheit und die Freiheit des Zusammenschlusses. Diese erlauben ihnen aber nicht, absichtlich auf Eingriffe in fremde Rechte hinzuarbeiten. Sie finden eine Grenze im erwähnten Persönlichkeitsrecht des Boykottierten.
Das ist keine absolute Grenze. Die verabredete Unterlassung wirtschaftlicher Beziehungen zum Boykottierten ist, entgegen Simonius a.a.O. 276, nicht immer unerlaubt. Das Recht, keine solchen Beziehungen zu unterhalten, ergibt sich aus der Autonomie der Person im Privatrecht. Im Falle des Boykottes entfällt es wegen des Zieles, das mit ihm verfolgt wird. Nun lässt sich aber nicht sagen, dieses Ziel, bestehend in der Vernichtung, Verdrängung, Unterwerfung oder Massregelung des Boykottierten, sei
BGE 86 II 365 S. 378
notwendigerweise unerlaubt. Es gibt Fälle, in denen es den Boykott rechtfertigt (vgl. Urteil der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 25. Juni 1955 i.S. Film-Verleih-Verband in der Schweiz gegen Reinegger). Der Konflikt zwischen den beiden qualitativ gleichwertigen Rechten kann nicht ein für allemal entschieden werden, in dem Sinne, dass das eine dem andern als überlegen erklärt würde. Es verhält sich gleich wie in anderen Fällen, in denen Persönlichkeitsrechte aufeinanderstossen, z.B. das Recht auf Kritik und Aufklärung einerseits und das Persönlichkeitsrecht des durch sie Betroffenen anderseits. Der Richter hat im einzelnen Falle das von der Rechtsordnung höher eingeschätzte Recht zu bestimmen. Dabei wird er den sich gegenüberstehenden Interessen Rechnung tragen, die durch die in Frage stehenden Rechte geschützt sind. Jene des Boykottierenden sind gleich wie die des Boykottierten privater Natur und gehen diesen nicht grundsätzlich vor. Auch geben nicht die wirtschaftlich wichtigeren Interessen notwendigerweise den Ausschlag. Der Boykottierende handelt nicht schon dann rechtmässig, wenn die von ihm erstrebten Vorteile den dem Boykottierten zugefügten Schaden übertreffen. Nur wer mit dem Boykott offensichtlich überwiegende berechtigte Interessen verfolgt, die er auf keine andere Weise wahren kann, verstösst nicht gegen das Recht (vgl. OSER/SCHÖNENBERGER Art. 41 N. 25/7).
e) Der Boykottierende hat solche Interessen zu beweisen (
Art. 8 ZGB
). Der Boykottierte genügt seiner Pflicht durch den Nachweis des Boykottes. Das ergibt sich daraus, dass dieser grundsätzlich widerrechtlich ist und nur ausnahmsweise, wenn besondere Rechtfertigungsgründe vorliegen, trotz Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Boykottierten von der Rechtsordnung geduldet wird. Diese Verteilung der Beweislast entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung zum Vernichtungsboykott (
BGE 76 II 290
,
BGE 81 II 125
) und wurde im Ergebnis auch beim Verdrängungsboykott anerkannt (
BGE 82 II 302
Erw. 6),
BGE 86 II 365 S. 379
der sich übrigens von jenem nicht scharf abgrenzen lässt. Für den Unterwerfungsboykott kann nichts anderes gelten. Er bedient sich der Drohung mit Vernichtung oder Verdrängung als Mittel zur Unterwerfung. Sind Vernichtung und Verdrängung durch kollektiven Zwang grundsätzlich widerrechtlich, so kann auch die Bedrohung mit solchen Folgen in der Regel nicht zulässig sein. Der Boykottierte braucht daher nur darzutun, dass der Boykottierende auf Unterwerfung ausging. Dieser seinerseits hat zu beweisen, dass er offensichtlich überwiegende berechtigte Interessen hatte, die er nicht auf andere Weise wahrnehmen konnte.
f) Die II. Zivilabteilung, die wiederholt wie die I. Zivilabteilung den Boykott als grundsätzlich erlaubt bezeichnete (
BGE 51 II 525
,
BGE 85 II 552
), hat im Verfahren gemäss
Art. 16 OG
der Änderung der Rechtsprechung zugestimmt.
5.
a) Da die Klägerin von der Beklagten boykottiert wird und Boykotte grundsätzlich widerrechtlich sind, muss die Sache zur Neubeurteilung an das Handelsgericht zurückgewiesen werden. Wenn und soweit die Beklagte dem kantonalen Prozessrecht gemäss die nötigen Behauptungen aufgestellt und taugliche Beweise dafür angeboten hat, wird zu prüfen sein, ob sie mit dem Boykott offensichtlich überwiegende berechtigte Interessen verfolgt, die sie auf andere Weise nicht wahrnehmen kann.
Was die Beklagte in der Berufungsantwort vorbringt, genügt nicht zur Rechtfertigung ihres Boykottes.
Das gilt vorab für den Einwand, die Klägerin könnte durch tief angesetzte Verglasungspreise den Handel mit Fensterglas weitgehend an sich reissen, wodurch die reinen Glashändler ausgeschaltet und die Schreiner und Glaser gefährlich konkurrenziert würden. Die Tatsache, dass ein Unternehmer durch angemessene Organisation seines Betriebes in der Lage ist, die Gestehungskosten und damit die von seinen Kunden zu zahlenden Preise herabzusetzen, ist kein vom Recht anerkannter Grund, ihn zu boykottieren, mag auch sein Vorgehen den hergebrachten Aufbau eines Wirtschaftszweiges erschüttern. Wenn der
BGE 86 II 365 S. 380
Glasgrosshändler ein nützliches Zwischenglied ist, dessen Verdienst tatsächlichen Leistungen entspricht, dann entstehen der Klägerin sowohl die Kosten des Grosshändlers als auch jene des Verglasers, weil sie beide Tätigkeiten ausübt. Dann ist sie nicht in der Lage, zu wesentlich tieferen Preisen zu verglasen als andere. Sollte dagegen richtig sein, dass sie das tun kann, weil sie sowohl Grosshändler als Verglaser ist, dann stände fest, dass der Boykott einer unzweckmässig aufgezogenen Wirtschaft zu Hilfe kommen soll. Das wäre kein berechtigter Grund, durch Kollektivzwang in das Persönlichkeitsrecht der Klägerin auf Teilnahme an einem freien Wettbewerb einzugreifen.
Unerheblich ist auch der Einwand, die der Klägerin auferlegten Preise unterschieden sich von denen der Genossenschafter so wenig, dass das Geschäft der Klägerin nicht nur zugrunde gerichtet worden sei, sondern sich günstig entwickelt habe. Die Widerrechtlichkeit des Boykottes hängt nicht von den auferlegten Bedingungen ab, sondern ist gegeben, weil dem Boykottierten durch die Drohung mit Unterbindung der Lieferungen die Freiheit genommen wird, seine Tätigkeit so zu organisieren, wie ihm beliebt, d.h. weil er durch kollektive Massnahmen gezwungen wird, einer Organisation beizutreten oder einen Vertrag zu unterzeichnen. Es ist nicht nötig, dass ausserdem die auferlegten Bedingungen seine geschäftliche Entwicklung verhindern, d.h. der Unterwerfungsboykott sich in einen Verdrängungs- oder Vernichtungsboykott verwandle.
Wenn die Behauptung der Beklagten, der Einstandspreis für Fensterglas sei im Verhältnis zu den Bearbeitungskosten von völlig untergeordneter Bedeutung, richtig sein sollte, wäre übrigens nicht zu verstehen, dass die Aufhebung des von der Klägerin zu zahlenden Mehrpreises, der nach der Darstellung der Beklagten nur etwa 4% erreichen soll, sich eigne, den ganzen Wirtschaftszweig zugrunde zu richten, wie die Beklagte angeblich befürchtet.
b) Falls das Handelsgericht zum Schlusse kommt, der
BGE 86 II 365 S. 381
vorliegende Boykott lasse sich nicht rechtfertigen, ist das Begehren der Klägerin, die Beklagte habe sie zu den für die Genossenschafter geltenden Bedingungen zu beliefern, grundsätzlich begründet. Immerhin ist denkbar, dass die Verpflichtungen der Beklagten gegenüber ihren Lieferanten, namentlich gegenüber den schweizerischen Glashütten, oder andere Umstände, wie die von den Genossenschaftern im Interesse der schweizerischen Glaserzeugung gebrachten Opfer, einen Preisunterschied rechtfertigen, und zwar unter dem gleichen Gesichtspunkt, unter dem die Beklagte von der Klägerin im Falle der Aufnahme in die Genossenschaft ein Eintrittsgeld hätte erheben können (vgl.
BGE 82 II 303
Erw. 6 lit. b). Wenn die Kosten der von der Beklagten besorgten Organisation des Glasmarktes nicht nur aus den Erträgen der Verkäufe, sondern auch aus Leistungen der Genossenschafter (besonders in Form von Beiträgen, abzüglich Rückvergütungen) gedeckt werden, ist es billig, dass die Klägerin, die aus dieser Tätigkeit Nutzen zieht, ihren Teil daran beitrage. Das Handelsgericht wird diesen Punkt immerhin nur zu prüfen haben, wenn die Beklagte für die massgebenden Behauptungen entsprechend dem kantonalen Prozessrecht geeignete Beweise angeboten hat.
Sollte sich eine Erhöhung der Preise gegenüber denen, die den Genossenschaftern bewilligt werden, rechtfertigen, so darf sie nur unter dem erwähnten Gesichtspunkt stattfinden. Ausgeschlossen ist es, von der Klägerin höhere Preise zu verlangen, weil sie nicht nur Glashandel treibt, sondern auch Verglasungen ausführt. Der Gebrauch, den der Käufer von der gekauften Ware macht, berührt den Verkäufer nicht; dieser hat ihm in der Bestimmung der Preise nicht Rechnung zu tragen. Nur die den Grosshändlern eingeräumten Preise und Lieferbedingungen dürfen entscheidend sein. Da die Klägerin im grossen einkauft, hat sie Anspruch auf die gleichen Mengenrabatte wie die andern Grosshändler. Die Zuschläge, welche die Beklagte der Klägerin einzig zum Zwecke auferlegt, gewisse Mindestpreise beim Verbraucher zu gewährrleisten und so die
BGE 86 II 365 S. 382
Konkurrenzierung der Schreiner und Glaser zu verhindern, sind nicht zulässig.
c) Wenn die Beklagte keinen vom Recht anerkannten Grund hat, die Klägerin zu boykottieren, wird das Handelsgericht zu den weiteren Voraussetzungen der Schadenersatzansprüche und zu deren Höhe Stellung nehmen müssen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Juni 1960 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. | public_law | nan | de | 1,960 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb53c68b-a9d0-41e7-9f4c-e0c47201fb78 | Urteilskopf
118 II 342
67. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour civile du 4 mai 1992 dans la cause Nettoyage et Maintenance du Bâtiment S.A. contre Zurich Assurances S.A. (recours en réforme) | Regeste
Art. 33 VVG
; Versicherungsvertrag über Betriebshaftpflicht; Ausschluss der Versicherungsdeckung in bezug auf anvertraute Sachen.
1. Kriterien zur Auslegung einer Ausschlussklausel (E. 1a). Fall der Obhutsklausel in der Betriebshaftpflichtversicherung (E. 1b).
2. Weigerung des Versicherers, gestützt auf eine solche Klausel den Schaden zu decken, der durch den Verlust eines Schlüsselbunds entstanden ist, welcher einem mit der Wartung und der Reinigung eines Einkaufszentrums beauftragten Unternehmen anvertraut worden ist; Weigerung als berechtigt anerkannt (E. 2a).
3. Begriff der Bearbeitungsklausel (E. 2b). | Sachverhalt
ab Seite 343
BGE 118 II 342 S. 343
Le 20 décembre 1985, Nettoyage et Maintenance du Bâtiment S.A. (ci-après: NMB) a contracté une assurance responsabilité civile d'entreprise auprès de la Zurich Assurances, Agence générale de Genève S.A. (ci-après: la Zurich), pour la période du 1er janvier 1986 au 31 décembre 1990. Aux termes de l'art. 1er let. a des conditions générales d'assurance (CGA), la responsabilité civile couverte était en principe celle encourue par l'entreprise en cas, notamment, de "dégâts matériels, c'est-à-dire de destruction, détérioration ou perte de choses". Etaient toutefois exclues de l'assurance "les prétentions pour des dommages à des choses prises ou reçues par un assuré pour être utilisées, travaillées, gardées, transportées ou pour d'autres raisons (p.ex. en dépôt, pour une exposition) ou qu'il a prises en location ou à ferme" (
art. 7 let
. k CGA et 5 let. c des conditions complémentaires). Etait également exclue "la responsabilité civile pour des dommages économiques ne résultant pas d'une lésion corporelle ou d'un dégât matériel assuré" (
art. 7 let
. n CGA).
Le 4 décembre 1987, NMB a déclaré un sinistre survenu deux jours plus tôt au Centre commercial Eaux-Vives 2000 à Genève, à savoir la "perte d'un trousseau de clés avec 4 clés, dont le passe-partout général". La Zurich ayant refusé d'intervenir dans cette affaire en invoquant les clauses de l'
art. 7 let
. k et n CGA, NMB lui a intenté action en paiement de 56'027 fr. 50, plus intérêts, montant correspondant aux frais de surveillance temporaire, d'établissement d'un passe-partout provisoire et de changement des serrures. La défenderesse
BGE 118 II 342 S. 344
a conclu au rejet de l'action, en soutenant que la perte d'un trousseau de clés confié n'était pas assurée (
art. 7 let
. k CGA) et que, partant, les autres frais allégués étaient des dommages économiques ne résultant pas d'un dégât matériel assuré (
art. 7 let
. n CGA).
Par jugement du 15 novembre 1990, le Tribunal de première instance de Genève a débouté la demanderesse en admettant l'exclusion de l'assurance. Statuant sur appel le 22 novembre 1991, la Cour cantonale de justice civile a confirmé ce jugement.
Agissant par la voie du recours en réforme, NMB a requis le Tribunal fédéral de lui allouer ses conclusions. Selon elle, l'exclusion invoquée n'était pas claire; en outre, l'intimée commettait un abus de droit, la couverture offerte étant pratiquement vidée de tout contenu lorsque l'assuré est une entreprise de nettoyage qui exerce exclusivement son activité sur des objets à elle confiés.
Le Tribunal fédéral a rejeté le recours et confirmé l'arrêt entrepris.
Erwägungen
Extrait des considérants:
1.
a) Selon l'
art. 33 LCA
, l'assureur répond de tous les événements qui présentent le caractère du risque contre les conséquences duquel l'assurance a été conclue, à moins que le contrat n'exclue certains événements d'une manière précise, non équivoque. Les principes généraux de l'interprétation des contrats s'appliquent au contrat d'assurance, autant que la loi spéciale ne contient pas de dispositions particulières: l'
art. 100 LCA
renvoie au droit des obligations et, partant, au code civil. C'est ainsi que prévaut contre l'assureur la règle in dubio contra stipulatorem, autant toutefois qu'il a rédigé seul des clauses ambiguës - ainsi dans les conditions générales préformulées (Unklarheitsregel) -, mais sans qu'aient été épuisées les possibilités de l'interprétation ordinaire, du moins selon la jurisprudence suisse (HANS ROELLI/MAX KELLER, Kommentar zum schweizerischen Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag vom 2. April 1908, vol. I, p. 457/458 et les références). Cette règle vaut spécialement pour l'exclusion de certains événements de la couverture. Encore faut-il qu'on puisse, en toute bonne foi, la comprendre de différentes façons. Pour interpréter un contrat d'assurance, on recherchera donc d'abord, comme pour tout autre contrat, la réelle et commune intention des parties. Si elle ne peut être établie, il faut se fonder sur leur volonté probable, selon le principe dit de la confiance ou de la bonne foi, et considérer toutes les circonstances qui ont entouré la conclusion
BGE 118 II 342 S. 345
du contrat. On s'en tiendra à l'usage général et quotidien de la langue, sous réserve des acceptions techniques propres au risque envisagé (
ATF 116 II 347
consid. 2b,
ATF 112 II 253
consid. c et les références). Mais il ne s'agit pas de s'en tenir d'emblée à la solution la plus favorable à l'assuré (ALFRED MAURER, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 2e éd. 1986, p. 146/147).
Il est vrai, néanmoins, qu'une clause d'exclusion doit être interprétée "restrictivement" (RBA XIV No 38). Mais l'
art. 33 LCA
n'exige pas une énumération de tous les événements exclus; il suffit d'en décrire une catégorie de manière assez précise et non équivoque pour qu'il ne subsiste aucun doute, compte tenu du contexte, sur l'étendue du risque assuré (RBA VII No 121, XIII Nos 36 et 47, XVI No 26).
b) La police d'assurance litigieuse couvre le risque découlant de la responsabilité de la recourante envers les tiers, à la suite d'événements survenus dans le cadre de ses activités professionnelles. C'est le risque d'une perte patrimoniale que pourrait subir l'assuré parce qu'une prétention en dommages-intérêts est formée contre lui en raison d'une activité prévue dans la police (ROLAND BREHM, Le contrat d'assurance de responsabilité civile, Lausanne 1983, p. 75 No 179).
Dans l'assurance RC générale d'entreprise, les dommages causés par l'assuré aux objets confiés, généralement travaillés, sont exclus de la couverture par une clause usuelle et ancienne, qui concerne les "choses prises ou reçues par un assuré pour être utilisées, travaillées, gardées, transportées ou qui lui ont été louées ou affermées". C'est l'objet matériel de l'activité qui est visé par cette "Obhutsklausel" (BREHM, op.cit., p. 77/78, Nos 258 et 263; RBA XIII No 57 et les références, XIV No 38, XV No 39). La chose doit avoir été prise ou reçue par l'assuré; le second terme n'implique pas un transfert, mais la mise à disposition. La remise peut tendre notamment à l'utilisation de la chose ou en impliquer la garde; le dommage peut être la conséquence d'une omission, d'une négligence (ibidem, p. 78-80, Nos 264, 266, 270 et 272). La clause d'exclusion implique une relation suffisamment étroite entre la chose et l'assuré pour que le premier doive veiller sur la seconde (ROELLI/KELLER, op.cit., p. 486). Il faut éviter à la fois la négligence de l'assuré et le risque de collusion par report sur l'assurance d'une responsabilité d'entrepreneur (URS BÜTTIKER, Die Risikobegrenzung in der Haftpflichtversicherung, thèse Berne 1963, p. 64).
2.
Le cas de la clause de la chose confiée qui se réalise en l'espèce est défini clairement à l'
art. 7 let
. k al. 1 CGA. La recourante
BGE 118 II 342 S. 346
avait reçu le trousseau de clés - à la fois la clé d'entrée et le passe-partout - pour le garder et l'utiliser, en vue d'exécuter le contrat d'entretien et de nettoyage du centre commercial. Les frais de remplacement des clés perdues ne sont donc pas couverts par l'assurance. Il s'ensuit que les autres coûts éventuels - à savoir de la surveillance temporaire, de mesures provisoires, d'études et de changement de serrures - sont eux aussi exclus de la couverture, car cette responsabilité civile concernerait des dommages économiques ne résultant pas d'un dégât matériel "assuré" (
art. 7 let
. n CGA).
a) La recourante objecte d'abord que l'interprétation de la police et de ses conditions générales dans leur ensemble révèle une contradiction - ou du moins une ambiguïté - entre l'art. 1er let. a ch. 2 et l'
art. 7 let
. k al. 1 CGA. Le premier établirait un principe vidé de tout contenu par le second, qui devrait dès lors rester sans effet, car il ne saurait y avoir perte d'une chose qui n'a pas été confiée. Que l'exclusion soit usuelle et ancienne n'y changerait rien. La clause exclurait donc d'avance un grand nombre des événements qui présentent le caractère du risque contre les conséquences duquel l'assurance est conclue.
Comme le remarque à juste titre le Tribunal de première instance, la couverture d'assurance subsiste de toute façon pour les dégâts matériels causés par destruction ou détérioration de choses, ainsi que pour les cas de lésions corporelles, ce qui explique d'ailleurs le montant élevé de la somme assurée, l'abaissement de la franchise visant les dégâts matériels. Au demeurant, la recourante s'occupe aussi d'espaces verts, où un problème de clés ne se pose pas. De plus, nettoyage et entretien peuvent souvent être entrepris de jour, dans des locaux alors librement accessibles. Et même en cas de perte, souligne avec raison l'intimée, la chose perdue peut appartenir à un tiers, qui ne l'a pas confiée à l'assuré; en outre, l'entretien ou le nettoyage d'un local n'implique pas que tout ce qui s'y trouve ait été "confié" à l'entreprise qui exécute ses obligations contractuelles. En réalité, la recourante confond le genre de dommages assurés (art. 1er let. a CGA) et leur origine ou les circonstances dans lesquelles ils sont causés.
b) La recourante insiste ensuite sur la spécificité de ses activités professionnelles. Si elle le fait, c'est manifestement pour fonder son interprétation de l'
art. 7 let
. k al. 1 CGA. On a vu que c'est en vain. Mais elle eût pu songer à la clause dite "d'activité" ("Bearbeitungsklausel") de l'alinéa 2 de la même disposition, clause prévue par la
BGE 118 II 342 S. 347
plupart des compagnies dans les conditions générales de l'assurance RC des entreprises (ROELLI/KELLER, op.cit. p. 484 ss; BREHM, op.cit., p. 77 ss, Nos 259 ss et les références). Sont ainsi exclues de l'assurance les prétentions pour des "dommages résultant de l'exécution ou de l'inexécution d'une activité d'un assuré sur ou avec des choses (p.ex. travail, réparation, chargement ou déchargement d'un véhicule)". Comme l'explique l'intimée, on veut ainsi exclure le travail mal fait ou bâclé, les malfaçons et les manipulations sans précautions suffisantes, c'est-à-dire une mauvaise exécution due à l'absence de conscience professionnelle (BÜTTIKER, op.cit., p. 64 ss). Ce n'est évidemment pas de cela qu'il s'agit en l'espèce. Aussi bien, la recourante ne cite même pas la clause en question. | public_law | nan | fr | 1,992 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb56c7c6-a982-4b8a-9582-df4031c6ecbc | Urteilskopf
124 II 29
4. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5. Dezember 1997 i.S. Eidgenössische Steuerverwaltung gegen X. und Steuerrekurskommission des Kantons Basel-Landschaft (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Art. 22 Abs. 1 lit. a BdBSt
und
Art. 22bis Abs. 1 lit. c BdBSt
; Gewinnungskosten.
Die Abgaben, welche der Inhaber eines politischen Mandats an seine politische Partei deshalb bezahlt, weil diese ihn für ein bestimmtes, mit einem Einkommen verbundenes Amt nominiert hat, stellen nicht abzugsfähige Gewinnungskosten dar (E. 2-5). | Sachverhalt
ab Seite 29
BGE 124 II 29 S. 29
Dr. iur. X. deklarierte in der Steuererklärung für die direkte Bundessteuer 1991/92 ein Einkommen von Fr. ... (1989) bzw. Fr. ... (1990) aus seinen Mandaten als Landrat, Gemeindepräsident sowie Verwaltungsrat der Kantonalbank und der Gebäudeversicherung. Dabei hatte er einen Betrag von Fr. ... (für 1989) bzw. Fr. ... (1990) abgezogen für Mandatssteuern, die er der Partei Y. des Kantons Basel-Landschaft bezahlte. Die Steuerverwaltung des Kantons Basel-Landschaft anerkannte diese Abzüge nicht. Eine dagegen erhobene Einsprache wies die Steuerverwaltung mit Entscheid vom
BGE 124 II 29 S. 30
16. Dezember 1992 ab. Mit Beschwerde an die Kantonale Steuerrekurskommission beantragte X., die an die Partei bezahlten Mandatssteuern als Gewinnungskosten zum Abzug zuzulassen. Die Steuerrekurskommission hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 24. Juni 1994 im hier interessierenden Punkt gut und liess die bezahlten Mandatssteuern im Umfang von Fr. ... (pro 1989) bzw. Fr. ... (pro 1990) zum Abzug zu.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid der Steuerrekurskommission aufzuheben und den Einspracheentscheid der kantonalen Steuerverwaltung vom 16. Dezember 1992 zu bestätigen.
Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut, hebt den Entscheid der Steuerrekurskommission auf und bestätigt den Einspracheentscheid der Steuerverwaltung.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Streitig ist, ob die vom Inhaber eines politischen bzw. politisch besetzten Amtes an eine politische Partei bezahlten Mandatssteuern als Gewinnungskosten abgezogen werden können.
a) Gemäss Art. 22 Abs. 1 lit. a des hier noch anwendbaren Bundesratsbeschlusses vom 9. Dezember 1940 über die direkte Bundessteuer (BdBSt) werden vom rohen Einkommen "die zur Erzielung des steuerbaren Einkommens erforderlichen Gewinnungskosten" abgezogen; nach
Art. 22bis Abs. 1 lit. c BdBSt
sind als Gewinnungskosten unter anderem "weitere Berufsauslagen" abzuziehen. Die streitige Frage ist somit nicht ausdrücklich geregelt.
b) Die Eidgenössische Steuerverwaltung lässt nach bestehender Praxis die Mandatssteuer nicht zum Abzug zu, da diese lediglich eine indirekte Folge des öffentlichen Amtes sei (Gutachten der Abteilung Rechtswesen der Hauptabteilung Direkte Bundessteuer vom 27. Oktober 1992, zit. in Henggeler/Pestalozzi/Studer/Noher/Agner, Die Praxis der Bundessteuern, Die direkte Bundessteuer, Nachtrag 48, Art. 22 Al. 1 lit. a, 29zzz; Bericht des Bundesrates vom 23. November 1988 über die Unterstützung der politischen Parteien, BBl 1989 I 125 ff., 179). Das Bundesgericht hatte die Frage im Rahmen der direkten Bundessteuer bisher nie zu beantworten.
c) Die kantonale Praxis zu den kantonalen Steuern ist nicht einheitlich (vgl. Übersicht in Bericht des Bundesrates, a.a.O., S. 226, und bei DANIELLE YERSIN, Le statut fiscal des partis politiques, de
BGE 124 II 29 S. 31
leurs membres et sympathisants, ASA 58 S. 97-129, 112 f., 125 ff.). Der Kanton Basel-Stadt verneint die Abzugsfähigkeit mit der Begründung, der Steuerpflichtige habe das Einkommen erzielt, weil er Inhaber einer Stellung sei, und nicht primär deshalb, weil er die Parteisteuer auf sich genommen habe (Felix Escher, Die Gewinnungskosten bei unselbständiger Erwerbstätigkeit nach baselstädtischem Steuerrecht, BJM 1977 S. 1-18, 5 f., mit Hinweis auf einen Entscheid der Steuerkommission vom 25. November 1974). Ebenso lehnte das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die Abzugsfähigkeit ab mit der Begründung, der Zusammenhang zwischen dem Einkommen und der Parteisteuer sei nicht unmittelbar und eng (ZBl 81/1980 S. 443). Eine dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde wegen willkürlicher Gesetzesanwendung wurde vom Bundesgericht abgewiesen (Urteil i.S. L. vom 14. Mai 1981, publiziert in ASA 53 200). Die Steuerrekurskommission des Kantons Zürich anerkannte den Abzug aus den gleichen Gründen nicht; zudem erwog sie, weil im kantonalen Recht für Beiträge an politische Parteien ein betragsmässig limitierter Abzug ausdrücklich gesetzlich vorgesehen sei, könnten nicht unter anderen Titeln höhere Abzüge vorgenommen werden (StE 1985 B 22.3 Nr. 8). Demgegenüber liess das Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Landschaft die Mandatssteuer als Gewinnungskosten zum Abzug zu, da das Amt ohne Verpflichtung zur Entrichtung der Mandatssteuer bzw. ohne deren effektive Bezahlung nicht erreicht und erhalten werden könne (ZBl 80/1979 S. 489).
d) Die Lehre gibt teilweise die Praxis kommentarlos wieder (Ernst Höhn, Gesetzesauslegung, Rechtsfortbildung, Gesetzesergänzung im Steuerrecht, ASA 51, S. 385-406, 387; Ernst Känzig, Die eidgenössische Wehrsteuer [Direkte Bundessteuer], 2. Aufl. Basel 1982, S. 512). Mehrere Autoren kritisieren die Praxis, welche den Abzug nicht zulässt (PHILIP FUNK, Der Begriff der Gewinnungskosten nach Schweizerischem Einkommenssteuerrecht, Diss. St. Gallen 1989, S. 116 f., 253, anders freilich S. 229; RAOUL STAMPFLI, Die Leistung geheimer Kommissionen und ihre steuerrechtliche Behandlung, Diss. Bern 1986, S. 78; Studer, in HENGGELER/PESTALOZZI/STUDER/NOHER/AGNER, a.a.O., Art. 22 Al. 1 lit. a, 29kk, Bemerkung des Herausgebers; für Abzugsfähigkeit auch PETER HUG, Die verfassungsrechtliche Problematik der Parteienfinanzierung, Diss. Zürich 1970, S. 169 f.). Yersin kritisiert umgekehrt die genannte Entscheidung des basel-landschaftlichen Verwaltungsgerichts (YERSIN, a.a.O., S. 115 f.).
BGE 124 II 29 S. 32
3.
a) Gewinnungskosten im Sinne von
Art. 22 Abs. 1 lit. a BdBSt
sind Aufwendungen, die unmittelbar zur Gewinnung des Einkommens gemacht werden und in einem direkten ursächlichen Zusammenhang dazu stehen (
BGE 113 Ib 114
E. 2a S. 117;
BGE 100 Ib 480
E. 3a S. 481; ASA 64 232 E. 2; ASA 62 403 E. 2; ASA 60 356 E. 2a; ASA 53 200 E. 1c; FUNK, a.a.O., S. 67; ERNST HÖHN, Steuerrecht, 7. Aufl. Bern 1993, S. 205 f.; HEINZ MASSHARDT, Kommentar zur direkten Bundessteuer, 2. Aufl. Zürich 1985, S. 182).
Dabei ist der Begriff der Erforderlichkeit in einem weiten Sinne auszulegen (
BGE 113 Ib 114
E. 2c S. 119; StR 44/1989 350 E. 2a; JEAN-MARC BARILIER, Les frais d'acquisition du revenu des simples particuliers, thèse Lausanne 1970, S. 18 ff.; FUNK, a.a.O., S. 69 ff.; PHILIP FUNK, Gewinnungskosten als Ursache von Einkommen - Einkommen als Ursache von Gewinnungskosten, ASA 58 [1990] S. 305-341, 309 ff.; KÄNZIG, a.a.O., S. 494 f.). Das Bundesgericht verlangt nicht, dass der Pflichtige das Erwerbseinkommen ohne die streitige Auslage überhaupt nicht hätte erzielen können (
BGE 113 Ib 114
E. 2d S. 119). Es ist nach der Praxis auch nicht notwendig, dass eine rechtliche Pflicht zur Bezahlung der entsprechenden Aufwendungen besteht, sondern es genügt, dass die Aufwendungen nach wirtschaftlichem Ermessen als der Gewinnung des Einkommens förderlich erachtet werden können und dass die Vermeidung dem Steuerpflichtigen nicht zumutbar war (
BGE 100 Ib 480
E. 3a S. 481; StR 48/1993 181 E. 3a; StR 44/1989 S. 350 E. 2a; ASA 21 82 E. 3 S. 85; FUNK, a.a.O. [1989], S. 71; KÄNZIG, a.a.O, S. 494). Als Gewinnungskosten gelten somit jene Aufwendungen, die für die Erzielung des Einkommens nützlich sind und nach der Verkehrsauffassung im Rahmen des Üblichen liegen (FUNK, a.a.O. [1990], S. 310; KÄNZIG, a.a.O., S. 495).
b) Bei Selbständigerwerbenden gelten Aufwendungen als abzugsfähig, wenn sie geschäftsmässig begründet sind, wobei es keine Rolle spielt, ob der Aufwand zweckmässig war; es ist nicht Sache der Steuerbehörden, die Angemessenheit einer geschäftlichen Aufwendung zu überprüfen (
BGE 113 Ib 114
E. 2c S. 118 f.; BARILIER, a.a.O., S. 19; BLUMENSTEIN/LOCHER, System des Steuerrechts, 5. Aufl. Zürich 1995, S. 225; FUNK, a.a.O. [1990], S. 319 f.). Bei Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit werden jene Kosten zugelassen, die objektiv notwendig sind, um die betreffenden Einkünfte zu erzielen (HÖHN, a.a.O., S. 190; ERNST HÖHN/ROBERT WALDBURGER, Steuerrecht, Bd. 1, Grundlagen, Grundbegriffe, Steuerarten, 8. Aufl., Bern 1997, S. 343). Im Lichte der Rechtsgleichheit sind zwar unselbständig
BGE 124 II 29 S. 33
und selbständig Erwerbende nicht grundsätzlich unterschiedlich zu behandeln, zumal der Gesetzgeber bewusst die Abzugsmöglichkeiten der unselbständig Erwerbenden denjenigen der selbständig Erwerbenden angleichen wollte (
BGE 113 Ib 114
E. 1b S. 116; FUNK, a.a.O. [1989], S. 145 ff., [1990], S. 316 ff., 320; vgl. auch BLUMENSTEIN/LOCHER, a.a.O., S. 224; KÄNZIG, a.a.O., S. 512 f.). Trotzdem ist zu berücksichtigen, dass für unselbständig Erwerbende Gewinnungskosten nur im Rahmen der gesetzlichen Umschreibung von
Art. 22bis BdBSt
abgezogen werden können. Auch nach
Art. 26 Abs. 1 lit. a-c des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11)
sind bei unselbständiger Erwerbstätigkeit - abgesehen von den Weiterbildungs- und Umschulungskosten - nur die "notwendigen" bzw. "erforderlichen" Kosten abziehbar.
c) Aufgrund dieser Kriterien werden in Lehre und Praxis zum Beispiel als Gewinnungskosten anerkannt:
-Weiterbildungskosten, die objektiv mit dem gegenwärtigen Beruf des Steuerpflichtigen im Zusammenhang stehen und die der Steuerpflichtige zur Erhaltung seiner beruflichen Chancen für angezeigt hält, auch wenn die Auslage nicht absolut unerlässlich ist, um die gegenwärtige berufliche Stellung nicht einzubüssen (
BGE 113 Ib 114
E. 2e S. 119; ASA 62 403 E. 2; FUNK, a.a.O. [1989], S. 95 ff.; KÄNZIG, a.a.O., S. 501);
- unter bestimmten Umständen die Kosten für ein Arbeitszimmer in der privaten Wohnung, welches der Steuerpflichtige für seine berufliche Tätigkeit benützt (ASA 60 341 E. 2; nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts i.S. H. vom 9. Juni 1995, E. 3), sowie die Kosten für die Anschaffung von privaten Arbeitsgeräten wie Computern (ASA 62 403 E. 2);
- Schadenersatzleistungen, sofern ein enger Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit besteht und die Schadenersatzpflicht nicht grobfahrlässig oder vorsätzlich verursacht wurde (ASA 64 232 E. 3a/b; BLUMENSTEIN/LOCHER, a.a.O., S. 224);
- Aufwendungen, die einem Angestellten daraus erwachsen, dass er Kunden des Arbeitgebers aus geschäftlichen Gründen in sein Haus einlädt (ASA 21 82 E. 3 S. 85 f.).
Ebenso betrachtet die Eidgenössische Steuerverwaltung Beiträge an Berufsverbände und Gewerkschaften als Berufskosten im Sinne von
Art. 26 DBG
(Kreisschreiben der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 22. September 1995: Abzug von Berufskosten der unselbständigen Erwerbstätigkeit,
BGE 124 II 29 S. 34
ASA 64 692 ff., 695; anders freilich früher zu
Art. 22 Abs. 1 lit. a BdBSt
, ASA 61 143).
Nach ständiger Praxis werden auch effektiv bezahlte Schmiergelder bzw. verdeckte Kommissionen als Gewinnungskosten zum Abzug zugelassen (ASA 15 219; Kreisschreiben der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 8. November 1946, ASA 15 141 f.; BARILIER, a.a.O., S. 109; BLUMENSTEIN/LOCHER, a.a.O., S. 225; KÄNZIG, a.a.O., S. 544; MASSHARDT, a.a.O., S. 184; PETER MEYER, Die steuerfreien Abzüge vom Erwerbseinkommen unselbständig Erwerbender, Diss. Zürich 1949, S. 195 ff.; STAMPFLI, a.a.O., S. 77 ff.). Zwar verlangte eine parlamentarische Initiative, welche zurzeit hängig ist, dass Schmier- und Bestechungsgelder künftig nicht mehr als Gewinnungskosten abgezogen werden können, doch ist vorgesehen, dass darunter nur Bestechungsgelder an Personen fallen, die mit öffentlichen Aufgaben betraut sind (vgl. AB 1995 N 550 ff.; BBl 1997 II 1037 ff., 1050, IV 1336 ff.).
d) Keine Gewinnungskosten stellen die Aufwendungen für den Unterhalt des Steuerpflichtigen dar. Dazu gehören unter anderem auch die sogenannten Standesauslagen, das heisst der infolge einer gehobenen beruflichen Stellung des Steuerpflichtigen getätigte Privataufwand (
BGE 100 Ib 480
E. 3a S. 482
;
78 I 145
E. 1 S. 149 f.; ASA 41 26 E. 3; BLUMENSTEIN/LOCHER, a.a.O., S. 222; KÄNZIG, a.a.O., S. 500).
Nach der herrschenden Lehre und Praxis im Bund und in der Mehrzahl der Kantone können insbesondere auch Beiträge an politische Parteien nicht abgezogen werden (Bericht des Bundesrates, a.a.O., S. 225 f.; YERSIN, a.a.O., S. 110 ff., 125 ff.).
Ebensowenig können Aufwendungen abgezogen werden, die nicht zur Erzielung eines ganz bestimmten Einkommens, sondern zur Erreichung oder Erhaltung der Erwerbsfähigkeit schlechthin getätigt werden (Felix Richner, Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten, Zürcher Steuerpraxis 4/1995 S. 255-276, 262 ff.). Dazu gehören die Kosten für die allgemeine Erhaltung oder Verbesserung der Arbeitskraft bzw. der Gesundheit (ASA 34 55 E. 2a; KÄNZIG, a.a.O., S. 499 f.; MASSHARDT, a.a.O., S. 183) oder die Kinderbetreuung während der Arbeitszeit (StR 48/1993 181 E. 3b-e; StE 1987 B 22.3 16, E. 2/3; HÖHN, a.a.O., S. 214; KÄNZIG, a.a.O., S. 497 f.; MASSHARDT, a.a.O., S. 183; RICHNER, a.a.O., S. 263 ff.; a.A. ein Entscheid der Steuerrekurskommission III des Kantons Zürich vom 9. Juni 1993, zitiert bei ENRICA PESCIALLO-BIANCHI, Deducibilità dei costi per personale domestico e per la cura dei figli: indispensabile
BGE 124 II 29 S. 35
un intervento a livello legislativo, RDAT 1995 II S. 529-556,
540 ff.).
Schliesslich stellen Anlagekosten keine Gewinnungskosten dar, das heisst Aufwendungen zur Schaffung, Erweiterung oder Verbesserung einer Einkommensquelle; dazu gehören namentlich Ausgaben, welche getätigt werden, um in Zukunft eine höhere berufliche Stellung zu erreichen oder einen anderen Beruf ausüben zu können (
BGE 113 Ib 114
E. 3a S. 120 f.; ASA 60 356 E. 2b/c; BLUMENSTEIN/LOCHER, a.a.O., S. 222; KÄNZIG, a.a.O., S. 501 ff.). Abzugsfähig sind demgegenüber Auslagen, die getätigt werden, um eine bestehende Einkommensquelle zu erhalten oder den weiteren Einkommensbezug zu sichern (ASA 44 48 E. 2a; KÄNZIG, a.a.O., S. 495; MASSHARDT, a.a.O., 182; MASSHARDT/TATTI, Imposta federale diretta, Commentario, 1985, S. 167; JEAN-MARC RIVIER, Droit fiscal suisse. L'imposition du revenu et de la fortune, Neuchâtel 1980, S. 116).
4.
a) Vorliegend ist nicht bestritten, dass sich der Beschwerdegegner bei der Nomination für seine politischen Ämter aufgrund der Statuten seiner Partei verpflichten musste, auf den entsprechenden Bezügen eine sogenannte Mandatssteuer zu entrichten. Die Beschwerdeführerin wendet hingegen ein, diese Entrichtung sei nicht unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung des entsprechenden Amtes. Es bestehe kein unmittelbarer Zusammenhang, da der Beschwerdegegner nicht durch seine Partei gewählt werde. Die Auslage sei deshalb lediglich eine untergeordnete indirekte Folge des öffentlichen Amtes und stehe nicht in einem direkten ursächlichen Zusammenhang mit der Einkommenserzielung.
b) Der Beschwerdegegner und die Vorinstanz bringen demgegenüber vor, die Bezahlung der Mandatssteuer stehe in einem direkten ursächlichen Zusammenhang zu den aus der Ausübung des Amtes resultierenden Einnahmen, da kein Kandidat gewählt oder wiedergewählt werde, der keine Mandatssteuer bezahle. Ferner seien der aufgrund der öffentlichen Ämter erlittene Einnahmenausfall aus der beruflichen Tätigkeit und die fehlende berufliche Vorsorge zu berücksichtigen.
c) Was das zuletzt genannte Vorbringen betrifft, so kann dies nicht berücksichtigt werden. Ein steuerlicher Abzug kann nicht schon deshalb zugelassen werden, weil der Steuerpflichtige durch die Ausübung seiner Erwerbstätigkeit daran gehindert wird, eine andere, einträglichere Tätigkeit auszuüben.
d) Die Ausübung eines politischen Amtes ist steuerrechtlich als unselbständige Erwerbstätigkeit zu qualifizieren. Massgebend sind
BGE 124 II 29 S. 36
somit die dafür geltenden Voraussetzungen (vorne E. 3b). Es ist zu prüfen, ob die Zahlung einer Mandatssteuer im Sinne der dargestellten Rechtsprechung eher den Gewinnungskosten oder eher den Lebenshaltungs- oder Anlagekosten gleichzustellen ist.
5.
a) Es mag zutreffen, dass die Wahlchancen eines Kandidaten erheblich vergrössert werden, wenn er durch eine politische Partei vorgeschlagen und unterstützt wird. Rechtlich wurde der Beschwerdegegner indessen nicht durch seine Partei, sondern durch das Volk bzw. durch politische Behörden in seine Ämter gewählt. Die Zahlung von Mandatssteuern an eine Partei ist jedenfalls rechtlich nicht Voraussetzung, um ein entsprechendes Amt erringen zu können. Es ist denn auch notorisch, dass die Praxis in den verschiedenen politischen Parteien sowohl hinsichtlich der Höhe derartiger Mandatsbeiträge als auch hinsichtlich des Freiwilligkeitsgrades sehr unterschiedlich ist (Bericht des Bundesrates, a.a.O., S. 227 ff.; FELIX MATTER, Der Richter und seine Auswahl, Diss. Zürich 1978, S. 132 ff.; KURT WEIGELT, Staatliche Parteienfinanzierung: zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung in der Schweiz unter vergleichender Berücksichtigung der Gesetzgebung in Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, Diss. Bern 1987, S. 32). Es kommt auch vor, dass Mandatsinhaber entweder überhaupt ohne Unterstützung durch eine Partei gewählt werden oder aber sich weigern, ihrer Partei eine Abgabe zu entrichten. Die Ausübung des Amtes ist auch nicht an die Entrichtung der Mandatssteuer gebunden; verweigert der Amtsinhaber die Bezahlung, so verletzt er allenfalls eine (rechtliche oder auch nur moralische) Verpflichtung gegenüber seiner Partei, verliert aber deswegen jedenfalls nicht sein Amt. Es wäre mit der verfassungsrechtlich verankerten Unabhängigkeit der Mandatsinhaber (vgl. im Bund
Art. 91 BV
; im Kanton Basel-Landschaft § 62 KV-BL) nicht vereinbar, die Mandatsausübung eines vom Volk oder einer politischen Behörde gewählten Amtsinhabers vom Willen einer politischen Partei abhängen zu lassen. Auch die Wiederwahl des Amtsinhabers nach Ablauf der Amtsdauer ist nicht an die Bezahlung einer Mandatssteuer gebunden; wird der Amtsinhaber infolge der Nichtbezahlung von seiner Partei nicht mehr vorgeschlagen, so bleibt es ihm unbenommen, als parteiunabhängiger Bewerber zu kandidieren. Erfahrungsgemäss werden bisherige Amtsinhaber, die sich im Urteil der Stimmbürger in ihrem Amt bewährt haben, manchmal auch dann wiedergewählt, wenn ihnen ihre bisherige Partei die Unterstützung entzieht.
BGE 124 II 29 S. 37
b) Gesamthaft weist die Mandatssteuer einen gemischten Charakter auf: Es ist nicht zu verkennen, dass sie in einer gewissen Beziehung zum öffentlichen Amt bzw. indirekt zum dadurch erzielten Erwerbseinkommen steht. Sie lässt sich aber nicht leicht von freiwilligen Beiträgen an eine politische Partei abgrenzen, welche nicht abziehbar sind, ausser das Gesetz sehe die Abzugsmöglichkeit vor (vorne E. 3d). Sie weist sodann auch Elemente von Standesausgaben auf, indem sie dazu dient, die guten Beziehungen zwischen dem Mandatsinhaber und seiner Partei zu pflegen. Schliesslich kann sie in einem gewissen Sinne auch den Anlagekosten gleichgestellt werden, soweit die Verpflichtung, eine Abgabe zu bezahlen, dazu dient, ein bezahltes Amt zu erringen. Insoweit wäre die Mandatssteuer von vornherein nicht zu den Gewinnungskosten zu zählen.
c) Die Zulassung der Abzugsfähigkeit als Gewinnungskosten würde zudem verschiedene Fragen aufwerfen, welche Ausdruck davon sind, dass es sich dabei in Wirklichkeit nicht um einen organischen Abzug handeln würde:
aa) Zunächst würde sich fragen, ob die Mandatssteuer in beliebiger Höhe abzugsfähig wäre. Die Abzugsfähigkeit stellt eine Form der indirekten Subventionierung dar. Angesichts der in den verschiedenen Parteien notorisch sehr unterschiedlichen Beitragshöhen hätte eine unbeschränkte Abzugsfähigkeit den Charakter einer je nach Partei unterschiedlich hohen Subventionierung, was zum Gebot der parteipolitischen Neutralität des Staates im Gegensatz stehen könnte. Es darf nicht Sache des Staates sein, mit der Ausgestaltung des Steuerrechts bestimmte politische Parteien zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Aus diesem Grund wird aus verfassungsrechtlicher Sicht eine unbegrenzte Abzugsfähigkeit von Zuwendungen an politische Parteien kritisch beurteilt (Bericht des Bundesrates, a.a.O., S. 180; HUG, a.a.O., S. 171 ff.; GERHARD SCHMID, POLITISCHE PARTEIEN, VERFASSUNG UND GESETZ, BASEL 1981, S. 127 F.; WEIGELT, a.a.O., S. 182 f.; YERSIN, a.a.O., S. 117 f.). Würden Mandatssteuern zum Abzug zugelassen, ergäbe sich eine Ungleichbehandlung zwischen Parteien, die sich hauptsächlich durch solche Abgaben finanzieren, und solchen, die vornehmlich durch rein freiwillige und daher nicht abzugsfähige Zuwendungen gespiesen werden.
bb) Sodann sind die politischen Parteien nicht die einzigen Vereinigungen, welche zur Wahl von Amtsträgern beitragen; auch Verbände und andere Organisationen können gewisse Kandidaten mit Wahlpropaganda oder -empfehlungen unterstützen. Es würde sich die Frage stellen, ob auch Beiträge, welche ein Kandidat an derartige
BGE 124 II 29 S. 38
Organisationen leistet, als Gewinnungskosten zu betrachten wären.
cc) Die Beantwortung dieser Fragen hängt von politischen Bewertungen ab, die zu treffen in erster Linie dem Gesetzgeber zusteht. Nachdem dieser darauf verzichtet hat, einen entsprechenden Abzug ausdrücklich vorzusehen und die sich stellenden Fragen zu beantworten, kann es nicht Sache des Bundesgerichts sein, in Auslegung des Gesetzes eine solche Regelung aufzustellen.
d) Die Abgaben, welche ein Mandatsinhaber an seine politische Partei deshalb bezahlt, weil diese ihn für ein bestimmtes, mit einem Einkommen verbundenen Amt nominiert hat, stehen nach dem Gesagten nicht in einem notwendigen, direkten und unmittelbaren Zusammenhang mit dem aus dem Amt erzielten Einkommen und stellen daher nicht abzugsfähige Gewinnungskosten im Sinne von
Art. 22 Abs. 1 lit. a BdBSt
dar. | public_law | nan | de | 1,997 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb606b1e-d4f4-4671-8780-b79de70f2c74 | Urteilskopf
80 III 93
19. Sentenza 18 marzo 1954 nella causa Wessel. | Regeste
Rechtzeitigkeit der Arrestprosequierungsklage (
Art. 278 SchKG
).
Abgrenzung der Entscheidungsbefugnisse zwischen Betreibungsbehörden und Gerichten. | Sachverhalt
ab Seite 93
BGE 80 III 93 S. 93
A.-
Il 5 marzo 1952, su istanza di Vittoria Percassi a Zurigo, il Pretore di Lugano-città decretò, a carico di Else Wessel in Rio de Janeiro, un sequestro di mobilia fondato sulla cifra 4 dell'art. 271 LEF.
La debitrice fece opposizione al susseguente precetto esecutivo e la creditrice promosse l'azione di convalida del sequestro mediante petizione 1/2 aprile 1952 alla Pretura di Lugano-città.
Nel corso della procedura Wessel eccepì di tardività la petizione e di conseguente caducità il sequestro, e chiese all'Ufficio d'esecuzione di Lugano la liberazione degli oggetti sequestrati. L'Ufficio oppose però un rifiuto, adducendo che incombeva al giudice adito di pronunciarsi sull'eccezione di tardività.
La debitrice inoltrò un reclamo che l'Autorità cantonale di vigilanza, invocando lo stesso motivo addotto dall'Ufficio di esecuzione di Lugano, respinse con decisione 23 ottobre 1952 che non fu deferita al Tribunale federale.
BGE 80 III 93 S. 94
Con sentenza 10 agosto 1953 il Pretore di Lugano-città condannò la convenuta Wessel al pagamento di 2300 fr., osservando che l'eccezione d'incompetenza "ratione loci" (sollevata dalla debitrice a pag. 3 della sua risposta e motivata tra l'altro col fatto che l'azione di convalida del sequestro era stata inoltrata fuori del termine previsto dal diritto esecutivo) era proceduralmente tardiva e non poteva "quindi formare oggetto di decisione".
Cresciuta in giudicato questa sentenza, la debitrice chiese nuovamente all'Ufficio la liberazione degli oggetti sequestrati e, visto il nuovo rifiuto oppostole, interpose un reclamo che l'Autorità cantonale di vigilanza respinse, il 26 febbraio 1954, osservando in sostanza:
Come già dichiarato in data 23 ottobre 1952 in termini inequivocabili, è di competenza unica del giudice lo statuire sulla tempestività dell'azione giudiziaria. Ora siccome il Pretore di Lugano-città ha emanato la sua sentenza rimasta senz'appello, il giudizio è definitivo. Sta bene che il giudice non ha esaminato l'eccezione di tardività dell'azione, ma nulla impediva a Wessel di sollevarla in seconda sede; se non l'ha fatto, non può sollevarla dinanzi ad autorità incompetenti.
B.-
Wessel ha deferito questa decisione alla Camera d'esecuzione e dei fallimenti del Tribunale federale, adducendo essere inammissibile che nè il giudice, nè l'Autorità cantonale di vigilanza non abbiano deciso se l'azione di convalida del sequestro era stata promossa tempestivamente o no.
Erwägungen
Considerando in diritto:
La decisione impugnata non tiene presente la delimitazione delle competenze tra le autorità di esecuzione e il giudice.
La questione se un sequestro sia stato convalidato tempestivamente mediante azione riguarda il giudice solo nella misura in cui la sua competenza "ratione loci", secondo il diritto processuale vigente al suo foro, dipende
BGE 80 III 93 S. 95
dall'esistenza d'un valido sequestro. Nei confronti del giudice l'osservanza del termine per promuovere l'azione è adunque un presupposto processuale. Ne segue che la portata della sentenza da lui prolata a questo riguardo si esaurisce nel fatto ch'egli dichiara l'azione ricevibile o irricevibile. S'egli entra nel merito della petizione, ritenendo che il termine per agire è stato osservato o credendo, come in concreto, di essere dispensato dall'indagare questo punto pregiudiziale per motivi di diritto processuale cantonale, ciò non può impedire la caducità d'un sequestro che non sia stato convalidato tempestivamente giusta le disposizioni in materia di esecuzione. Il suo giudizio è vincolante per le autorità d'esecuzione solo in quanto si tratti di sapere se un atto processuale compiuto entro il termine dal creditore fosse idoneo, secondo le norme della procedura, a fondare la litispendenza dell'azione di riconoscimento del credito. È invece una questione che dev'essere giudicata dalle autorità di esecuzione se l'atto processuale ritenuto dal giudice come costitutivo della litispendenza sia stato compiuto tempestivamente a norma del diritto esecutivo. Se, per esempio, questo punto appare dubbio pel motivo che è incerto ciò che debba valere quale notificazione dell'opposizione a norma dell'art. 278 cp. 2 LEF, è da escludere che il giudice debba decidere a questo riguardo con effetto vincolante per le autorità di esecuzione, tanto più che la domanda diretta all'autorità che ha effettuato il sequestro per ottenere, come conseguenza, la caducità di esso, la liberazione degli oggetti sequestrati o del deposito prestato a norma dell'art. 277 LEF dipende puramente dal diritto esecutivo (cfr. RU 66 III 59).
A torto quindi l'Autorità cantonale di vigilanza rifiuta in concreto di decidere se la petizione 1/2 aprile 1952 sia stata promossa tempestivamente e fosse quindi idonea a convalidare il sequestro. È irrilevante la circostanza che già precedentemente, nella medesima procedura, l'Autorità cantonale di vigilanza si è pronunciata nello stesso senso e
BGE 80 III 93 S. 96
che la ricorrente non è insorta allora davanti al Tribunale federale. L'illegale rifiuto di trattare nel merito un ricorso è un diniego di giustizia e, secondo l'art. 19 cp. 2 LEF, può essere impugnato in ogni tempo (cfr. JÄGER, Kommentar z. SchKG, nota 8 all'art. 19). L'Autorità cantonale di vigilanza non poteva quindi invocare la sua precedente sentenza per rifiutare l'esame dell'attuale reclamo. Un siffatto rifiuto non è che il rinnovo e la conferma dell'anteriore diniego di giustizia.
Il presente ricorso dev'essere quindi accolto nel senso che all'Autorità cantonale di vigilanza è ingiunto di esaminare il reclamo nel merito e di accertare la tempestività dell'azione di convalida del sequestro. Se quest'accertamento sarà negativo, l'Ufficio d'esecuzione di Lugano devrà accogliere la domanda di liberazione degli oggetti sequestrati.
Dispositiv
La Camera di esecuzione e dei fallimenti pronuncia:
Il ricorso è accolto nel senso che la decisione querelata è annullata e gli atti sono rinviati all'Autorità cantonale di vigilanza per un nuovo giudizio a norma dei considerandi. | null | nan | it | 1,954 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb686f46-0921-4b1b-a83c-38a56640ccfa | Urteilskopf
139 V 519
69. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. M. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) und Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen M. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_138/2013 / 8C_171/2013 vom 22. Oktober 2013 | Regeste
Art. 51 Abs. 3 UVV
;
Art. 69 Abs. 2 ATSG
; Überentschädigungsberechnung.
Die Leistung der Arbeitslosenversicherung (Taggeld) ist gestützt auf
Art. 69 Abs. 2 ATSG
in Verbindung mit
Art. 51 Abs. 3 UVV
im Rahmen der Überentschädigungsberechnung des Unfallversicherers beim Zusammenfallen von Taggeldern der Unfallversicherung und einer Rente der Invalidenversicherung zu berücksichtigen. Die Arbeitslosenentschädigung ist als tatsächlich erzieltes Ersatzeinkommen dem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen gleichzusetzen (E. 5). | Sachverhalt
ab Seite 520
BGE 139 V 519 S. 520
A.
Der 1966 geborene M. war bei der G. AG als Kranführer-Handlanger angestellt, als er am 6. Dezember 1999 von einem am Kran hängenden, abstürzenden Palett getroffen worden war. Für die erlittenen Verletzungen (...) sprach ihm die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) als zuständiger Unfallversicherer Heilbehandlungs- und Taggeldleistungen zu.
Mit Schreiben vom 14. September 2010 informierte die IV-Stelle des Kantons Appenzell I.Rh. (nachfolgend: IV-Stelle) die SUVA über die rückwirkende Zusprache von Rentenleistungen der Invalidenversicherung für den Zeitraum vom 1. Dezember 2000 bis 30. September 2010 im Betrag von Fr. 288'671.-. Mit Verfügung vom 26. November 2010 hielt die SUVA aufgrund dieser Rentenleistungen der Invalidenversicherung eine Überentschädigung im Rahmen ihrer Taggeldleistungen in der Höhe von Fr. 140'005.65 fest und stellte die Rückforderung bzw. die Verrechnung dieses Betrages mit der Rente der Invalidenversicherung in Aussicht. Auf Einsprache hin reduzierte sie die Überentschädigung auf Fr. 86'807.55 (Einspracheentscheid vom 4. Juli 2012).
B.
Das Kantonsgericht des Kantons Appenzell I.Rh. hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 15. Januar 2013 teilweise gut, indem es den Rückforderungsanspruch der SUVA um die vom Versicherten vom 31. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2004
BGE 139 V 519 S. 521
erhaltene Arbeitslosenentschädigung im Betrag von Fr. 23'495.84 auf Fr. 63'311.70 reduzierte.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt M., in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei festzustellen, dass mangels Überentschädigung kein Rückforderungsanspruch der SUVA bestehe (Verfahren 8C_138/2013). Die SUVA erhebt ebenfalls Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 4. Juli 2012 zu bestätigen (Verfahren 8C_171/2013).
Im Verfahren 8C_138/2013 beantragt die SUVA aufgrund des zwischenzeitlich ergangenen Urteils
BGE 139 V 108
, es sei die Beschwerde insofern teilweise gutzuheissen, als die Sache zur weiteren Abklärung hinsichtlich der Festsetzung der als Mehrkosten zu berücksichtigenden Anwaltskosten an sie zurückzuweisen sei.
Im Verfahren 8C_171/2013 lässt M. Abweisung der Beschwerde beantragen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet in beiden Verfahren auf eine Stellungnahme.
(Auszug)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Streitig ist die von der SUVA vorgenommene Überentschädigungsberechnung im Betrag von Fr. 86'807.55. (...)
3.
Gemäss
Art. 68 ATSG
(SR 830.1) werden Taggelder unter Vorbehalt der Überentschädigung kumulativ zu Renten anderer Sozialversicherungen gewährt. Nach
Art. 69 ATSG
darf das Zusammentreffen von Leistungen verschiedener Sozialversicherungen nicht zu einer Überentschädigung der berechtigten Person führen. Bei der Berechnung der Überentschädigung werden nur Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung berücksichtigt, die der anspruchsberechtigten Person aufgrund des schädigenden Ereignisses gewährt werden (Abs. 1). Eine Überentschädigung liegt in dem Masse vor, als die gesetzlichen Sozialversicherungsleistungen den wegen des Versicherungsfalls mutmasslich entgangenen Verdienst zuzüglich der durch den Versicherungsfall verursachten Mehrkosten und allfälliger Einkommenseinbussen von Angehörigen übersteigen (Abs. 2). Die Leistungen werden um den Betrag der Überentschädigung gekürzt. Von einer Kürzung ausgeschlossen sind die Renten der AHV und der IV sowie alle Hilflosen- und Integritätsentschädigungen. Bei Kapitalleistungen wird der Rentenwert berücksichtigt (Abs. 3).
BGE 139 V 519 S. 522
Es sind diejenigen Sozialversicherungsleistungen in die Berechnung der Überentschädigung einzubeziehen, die dasselbe Ereignis betreffen (Prinzip der ereignisbezogenen Koordination). Beim Zusammentreffen von Taggeldern der Unfallversicherung mit Rentenleistungen der Invalidenversicherung hat praxisgemäss eine Abrechnung über die gesamte Bezugsperiode, beginnend ab der Entstehung des Anspruchs auf Taggelder der Unfallversicherung, zu erfolgen (
BGE 132 V 27
E. 3.1 S. 29;
BGE 126 V 193
E. 3 S. 195; Urteil 8C_512/2012 vom 7. Juni 2013 E. 2.3, in: SZS 2013 S. 407 mit weiteren Hinweisen).
4.
4.1
Der Versicherte erhielt vom 9. Dezember 1999 bis 31. Dezember 2008 Taggelder der Unfallversicherung und zusätzlich, da er arbeitslos gemeldet und zu 50 % arbeitsfähig war in der Zeit vom 31. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2004 ein damit koordinationsrechtlich abgestimmtes Taggeld der Arbeitslosenversicherung in der Höhe von Fr. 23'495.84 (vgl.
Art. 25 Abs. 3 UVV
[SR 832.202]). Darüber hinaus sprach ihm die IV-Stelle nachträglich Rentenleistungen für die Zeit vom 1. Dezember 2000 bis 31. Dezember 2008 im Gesamtbetrag von Fr. 302'485.- zu.
4.2
Mit Schreiben vom 25. Juni 2010 teilte die IV-Stelle der SUVA die beabsichtigte Rentenzusprache in Form einer ganzen Rente ab 1. Dezember 2000 und einer halben Invalidenrente ab 1. September 2001 mit. Die entsprechende Verfügung der IV-Stelle erging am 3. Dezember 2010. Aufgrund dieser rückwirkenden Zusprache einer Invalidenrente nahm die SUVA eine Überentschädigungsberechnung für die in der Zeit vom 9. Dezember 1999 bis 31. Dezember 2008 erbrachten Taggeldleistungen vor und forderte mit Verfügung vom 26. November 2010 zu viel ausbezahlte Taggelder der Unfallversicherung zurück. Vorliegend führte demnach das Zusammentreffen von IV-Rente und UV-Taggeld zu einer Überentschädigung und zur streitigen Berechnung derselben. Der geltend gemachte Rückforderungsanspruch der SUVA von zu viel ausbezahlten Taggeldleistungen stützt sich demnach korrekterweise auf die intersystemische Koordination bei Bezug von Rentenleistungen anderer Sozialversicherungszweige nach
Art. 69 ATSG
, weshalb ihre Leistungen einer Kürzung zufolge Überentschädigung zugänglich sind.
(...)
5.
Die nach
Art. 69 Abs. 1 ATSG
beim Zusammenfallen von Unfalltaggeld und Rente der Invalidenversicherung vorzunehmende
BGE 139 V 519 S. 523
Bemessung der Überentschädigung erfolgte zu Recht mittels Abrechnung über die gesamte Bezugsperiode, beginnend ab der Entstehung des Anspruchs auf Taggelder der Unfallversicherung (E. 3). Die vom 31. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2004 für die bestandene 50%ige Arbeitsfähigkeit ausgerichteten Arbeitslosentaggelder fielen in die Bezugsperiode der Unfalltaggelder. Wie die SUVA zutreffend ausführte, käme die gänzliche Nichtberücksichtigung dieser Leistungen bei der Bemessung der Überentschädigung einer Benachteiligung jener Personen gleich, die ihre Teilarbeitsfähigkeit tatsächlich verwerten, da ihr entsprechendes Einkommen insoweit in die Überentschädigungsberechnung einfliesst, als es bei der Festsetzung des mutmasslich entgangenen Verdienstes in Abzug zu bringen ist (
Art. 51 Abs. 3 UVV
). Vor diesem Hintergrund ist es sach- und systemgerecht, in gleicher Weise auch die Leistungserbringung der Arbeitslosenversicherung gestützt auf
Art. 69 Abs. 2 ATSG
in Verbindung mit
Art. 51 Abs. 3 UVV
im Rahmen der Überentschädigungsberechnung beim Zusammenfallen von Taggeldern der Unfallversicherung und einer Invalidenrente zu berücksichtigen. Die Arbeitslosenentschädigung ist somit als tatsächlich erzieltes Ersatzeinkommen dem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen gleichzusetzen. Die SUVA rechnete demnach zu Recht die erhaltene Arbeitslosenentschädigung in der Höhe von Fr. 23'495.84 beim mutmasslich entgangenen Verdienst gemäss
Art. 51 Abs. 3 UVV
als effektiv erzieltes Ersatzeinkommen an (nicht publ. E. 6.3), weshalb sich dieser bei der Berechnung des Höchstanspruchs um die Höhe der ausgerichteten Arbeitslosenentschädigung verringerte. | null | nan | de | 2,013 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb6873ed-2e4d-4861-b36e-88f2ab3df858 | Urteilskopf
100 IV 124
31. Arrêt de la Chambre d'accusation du 14 mai 1974 dans la cause Ministère public de la Confédération contre Procureur du canton de Genève. | Regeste
Art. 321 ff. BStP
.
1. Wenn die Bundesanwaltschaft legitimiert ist, gegen kantonale Urteile Nichtigkeitsbeschwerde zu führen, so ist sie auch zur Anrufung der Anklagekammer befugt (Erw. 1).
2. Werden den kantonalen Gerichtsbehörden vom Bundesrat oder einem von diesem bezeichneten Departement Strafsachen überwiesen, dann haben sie diese nicht nur zu verfolgen, sondern auch zu beurteilen (Erw. 2 b).
3. Da eine solche Überweisung einen Hoheitsakt darstellt, können die kantonalen Behörden ihre Zuständigkeit nicht verneinen (Erw. 2 c). | Sachverhalt
ab Seite 125
BGE 100 IV 124 S. 125
A.-
L'entreprise Photo Traber SA a conclu le 2 février 1973, dans le magasin qu'elle exploite au 10, rue de la Confédération à Genève, un contrat de location portant sur une chaîne de stéréophonie. Le Département fédéral des finances et des douanes, estimant que ce contrat constituait une infraction aux art. 10 et 11 de l'AF du 20 décembre 1972 instituant des mesures dans le domaine du crédit et à l'art. 6 de l'OF du 10 janvier 1973 concernant les opérations de crédit personnel et de vente par acomptes, l'a condamnée à une amende de 2000 fr. le 17 août 1973.
B.-
Photo Traber SA ayant fait opposition, conformément à l'
art. 324 al. 2 PPF
, le Département fédéral des finances et des douanes a saisi le Tribunal de police de Genève qui, le 19 mars 1974, a conclu à son incompétence ratione loci. Il a en effet estimé que l'
art. 325 PPF
, en désignant le Tribunal competent, vise celui du domicile de l'inculpé et non celui du lieu de la contravention, ce dernier for étant seulement prévu à l'
art. 283 PPF
qui n'est pas compris dans les dispositions auxquelles renvoie l'
art. 326 PPF
. Or le siège de Photo Traber SA est à Commugny, dans le canton de Vaud.
C.-
Le Ministère public de la Confédération, par acte du 3 mai 1974, demande que les autorités du canton de Genève soient déclarées compétentes aux fins de juger la cause Photo Traber SA
Le Procureur général du canton de Genève propose le rejet de cette requête. Il fait valoir que la décision rendue par le Tribunal de police le 19 mars 1974 est entrée en force, faute d'un recours adressé en temps utile à la Cour de justice du canton de Genève.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Lorsque les autorités pénales d'un canton s'estiment incompétentes ratione loci pour connaître d'une infraction poursuivie d'office en vertu du droit fédéral, elles doivent procéder à un échange de vues avec les autorités du canton qu'elles considèrent comme compétentes (RO 86 IV 135 et cit.). En l'occurrence, cette procédure n'a pas été suivie, mais, pour des raisons d'économie du procès et compte tenu de la brièveté du délai de prescription en matière de contravention, il n'y a pas lieu d'ordonner que ce vice soit réparé.
BGE 100 IV 124 S. 126
Lorsque malgré un échange de vues les autorités de deux cantons n'arrivent pas à un accord sur leurs compétences respectives, le différend peut être soumis à la Chambre d'accusation du Tribunal fédéral (même arrêt) avant même qu'une décision formelle soit intervenue. Il n'est dès lors pas non plus nécessaire pour cela que les instances cantonales aient été épuisées et, partant, il est sans importance que la décision du Tribunal de police n'ait pas fait l'objet d'un recours à la Cour de justice de Genève.
En matière de contraventions "à d'autres lois fédérales" au sens des
art. 321 ss PPF
, le Ministère public fédéral est habilité à se pourvoir en nullité contre les jugements cantonaux (art. 326 en relation avec les
art. 266 et 270 PPF
). Conformément à la jurisprudence, il a de ce fait également qualité pour saisir la Chambre d'accusation de la question préalable du for (cf. RO 91 IV 109). La demande est donc recevable.
2.
a) Les contraventions à l'AF du 20 décembre 1972 instituant des mesures dans le domaine du crédit sont poursuivies et jugées par l'administration compétente, soit en l'espèce par le Département fédéral des finances et des douanes, ou, dans les cas prévus par la loi, par les autorités judiciaires cantonales (
art. 321-326 PPF
; art. 11 de l'arrêté en cause, ROLF 1972 II p. 3121). Le Département fédéral des finances et des douanes avait ainsi la compétence nécessaire pour condamner Photo Traber SA à une amende, le 17 août 1973, puis, l'inculpée ayant demandé à être jugée par un Tribunal, pour saisir le Tribunal de police de Genève en lui transmettant le dossier (
art. 325 PPF
).
b) Si le Tribunal compétent est appelé à statuer, que ce soit conformément à l'art. 322 al. 1 ou à l'
art. 325 al. 1 PPF
, les art. 247 à 257 PPF sont notamment applicables à la procédure (
art. 326 PPF
). Or l'
art. 247 al. 1 et 2 PPF
impose aux autorités cantonales de poursuivre et de juger les infractions de droit pénal fédéral qui leur sont attribuées par la législation fédérale ou par le Conseil fédéral. Cette obligation ressort encore de l'
art. 254 al. 1 PPF
selon lequel les procédures ainsi engagées ne peuvent être closes que par un jugement ou par une ordonnance de non-lieu. C'est le Conseil fédéral certes qui a expressément la compétence, selon ces dispositions, pour déférer une cause à un canton, mais tant lui-même que le législateur peuvent la déléguer à un département (cf. art. 23 ss. de la loi
BGE 100 IV 124 S. 127
fédérale sur l'organisation de l'administration fédérale). Tel est le cas en l'espèce, en vertu de l'art. 11 de l'AF instituant des mesures dans le domaine du crédit, en ce qui concerne le Département fédéral des finances et des douanes.
c) L'attribution d'une cause conformément aux
art. 247 et 254 PPF
est un acte souverain déférant à une autorité cantonale une compétence qui sans cela lui ferait défaut. Cet acte, qui ne concède pas seulement un pouvoir mais impose en outre l'obligation de poursuivre et de statuer sur le fond, a un caractère constitutif (HUBER, Das Verfahren in Bundesstrafsachen, die von kantonalen Behörden zu beurteilen sind, thèse Zurich 1939, p. 33-35, 73-74, 79 et 82; STÄMPFLI, No 1 ad
art. 247 PPF
). Les autorités compétentes du canton de Genève ne pouvaient donc en l'occurrence décliner leur compétence. Elles avaient d'autant moins de raison à cela que le Département fédéral des finances et des douanes se référait expressément à l'
art. 346 CP
, selon lequel l'autorité compétente pour la poursuite et le jugement d'une infraction est celle du lieu où l'auteur a agi, et qu'il n'y avait aucune raison déterminante de transmettre l'affaire à un autre canton.
La requête du Ministère public fédéral doit dès lors être admise.
Dispositiv
Par ces motifs, la Chambre d'accusation:
Admet la requête et déclare les autorités genevoises compétentes aux fins de poursuivre et de juger les infractions imputées à Photo Traber SA, soit aux organes de celle-ci. | null | nan | fr | 1,974 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eb738e22-7be6-49f9-a46e-f885d6933b33 | Urteilskopf
139 V 367
48. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen T. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_833/2012 vom 19. Juni 2013 | Regeste
Art. 22 Abs. 1 und
Art. 5 Abs. 1 FZG
; Barauszahlung der im Rahmen der Ehescheidung zu teilenden Austrittsleistungen.
Wer im Scheidungszeitpunkt nachweislich bereits selbstständig erwerbstätig ist und nicht der obligatorischen beruflichen Vorsorge untersteht, kann sich die zu übertragende Summe unter denselben Voraussetzungen, wie sie für eine Barauszahlung des in der freiwilligen beruflichen Vorsorge angesparten Alterskapitals gelten (vgl.
BGE 135 V 418
;
BGE 134 V 170
), bar auszahlen lassen (E. 3.5 und 3.6). | Sachverhalt
ab Seite 367
BGE 139 V 367 S. 367
A.
T. wurden im Rahmen seiner 2010 erfolgten Ehescheidung Fr. 4'109.90 als Vorsorgeausgleich auf ein Freizügigkeitskonto bei der Zürcher Kantonalbank überwiesen. Seine Gesuche vom 9. Januar
BGE 139 V 367 S. 368
und 9. Februar 2011, ihm die Freizügigkeitsleistung wegen seiner selbstständigen Tätigkeit bar auszuzahlen, blieben ohne Erfolg.
Am 25. März 2011 reichte T. Klage beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ein und beantragte, die Freizügigkeitsstiftung der Zürcher Kantonalbank (nachfolgend: Freizügigkeitsstiftung) sei zu verpflichten, das auf ihn lautende Freizügigkeitskonto aufzuheben und ihm den Saldo von ca. Fr. 4'109.90 auszuzahlen.
B.
Mit Entscheid vom 30. August 2012 hiess das Sozialversicherungsgericht die Klage in dem Sinne gut, als es feststellte, dass T. Anspruch auf Barauszahlung seiner Freizügigkeitsleistung habe, soweit hinreichend belegt sei, dass er selbstständig erwerbend sei und der obligatorischen beruflichen Vorsorge nicht unterstehe; unerheblich bleibe, ob die Barauszahlung zur Finanzierung der selbstständigen Erwerbstätigkeit genutzt werde oder nicht. In der Folge überwies es die Sache an die Freizügigkeitsstiftung zur Nennung und Prüfung der entsprechenden Legitimationsmittel.
C.
Dagegen erhebt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag auf Aufhebung des Entscheids vom 30. August 2012 und Rückweisung des Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht zu neuem Entscheid.
T. schliesst auf die Bestätigung des Entscheids vom 30. August 2012 und weist neu darauf hin, dass er im Mai 2012 in die Unselbstständigkeit gewechselt habe. Die Freizügigkeitsstiftung beantragt, in Gutheissung der Beschwerde des BSV sei der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts vollumfänglich aufzuheben und die Klage abzuweisen. Das Sozialversicherungsgericht verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Gemäss
Art. 5 Abs. 1 FZG
(SR 831.42) können Versicherte die Barauszahlung der Austrittsleistung verlangen, wenn sie die Schweiz endgültig verlassen (lit. a) oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen und der obligatorischen beruflichen Vorsorge nicht mehr unterstehen (lit. b) oder aber wenn die Austrittsleistung weniger als ihr Jahresbeitrag beträgt (lit. c).
BGE 139 V 367 S. 369
2.2
Der Wortlaut von
Art. 5 Abs. 1 lit. b FZG
, der hier im Vordergrund steht, ist unmissverständlich. Die Barauszahlung setzt (kumulativ) die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit und das Fehlen eines Versicherungsobligatoriums voraus (SVR 2011 BVG Nr. 24 S. 91, 9C_610/2010 E. 4.2.2). Es sind keine Gründe ersichtlich, von diesem Wortlaut abzuweichen. Ratio legis von
Art. 5 Abs. 1 lit. b FZG
ist die finanzielle Unterstützung beim Aufbau einer Unternehmung; dies als Ausnahme vom Grundsatz, dass das Vorsorgeguthaben als Altersvorsorge erhalten bleiben soll (SVR 2011 BVG Nr. 24 S. 91, 9C_610/2010 E. 4.2.3). Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass der Aufbau einer selbstständigen Existenz als Grundlage für eine ausreichende Altersvorsorge durch Selbstvorsorge dient, weshalb der Versicherte keiner beruflichen Vorsorge mehr bedarf (GEISER/SENTI, in: BVG und FZG, 2010, N. 41 zu
Art. 5 FZG
; RIEMER/RIEMER-KAFKA, Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, 2. Aufl. 2006, S. 139 Rz. 119; Mitteilungen des BSV über die berufliche Vorsorge Nr. 11 vom 28. Dezember 1988 Rz. 59 mit Hinweis auf die Botschaft zum BVG vom 19. Dezember 1975, BBl 1976 I 149, 240 oben zu Art. 30 E-BVG).
2.3
Der Beschwerdegegner machte resp. macht nicht geltend, im Zeitpunkt der Scheidung eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen zu haben. Vielmehr begründete er seinen Anspruch auf Barauszahlung damit, dass er damals bereits selbstständig erwerbend war.
3.
3.1
Art. 122 ZGB
räumt jedem Ehegatten Anspruch auf die Hälfte der für die Ehedauer zu ermittelnden Austrittsleistung des anderen Ehegatten ein, wenn mindestens ein Ehegatte einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge angehört und bei keinem Ehegatten ein Vorsorgefall eingetreten ist (Abs. 1). Stehen den Ehegatten gegenseitige Ansprüche zu, so ist nur der Differenzbetrag zu teilen (Abs. 2).
Ein Ehegatte kann in der Vereinbarung auf seinen Anspruch ganz oder teilweise verzichten, wenn eine entsprechende Alters- und Invalidenvorsorge auf andere Weise gewährleistet ist. Das Gericht kann die Teilung ganz oder teilweise verweigern, wenn sie aufgrund der güterrechtlichen Auseinandersetzung oder der wirtschaftlichen Verhältnisse nach der Scheidung offensichtlich unbillig wäre (
Art. 123 Abs. 1 und 2 ZGB
).
3.2
Bei Ehescheidung werden die für die Ehedauer zu ermittelnden Austrittsleistungen nach den Artikeln 122 und 123 des
BGE 139 V 367 S. 370
Zivilgesetzbuches (ZGB) sowie den Artikeln 280 und 281 der Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (ZPO) geteilt; die Artikel 3-5 FZG sind auf den zu übertragenden Betrag sinngemäss anwendbar (
Art. 22 Abs. 1 FZG
).
3.3
Die Vorinstanz vertritt die Meinung, der Anwendungsbereich von
Art. 5 FZG
gehe im Scheidungsfalle insofern über die eigentlichen Tatbestände von Abs. 1 hinaus, als verschiedene Gesetzesbestimmungen eine analoge oder sinngemässe Anwendbarkeit von
Art. 5 FZG
vorsehen. Dass die wortgetreue Anwendung des
Art. 5 Abs. 1 FZG
nicht zur Anwendung komme, rechtfertige sich auch, weil es sich beim Vorsorgekapital, das im Rahmen eines Scheidungsverfahrens an den Ehepartner übertragen werde, nicht um von diesem selber angespartes Kapital handle. Ausserdem führe die wortwörtliche Anwendung des
Art. 5 Abs. 1 FZG
zu stossenden und rechtsungleichen Ergebnissen. So wäre eine Barauszahlung für denjenigen zulässig, der die Schweiz nach der Ehescheidung endgültig verlasse, während sie für den Ehepartner, der bereits vor der Scheidung die Schweiz für immer verlassen habe, unmöglich bliebe. Ferner vermöge ein Ehepartner, der im Zeitpunkt der Scheidung noch in einem unselbstständigen Arbeitsverhältnis steht, die Voraussetzung der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit zu erfüllen, was für den bereits vor der rechtskräftigen Scheidung Selbstständigerwerbenden unerreichbar bleibe. Dies könne nicht Sinn und Zweck der genannten Bestimmung sein, weshalb sich eine wortwörtliche Anwendung von
Art. 5 Abs. 1 FZG
zu Gunsten einer vom Gesetz vorgesehenen sinngemässen Anwendung verbiete.
Das BSV macht im Wesentlichen geltend, die Auslegung durch das kantonale Gericht entspreche weder dem Willen des Gesetzgebers noch der Lehrmeinung oder der Rechtsprechung.
3.4
Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen
BGE 139 V 367 S. 371
Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien können beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben (
BGE 137 V 434
E. 3.2 S. 437 mit Hinweisen).
3.5
3.5.1
Der Wortlaut des zweiten Teilsatzes von
Art. 22 Abs. 1 FZG
besagt lediglich, dass die
Art. 3, 4 und 5 FZG
im Scheidungsfall nicht direkt, sondern sinngemäss, d.h. "nur" vergleichbar, anzuwenden sind. Er lässt Raum sowohl für eine versicherungstechnische als auch inhaltliche Analogie.
3.5.2
Art. 3, 4 und 5 FZG
beziehen sich auf den Fall, dass eine versicherte Person aus ihrer Vorsorgeeinrichtung austritt, und regeln die Erfüllung ihres Austrittsleistungsanspruchs resp. den Erhalt ihres Vorsorgeschutzes (vgl. auch den Titel des 2. Abschnittes: Rechte und Pflichten der Vorsorgeeinrichtung bei Austritt von Versicherten). Der zweite Teilsatz von
Art. 22 Abs. 1 FZG
hat wohl ebenfalls die Austrittsleistung zum Inhalt, jedoch nicht die eigene und nicht in Verbindung mit einem Austritt (vgl. E. 3.1). Er beinhaltet primär eine Schuldenregelung zwischen den Ehegatten, die von vorsorgerechtlichem Charakter ist, wobei der zu übertragende Betrag dem beruflichen Vorsorgeschutz erhalten bleiben soll (vgl. den Titel des 5. Abschnittes: Erhaltung des Vorsorgeschutzes in besonderen Fällen; vgl. auch E. 3.5.3 nachfolgend). Insoweit stellt der zweite Teilsatz von
Art. 22 Abs. 1 FZG
vor allem eine Zahlungsmodalität dar (vgl. HANS-ULRICH STAUFFER, Berufliche Vorsorge, 2. Aufl. 2012, S. 514 Rz. 1390). Das Wort "sinngemäss" weist demnach - in systematischer Hinsicht - einen versicherungstechnischen Gehalt auf, indem für den scheidungsrechtlichen Vorsorgeausgleich die gleichen Erfüllungsregeln resp. der gleiche Vorsorgeschutz zur Anwendung gelangen resp. gelangt, wie wenn es um die eigene Austrittsleistung geht.
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus dem Umstand, dass "verschiedene Gesetzesbestimmungen eine analoge oder sinngemässe Anwendbarkeit von
Art. 5 FZG
vorsehen", wie die Vorinstanz erwogen hat. Gemäss
Art. 14 FZV
(SR 831.425) gilt
Art. 5 FZG
für Freizügigkeitseinrichtungen sinngemäss. Das BSV hielt dazu in seinen Erläuterungen, die es mit Schreiben vom 6. Oktober 1994 verschiedenen Institutionen wie u.a. dem Bundesgericht zustellte, fest: "Für die vorzeitige Barauszahlung des Vorsorgekapitals wird auf die Bestimmungen in Artikel 5 FZG verwiesen. Das bedeutet, dass eine
BGE 139 V 367 S. 372
Barauszahlung des Vorsorgekapitals geltend gemacht werden kann, wenn die Tatbestände und Voraussetzungen dieser Bestimmung gegeben sind. Allerdings kann diese gesetzliche Regelung angesichts der unterschiedlichen Einrichtungen und Situationen nicht unbesehen übernommen werden, worauf das Wort
sinngemäss
hinweist. So kann nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe b FZG bei einer Freizügigkeitseinrichtung nicht verlangt werden, dass die versicherte Person nicht mehr dem Obligatorium der beruflichen Vorsorge untersteht. Auch die Voraussetzung, dass der sog. geringe Betrag nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c FZG nicht mehr als einen Jahresbeitrag ausmachen darf, hat in diesem Zusammenhang nicht dieselbe Bedeutung wie bei einer Vorsorgeeinrichtung. Es soll hier jedoch dem Sinn der Bestimmung nach Bezug genommen werden können auf den Jahresbeitrag bei der letzten Vorsorgeeinrichtung vor der Übertragung der Freizügigkeitsleistung auf eine Freizügigkeitseinrichtung" (Schreiben des BSV abgedruckt in: CARL HELBLING, Personalvorsorge und BVG, 8. Aufl. 2006, S. 268 f.). Dem Wort "sinngemäss" - im systematischen Kontext mit
Art. 5 FZG
- kommt demnach auch andernorts versicherungstechnische Relevanz zu.
3.5.3
Mit dem Verweis in
Art. 22 Abs. 1 FZG
auf
Art. 3-5 FZG
folgte der Gesetzgeber wortwörtlich dem Entwurf des Bundesrates. Hintergrund ist, dass die Mittel der beruflichen Vorsorge bei einer Scheidung grundsätzlich weiter dieser dienen sollen (Botschaft vom 26. Februar 1992 zu einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, BBl 1992 III 533, 599 Abs. 3 Ziff. 635.3 zu Art. 22 E-FZG; vgl. auch Botschaft vom 15. November 1995 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Scheidung], BBl 1996 I 1, 104 Abs. 2 Ziff. 233.432 zu Art. 122 E-ZGB). Die gewählte Formulierung ("sinngemäss") gab im Rahmen der parlamentarischen Beratungen zu keiner Diskussion Anlass - weder in Bezug auf das FZG noch hinsichtlich des revidierten Scheidungsrechts. Zwar hielt der Bundesrat, wie das BSV meint, in den Erörterungen zum dem Parlament vorgelegten Entwurf von
Art. 22 FZG
fest, "eine Barauszahlung kommt allenfalls unter den Voraussetzungen von Artikel 5 in Frage" (BBl 1992 III 599 Ziff. 635.3), resp. "unter den Voraussetzungen von Artikel 5 FZG ist im übrigen eine Barauszahlung denkbar" (BBl 1996 I 107 Abs. 1 Ziff. 233.441 zu Art. 22 E-FZG). Entgegen der Auffassung des BSV lässt sich indessen daraus nicht zwingend ableiten, der Gesetzgeber habe im Scheidungsfall keine Lockerung der Barauszahlungsgründe
BGE 139 V 367 S. 373
gewollt. Die fraglichen Aussagen dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind im Gesamtzusammenhang zu sehen: Früher konnte eine Frau, die wegen Verheiratung ihre Erwerbstätigkeit aufgab, sich ihre Freizügigkeitsleistung auszahlen lassen und für die Bedürfnisse des (in Gründung befindenden) gemeinsamen Haushaltes verwenden (
Art. 30 Abs. 2 lit. c BVG
in der bis Ende 1994 geltenden Fassung; AS 1983 804). In der Folge stand die Ehefrau im Falle einer Scheidung nicht selten ohne genügende Vorsorge da. Dem sollte anlässlich der Konzeptionierung des Freizügigkeitsgesetzes u.a. aus Gründen der Gleichbehandlung von Mann und Frau Einhalt geboten werden (BBl 1992 III 576 oben Ziff. 632.4 zu Art. 5 E-FZG). Der dabei - unter dem Titel Ehescheidung - gemachte Hinweis des Bundesrates auf die Barauszahlungsmöglichkeit gemäss
Art. 5 Abs. 1 FZG
lässt sich deshalb auch in dem Sinne verstehen, dass er lediglich signalisieren wollte, dass eine Barauszahlung auch zukünftig nicht per se ausgeschlossen sei. Ein klarer Wille des Gesetzgebers, die Barauszahlungsgründe von
Art. 5 Abs. 1 FZG
im Fall einer Ehescheidung 1:1 anzuwenden, ist demnach nicht auszumachen.
3.5.4
Wer von der unselbstständigen Erwerbstätigkeit in eine selbstständige wechselt, verfügt in diesem Moment - soweit nicht mehr der obligatorischen beruflichen Vorsorge unterstehend - über die Möglichkeit, sich das angesparte Alterskapital gemäss
Art. 5 Abs. 1 lit. b FZG
bar auszahlen zu lassen. Wer im Scheidungszeitpunkt bereits selbstständig erwerbstätig ist, kommt nicht (mehr) in den Genuss eines solchen Wahlrechts, auch wenn er gar keiner beruflichen Vorsorge (mehr) bedarf (vgl. E. 2.2). Dessen ungeachtet kann nicht von Rechtsungleichheit gesprochen werden, da sich die beiden Konstellationen sachlich erheblich unterscheiden. Zum einen handelt es sich bei dem nach
Art. 22 Abs. 1 FZG
zu übertragenden Vorsorgekapital nicht um eine selber angesparte Austrittsleistung (vgl. E. 3.5.2 Abs. 1). Zum andern basiert die Übertragung nicht auf einer beruflichen, sondern persönlichen resp. familiären Änderung der Verhältnisse. Dem steht jedoch - mit Blick auf den hier zu beurteilenden Fall - folgende Gegebenheit gegenüber: Wer selbstständig erwerbend ist und nicht der obligatorischen Versicherung unterstellt ist, sich aber der freiwilligen Vorsorge angeschlossen hat, kann sich gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung die entsprechenden geäufneten Mittel in klar bestimmten Schranken, namentlich zum Zwecke betrieblicher Investitionen, auszahlen lassen, wenn er den Vorsorgevertrag kündigt und seine vertragliche Beziehung mit seiner Vorsorgeeinrichtung beendet (
BGE 135 V 418
und
BGE 134 V 170
).
BGE 139 V 367 S. 374
Nachdem Selbstständigerwerbende sich jederzeit - zumindest solange kein Vorsorgefall eingetreten ist - freiwillig versichern lassen können (sei es bei einer Vorsorgeeinrichtung oder bei der Auffangeinrichtung [vgl.
Art. 44 BVG
und Art. 28 der Verordnung vom 18. April 1984 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVV 2; SR 831.441.1)]), kann dies auch erst im Scheidungsfall erfolgen und der gemäss
Art. 22 Abs. 1 FZG
zustehende Betrag auf die freiwillige Vorsorge übertragen werden, um ihn sodann bar erhältlich zu machen. Werden dabei die rechtlichen und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gesetzten Grenzen eingehalten, liegt kein Umgehungsgeschäft vor. Der Umweg verursacht jedoch - vor allem auf Seiten der Vorsorge- oder Auffangeinrichtung - nicht unbedeutende Kosten (Kontoeröffnung und -saldierung innert kurzer Zeit). Es ist daher zweckmässig und in Ausrichtung auf die herrschende Rechtslage objektiv angemessen, einem (nachgewiesenermassen) Selbstständigerwerbenden und nicht der obligatorischen beruflichen Vorsorge Unterstehenden die Möglichkeit einzuräumen, sich den im Scheidungsfall zu übertragenden Betrag unter den gleich restriktiven Bedingungen, wie sie für eine Barauszahlung des in der freiwilligen beruflichen Vorsorge angesparten Alterskapitals gelten (vgl.
BGE 135 V 418
und
BGE 134 V 170
), bar auszahlen zu lassen. Dies gilt umso mehr, als der gesetzlich statuierte Vorsorgegedanke bei Selbstständigerwerbenden keine vordergründige Rolle (mehr) spielt (vgl. E. 2.2). Mit anderen Worten kann ein Selbstständigerwerbender die Barauszahlung des ihm scheidungsrechtlich zustehenden Vorsorgekapitals verlangen, wenn er sich wirtschaftlich in der gleichen Situation wie ein freiwillig Versicherter befindet.
Soweit sich das BSV auf das vorne (vgl. E. 2.2) zitierte Urteil SVR 2011 BVG Nr. 24 S. 91, 9C_610/2010 beruft, lässt es ausser Acht, dass dort eine andere als die hier zu beurteilende Sachverhaltskonstellation vorlag; streitig war die Barauszahlung der Austrittsleistung an den berechtigten Ehegatten, der eine Invalidenrente aus vorehelicher Zeit bezog.
3.6
Im Lichte der Auslegung von
Art. 22 Abs. 1 FZG
ergibt sich somit für die vorliegende Situation grundsätzlich das folgende Ergebnis: Wer im Scheidungszeitpunkt nachweislich bereits selbstständig erwerbstätig ist und nicht der obligatorischen beruflichen Vorsorge untersteht, kann sich die zu übertragende Summe unter denselben Voraussetzungen, wie sie für eine Barauszahlung des in der freiwilligen beruflichen Vorsorge angesparten Alterskapitals gelten, bar auszahlen lassen. | null | nan | de | 2,013 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb73a41f-44d2-49fb-b337-6878fbd791b2 | Urteilskopf
99 Ib 112
13. Urteil vom 12. März 1973 i.S. Schneider gegen den Präsidenten der Eidg. Schätzungskommission des 8. Kreises. | Regeste
Art. 50 EntG
, Art. 26 ff. VwG; Gutachten des Präsidenten der Eidg. Schätzungskommission, Recht auf Akteneinsicht.
Bedeutung und Inhalt des Gutachtens, das der Präsident der Schätzungskommission dem zur Behandlung der Einsprachen zuständigen Departement erstattet. Das Recht der Parteien, dieses Gutachten einzusehen, richtet sich nach Art. 26 ff. VwG und ist beim Departement geltend zu machen. | Sachverhalt
ab Seite 112
BGE 99 Ib 112 S. 112
In einem von den Schweizerischen Bundesbahnen (Kreis III) gegen Rudolf Schneider eingeleiteten Enteignungsverfahren stellte der Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission (ESchK) des 8. Kreises die Akten nach der Einigungsverhandlung dem Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (EVED) zu, damit dieses über die streitig gebliebene Einsprache entscheide; gleichzeitig übermittelte er dem EVED sein Gutachten
BGE 99 Ib 112 S. 113
über die Angelegenheit (
Art. 50 EntG
). In der Folge ersuchte Schneider den Präsidenten der ESchK mit zwei Schreiben vom 11. Januar und vom 23. Februar 1973, ihm das erwähnte Gutachten zur Einsicht zuzustellen. Mit Verfügung vom 28. Februar 1973 wies der Präsident der ESchK das Begehren jedoch ab.
Schneider führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde wegen formeller Rechtsverweigerung und beantragt, den Präsidenten der ESchK zur Herausgabe des erwähnten Gutachtens zu verhalten.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Nach
Art. 87 EntG
(in der Fassung vom 20. Juni 1930) konnte wegen einer Rechtsverweigerung seitens der ESchK oder ihres Präsidenten jederzeit beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden. Mit der Revision des EntG vom 18. März 1971 (AS 1972 S. 911) wurde diese Vorschrift jedoch mit Rücksicht auf Art. 97 ff. des revidierten BG über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; SR 173.110) aufgehoben (vgl. Botschaft vom 20. Mai 1970, BBl 1970 I S. 1017). Die Rüge der formellen Rechtsverweigerung kann gegenüber der ESchK oder ihrem Präsidenten grundsätzlich mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben werden. Auf die Beschwerde, die sich gegen eine Verfügung im Sinne von Art. 5 VwG richtet, ist daher einzutreten, zumal das EntG sie für den vorliegenden Fall nicht ausschliesst und keine der in Art. 99 bis 102 OG genannten Ausnahmen gegeben ist.
Nach Abschluss des Einigungsverfahrens (
Art. 45 ff. EntG
) übermittelt der Präsident der ESchK die streitig gebliebenen Einsprachen gegen die Enteignung und Begehren nach den Art. 7 bis 10 EntG dem in der Sache zuständigen Departement; dabei kann er ein Gutachten beifügen (
Art. 50 EntG
; vgl. HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 5 zu
Art. 50 EntG
). Über den Inhalt dieses "Gutachtens" enthält das Gesetz keine Vorschriften, und auch die Frage, ob und gegebenenfalls wann es den Parteien bekannt gegeben werden muss, ist darin nicht ausdrücklich geregelt. Wie es sich damit verhält, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist das Bundesgericht befugt, den Präsidenten der ESchK gestützt auf das ihm zustehende Aufsichtsrecht in Enteignungssachen Weisungen zu erteilen (
Art. 63 Satz 3 EntG
; vgl.
BGE 94 I 297
Erw. 5).
Die Übermittlung der Akten an das zuständige Departement
BGE 99 Ib 112 S. 114
schliesst das Einigungsverfahren ab. Sie bezweckt unter anderem, der zur Beurteilung der Einsprachen zuständigen Behörde die bereits vorhandenen Entscheidungsunterlagen zugänglich zu machen. Namentlich in umfangreicheren Enteignungsstreitigkeiten soll das erwähnte Gutachten deshalb in erster Linie einen Bericht über den bisherigen Verlauf des Verfahrens enthalten und Auskunft über die noch hängigen Streitfragen geben. Der Präsident der ESchK soll darin angeben, welche Einsprecher am Verfahren beteiligt sind, welche Grundstücke von der Enteignung betroffen und welche Begehren gestellt werden. Sein Gutachten soll demnach vor allem die Instruktion des vor dem Departement hängigen Einspracheverfahrens erleichtern und unerwünschte Verzögerungen vermeiden helfen. Darüberer hinaus steht es dem Präsidenten der ESchK jedoch frei, die einzelnen Einsprachevorbringen zu würdigen und dem Departement seine Auffassung dazu bekannt zu geben. Ebenso kann er diesem seine allfällig an Ort und Stelle gewonnenen Eindrücke von den tatsächlichen Verhältnissen schildern. Mit Rücksicht auf den Stand des Verfahrens ist er indessen nicht verpflichtet, sein Gutachten den Parteien zur Einsichtnahme zuzustellen. Legen diese Wert darauf, von den Ausführungen des Präsidenten Kenntnis zu nehmen, so können sie vor dem Departement nach Massgabe von Art. 26 ff. VwG Akteneinsicht verlangen. Je nach dem Inhalt des Gutachtens ist das Departement im übrigen verpflichtet, den Parteien gemäss Art. 29 ff. VwG das rechtliche Gehör zu gewähren.
Der Präsident des 8. Schätzungskreises machte sich deshalb keiner Bundesrechtsverletzung schuldig, wenn er es im vorliegenden Fall ablehnte, dem Beschwerdeführer seinen gestützt auf
Art. 50 EntG
erstatteten Bericht zuzustellen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen. | public_law | nan | de | 1,973 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
eb77bb95-5802-43e1-a2a7-3dccba828913 | Urteilskopf
121 V 284
44. Arrêt du 22 novembre 1995 dans la cause Assura, caisse maladie et accident contre W. et Tribunal administratif du canton de Fribourg | Regeste
Art. 2 Abs. 1 lit. a,
Art. 14 Abs. 1 KUVG
: Wartezeit bei Mutterschaft.
Art. 11 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Freiburg über die obligatorische Krankenversicherung, wonach die Aufnahme in die Krankenkasse im Bereich der obligatorischen Minimalleistungen ohne Wartezeit zu erfolgen hat, ist nicht bundesrechtswidrig. | Sachverhalt
ab Seite 284
BGE 121 V 284 S. 284
A.-
W., née en 1973, a été assurée contre la maladie du 1er juillet 1989 au 30 avril 1991 dans le cadre d'un contrat d'assurance collective conclu par son ex-employeur auprès de la caisse-maladie l'AVENIR Assurances.
Le 25 juin 1992, alors qu'elle n'avait plus eu de couverture d'assurance depuis le 1er mai 1991, elle a présenté une demande d'admission à la Caisse maladie et accident ASSURA, pour l'assurance des soins médicaux, pharmaceutiques et hospitaliers et une assurance complémentaire pour les mêmes soins. Elle a indiqué qu'elle était enceinte et qu'elle accoucherait probablement le 1er octobre 1992. L'agent de la caisse l'informa alors que
BGE 121 V 284 S. 285
les frais en relation avec cet accouchement ne seraient pas pris en charge par ASSURA.
Le 21 juillet 1992, ASSURA a communiqué à la candidate que sa demande d'admission était acceptée dès le 1er juillet 1992 et elle lui a confirmé qu'aucune prestation ne lui serait accordée pour sa grossesse en cours et pour son accouchement, étant donné qu'elle n'avait pas été affiliée à une caisse-maladie depuis 270 jours sans interruption de plus de trois mois.
Le 6 octobre 1992, l'assurée a mis au monde un enfant à l'Hôpital cantonal de Fribourg, où elle a séjourné du 5 au 10 octobre 1992.
Le 23 novembre 1992, la Direction de la santé publique et des affaires sociales du canton de Fribourg a invité ASSURA à prendre en charge les frais de séjour et de traitement encourus par l'assurée durant son hospitalisation dans l'établissement précité.
ASSURA a refusé et, le 10 février 1993, elle a notifié à W. une décision par laquelle elle refusait de lui allouer des prestations en raison de ce séjour à l'hôpital.
B.-
Par jugement du 24 mai 1995, le Tribunal administratif du canton de Fribourg a partiellement admis le recours formé contre cette décision par l'assurée. Il a considéré, en effet, que les caisses-maladie conventionnées étaient tenues d'admettre sans stage et sans réserve les personnes soumises à l'assurance-maladie obligatoire en vertu du droit cantonal, pour les prestations minimales obligatoires selon la LAMA (RS 832.10). La caisse ne pouvait par conséquent pas imposer à son assurée un stage de 270 jours pour le versement des prestations en cas de maternité.
C.-
ASSURA interjette un recours de droit administratif dans lequel elle conclut à l'annulation du jugement cantonal et à la confirmation de sa décision du 10 février 1993.
W. n'a pas fait usage de la possibilité qui lui a été donnée de répondre au recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
a) Selon l'
art. 128 OJ
, le Tribunal fédéral des assurances connaît en dernière instance des recours de droit administratif contre des décisions au sens des art. 97, 98 let. b à h et 98a OJ, en matière d'assurances sociales. Quant à la notion de décision pouvant faire l'objet d'un recours de droit administratif, l'
art. 97 OJ
renvoie à l'
art. 5 PA
. Selon le premier alinéa de cette disposition, sont considérées comme décisions les mesures prises par les autorités dans des cas d'espèce, fondées sur le
BGE 121 V 284 S. 286
droit public fédéral (et qui remplissent encore d'autres conditions, définies plus précisément par rapport à leur objet).
b) Le canton de Fribourg a fait usage de la possibilité que confère aux cantons l'
art. 2 al. 1 let. a LAMA
de déclarer obligatoire l'assurance en cas de maladie, en général ou pour certaines catégories de personnes. Il a édicté à cet effet la loi du 11 mai 1982 sur l'assurance-maladie (LAM; RSF 842.1.1), qui s'applique à toutes les personnes domiciliées dans le canton de Fribourg.
Le jugement attaqué se fonde sur l'
art. 11 LAM
, qui a la teneur suivante:
1 Les caisses conventionnelles (recte: conventionnées) sont tenues
d'admettre les personnes soumises à l'assurance-maladie obligatoire quels
que soient leur âge et leur état de santé.
2 L'admission s'effectue sans droit d'entrée, sans stage et sans réserve
pour les prestations minimales obligatoires.
S'agissant des dispositions adoptées par les cantons sur la base de la délégation de l'
art. 2 al. 1 let. a LAMA
, le recours de droit administratif est recevable lorsqu'il porte sur des questions également réglées par le droit fédéral, en particulier les prestations d'assurance, le libre passage ou la franchise (
ATF 112 V 114
consid. 2d; RAMA 1994 no K 941 p. 176 consid. 1a).
c) En l'espèce, cette condition de recevabilité est remplie, du moment que le litige porte sur des prestations en cas de maternité (
art. 14 LAMA
).
2.
On doit tout d'abord se demander si la norme de droit cantonal incriminée va à l'encontre du droit fédéral ou en empêche l'application (cf.
ATF 118 V 278
consid. 1b).
a) Aux termes de l'
art. 14 al. 1 LAMA
, les caisses doivent prendre en charge, en cas de grossesse et d'accouchement, les mêmes prestations qu'en cas de maladie si, lors de ses couches, l'assurée a déjà été affiliée à des caisses depuis au moins 270 jours sans une interruption de plus de trois mois. Cette disposition a pour but de ne pas imposer des charges financières trop importantes aux caisses-maladie, en évitant que des assurées ne s'affilient pour la première fois à une caisse dans la seule perspective d'un accouchement prévisible (MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, vol. II, p. 336; BONER/HOLZHERR, Fiche juridique suisse no 1315, p. 22; RAMA 1988 no K 778 p. 321 consid. 1).
L'art. 5 ch. 7 des conditions générales de la recourante reprend la réglementation de l'
art. 14 al. 1 LAMA
.
BGE 121 V 284 S. 287
Pour les prestations d'un niveau supérieur à celles qu'impose la loi en cas de maternité, les caisses peuvent exiger l'écoulement d'un délai plus long que celui de 270 jours (RAMA 1990 no 845 p. 244).
b) Sur la base de ces dispositions, il est constant que l'intimée, qui n'a pas été assurée à une caisse-maladie du 1er mai 1991 au 30 juin 1992, ne peut bénéficier de prestations en cas de maternité pour son accouchement. En effet, la période de stage de 270 jours n'était pas écoulée au moment de cet accouchement et l'interruption de l'affiliation à une caisse-maladie, avant l'admission à la caisse recourante, a duré plus de trois mois. Aussi bien le tribunal administratif s'est-il fondé sur l'
art. 11 al. 2 LAM
pour constater que cette disposition n'autorisait pas les caisses-maladie à imposer un stage aux nouveaux affiliés obligatoirement assujettis à l'assurance en vertu du droit cantonal.
c) La restriction apportée par l'art. 11 al. 2 précité, en tant qu'elle vise l'obligation pour les caisses-maladie d'admettre sans stage les personnes soumises à l'obligation d'assurance, n'est pas contraire au droit fédéral. Dans le cadre de la compétence qui leur est déléguée par l'
art. 2 al. 1 let. a LAMA
, les cantons doivent satisfaire aux exigences minimales de la LAMA, mais il leur est loisible d'accorder aux assurés une protection plus étendue, notamment en ce qui concerne la suppression du stage, le régime des réserves ou l'augmentation de la durée du droit aux prestations (RJAM 1970 no 73 p. 152 consid. 1; MARMY, L'assurance-maladie dans le canton de Fribourg, p. 13; DUC, L'assurance-maladie malade... Et si les cantons faisaient usage de leur compétence dans ce domaine?, in Droit cantonal et Droit fédéral, Mélanges publiés par la Faculté de droit à l'occasion du 100ème anniversaire de la loi sur l'Université de Lausanne, p. 70). La restriction susmentionnée s'inscrit donc dans cette optique. Elle constitue même le corollaire de l'assujettissement obligatoire à l'assurance-maladie selon le droit cantonal. L'obligation d'assurance, en effet, n'a de véritable sens que si les personnes assujetties ne sont pas, en ce qui concerne leur état de santé, soumises aux conditions ordinaires de la procédure d'admission, par exemple pour ce qui est de l'introduction de réserves (BORELLA, L'affiliation à l'assurance-maladie sociale suisse, thèse Lausanne 1993, no 451, p. 273; DUC, loc.cit., p. 74). Or, le stage fait partie de ces conditions ordinaires d'admission, puisqu'il vise à exclure de la couverture d'assurance - mais pas au-delà de la durée du stage - les troubles non déclarés par le candidat et qui ne justifieraient
BGE 121 V 284 S. 288
pas une réserve, ainsi que les affections survenues au début de l'affiliation, (BORELLA, op.cit., no 326, p. 207).
Pour le législateur fédéral également, l'observation d'un stage n'est pas conciliable avec le principe d'un assujettissement obligatoire à l'assurance-maladie. La LAMal (qui entrera en vigueur le 1er janvier 1996) prévoit la suppression des stages prescrits actuellement par la LAMA (et donc aussi du stage de 270 jours institué par l'
art. 14 al. 1 LAMA
). La raison invoquée à l'appui de cette suppression est, justement, que les stages n'ont plus leur place dans le cadre de l'assurance fédérale obligatoire des soins introduite par la nouvelle loi (voir à ce sujet le message du Conseil fédéral concernant la révision de l'assurance-maladie du 6 novembre 1991, FF 1992 I 137).
3.
La recourante, à vrai dire, ne prétend pas que l'interdiction d'un stage stipulée par le droit cantonal soit contraire au droit fédéral. Elle reproche aux premiers juges une mauvaise interprétation du droit cantonal. Selon elle, le stage visé par l'
art. 11 al. 2 LAM
ne concerne que le stage prévu par l'
art. 13 LAMA
(stage de trois mois au maximum pour les prestations en cas de maladie) et non celui de 270 jours institué par l'
art. 14 al. 1 LAMA
, qui concerne les prestations en cas de maternité.
Le recours de droit administratif ne peut être formé que pour violation du droit fédéral (
art. 104 let. a OJ
), notion qui englobe aussi le droit constitutionnel fédéral, en particulier les droits constitutionnels découlant de l'
art. 4 al. 1 Cst.
, par exemple les principes d'égalité de traitement et de proportionnalité (
ATF 109 V 210
consid. 1b et les arrêts cités). Dans cette mesure, le recours de droit administratif assume la fonction du recours de droit public à l'égard de violations de ces droits par une autorité cantonale dans les matières soumises au contrôle du Tribunal fédéral des assurances en tant que juge administratif (
ATF 102 V 125
consid. 1b; cf.
ATF 118 Ib 13
consid. 1a, 62 consid. 1b, 132 consid. 1a).
En l'espèce, compte tenu du grief soulevé par la recourante, seule pourrait entrer en ligne de compte l'application prétendument arbitraire du droit cantonal (
art. 4 al. 1 Cst.
). Mais on ne voit pas en quoi l'application de ce droit par les premiers juges serait arbitraire. Les prestations en cas de maternité selon la LAMA sont des prestations obligatoires au même titre que les prestations en cas de maladie. Logiquement, elles entrent également dans le champ d'application de l'assurance obligatoire instituée, le cas
BGE 121 V 284 S. 289
échéant, par le droit cantonal. S'il est exact qu'une grossesse normale n'est pas une maladie, elle y est cependant assimilée dans la mesure où l'assurée peut prétendre les mêmes prestations qu'en cas de maladie (
art. 14 LAMA
; cf. également
art. 29 LAMal
). Dès lors, si le droit cantonal fribourgeois ne contient aucune précision quant au genre de prestations visé par la suppression du stage, il n'est en tout cas pas insoutenable d'en inférer que cette suppression concerne également les prestations en cas de maternité selon la LAMA. | null | nan | fr | 1,995 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb7a6ed5-77da-4d4e-85a6-49f7fbd564d8 | Urteilskopf
92 III 27
5. Entscheid vom 16. Juli 1966 i.S. Schweizerische Kreditanstalt. | Regeste
Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung. Liquidationsverfahren. Kollokationsplan.
1. Der Kollokationsplan ist tunlich rasch aufzustellen. Art. 316g in Verbindung mit
Art. 247 SchKG
. - Verschiebung einer Kollokationsverfügung nach Art. 59 Abs. 2 Satz 2 KV: Wieweit Ermessensfrage? Unzulässig, wenn keine ernstlichen Hindernisse oder Schwierigkeiten bestehen. (Erw. 1).
2. Der Umstand, dass eine Konkurseingabe heikle Rechtsfragen aufwirft, bildet im allgemeinen keinen Grund, die Verfügung über sie im Kollokationsplan aufzuschieben. (Erw. 2).
3. Ist die Verschiebung zulässig mit Rücksicht auf eine der Konkursmasse allenfalls je nach dem Ausgang eines Prozesses mit einem Dritten erwachsende Rückgriffsforderung? Sie ist es nicht, wenn die selbständige Geltendmachung des Rückgriffsrechtes keine erheblichen Nachteile für die Masse mit sich bringen wird und ausserdem zur Zeit keine konkreten Anhaltspunkte für einen den Rückgriff rechtfertigenden Sachverhalt bestehen. (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 28
BGE 92 III 27 S. 28
A.-
Der in Arlesheim wohnhafte Gustav Baader war Inhaber eines Geschäftsbetriebes in Basel (Einzelfirma) und ausserdem zusammen mit Louis Lachat und Marcel Corbat an zwei Gesellschaften mit Sitz in Delsberg beteiligt: der Immeubles Modernes SA ("IMMOSA"), deren Verwaltungsrat er gleichfalls angehörte, und der Eléments Préfabriqués SA ("EPSA"). Für diese beiden (miteinander nicht nur personell, sondern auch geschäftlich verbundenen) Gesellschaften wie auch für Lachat und Corbat ging Baader Bürgschaftsverpflichtungen von insgesamt etwa Fr. 17 000 000.-- ein. Als die beiden Gesellschaften in Zahlungsschwierigkeiten gerieten und einige Gläubiger sich anschickten, Baader als Bürgen zu belangen, suchte dieser um eine Nachlasstundung nach. Am 15. Dezember 1964 wurde der von ihm vorgeschlagene Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung (Liquidationsvergleich) behördlich bestätigt. Ueber die beiden erwähnten Gesellschaften war schon im Oktober 1964 der Konkurs eröffnet worden. Im folgenden Monat kam auch Lachat in Konkurs, während Corbat wie Baader die Bestätigung eines Liquidationsvergleiches erlangte. Im Konkurs der IMMOSA ergab sich ein Passivenüberschuss von mehr als Fr. 17 000 000.--, im Konkurs der EPSA ein solcher von über Fr. 3 000 000.--.
B.-
Am 15. Januar 1966 legte die Liquidationskommission im Nachlassvertragsverfahren des G. Baader den Kollokationsplan auf. Darin stellte sie ihre Verfügung über Zulassung oder Abweisung der Forderungen der Rekurrentin von insgesamt Fr. 2 700 000.-- aus, weil eine nähere Prüfung nötig sei. Hierüber beschwerte sich die Rekurrentin bei der kantonalen Aufsichtsbehörde mit dem Begehren, die Liquidationskommission sei anzuweisen, die Entscheidung über die Forderung der Rekurrentin unverzüglich nachzuholen und den Kollokationsplan
BGE 92 III 27 S. 29
in entsprechendem Sinne zu ergänzen. Die Liquidationskommission berief sich in der Beschwerdebeantwortung auf Art. 59 Abs. 2 KV. Sie machte geltend, beim Forderungsposten von Fr. 800 000.-- (Darlehen betreffend die Ganatrade Establishment) stehe man vor heiklen Rechtsfragen. Im übrigen müsse sich die Liquidationskommission die Verrechnung allfälliger Rückgriffsansprüche vorbehalten. In diesem Liquidationsverfahren habe nämlich die Konkursmasse der IMMOSA eine Forderung von mehr als Fr. 18 000 000.-- aus Verantwortlichkeit des G. Baader in seiner Tätigkeit als Verwaltungsrat jener Gesellschaft eingegeben. Im Kollokationsplan sei diese Forderung zwar abgewiesen worden, doch habe jene Gläubigerin gegen die Liquidationsmasse Kollokationsklage angehoben. Sollte diese Klage auch nur zum Teil gutgeheissen werden, so könnte ein Rückgriff der Liquidationsmasse Baader gegen mehrere Banken, welche mit den beiden nun konkursiten Gesellschaften in Geschäftsverbindung standen, in Frage kommen. Auch die Rekurrentin falle hiebei nicht von vornherein ausser Betracht, denn sie habe der EPSA ein Darlehen von Franken 1500 000.-- gewährt. Ueber die Geltendmachung einer solchen Verrechnung könne die Liquidationskommission erst nach Beendigung des erwähnten Kollokationsstreites beschliessen.
C.-
Mit Entscheid vom 10. Juni 1966 hat die Aufsichtsbehörde des Kantons Basel-Landschaft die Beschwerde abgewiesen. Gestützt auf die Ausführungen des Gutachtens des Dr. Ch. Liatowitsch vom 13. August 1965 gelangt sie zu folgender Würdigung der Sach- und Rechtslage:
"In welchem Masse die Beschwerdeführerin an den Manipulationen der beiden konkursiten Firmen, namentlich der EPSA, beteiligt war, vermag die Aufsichtsbehörde auf Grund der ihr vorliegenden Akten nicht zu beurteilen. Immerhin weist die Tatsache eines Darlehens von 1,5 Millionen Franken an die EPSA auf das Bestehen von Geschäftsbeziehungen nicht unerheblichen Ausmasses hin. Die Möglichkeit, dass die Kreditanstalt vorsätzlich oder fahrlässig unlautere Machenschaften unterstützt und damit die Entstehung des Debakels gefördert hat, lässt sich daher, wenn auch konkrete Anhaltspunkte für einen Verdacht fehlen, nicht von vorneherein mit Sicherheit ausschliessen...
Dazu kommt die eher aufrechtlichem Gebiet liegende Schwierigkeit, über die Ganatrade-Forderung der Beschwerdeführerin zu befinden. Der Entscheid lässt sich in der Tat nicht ohne gründliche Überlegung
BGE 92 III 27 S. 30
fällen. Dass die Liquidationskommission hiezu etwas Zeit benötigt, liegt auf der Hand."
D.-
Mit vorliegendem Rekurs hält die Rekurrentin an ihrem Beschwerdebegehren fest, "unter o/e Kostenfolge für die Rekursbeklagte".
Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Nach den konkursrechtlichen Grundsätzen, welche im Liquidationsverfahren infolge Nachlassvertrages mit Vermögensabtretung entsprechend anzuwenden sind, soll der Kollokationsplan tunlich rasch aufgestellt werden (
Art. 247 SchKG
). Nur dann, wenn sich die Konkursverwaltung bzw. Liquidationskommission über die Zulassung oder Abweisung einer Ansprache noch nicht aussprechen kann, soll sie nach Art. 59 Abs. 2 KV entweder mit der Aufstellung des (ganzen) Kollokationsplanes zuwarten oder bloss die Kollokationsverfügung über die betreffende Ansprache aussetzen und den Kollokationsplan später ergänzen und unter öffentlicher Bekanntmachung wieder auflegen. Im vorliegenden Fall ist die Liquidationskommission im zweiten Sinne vorgegangen. Ob genügend Gründe vorlagen, dergestalt die Verfügung über die Eingabe der Rekurrentin (und anderer Banken) zu verschieben, war in weitem Umfang eine Frage des Ermessens, dessen Ausübung nicht Gegenstand eines Rekurses an das Bundesgericht bilden kann (Art. 19 im Unterschied zu
Art. 17 und 18 SchKG
). Indessen handelt es sich dabei nicht um ein freies Ermessen. Grundsätzlich kann jeder Gläubiger verlangen, dass der Kollokationsplan innerhalb der üblichen Fristen aufgestellt und dabei auch über seine Ansprache verfügt werde. Ein Aufschieben der Auflegung des Kollokationsplanes und ebenso ein Aussetzen einzelner Kollokationsverfügungen ist nur beim Vorliegen ernsthafter Hindernisse oder Schwierigkeiten zulässig. Fehlt es an sachlichen Gründen, so ist die Verschiebung willkürlich, liegt ausserhalb des dem Ermessen gezogenen Rahmens und verletzt damit das Gesetz (vgl. P. SCHWARTZ, Das Ermessen der Betreibungsbehörden, BlSchK 1965 S. 161 ff.). Die Vorinstanz erklärt denn auch zutreffend, eine Kollokationsverfügung dürfe nur so lange aufgeschoben werden, als dies zur Prüfung der Forderung nötig sei.
BGE 92 III 27 S. 31
2.
Dass die Forderung als solche, wie sie die Rekurrentin eingegeben hat, einer erst später zu treffenden Kollokationsverfügung vorbehalten werden müsse, wird nur in bezug auf einen (mit den übrigen Teilbeträgen anscheinend nicht zusammenhängenden) Teilposten, die sog. Ganatrade-Forderung, behauptet. Die in dieser Hinsicht bestehenden Schwierigkeiten der Stellungnahme rechtfertigen es also höchstens, die Kollokationsverfügung über diese einzelne Forderung zurückzustellen. Aber auch insoweit fehlt es an einem zureichenden Verschiebungsgrund. Worin "die eher auf rechtlichem Gebiet liegende Schwierigkeit" bestehe, sagt der angefochtene Entscheid nicht. Eine Konkursverwaltung oder Liquidationskommission muss sich bei Aufstellung des Kollokationsplanes häufig mit heiklen Rechtsfragen befassen. Es ist nicht einzusehen, wieso die seit Eröffnung des vorliegenden Liquidationsverfahrens verflossene Zeit nicht sollte hingereicht haben.
3.
Als Hauptgrund der Verschiebung wird ein Umstand bezeichnet, der nicht die Forderungseingabe selbst betrifft: die allfällig je nach dem Ausgang des von der IMMOSA angehobenen Kollokationsprozesses sich ergebende Möglichkeit, wegen Mitverantwortlichkeit der Rekurrentin und anderer Banken auf diese Konkursgläubiger zurückzugreifen; daher will sich die Liquidationskommission die Verrechnung der Konkursforderungen dieser Gläubiger mit den allfälligen Rückgriffsansprüchen vorbehalten.
Dazu ist in erster Linie zu bemerken, dass solche Ansprüche auch selbständig geltend gemacht werden können, die Liquidationsmasse Baader also nicht auf den Weg der Verrechnung angewiesen ist. Die Artikel 213 und 214 SchKG ziehen denn auch nur das Verrechnungsrecht des (Konkurs- oder Nachlass-) Gläubigers in Betracht, nicht auch das freilich ebenfalls bestehende entsprechende Recht der Konkurs- oder Liquidationsmasse. Diese ist gewöhnlich im Gegenteil daran interessiert, allfällige die Verrechnung ausschliessende Gründe geltend zu machen, wenn ein Gläubiger seinerseits verrechnen will (
BGE 71 III 185
/86). Dass im vorliegenden Fall ein besonderes Interesse der Liquidationsmasse bestehe, gegenüber der Rekurrentin einen allfälligen Rückgriffsanspruch verrechnungsweise statt selbständig geltend zu machen, ist weder im angefochtenen Entscheid noch in der Rekursschrift dargetan. Insbesondere ist nicht davon die Rede, dass bei selbständiger Klage der Liquidationsmasse
BGE 92 III 27 S. 32
die Rechtsverfolgung in erheblichem Masse erschwert oder das ihr allenfalls zustehende Guthaben gegen die Rekurrentin nicht leicht einbringlich wäre. Übrigens kann man unter Umständen auch noch in einem späteren Stadium des Liquidationsverfahrens verrechnen (vgl.
BGE 83 III 67
ff.).
Aber auch angenommen, es wäre für die Liquidationsmasse Baader von beträchtlichem Vorteil, eine ihr allenfalls zustehende Gegenforderung gegen die Rekurrentin verrechnungsweise im Kollokationsverfahren geltend zu machen, ist der Rekurrentin die Verschiebung der sie betreffenden Kollokationsverfügung dennoch nicht zuzumuten. Zur Rechtfertigung dieser den ordentlichen Verfahrensgang störenden Massnahme genügt nicht schon die entfernte Möglichkeit eines Rückgriffsanspruchs, wie ihn die Vorinstanz "nicht von vornherein mit Sicherheit ausschliessen" zu sollen glaubt. Das im Auftrage des Präsidenten der Liquidationskommission erstattete Gutachten des Dr. Ch. Liatowitsch vom 13. August 1965 befasst sich mit den Bankgeschäften der Rekurrentin überhaupt nicht (S. 7 unten). Im Protokoll über die dieser Begutachtung nachfolgende zweite gemeinsame Sitzung des Gläubigerausschusses mit der Liquidationskommission vom 9. Oktober 1965 ist niedergelegt was folgt:
"Herr Dr. Liatowitsch erklärt sodann, dass die Bankenforderungen im Hinblick auf einen möglichen Kollokationsprozess IMMOSA/Baader ausgestellt würden. Hiegegen erhebt Herr Dr. Stockmann Einspruch mit der Begründung, dass ein solches Vorgehen nur gegenüber denjenigen Banken gerechtfertigt erscheine, welche mit den Jurafirmen geschäftet hätten. Er empfiehlt, diesen Unterschied bei den Kollokationen zu machen. ... Herr Dr. Liatowitsch ... betont, dass ohne die von der IMMOSA angemeldeten Verantwortlichkeitsansprüche eine Ausstellung der Bankenforderungen nicht in Frage gekommen wäre... Es könnte so herauskommen, dass die V-bank, die K-bank und die S-bank die Verantwortung durch unechte Solidarität teilen müssten. Selbstverständlich stünde der Kollokation der Bankenforderungen dann nichts mehr im Wege, wenn die Verantwortlichkeitsansprüche IMMOSA zurückgezogen oder rechtskräftig abgewiesen seien."
Von der Rekurrentin ist in diesem Zusammenhang nirgends die Rede. Wieso man zur Annahme gelangte, die gegenüber den im erwähnten Protokoll aufgeführten andern Banken angenommenen Gründe zur Ausstellung der Kollokationsverfügung seien auch gegenüber der Rekurrentin gegeben, geht aus den
BGE 92 III 27 S. 33
Akten nicht hervor. Weder die Liquidationskommission noch die kantonale Aufsichtsbehörde legen dar, dass und weshalb ähnliche Gründe gegenüber der Rekurrentin bestünden. Die Feststellungen des angefochtenen Entscheides sprechen für das Gegenteil. Es fehlt an Anhaltspunken für Geschäftsbeziehungen der Rekurrentin mit der I MMOSA. Die EPSA aber, der sie im Jahre 1963 ein Darlehen gewährte, hat (durch die Organe ihres Konkurses) keine Verantwortlichkeitsansprüche gegen Baader eingegeben (der denn auch ihrem Verwaltungsrat nicht angehörte). Unter diesen Umständen sind sachliche Gründe für die Verschiebung der in Frage stehenden Kollokationsverfügung nicht vorhanden. Mit Recht will die Rekurrentin sich nicht aus (wie sie vermutet) bloss "taktischen" Gründen auf eine spätere Ergänzung des Kollokationsplanes in bezug auf ihre Forderung verweisen lassen. Es ist ihr darin beizustimmen, dass die Kollokationsverfügung ausschliesslich auf Grund der erwiesenen Rechtsbeziehungen zwischen Gläubiger und Schuldner ergehen soll. Die Erwägung der Vorinstanz, es sei nicht von vornherein die Möglichkeit auszuschliessen, dass die Kreditanstalt vorsätzlich oder fahrlässig unlautere Machenschaften unterstützt und damit die Entstehung des Debakels gefördert habe, obschon auch für einen blossen Verdacht keine konkreten Anhaltspunkte bestehen, läuft auf eine der Grundlage entbehrende Diskriminierung hinaus, die sich ein Konkursgläubiger nicht gefallen zu lassen braucht.
Es mag sein, dass der Rekurrentin aus der Verzögerung der Kollokation einstweilen keine Nachteile erwachsen würden, da keine Verringerung des zu liquidierenden Vermögens zu befürchten ist und vorläufig auch keine Abschlagszahlungen ausgerichtet werden. Indessen soll das Verfahren, wenn keine besondern Umstände vorliegen, seinen Verlauf nehmen und ohne Verzögerung zum Abschluss kommen. Die Gläubiger haben Anspruch darauf, zur rechten Zeit über das Schicksal ihrer Eingaben durch eine Kollokationsverfügung orientiert zu werden.
4.
Kosten sind nicht zuzusprechen (
BGE 91 III 97
Erw. 5).
Dispositiv
Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:
Der Rekurs wird gutgeheissen und die Liquidationskommission angewiesen, über die Forderungseingabe der Rekurrentin unverzüglich den Entscheid zu fällen. | null | nan | de | 1,966 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb7be143-5d22-4e46-8d7c-95236dbbda32 | Urteilskopf
96 I 71
12. Urteil vom 21. April 1970 i.S. Kiefer gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Solothurn. | Regeste
Art. 84 Abs. 2 OG
.
Wegen Nichtanordnung einer psychiatrischen Oberexpertise im Strafverfahren kann der Angeklagte die eidgen. Nichtigkeitsbeschwerde erheben; die staatsrechtliche Beschwerde steht daher dafür nicht offen. | Erwägungen
ab Seite 71
BGE 96 I 71 S. 71
Mit der gegen das Urteil des Obergerichtes des Kantons Solothurn vom 29. Oktober 1969 gerichteten staatsrechtlichen Beschwerde vom 28. November 1969 /9. März 1970 wird geltend gemacht, das Obergericht hätte dem Begehren des Beschwerdeführers auf Durchführung einer psychiatrischen Oberexpertise entsprechen müssen, weil das eingeholte Gutachten ungenügend sei.
Im Strafverfahren ergibt sich der Anspruch auf Anordnung einer Expertise bei Zweifeln über die Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten aus
Art. 13 StGB
. Doch schreibt das Strafgesetz nicht bloss einfach eine Begutachtung, sondern eine ausreichende Begutachtung vor; auf Grund von
Art. 13 StGB
ist daher auch zu entscheiden, ob im Einzelfall, auf Grund der konkreten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse des Beschuldigten, ein Obergutachten einzuholen ist.
Der Anspruch auf Einholung eines Gutachtens, der sich für den Beschuldigten aus
Art. 4 BV
ergibt, geht nicht weiter als der aus
Art. 13 StGB
folgende. Wie es sich verhält, wenn das kantonale
BGE 96 I 71 S. 72
Prozessrecht Vorschriften aufweist, die über den aus
Art. 13 StGB
sich ergebenden Schutz hinausgehen, kann auf sich beruhen. Denn der Beschwerdeführer macht nichts geltend, woraus sich ein weitergehender Anspruch ergeben würde.
Die Verletzung von
Art. 13 StGB
durch Ablehnung einer Oberexpertise im Strafverfahren kann daher gegenüber einem letztinstanzlichen Urteil mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde zur Geltung gebracht werden (
Art. 268, 269 BStP
).
Dieses Rechtsmittel schliesst die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
aus (
Art. 84 Abs. 2 OG
).
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wegen Nichteinholung einer psychiatrischen Oberexpertise ist deshalb nicht einzutreten. | public_law | nan | de | 1,970 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eb828421-6b24-417b-9621-9f31837a3179 | Urteilskopf
119 Ib 458
50. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19. Oktober 1993 i.S. Verkehrsclub der Schweiz (VCS) und Mitbeteiligte gegen Kanton Basel-Stadt und Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Einsprache gegen Nationalstrassen-Ausführungsprojekt; Umweltverträglichkeitsprüfung.
Bindung der kantonalen Einsprachebehörde und des Bundesgerichts an den Netzbeschluss der Bundesversammlung (E. 6a).
Verkehrsprognose und flankierende Massnahmen (E. 8d).
Berücksichtigung des kantonalen Umweltschutzrechtes im Einspracheverfahren (E. 10).
Kostenrisiko im bundesgerichtlichen Verfahren (E. 15). | Sachverhalt
ab Seite 459
BGE 119 Ib 458 S. 459
Mit Beschluss vom 2. Februar 1992 genehmigte der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt das Ausführungsprojekt N2 Nordtangente, Abschnitt 4, Horburg, und entschied gleichzeitig über die gegen das Projekt erhobenen Einsprachen. Gegen diesen Entscheid haben verschiedene Anwohner und Organisationen Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben und unter anderem verlangt, dass die durch die Stadt Basel führende Nordtangente in einen durchgehenden, den Rhein unterquerenden Tunnel gelegt werde und zusätzliche Abklärungen über den zu erwartenden Neuverkehr getroffen würden. Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
6.
a) Wie bereits in der Sachverhaltsdarstellung erwähnt, ist entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführer mit dem Netzbeschluss der Bundesversammlung vom 21. Juni 1960 (AS 1960 S. 872, SR 725.113.11) nicht nur über Anfangs- und Endpunkt des fraglichen Autobahnabschnitts, sondern auch darüber entschieden worden, dass dieser zwischen dem Anschluss an die französische Autobahn und dem Anschluss Hagnau als Expressstrasse erster Klasse erstellt werden soll. Eine Änderung dieser Klassierung gestützt auf Art. 2 Abs. 1 des Netzbeschlusses ist nicht erfolgt. Die städtischen Expressstrassen oder Stadtautobahnen dienen aber nicht nur dem Durchgangsverkehr, sondern haben auch die Funktion von Zubringerstrassen ins Stadtinnere zu erfüllen (vgl. Botschaften des Bundesrates über die Festlegung des Nationalstrassennetzes vom 5. Februar 1960 und betreffend die Überprüfung von Nationalstrassenstrecken vom 17. Dezember 1984, BBl 1960 I S. 617, 628 f., 1985 I S. 534, 546 ff.). Diese Autobahnart setzt demnach zwingend Anschlüsse im Einzugsbereich der Stadt voraus. Mit dem Netzbeschluss ist somit bereits endgültig darüber entschieden worden, dass eine mit dem Lokalstrassennetz verbundene Stadtautobahn erstellt werden muss. An diesen Entscheid der Bundesversammlung sind sowohl die kantonalen Instanzen wie auch - aufgrund von
Art. 11 NSG
(SR 725.11) in Verbindung mit
Art. 114bis BV
- das Bundesgericht als Verwaltungsgerichtshof gebunden. Der Regierungsrat hätte deshalb ein Ausführungsprojekt, das eine durchgehende Verbindung zwischen der Landesgrenze und der Einfahrt in die Osttangente ohne Anschlüsse an das städtische Strassennetz vorsehen würde, ohne vorgängige Änderung der Nationalstrassen-Klassierung
BGE 119 Ib 458 S. 460
durch die Bundesversammlung oder den Bundesrat gar nicht genehmigen dürfen. Und dem Bundesgericht ist im vorliegenden Einspracheverfahren ein Eintreten auf alle Rügen verwehrt, die sich entweder gegen die Klassierung des umstrittenen Strassenabschnitts selbst richten oder mit denen geltend gemacht wird, das angefochtene Ausführungsprojekt verhindere die weitaus bessere Lösung einer durchgehenden Tunnelverbindung.
8.
d) Gegen die angeordneten flankierenden Massnahmen wenden die Beschwerdeführer ein, diese seien ungenügend und müssten durch konkrete Verkehrsflächenreduktionen ergänzt werden. Überdies müsse die Thematik der Induzierung von Neuverkehr und dessen Auswirkungen einer weiteren Untersuchung, möglichst durch einen unabhängigen Experten, unterzogen werden.
Was die Kritik an der Verkehrsprognose des Umweltverträglichkeitsberichts betrifft, so kann nach bundesgerichtlicher Praxis angesichts der Rechtslage auf eine solche nicht oder nur beschränkt eingegangen werden (vgl.
BGE 117 Ib 425
E. 7 S. 436). Immerhin sei auf folgendes hingewiesen: Die Umweltschutzfachstellen des Kantons Basel-Stadt haben in ihrer Stellungnahme zum Umweltverträglichkeitsbericht selbst eingeräumt, es sei ernüchternd, festzustellen, dass die Frage, inwieweit eine Autobahn vorhandenen Verkehr kanalisiere und inwieweit sie Neuverkehr anziehe, nach heutigem Wissensstand blosse Spekulation bleiben müsse. Damit habe man sich bei der Beurteilung der Umweltauswirkungen von Autobahnen abzufinden. Die von der Bauherrschaft verfochtene These, wonach der induzierte Neuverkehr in den Prognosen voll berücksichtigt werde, könne ebensowenig bewiesen werden wie das Gegenteil. In dieser "Pattsituation" bleibe nur die Forderung nach Erfolgskontrolle sowie nach weiteren Lenkungsmassnahmen für den Fall, dass die reale Verkehrsentwicklung mit der prognostizierten nicht übereinstimme. Dieser Einschätzung der baselstädtischen Fachstelle ist vom BUWAL nicht widersprochen worden; das Bundesamt hat vielmehr einen Antrag auf nochmalige Untersuchung des zu erwartenden Neuverkehrs als nicht zweckmässig bezeichnet. Wenn der Regierungsrat unter dem Eindruck dieser Ausführungen schliesslich zur Auffassung gelangt ist, eine Expertise über die Frage der Induktion von Neuverkehr durch die Nordtangente könne wohl keine weitere Klärung bringen, hat er damit jedenfalls kein Bundesrecht verletzt.
Soweit in den Beschwerden vorgebracht wird, dass gezielte und konkrete Verkehrsflächenreduktionen verfügt werden müssten, verlangen die Beschwerdeführer offensichtlich zu viel. Dass die
BGE 119 Ib 458 S. 461
Verkehrsflächen als Folge des Baus der städtischen Expressstrasse zwingend andernorts verringert werden müssten, lässt sich weder aus dem Umweltschutzrecht noch aus der für den Kanton Basel-Stadt geltenden Massnahmenplanung ableiten. Der Regierungsrat ist mit den verfügten Auflagen betreffend Luftreinhaltung und flankierende Massnahmen schon ausserordentlich weit gegangen. Mehr kann nicht gefordert werden.
10.
Der VCS und der Schweizer Heimatschutz machen weiter geltend, gemäss § 47 des Umweltschutzgesetzes Basel-Stadt (USG BS) vom 13. März 1991 hätten die Umweltschutzfachstellen des Kantons im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung auch darüber zu befinden, ob die geplante Anlage den kantonalen Vorschriften über den Umweltschutz entspreche. Eine solche Prüfung habe nicht stattgefunden. Ausserdem habe sich der Kanton nach
§ 13 USG
BS dafür einzusetzen, dass die Verkehrsemissionen insgesamt stabilisiert und vermindert würden. Diesem Auftrag seien die kantonalen Behörden ebenfalls nicht nachgekommen.
Die von den Beschwerdeführern angerufenen Bestimmungen aus dem Umweltschutzrecht des Kantons Basel-Stadt stellen Ausführungsvorschriften zum eidgenössischen Umweltschutzgesetz dar. Sie führen namentlich die Art. 11 und 12 des Bundesgesetzes über den Umweltschutz (USG, SR 814.01) näher aus und sind als kantonale Emissionsbegrenzungsvorschriften zu verstehen, welche die Kantone gestützt auf
Art. 12 Abs. 2 USG
erlassen dürfen. Wegen des engen Zusammenhanges zum Umweltschutzgesetz des Bundes ist ihre Einhaltung im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu prüfen (
BGE 118 Ib 11
E. 1a mit Hinweisen).
Was zunächst die Bestimmung von
§ 47 USG
BS über den Inhalt der Umweltverträglichkeitsprüfung betrifft, so ergibt sich dieser nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes bereits aus Art. 3 der Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung vom 19. Oktober 1988 (UVPV, SR 814.011) (
BGE 116 Ib 50
E. 4d S. 60). Danach hat die Prüfung, ob das Vorhaben den Vorschriften über den Umweltschutz entspreche (
Art. 18 Abs. 1 UVPV
), umfassend zu sein und muss vor allem auch den Anliegen der Raumplanung und anderen Interessen Rechnung tragen, die zum Teil im kantonalen Recht umschrieben werden. Im vorliegenden Einsprache- und Genehmigungsverfahren wurden diese Anforderungen des kantonalen Rechts durchaus beachtet und sind die entsprechenden Ergebnisse in die angefochtenen Entscheide eingeflossen. Das gilt etwa für die Auflagen im Zusammenhang mit dem zu erwartenden Baulärm. Auch die
BGE 119 Ib 458 S. 462
gemäss Luftreinhalteplan beider Basel angeordneten Massnahmen stützen sich teilweise auf kantonales Recht. Weiter wurden die kantonalrechtlichen Vorschriften über den Gewässerschutz beigezogen. Die Rüge, der Regierungsrat habe das kantonale Umweltschutzrecht nicht berücksichtigt, geht daher fehl. Sie ist übrigens derart pauschal erhoben worden, dass mit gutem Grund auch nicht hätte darauf eingetreten werden können.
Zur Bestimmung von
§ 13 USG
BS ist festzuhalten, dass diese gegenüber den kraft Bundesrechts geltenden Umweltschutzvorschriften nichts materiell Weitergehendes enthält. Sie stellt eine auf Emissionsbeschränkung ausgerichtete Zielvorschrift dar, welcher der Regierungsrat in den angefochtenen Entscheiden, soweit im Lichte der gemäss
Art. 5 NSG
vorzunehmenden Interessenabwägung möglich, nachgekommen ist. Der Vorwurf der Verletzung kantonalen Rechts ist daher zurückzuweisen.
15.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerden sind somit in vollem Umfang abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Trotz dieses Verfahrensausgangs sind die bundesgerichtlichen Kosten der Regel von
Art. 116 des Bundesgesetzes über die Enteignung (SR 711)
entsprechend dem Kanton Basel-Stadt zu belasten. Allerdings ist mit Rücksicht auf das vollständige Unterliegen der Beschwerdeführer von der Zusprechung einer Parteientschädigung abzusehen. Von Bedeutung ist hiebei, dass es den meisten der Beschwerdeführer schon an der Legitimation mangelt und dass eine Vielzahl von Argumenten und Rügen vorgebracht worden ist, die das Bundesgericht namentlich im Urteil vom 11. Juni 1991 betreffend das Ausführungsprojekt N2, Nordtangente, Schlachthofverbindung (
BGE 117 Ib 285
), bereits eingehend geprüft und behandelt hat. Sollten in späteren die Nordtangente betreffenden Verfahren erneut dieselben Fragen aufgeworfen werden, müsste sogar in Betracht gezogen werden, den Beschwerdeführern die Verfahrenskosten zu überbinden. Soweit hier Private als Beschwerdeführer auftreten und als beschwerdebefugt gelten können, ist im übrigen zu berücksichtigen, dass sie nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten sind. | public_law | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
eb844826-c946-48d8-9887-3361fa923a0f | Urteilskopf
135 II 138
15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Glarus gegen X. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_271/2008 vom 8. Januar 2009 | Regeste
Art. 16a Abs. 1 lit. a und Abs. 3, Art. 16b Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG; Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz, Abgrenzung der leichten von der mittelschweren Widerhandlung, Verwarnung, Führerausweisentzug.
Die Annahme einer leichten Widerhandlung, bei der eine Verwarnung möglich ist, setzt voraus, dass der Lenker eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat
und
ihn ein leichtes Verschulden trifft. Beide Elemente müssen kumulativ gegeben sein. Fall eines Lastwagenfahrers, der mangels genügender Aufmerksamkeit in einen vor ihm fahrenden Personenwagen geprallt ist. Leichte Widerhandlung verneint, da der Lastwagenfahrer keine geringe Gefahr geschaffen hat. Entzug des Führerausweises für die Dauer eines Monats (E. 2). | Sachverhalt
ab Seite 139
BGE 135 II 138 S. 139
X. ist Lastwagenchauffeur. Er besitzt den Führerausweis der Kategorie C seit 1967. Bisher wurde keine strassenverkehrsrechtliche Administrativmassnahme gegen ihn verfügt.
Am 26. April 2006, um ca. 13.00 Uhr, fuhr der Lenker eines Personenwagens von Netstal kommend in Richtung Oberurnen. Auf der Hauptstrasse in Näfels bremste er vor dem Fussgängerstreifen auf der Höhe einer Garage ab, da eine Fussgängerin die Strasse von links nach rechts überqueren wollte. In der Folge prallte der ihm nachfolgende X. mit seinem Lastwagen in das Heck des noch leicht rollenden Personenwagens. An den Fahrzeugen entstand ein Sachschaden von insgesamt ca. Fr. 2'000.-. Personen wurden keine verletzt.
Mit Strafverfügung vom 7. Juli 2006 büsste der Einzelrichter in Strafsachen des Kantons Glarus X. in Anwendung von
Art. 90 Ziff. 1 SVG
mit Fr. 200.-. Die Verfügung ist rechtskräftig.
Am 6. November 2007 entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Glarus (im Folgenden: Strassenverkehrsamt) X. den Führerausweis gemäss Art. 16b Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG für die Dauer eines Monats.
BGE 135 II 138 S. 140
Die von X. dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus am 21. Mai 2008 gut. Es hob den Führerausweisentzug auf und verwarnte X. in Anwendung von
Art. 16a Abs. 3 SVG
.
Das Strassenverkehrsamt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und X. der Führerausweis für die Dauer von einem Monat zu entziehen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Das Strassenverkehrsamt bringt vor, weder die vom Beschwerdegegner hervorgerufene Gefährdung der Sicherheit anderer noch sein Verschulden seien gering. Damit könne kein leichter Fall nach
Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
mehr angenommen werden. Vielmehr liege ein mittelschwerer Fall nach
Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG
vor. Der Führerausweis sei daher dem Beschwerdegegner gemäss
Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG
für mindestens einen Monat zu entziehen.
2.2
2.2.1
Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und schweren Widerhandlung (
Art. 16a-c SVG
).
Gemäss
Art. 16a SVG
begeht eine leichte Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft und ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft (Abs. 1 lit. a). Die fehlbare Person wird verwarnt, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht entzogen war und keine andere Administrativmassnahme verfügt wurde (Abs. 3).
Gemäss
Art. 16b SVG
begeht eine mittelschwere Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer mittelschweren Widerhandlung wird der Führerausweis für mindestens einen Monat entzogen (Abs. 2 lit. a).
Gemäss
Art. 16c SVG
begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer schweren Widerhandlung wird der Führerausweis für mindestens drei Monate entzogen (Abs. 2 lit. a).
BGE 135 II 138 S. 141
2.2.2
Die mittelschwere Widerhandlung nach
Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG
stellt einen Auffangtatbestand dar. Eine mittelschwere Widerhandlung liegt vor, wenn nicht alle privilegierenden Elemente einer leichten Widerhandlung nach
Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
und nicht alle qualifizierenden Elemente einer schweren Widerhandlung nach
Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG
gegeben sind (Urteil des Bundesgerichts 6A.16/2006 vom 6. April 2006 E. 2.1.1, in: JdT 2006 I S. 442; Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes, BBl 1999 4487).
2.2.3
Gemäss
Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
setzt die Annahme einer leichten Widerhandlung voraus, dass der Lenker durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat
und
ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft. Nach der Rechtsprechung müssen eine geringe Gefahr und ein leichtes Verschulden kumulativ gegeben sein (Urteile 1C_3/2008 vom 18. Juli 2008 E. 5.1; 1C_75/2007 vom 13. September 2007 E. 3.1; 6A.89/2006 vom 19. Juli 2007 E. 2.3; vgl. ebenso
BGE 133 II 58
E. 5.5 S. 63). Diese Ansicht wird im Schrifttum geteilt (CÉDRIC MIZEL, Les nouvelles dispositions légales sur le retrait du permis de conduire, RDAF 2004 S. 388 N. 45).
Die Vorinstanz vertritt unter Hinweis auf einen Entscheid des Kassationshofes aus dem Jahr 1999 (
BGE 125 II 561
) eine andere Auffassung. Danach ist selbst bei einer grossen Verkehrsgefährdung die Annahme eines leichten Falles und damit eine Verwarnung möglich, wenn den Lenker ein leichtes Verschulden trifft und er über einen langjährigen ungetrübten automobilistischen Leumund verfügt (a.a.O. E. 2 S. 565 ff.). Dieser Entscheid ist überholt. Die darin gegebene Auslegung stützt sich auf aArt. 31 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51). Diese Bestimmung erwähnte lediglich das Verschulden und den automobilistischen Leumund als wesentliche Elemente zur Beurteilung des leichten Falles und enthielt keine Anhaltspunkte, wonach die Schwere der Gefährdung als selbständiges Beurteilungsmerkmal herangezogen werden sollte (a.a.O. E. 2a S. 566).
Art. 31 VZV
wurde mit der am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Revision des Strassenverkehrsrechts geändert und betrifft heute die Informationspflicht, ist also im vorliegenden Zusammenhang nicht mehr von Bedeutung. Die Voraussetzungen einer leichten Widerhandlung, bei der eine blosse Verwarnung
BGE 135 II 138 S. 142
möglich ist, umschreibt nunmehr im Einzelnen
Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
. Danach stellt die Gefährdung der Sicherheit anderer einen wesentlichen und eigenständigen Gesichtspunkt dar. Die Auffassung der Vorinstanz widerspricht dem klaren Wortlaut von
Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
. Nach der Rechtsprechung darf die Auslegung vom klaren Wortlaut eines Rechtssatzes nur abweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt (
BGE 131 II 217
E. 2.3 S. 221 mit Hinweisen). Solche Gründe nennt die Vorinstanz nicht und sind nicht ersichtlich. Bei
Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
handelt es sich um kein gesetzgeberisches Versehen. Wie in der Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes (a.a.O. 4489) ausgeführt wird, ist eine mittelschwere Widerhandlung nach
Art. 16b SVG
gegeben, wenn das Verschulden gross, die Gefährdung aber gering
oder umgekehrt das Verschulden gering und die Gefährdung gross ist
. Der Gesetzgeber hat somit bewusst dem Gesichtspunkt der Verkehrsgefährdung ein höheres Gewicht beigemessen (vgl. dazu CÉDRIC MIZEL, De la nature renforcée par le nouveau droit de mesure préventive et éducative du retrait admonitoire du permis de conduire, AJP 2007 S. 1361 Ziff. VI und S. 1362 f. Ziff. 2 f.). Er hat bei der Revision das Recht des Warnungsentzugs von strafrechtlichen Erwägungen stärker verselbständigt und im Hinblick auf die Erhöhung der Verkehrssicherheit und damit die weitere Senkung der Zahl der Toten und Verletzten im Strassenverkehr - teilweise massiv - verschärft (
BGE 128 II 173
E. 3c S. 177 mit Hinweis); dies nicht nur gegenüber Rückfälligen, sondern auch gegenüber Ersttätern (
BGE 133 II 331
E. 4.3 S. 336 f.). Daran ist das Bundesgericht gebunden (
Art. 190 BV
;
BGE 132 II 234
E. 3.2 S. 238/239).
2.3
Der Führer muss das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann (
Art. 31 Abs. 1 SVG
). Er muss seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden (Art. 3 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.11]). Er hat gegenüber allen Strassenbenützern einen ausreichenden Abstand zu wahren, namentlich beim Hintereinanderfahren (
Art. 34 Abs. 4 SVG
). Auch bei überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahrzeugs muss er rechtzeitig halten können (
Art. 12 Abs. 1 VRV
).
Der Beschwerdegegner hat diese Verkehrsregeln unstreitig verletzt. Bei der polizeilichen Befragung gab er an, vor ihm sei ein
BGE 135 II 138 S. 143
Personenwagen gefahren, der kurz vor der Garage nach rechts in eine Seitenstrasse abgebogen sei. Er habe diesem Personenwagen nachgeschaut. Deshalb habe er nicht sofort bemerkt, dass ein anderer Personenwagen vor dem Fussgängerstreifen abgebremst habe. Als er wieder geradeaus auf die Strasse geschaut habe, habe er sofort eine Vollbremsung eingeleitet. Er habe eine leichte Kollision jedoch nicht mehr verhindern können. Seiner Schuld sei er sich bewusst.
Wie das Strassenverkehrsamt zutreffend darlegt, stellt der vom Beschwerdegegner gelenkte Lastwagen wegen des grossen Betriebsgewichts und der senkrechten Fahrzeugfront eine erhöhte Gefährdung dar. Die Kollision mit einem schwächeren Verkehrsteilnehmer geht aufgrund der physikalischen Gesetze zu dessen Ungunsten aus. Zwar wurde bei der hier zu beurteilenden Auffahrkollision niemand verletzt. Der Beschwerdegegner ist jedoch in den vor ihm abbremsenden Personenwagen geprallt. Damit hat er dessen Lenker konkret gefährdet. Überdies hat er die Fussgängerin, die den Fussgängerstreifen überqueren wollte, zumindest abstrakt gefährdet. Auffahrunfälle können insbesondere bei den Insassen des voranfahrenden Fahrzeugs zu schweren Verletzungen führen. Das gilt namentlich dann, wenn es sich beim hinteren Fahrzeug um einen Lastwagen handelt. Eine typische Verletzung bei Auffahrunfällen stellt ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule dar (vgl. etwa
BGE 134 III 489
;
BGE 130 V 35
;
BGE 127 V 165
). Dieses kann gravierende gesundheitliche Folgen haben. Angesichts dessen kann die vom Beschwerdegegner geschaffene Gefahr für die Sicherheit anderer nicht mehr als leicht eingestuft werden. Die Annahme einer leichten Widerhandlung gemäss
Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
ist deshalb ausgeschlossen.
Ob, wie das Strassenverkehrsamt geltend macht, auch das Verschulden des Beschwerdegegners nicht mehr als leicht zu beurteilen gewesen wäre, kann offenbleiben.
2.4
Nach dem Gesagten ist hier eine mittelschwere Widerhandlung gemäss
Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG
anzunehmen. Auf eine solche Widerhandlung erkannte das Bundesgericht auch im Urteil 1C_75/2007 vom 13. September 2007, das einen weitgehend vergleichbaren Auffahrunfall betraf (E. 3.2).
Die Bejahung einer mittelschweren Widerhandlung steht nicht in Widerspruch zur Strafverfügung. Der Strafrichter hat den Beschwerdegegner in Anwendung von
Art. 90 Ziff. 1 SVG
gebüsst. Diese
BGE 135 II 138 S. 144
Bestimmung umfasst die leichte und die mittelschwere Widerhandlung (
BGE 128 II 139
E. 2c S. 143; Urteil 6A.30/2002 vom 30. Juli 2002 E. 1.2).
Der Führerausweis ist dem Beschwerdegegner danach gemäss
Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG
für mindestens einen Monat zu entziehen. Diese Mindestentzugsdauer darf gemäss
Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG
auch bei einem Berufschauffeur nicht unterschritten werden (
BGE 132 II 234
E. 2 S. 235 ff.).
Das Strassenverkehrsamt beantragt, den Führerausweis für die Mindestdauer zu entziehen. Darüber darf das Bundesgericht nicht hinausgehen (
Art. 107 Abs. 1 BGG
).
Die Sache ist somit spruchreif und das Bundesgericht kann selber entscheiden (
Art. 107 Abs. 2 BGG
). Dem Beschwerdegegner wird der Führerausweis für die Dauer eines Monats entzogen. | public_law | nan | de | 2,009 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb86ab9b-baf2-4e8c-af47-0a10684617aa | Urteilskopf
101 V 168
34. Urteil vom 14. Oktober 1975 i.S. Eidgenössische Militärversicherung gegen W. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern | Regeste
Die gänzliche Leistungsverweigerung nach
Art. 7 Abs. 1 MVG
umfasst sämtliche Versicherungsleistungen, die Leistungskürzung dagegen nur die Barleistungen laut
Art. 41 Abs. 3 MVG
.
Die Leistungen gemäss
Art. 39 Abs. 1 lit. b MVG
(Nachfürsorge) dürfen auch bei Selbstverschulden nicht gekürzt werden. | Sachverhalt
ab Seite 168
BGE 101 V 168 S. 168
A.-
W. (geb. 1953), der am 16. Juli 1973 in die Rekrutenschule eingerückt war, erlitt während des militärischen Wochenendurlaubes am 29. Juli 1973 einen Selbstunfall mit dem Motorrad. Nach Schluss eines Festes fuhr er um ca. 03.30 Uhr mit einem entliehenen Motorrad auf der Hauptstrasse. Auf der Höhe der Liegenschaft G. kam er von der Fahrbahn ab, touchierte am linken Strassenrand einen Markierungspfahl und wurde mit dem Motorrad ins Wiesland geschleudert, wo er später schwer verletzt gefunden wurde. Er zog sich ein Schädel-/Hirntrauma III. Grades mit Hemiparese rechts sowie eine Clavicula- und Scapulahalsfraktur rechts zu. Die Blutalkoholkonzentration zur Zeit des Unfalles betrug ca. 1,1%o. Das Amtsstatthalteramt bestrafte W. in Anwendung der Art. 31 Abs. 2, 32 Abs. 1, 90 Ziff. 1 und 91 Abs. 1 SVG mit einer Busse von Fr. 100.-- (Strafmandat vom 25. September 1973).
Mit Verfügung vom 3. Januar 1974 lehnte die Militärversicherung gestützt auf
Art. 7 Abs. 1 MVG
die Bundeshaftung ab.
B.-
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hiess durch Entscheid vom 12. November 1974 eine vom Versicherten
BGE 101 V 168 S. 169
erhobene "Klage" gut, hob die angefochtene Verfügung vom 3. Januar 1974 auf und verpflichtete die Militärversicherung, W. die um 30% gekürzten gesetzlichen Leistungen auszurichten. Das Gericht erachtete das Verhalten des Versicherten als grobfahrlässig, vertrat jedoch die Ansicht, dessen Verschulden rechtfertige eine gänzliche Leistungsverweigerung nicht, zumal im zu beurteilenden Fall grundsätzlich die Kürzungssätze des
Art. 98 Abs. 3 KUVG
analog anwendbar seien. Unter Berücksichtigung des guten Leumundsberichtes, der ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse und der erheblichen Eigenverletzungen des Versicherten werde eine Leistungskürzung um 30% den Umständen des Falles gerecht.
C.-
Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt die Militärversicherung die Anträge, in Aufhebung des kantonalen Urteils sei ihre Haftung abzulehnen; eventuell sei sie von der Ausrichtung von Barleistungen zu entbinden; subeventuell sei der von der Vorinstanz festgesetzte Kürzungsgrad von 30% angemessen zu erhöhen. Zur Begründung wird im wesentlichen ausgeführt, im Gegensatz zu
Art. 7 Abs. 1 MVG
sehe
Art. 98 Abs. 3 KUVG
die gänzliche Verweigerung von Versicherungsleistungen in besonders schweren Fällen nicht vor, weshalb die Kürzungspraxis der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) nicht anwendbar sei. Bei Motorfahrzeugunfällen müsse schon die Alkoholisierung an sich zur Ablehnung der Haftung der Militärversicherung führen. Damit eine an sich gerechtfertigte Leistungskürzung wegen des in den Art. 41 Abs. 3 und 39 Abs. 3 MVG enthaltenen Kürzungsverbotes nicht illusorisch bleibe, müsse bei krassen Tatbeständen die vollständige Leistungsverweigerung verfügt werden. Sollte aber das Gericht eine teilweise Haftung der Militärversicherung bejahen, so wäre die Versicherung wenigstens von Lohnausfallvergütungen völlig zu entbinden, oder es wäre wenigstens ihre Haftung auf einen Drittel zu beschränken. Nur auf diese Weise lasse sich eine vernünftige Relation zwischen Haftungsgrad und Gesamtkosten erreichen.
W. lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Es wird geltend gemacht, die Militärversicherung habe die einschränkenden Kürzungsbestimmungen der Art. 39 Abs. 3 und 41 Abs. 3 MVG einzuhalten.
BGE 101 V 168 S. 170
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss
Art. 7 Abs. 1 MVG
können die Versicherungsleistungen gekürzt und in besonders schweren Fällen ganz verweigert werden, wenn der Versicherte die Gesundheitsschädigung vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat.
Art. 41 Abs. 3 MVG
lautet: "Wo in diesem Gesetze von Kürzung oder teilweisem Entzug der Leistungen die Rede ist, betrifft dies nie die Krankenpflegeleistungen, sondern nur die Geldleistungen, jedoch mit Ausnahme der Zulagen und der Bestattungsentschädigung."
Das Eidg. Versicherungsgericht hat bisher die Frage offen gelassen, ob sich die Verweigerung oder Kürzung der Leistungen laut
Art. 7 Abs. 1 MVG
auf sämtliche Versicherungsleistungen oder aber lediglich auf die Geldleistungen im Sinne des
Art. 41 Abs. 3 MVG
bezieht (EVGE 1960 S. 171 Erw. 3).
b) Nach seinem klaren Wortlaut findet
Art. 41 Abs. 3 MVG
nur bei Kürzung oder teilweisem Entzug der Leistungen Anwendung. Daraus folgt, dass im konkreten Fall der gänzlichen Leistungsverweigerung sämtliche Versicherungsleistungen erfasst werden. In den Materialien findet sich nichts, was eine andere Auslegung rechtfertigen würde.
Weil
Art. 7 Abs. 1 MVG
eine vollständige Verweigerung der Versicherungsleistungen zulässt, könnte aber auch geschlossen werden, dass
Art. 41 Abs. 3 MVG
selbst dann nicht anwendbar wäre, wenn gestützt auf
Art. 7 Abs. 1 MVG
anstelle einer Leistungsverweigerung nur eine Leistungskürzung verfügt wird (so auch SCHATZ, Kommentar zur Eidgenössischen Militärversicherung, S. 212). Diese Auslegung stünde indessen in klarem Gegensatz zu der in der bundesrätlichen Botschaft und im Parlament unwidersprochen gebliebenen Auffassung der Expertenkommission, Leistungsreduktionen wegen schuldhaften Verhaltens des Versicherten sollten sich nur auf die Bar-, nicht auch auf die Naturalleistungen auswirken (Bericht der Expertenkommission für die Revision des MVG vom September 1946, S. 64 und 91). Darauf muss abgestellt werden. Somit umfasst eine nach
Art. 7 Abs. 1 MVG
verfügte Leistungskürzung nur die Barleistungen gemäss
Art. 41 Abs. 3 MVG
.
c) In diesem Zusammenhang ist schliesslich auf Abs. 3 des
Art. 39 MVG
hinzuweisen, der vorschreibt, dass die Leistungen gemäss lit. b des Abs. 1 dieser Bestimmung keiner Kürzung
BGE 101 V 168 S. 171
wegen teilweiser Haftung der Versicherung unterliegen. Dies muss auch dann gelten, wenn die Versicherungsleistungen wegen Selbstverschuldens gekürzt werden, denn es wäre widersprüchlich, in einem solchen Fall die Krankenpflegeleistungen ungekürzt zu gewähren, die Umschulungsleistungen laut
Art. 39 Abs. 1 lit. b MVG
dagegen zu kürzen.
2.
a) Die Vorinstanz hat zutreffend dargelegt, weshalb das Verhalten des Versicherten als grobfahrlässig qualifiziert werden muss. Es kann auf die Ausführungen in Erwägung 2 des kantonalen Urteils verwiesen werden, denen das Eidg. Versicherungsgericht nichts beizufügen hat.
Dem kantonalen Richter ist auch darin beizupflichten, dass die Umstände des vorliegenden Falles eine gänzliche Leistungsverweigerung nicht rechtfertigen. Ein "krasser Fall" von Grobfahrlässigkeit (SCHATZ, a.a.O., S. 81) liegt nicht vor. Es geht nicht an, das Lenken eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand generell als besonders schweren Fall im Sinne des
Art. 7 Abs. 1 MVG
zu bezeichnen, der zur Ablehnung der Haftung der Militärversicherung führt. Vielmehr muss nach den Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden, ob ein solcher Fall anzunehmen ist.
b) Es ergibt sich somit, dass die gänzliche Leistungsverweigerung, welche gemäss
Art. 7 Abs. 1 MVG
möglich wäre und sämtliche Versicherungsleistungen umfassen würde, nicht gerechtfertigt ist, weil es sich nicht um einen besondern schweren Fall handelt. Dagegen sind wegen grobfahrlässigen Verhaltens des Versicherten die gesetzlichen Leistungen, mit Ausnahme der Krankenpflegeleistungen und Zulagen (
Art. 41 Abs. 3 MVG
) sowie der Umschulungsleistungen (
Art. 39 Abs. 3 MVG
), zu kürzen.
3.
a) Der Entscheid über das Mass der Kürzung hat alle Umstände des Falles, namentlich die Grösse des Verschuldens und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten zu berücksichtigen (
Art. 7 Abs. 2 MVG
). Dabei ist nach der Rechtsprechung auch in Betracht zu ziehen, dass die Militärversicherung die Behandlungs- und Umschulungskosten ungekürzt übernehmen muss (EVGE 1960 S. 173). Allerdings darf das Kürzungsverbot der Art. 39 Abs. 3 und 41 Abs. 3 MVG nicht durch eine massive Kürzung der Barleistungen umgangen werden.
b) Das Verschulden von W. muss als schwer - wenn
BGE 101 V 168 S. 172
auch nicht als "besonders schwer" im Sinne von
Art. 7 Abs. 1 MVG
- bezeichnet werden. Er führte das entliehene Motorrad in deutlich angetrunkenem Zustand; zudem muss nach den Umständen angenommen werden, dass er übermüdet war. Weil der rechtlich relevante Grund, welcher zum Unfall führte, in der mangelnden Fahrtüchtigkeit des Versicherten zu erblicken ist, kann dahingestellt bleiben, ob die unmittelbare Unfallursache übersetzte Geschwindigkeit oder ein anderes Fehlverhalten des Versicherten war. Mildernde Umstände, namentlich solche militärischer Art, sind nicht ersichtlich; lediglich der gute Leumund kann dem Beschwerdegegner zugute gehalten werden.
Die wirtschaftliche Lage des ledigen Versicherten ohne Unterstützungspflichten entsprach derjenigen eines gelernten Berufsarbeiters und war vor dem Unfall günstig. Seither dürfte sie allerdings durch die erlittenen Verletzungen und die dadurch notwendig gewordene Umschulung beeinträchtigt sein. Immerhin belasten die hohen Heilungs- und Umschulungskosten den Beschwerdegegner nicht, wobei im Hinblick auf den Kürzungsgrad in Betracht zu ziehen ist, dass die Militärversicherung diese Kosten ungekürzt übernehmen muss.
Eine Kürzung der Geldleistungen um 50% ist nach dem Gesagten der Gesamtsituation des Falles angemessen ...
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die Militärversicherung verpflichtet, W. die um 50% gekürzten gesetzlichen Leistungen im Sinne der Erwägungen zu erbringen. | null | nan | de | 1,975 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb893b20-b322-48cf-8c17-53ece94893cc | Urteilskopf
85 IV 117
30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. Mai 1959 i.S. Herbst gegen Bezirksanwaltschaft Zürich. | Regeste
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
.
Verbot neuer Einreden.
Zivilprozessuale Natur des Begriffs der Einrede; beschränkte Geltung des Verbotes im Verfahren auf Nichtigkeitsbeschwerde. | Erwägungen
ab Seite 117
BGE 85 IV 117 S. 117
Aus den Erwägungen:
Der Beschwerdeführer ficht das vorinstanzliche Urteil wegen Verletzung von
Art. 27 StGB
an. Er macht geltend, die ihm zur Last gelegte Tat sei durch das Mittel der Druckerpresse begangen worden und erschöpfe sich im Presseerzeugnis. Die Verfasserin und Verlegerin der Schrift stehe in der Person von Frau X. fest. Da diese nach
BGE 85 IV 117 S. 118
der Haftungsordnung des
Art. 27 Ziff. 2 StGB
allein die Verantwortung für die Veröffentlichung zu tragen habe, sei er als Drucker von der Vorinstanz zu Unrecht bestraft worden.
Dieser Einwand wurde weder in der Einsprache gegen den Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft noch in der gerichtlichen Hauptverhandlung vom 20. Februar 1959 erhoben. Erst in der nach Schluss der Verhandlung und Aufschub der Urteilsberatung dem Bezirksgericht Zürich zugestellten Eingabe vom 26. Februar 1959 wies der Beschwerdeführer auf die Anwendbarkeit von
Art. 27 StGB
hin. Ob die Vorinstanz nievon noch vor der Fällung des vom 27. Februar 1959 datierten Urteils Kenntnis erhielt, ist ungewiss, für den Ausgang der Sache aber ohne Belang. Denn nach § 284 der Zürcher StPO hat der Richter sein Urteil nach seiner freien, aus der Hauptverhandlung und den Untersuchungsaktengeschöpften Überzeugungzufällen. Die Eingabe des Beschwerdeführers vom 26. Februar 1959 musste daher in jedem Fall unbeachtet bleiben. Tatsächlich wird denn auch
Art. 27 StGB
im angefochtenen Urteil mit keinem Wort erwähnt. Gilt demnach der auf diese Vorschrift gestützte Einwand des Beschwerdeführers als erstmals mit der Nichtigkeitsbeschwerde erhoben (
BGE 84 IV 88
), so ist zu prüfen, ob es sich dabei nicht um ein nach
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
unzulässiges Novum handle.
Der Beschwerdeführer bringt zur Begründung seines Einwandes weder neue Tatsachen noch Beweismittel vor, noch enthält die Beschwerde tatsächliche Bestreitungen; der für die Anwendung von
Art. 27 StGB
massgebende Sachverhalt ergibt sich zweifelsfrei aus dem angefochtenen Urteil. Somit frägt sich einzig, ob der Einwand des Beschwerdeführers eine neue Einrede darstelle. Auch das ist zu verneinen. Der Begriff der Einrede, wie er nach allgemeinem Sprachgebrauch verstanden wird, gehört dem zivilrechtlichen und zivilprozessualen Bereich mit seinen Regeln über die Behauptungspflicht und die Beweislast
BGE 85 IV 117 S. 119
an (vgl. GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 1958, S. 136 Anm. 3 und S. 183; STRÄULI/HAUSER, Zürcherische Rechtspflegegesetze II, Gesetz betreffend den Zivilprozess, S. 249; VON TUHR/SIEGWART, Allgemeiner Teil des schweizerischen Obligationenrechtes, 1942, S. 24/5). Dem Strafverfahren ist er dagegen ebenso fremd wie der Begriff der Beweislast im Sinne des Zivilrechtes (WAIBLINGER, Das Strafverfahren des Kantons Bern, N. 1 zu Art. 254). Dass es sich aber bei der Einrede des
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
um einen zivilprozessualen Begriff handelt, zeigt deutlich die Entwicklungsgeschichte dieser Bestimmung. Während das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 22. März 1893 bereits das Verbot neuer Einreden für das Berufungsverfahren vor Bundesgericht kannte (Art. 80), enthielt das Gesetz über die Bundesstrafrechtspflege vom 15. Juni 1934 noch keine entsprechende Bestimmung. Erst bei der Revision des Bundesstrafprozesses von 1943, die gleichzeitig mit derjenigen des OG durchgeführt wurde, wurde ein solches Verbot in
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
aufgenommen. Dabei lehnte sich der Gesetzgeber unmittelbar an den neuen
Art. 55 lit. c OG
an (vgl. Bericht von Bundesrichter Ziegler zum Vorentwurf vom 21. Mai 1940 an das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement, S. 117; Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines neuen Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 9. Februar 1943, BBl 1943, S. 164), was auch aus dem Umstand erhellt, dass
Art. 273 Abs.1 lit. b BStP
beinahe wörtlich der für das bundesgerichtliche Berufungsverfahren geltenden Vorschrift entspricht. Als zivilprozessualer Begriff aber ist für die Einrede des
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
im Verfahren auf Nichtigkeitsbeschwerde lediglich insoweit Raum, als es den Zivilpunkt betrifft. Was den Strafpunkt anbelangt, hat der Kassationshof alle sich stellenden Rechtsfragen, die sich nicht auf neue Tatsachen, Beweismittel oder Bestreitungen stützen, von Amtes wegen zu prüfen. Eine Ausnahme
BGE 85 IV 117 S. 120
besteht nur, sofern über die betreffende Frage kein letztinstanzlicher Entscheid im Sinne von
Art. 268 BStP
vorliegt, weil das erstinstanzliche Urteil in diesem Punkt vor oberer Instanz nicht angefochten wurde und infolgedessen nach dem kantonalen Prozessrecht rechtskräftig geworden ist, wie es z.B. vorkommt, wenn nur die Strafzumessung oder die Verweigerung des bedingten Strafvollzuges und nicht auch die Schuldfrage weitergezogen wird. Das trifft hier aber bei dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten Strafausschliessungsgrund nach
Art. 27 Abs. 1 StGB
nicht zu; denn Gegenstand des bezirksgerichtlichen Urteils bildete überhaupt die Strafbarkeit der von Herbst begangenen Handlungen. | null | nan | de | 1,959 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eb8efb9b-c46a-4d09-ab36-135b50264f2a | Urteilskopf
115 V 133
21. Auszug aus dem Urteil vom 16. Juni 1989 i.S. G. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Bern | Regeste
Art. 67 und 76 KUVG
,
Art. 6 und 18 UVG
.
Präzisierung der in
BGE 113 V 307
veröffentlichten Rechtsprechung zum adäquaten Kausalzusammenhang. | Erwägungen
ab Seite 133
BGE 115 V 133 S. 133
Aus den Erwägungen:
2.
In der obligatorischen Unfallversicherung setzt die Zusprechung einer Invalidenrente zunächst eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit voraus; wer nicht mindestens teilweise unfallbedingt arbeitsunfähig ist, kann nicht gemäss KUVG (bzw. UVG) invalid sein (vgl. dazu
BGE 105 V 141
Erw. 1b; ZAK 1985 S. 224 Erw. 2b mit Hinweisen). In diesem Sinne gilt als arbeitsunfähig, wer infolge eines durch einen Unfall verursachten physischen und/oder psychischen Gesundheitsschadens seine bisherige Tätigkeit nicht mehr, nur noch beschränkt oder nur unter der Gefahr einer Verschlimmerung des Gesundheitszustandes ausüben kann und auch nicht in der Lage ist, eine seiner gesundheitlichen Behinderung angepasste andere Tätigkeit aufzunehmen. Der Grad der Arbeitsunfähigkeit wird unter Berücksichtigung der bisherigen Tätigkeit festgesetzt, solange vom Versicherten vernünftigerweise nicht verlangt werden kann, seine restliche Arbeitsfähigkeit anderweitig einzusetzen. Der Versicherte, der von seiner Arbeitsfähigkeit keinen Gebrauch macht, obwohl er hiezu nach seinen persönlichen Verhältnissen und gegebenenfalls nach einer gewissen Anpassungszeit in der Lage wäre, ist nach der Tätigkeit zu beurteilen, die er bei gutem Willen ausüben könnte (vgl.
BGE 111 V 239
Erw. 1b und 2a, 101
BGE 115 V 133 S. 134
V 145 Erw. 2b; RKUV 1989 Nr. K 798 S. 108 Erw. 1d; siehe auch ZAK 1989 S. 220 Erw. 5b). Fehlt es an der erforderlichen Willensanstrengung, so kann nur dann eine für die Unfallversicherung relevante - psychisch bedingte - Arbeitsunfähigkeit vorliegen, wenn der Willensmangel bzw. die Willensschwäche auf einen unfallbedingten geistigen Gesundheitsschaden mit Krankheitswert zurückzuführen ist, nicht aber, wenn die fehlende Ausnützung der Arbeitsfähigkeit auf anderen Gründen beruht (wie z.B. beim Simulanten; vgl.
BGE 104 V 31
Erw. 2b).
Es ist Aufgabe des Unfallmediziners und allenfalls des Psychiaters, sämtliche Auswirkungen eines Unfalles auf den Gesundheitszustand, namentlich auch die psychischen Unfallfolgen sowie allfällige Wechselwirkungen zwischen physischen und psychischen Gesundheitsstörungen zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, bezüglich welcher konkreten Tätigkeiten und in welchem Umfang der Versicherte arbeitsunfähig ist. Die ärztlichen Auskünfte sind sodann eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen dem Versicherten im Hinblick auf seine persönlichen Verhältnisse noch zugemutet werden können. Im Streitfall entscheidet der Richter (vgl.
BGE 105 V 158
Erw. 1; MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 335 f., und Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 286 f.).
3.
Ist eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen, so stellt sich zunächst die Frage des - für die Leistungspflicht der Unfallversicherung vorausgesetzten - natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen Unfallereignis und eingetretenem Gesundheitsschaden. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität des Versicherten beeinträchtigt hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (
BGE 112 V 32
Erw. 1a mit Hinweisen).
Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist
BGE 115 V 133 S. 135
eine Tatfrage, worüber die Verwaltung bzw. im Beschwerdefall der Richter im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (
BGE 113 V 311
Erw. 3a und 322 Erw. 2a mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 113 Ib 424
Erw. 3).
4.
a) Die Leistungspflicht der Unfallversicherung setzt im weiteren voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und der damit verursachten Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit ein adäquater Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung hat ein Ereignis dann als adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (
BGE 113 V 312
Erw. 3b und 323 Erw. 2b,
BGE 112 V 33
Erw. 1b,
BGE 109 V 152
Erw. 3a,
BGE 107 V 176
Erw. 4b, je mit Hinweisen).
b) Wie das Eidg. Versicherungsgericht in
BGE 112 V 36
Erw. 3c in Änderung seiner Rechtsprechung erkannt hat, darf die Frage, ob ein Unfall nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, eine psychische Gesundheitsschädigung herbeizuführen, in der sozialen Unfallversicherung nicht auf den psychisch gesunden Versicherten beschränkt werden. Vielmehr ist auf eine weite Bandbreite der Versicherten abzustellen (vgl. LGVE 1982 II Nr. 26 S. 249 Erw. 3c). Hiezu gehören auch jene Versicherten, die aufgrund ihrer Veranlagung für psychische Störungen anfälliger sind und einen Unfall seelisch weniger gut verkraften als Gesunde. Die Gründe dafür, dass einzelne Gruppen von Versicherten einen Unfall langsamer oder schlechter verarbeiten als andere, können z.B. in einer ungünstigen konstitutionellen Prädisposition (vgl. WEBER, Zurechnungs- und Berechnungsprobleme bei der konstitutionellen Prädisposition, in SJZ 85/1989 S. 75) oder allgemein in einem angeschlagenen Gesundheitszustand, in einer psychisch belastenden sozialen, familiären oder beruflichen Situation oder in der einfach strukturierten Persönlichkeit des Verunfallten liegen. Somit bilden im Rahmen der erwähnten weit gefassten Bandbreite auch solche Versicherte Bezugspersonen für die Adäquanzbeurteilung, welche im Hinblick auf die erlebnismässige Verarbeitung eines Unfalles zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko gehören, weil sie aus versicherungsmässiger
BGE 115 V 133 S. 136
Sicht auf einen Unfall nicht optimal reagieren. Daraus ergibt sich, dass für die Beurteilung der Frage, ob ein konkretes Unfallereignis als alleinige Ursache oder als Teilursache nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, zu einer bestimmten psychischen Schädigung zu führen, kein allzu strenger, sondern im dargelegten Sinne ein realitätsgerechter Massstab angelegt werden muss.
c) Bei Unfällen, die zu psychischen Fehlreaktionen führen, stellt das Unfallereignis selten die alleinige Ursache, sondern meistens nur eine Teilursache dar. Wie bereits in
BGE 112 V 37
Erw. 3c ausgeführt wurde, setzt die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs auch in Fällen, in denen für einen psychischen Gesundheitsschaden mit Krankheitswert der konstitutionellen Prädisposition grösseres Gewicht zukommt als dem Unfallereignis, voraus, dass der Unfall eine massgebende Teilursache für das psychische Leiden ist. In BGE
BGE 113 V 316
Erw. 3e wurde diese Überlegung in der Formulierung insofern modifiziert, als danach der adäquate Kausalzusammenhang schwerlich verneint werden könne, solange der Unfall mit seinen Begleitumständen im Verhältnis zur vortraumatischen Persönlichkeit nicht zur Bedeutungslosigkeit herabsinke (siehe auch
BGE 113 V 324
). Im Urteil I. vom 21. Dezember 1987 (auszugsweise publiziert in RKUV 1988 Nr. U 47 S. 225) hat das Eidg. Versicherungsgericht an dieser negativen Formulierung nicht festgehalten und für das Vorliegen eines adäquaten Kausalzusammenhangs positiv verlangt, dem Unfall mit seinen Begleitumständen müsse im Verhältnis zur vortraumatischen Persönlichkeitsstruktur, aber auch im gesamten Zusammenhang eine "gewisse Bedeutung" zukommen (S. 228 Erw. 2b).
d) Die Frage nach der generellen Eignung eines Unfallereignisses, eine psychisch bedingte Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit zu bewirken, ist gemäss
BGE 113 V 315
Erw. 3e, 324 und RKUV 1988 Nr. U 47 S. 227 Erw. 2b aufgrund einer Würdigung der Gesamtheit der Umstände vor und nach dem Unfall zu beurteilen. Dazu gehören gemäss dieser Rechtsprechung die Schwere des Unfalles, die Eindrücklichkeit des Unfalles für den Betroffenen, die Begleitumstände, die Art und Schwere der erlittenen somatischen Verletzungen, die Dauer der ärztlichen Behandlung und die damit verbundenen körperlichen Schmerzen, der Grad der Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit sowie die vortraumatische Persönlichkeit des Versicherten. Zu würdigen seien überdies die Art und Weise der Verarbeitung des Unfallereignisses
BGE 115 V 133 S. 137
durch den Versicherten aufgrund seiner psychischen Konstitution und der von ihm erlebte psychische Stress, sofern ein akutes Ereignis oder eine längere Belastungssituation bestehe, die ausserhalb der alltäglichen menschlichen Erfahrung lägen. Die Entwicklung nach dem Unfall müsse folglich der vortraumatischen Persönlichkeit des Versicherten, d.h. dem psychischen Zustand, den durchgemachten (insbesondere psychosomatischen) Krankheiten sowie der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit vor dem Unfall gegenübergestellt werden. Das Ergebnis dieses Vergleiches gestatte es der Verwaltung bzw. dem Richter, die Frage nach der Adäquanz des Kausalzusammenhangs zu beurteilen. Um über verlässliche und aussagekräftige Entscheidungsgrundlagen zu verfügen, sei die Einholung einer psychiatrischen Expertise unumgänglich.
5.
a) Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) setzt sich in ihrer Vernehmlassung eingehend mit der neuesten Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts auseinander. Sie macht geltend, es handle sich bei genauer Betrachtungsweise um eine Praxisänderung, deren Konsequenzen nur schwer absehbar seien. Die Aussage, der adäquate Kausalzusammenhang könne schwerlich verneint werden, wenn dem Unfall im gesamten Zusammenhang eine "gewisse Bedeutung" zukomme, trage nichts zur Klärung bei. Aus ihr könnte nach Auffassung der SUVA der Schluss gezogen werden, dass eine Haftung der obligatorischen Unfallversicherung für jede psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit nach einem Unfall generell zu bejahen wäre, es sei denn, die prätraumatische Persönlichkeit weise ausnahmsweise eine stark vorbelastete Psyche auf. Eine solch umfassende Haftung wäre indessen mit der Adäquanztheorie und der damit bezweckten vernünftigen Haftungsbegrenzung unvereinbar. Die SUVA vermisst sodann praxisgerechte Massstäbe und rügt u.a. die ungenügende Praktikabilität, weil es bei den aufgelisteten Einzelkriterien an der erforderlichen Gewichtung fehle. Eine diesbezügliche Präzisierung sei aber unabdingbar, verlange doch die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs eine Wertung der zu berücksichtigenden Einzelkriterien. Es müsse System ins Ganze gebracht werden, z.B. in Form von Haupt- und Hilfskriterien. Ein solcher Raster sei umso notwendiger, als im Einzelfall sich beim wertenden Vergleich der einzelnen Kriterien Widersprüchlichkeiten ergeben könnten. Für die Durchführung eines solchen Vergleiches müsse daher eine klare Leitidee geschaffen werden. Besonders kritisch sei ferner die Feststellung zu würdigen, für die Beurteilung des
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adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen Unfallereignis und psychogenen Störungen bedürfe es in der Regel einer psychiatrischen Expertise.
b) Gemäss Vernehmlassung der SUVA sollte die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs nach drei Erlebnisgruppen vorgenommen werden (siehe dazu SCHLEGEL, Psyche und Unfall - Der Begriff der Neurose und seine Bedeutung in der Unfallversicherung, SZS 1988 S. 177 f.). Die erste Gruppe betreffe psychische Irritationen nach leichten Unfällen und Verletzungen, bei denen die psychischen Begleiterscheinungen meistens so unbedeutend und vorübergehend seien, dass sie sich als versicherungsmedizinisch unerheblich erwiesen. Die Frage des adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen Unfall und psychisch bedingter Erwerbsunfähigkeit stelle sich hier nur selten und müsste gegebenenfalls klar verneint werden. Die zweite Gruppe betreffe die akute oder posttraumatische Belastungs- oder Stressreaktion nach Unfällen, welche zu ausserhalb der alltäglichen menschlichen Erfahrung liegenden Erlebnissen führten, wie z.B. schwere Verkehrsunfälle, Brände, Explosionen usw. Solche Unfallereignisse riefen bei fast allen Menschen deutliche Stressreaktionen hervor. Es entwickelten sich langdauernde psychische Symptome mit ängstlich-depressiver, neurasthenischer oder hypochondrischer Färbung, welche auf dem Boden schicksalshafter Bedrohung und Todesangst entstünden. In solchen Fällen sei der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychisch bedingter Erwerbsunfähigkeit praktisch immer zu bejahen. Die dritte Gruppe betreffe die posttraumatische Anpassungsstörung, bei der es sich um Reaktionen und Entwicklungen handle, welche die Kriterien für eine akute oder posttraumatische Belastungs- oder Stressreaktion nicht erfüllten. In diesen Fällen habe eine vorbestehende Persönlichkeitsstörung die Verletzlichkeit auf Stress erhöht, weshalb es zu einer Störung der Anpassung komme. Bei längerdauernden Anpassungsstörungen spiele die Konstitution der Persönlichkeit die wesentlichere Rolle als das erlittene traumatische Erlebnis. Eine gewisse Schwere des Unfalls sei indessen Voraussetzung, da nur ein solcher Unfall nach allgemeiner Lebenserfahrung ein Erlebnis von schicksalshafter Bedeutung bewirken könne. Hier könne keine generelle Regel für die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs aufgestellt werden.
6.
Der SUVA ist darin beizupflichten, dass der Versuch einer Katalogisierung der Unfälle mit psychisch bedingten Folgeschäden
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einem praktischen Bedürfnis entspricht. Dabei ist jedoch nicht an das Unfallerlebnis anzuknüpfen. Zwar ist die Art und Weise des Erlebens und der Verarbeitung eines Unfallereignisses durch den Betroffenen für die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs grundsätzlich mit zu berücksichtigen (vgl. Erw. 4b, d und 6c/aa). Als geeigneter Anknüpfungspunkt für eine Einteilung der Unfälle mit psychischen Folgeschäden soll das (objektiv erfassbare) Unfallereignis selbst dienen. Denn die Frage, ob sich das Unfallereignis und eine psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit im Sinne eines adäquaten Verhältnisses von Ursache und Wirkung entsprechen, ist unter anderem im Hinblick auf die Gebote der Rechtssicherheit und der rechtsgleichen Behandlung der Versicherten aufgrund einer objektivierten Betrachtungsweise zu prüfen (
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Erw. 4c; MAURER, Aus der Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, in SZS 1986 S. 199). Ausgehend vom augenfälligen Geschehensablauf erscheint folgende Einteilung der Unfälle in drei Gruppen zweckmässig: banale bzw. leichte Unfälle einerseits, schwere Unfälle anderseits und schliesslich der dazwischenliegende mittlere Bereich.
a) Bei banalen Unfällen wie z.B. bei geringfügigem Anschlagen des Kopfes oder Übertreten des Fusses und bei leichten Unfällen wie z.B. einem gewöhnlichen Sturz oder Ausrutschen kann der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychischen Gesundheitsstörungen in der Regel ohne weiteres verneint werden. Ohne aufwendige Abklärungen im psychischen Bereich darf aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung, aber auch unter Einbezug unfallmedizinischer Erkenntnisse davon ausgegangen werden, dass ein banaler bzw. leichter Unfall nicht geeignet ist, einen invalidisierenden psychischen Gesundheitsschaden zu verursachen. Hier mangelt es dem Unfallereignis offensichtlich an der erforderlichen Schwere, welche allgemein geeignet wäre, zu einer psychischen Fehlentwicklung beispielsweise in Form einer reaktiven Depression zu führen. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass bei dieser Gruppe von Unfällen wegen der Geringfügigkeit des Unfallereignisses auch der psychische Bereich nur marginal tangiert wird. Treten entgegen jeder Voraussicht dennoch nennenswerte psychische Störungen auf, so sind diese mit Sicherheit auf unfallfremde Faktoren zurückzuführen wie z.B. die ungünstige konstitutionelle Prädisposition. Unter solchen Umständen ist der Unfall nur eine Schein- oder Gelegenheitsursache für die psychischen Störungen.
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b) Bei schweren Unfällen dagegen ist der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychisch bedingter Erwerbsunfähigkeit in der Regel zu bejahen. Denn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung sind solche Unfälle geeignet, invalidisierende psychische Gesundheitsschäden zu bewirken. Demzufolge wird sich bei dieser Gruppe von Unfällen die Einholung einer psychiatrischen Expertise meistens erübrigen.
c) aa) Der mittlere Bereich umfasst jene Unfälle, welche weder der ersten noch der zweiten Gruppe zugeordnet werden können. Hier lässt sich die Frage, ob zwischen Unfall und psychisch bedingter Erwerbsunfähigkeit ein adäquater Kausalzusammenhang besteht, nicht aufgrund des Unfalles allein schlüssig beantworten. Es sind daher weitere, objektiv erfassbare Umstände, welche unmittelbar mit dem Unfall im Zusammenhang stehen oder als direkte bzw. indirekte Folgen davon erscheinen, in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen. Solche - unfallbezogenen - Umstände können als Beurteilungskriterien dienen, weil sie ihrerseits nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, in Verbindung mit dem Unfall zu einer psychisch bedingten Erwerbsunfähigkeit zu führen oder diese zu verstärken. Als wichtigste Kriterien sind zu nennen:
- besonders dramatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des Unfalls;
- die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzungen, insbesondere ihre erfahrungsgemässe Eignung, psychische Fehlentwicklungen auszulösen;
- ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung;
- körperliche Dauerschmerzen;
- ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert;
- schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen;
- Grad und Dauer der physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit.
bb) Der Einbezug sämtlicher objektiver Kriterien in die Gesamtwürdigung ist jedoch nicht in jedem Fall erforderlich. Je nach den konkreten Umständen kann für die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen Unfall und psychisch bedingter Erwerbsunfähigkeit neben dem Unfall allenfalls ein einziges Kriterium genügen. Dies trifft einerseits dann zu, wenn es sich um einen Unfall handelt, welcher zu den schwereren Fällen im mittleren Bereich zu zählen oder sogar als Grenzfall zu einem schweren
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Unfall zu qualifizieren ist. Anderseits kann im gesamten mittleren Bereich ein einziges Kriterium genügen, wenn es in besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist, wie z.B. eine auffallend lange Dauer der physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit infolge schwierigen Heilungsverlaufes. Kommt keinem Einzelkriterium besonderes bzw. ausschlaggebendes Gewicht zu, so müssen mehrere unfallbezogene Kriterien herangezogen werden. Dies gilt umso mehr, je leichter der Unfall ist. Handelt es sich beispielsweise um einen Unfall im mittleren Bereich, der aber dem Grenzbereich zu den leichten Unfällen zuzuordnen ist, müssen die weiteren zu berücksichtigenden Kriterien in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sein, damit die Adäquanz bejaht werden kann. Diese Würdigung des Unfalles zusammen mit den objektiven Kriterien führt zur Bejahung oder Verneinung der Adäquanz. Damit entfällt die Notwendigkeit, nach andern Ursachen zu forschen, die möglicherweise die psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit mit begünstigt haben könnten. Erweist sich ein Unfall bei gegebenem natürlichem Kausalzusammenhang nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung als geeignet, eine psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit zu verursachen, so darf die Adäquanz des Kausalzusammenhangs beispielsweise nicht etwa deshalb verneint werden, weil der betroffene Versicherte mit seiner besonderen Prädisposition ausserhalb der erwähnten weiten Bandbreite liegt. Andernfalls würde von diesem Versicherten zu Unrecht verlangt, dem Unfallereignis einen grösseren psychischen Widerstand entgegenzusetzen, als dies von einem der erwähnten Bandbreite angehörenden Versicherten erwartet würde.
7.
Der adäquate Kausalzusammenhang setzt nach dem Gesagten grundsätzlich voraus, dass dem Unfallereignis für die Entstehung einer psychisch bedingten Erwerbsunfähigkeit eine massgebende Bedeutung zukommt. Dies trifft dann zu, wenn es objektiv eine gewisse Schwere aufweist oder mit andern Worten ernsthaft ins Gewicht fällt (vgl. bereits in diesem Sinne
BGE 112 V 37
Erw. 3c bezüglich der massgebenden Teilursache; siehe dazu auch MAURER, SZS 1986 S. 198; MURER, Neurosen und Kausalzusammenhang in der sozialen Unfallversicherung, SZS 1989 S. 27 ff.). Andernfalls ist eine so weitreichende psychische Störung wie eine längerdauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit zum Unfallereignis nicht mehr adäquat, d.h. auch in einem weiten Sinne nicht mehr angemessen und "einigermassen typisch" (vgl. OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl., S. 75). Für
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eine psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit, welche zum Unfallereignis in einem krassen Missverhältnis steht, hat die obligatorische Unfallversicherung nicht einzustehen. Aus diesem Grund kann an der in
BGE 113 V 316
Erw. 3e enthaltenen Formulierung nicht festgehalten werden, wonach der adäquate Kausalzusammenhang schwerlich verneint werden könne, solange der Unfall mit seinen Begleitumständen im Verhältnis zur vortraumatischen Persönlichkeit nicht zur Bedeutungslosigkeit herabsinke (vgl. Erw. 4c). Daraus könnte der falsche Schluss gezogen werden, ein Unfall müsse für eine psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit schon dann als adäquate Ursache gelten, wenn er im gesamten Zusammenhang nicht ganz bedeutungslos sei. Damit vermöchte der Begriff des adäquaten Kausalzusammenhangs aber die Funktion einer Haftungsbegrenzung nicht mehr zu erfüllen.
8.
a) Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach hat der Richter von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten der Parteien (
BGE 110 V 52
Erw. 4a und 112 Erw. 3b).
Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (
BGE 107 V 163
Erw. 3a mit Hinweisen). Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes aufgrund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (
BGE 105 V 216
Erw. 2c mit Hinweis).
b) Die Verwaltung als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - der Richter dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind (KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., Bern 1978, S. 135). Im Sozialversicherungsrecht hat der Richter seinen Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Der Richter hat vielmehr jener
BGE 115 V 133 S. 143
Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die er von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigt (
BGE 113 V 312
Erw. 3a und 322 Erw. 2a,
BGE 112 V 32
Erw. 1a mit Hinweisen; ZAK 1986 S. 189 Erw. 2c, 1984 S. 450 Erw. 3b, RKUV 1985 Nr. K 613 S. 21 Erw. 3a, 1984 Nr. K 600 S. 266 Erw. 1, ARV 1982 Nr. 5 S. 42 Erw. 2b mit Hinweisen).
c) Bei sich widersprechenden Angaben des Versicherten über den Unfallhergang ist auf die Beweismaxime hinzuweisen, wonach die sogenannten spontanen "Aussagen der ersten Stunde" in der Regel unbefangener und zuverlässiger sind als spätere Darstellungen, die bewusst oder unbewusst von nachträglichen Überlegungen versicherungsrechtlicher oder anderer Art beeinflusst sein können. Wenn der Versicherte seine Darstellung im Laufe der Zeit wechselt, kommt den Angaben, die er kurz nach dem Unfall gemacht hat, meistens grösseres Gewicht zu als jenen nach Kenntnis einer Ablehnungsverfügung des Versicherers (RKUV 1988 Nr. U 55 S. 363 Erw. 3b/aa mit Hinweisen).
9.
Im vorliegenden Fall bezifferte der Orthopädist Dr. L. die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers gestützt auf sein Gutachten vom 22. Juli 1984 in einem ergänzenden Bericht an die Vorinstanz vom 18. Juli 1986 auf 80%. Diese Schätzung deckt sich mit der Beurteilung der SUVA, welche dem Beschwerdeführer für die wirtschaftlichen Folgen der unfallbedingten physischen Arbeitsunfähigkeit mit rechtskräftiger Verfügung vom 8. Oktober 1981 ab 1. Juli 1981 eine Invalidenrente von 20% zugesprochen hatte und nach dem Rückfall vom 29. April 1983 gemäss Verfügung vom 21. Mai 1985 ab 1. September 1985 an diesem Invaliditätsgrad festhielt. In einem vom Rechtsvertreter des Versicherten zuhanden der Invalidenversicherung eingeholten Gutachten der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik B. vom 6. Februar 1986 wurde die Arbeitsfähigkeit nach Durchführung beruflicher Eingliederungsmassnahmen und einer Psychotherapie bei einer dem Leiden des Beschwerdeführers angepassten Beschäftigung "unter Berücksichtigung der psychischen und der somatischen Leidensanteile" mit 50% angegeben. Aufgrund der festgestellten physischen Komponente der Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit von 20% kann der Anteil der psychischen Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit auf 30% festgelegt werden. Diese bildet Gegenstand der hier noch zu beurteilenden Frage, ob zwischen dem am 13. Mai 1980 erlittenen Unfall und der psychischen Fehlentwicklung, wie sie im Anschluss an den Rückfall vom
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29. April 1983 eintrat, ein adäquater Kausalzusammenhang besteht oder nicht. Insoweit es dem Beschwerdeführer aufgrund der medizinischen Akten zumutbar wäre, die bestehende Restarbeitsfähigkeit von 50% zu verwerten, liegt keine Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit vor.
10.
Gestützt auf das erwähnte sozialpsychiatrische Gutachten ist der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 13. Mai 1980 und der nach dem Rückfall vom 29. April 1983 eingetretenen psychischen Fehlentwicklung zu bejahen. Während es sich gemäss fachärztlicher Feststellung beim Beschwerdeführer bis zum Zeitpunkt des Unfalls um eine gesunde und auch in psychischer Hinsicht unauffällige Persönlichkeit gehandelt habe, sei nach dem Rückfall zu jenem Unfall als objektive Schädigung eine bleibende Schmerzsymptomatik aufgetreten. Diese werde vom Beschwerdeführer schlecht verarbeitet; sie stehe im Zentrum seiner Aufmerksamkeit und drohe sein ganzes Leben zu dominieren.
11.
Im weiteren muss geprüft werden, ob auch der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der psychischen Fehlentwicklung gegeben ist.
a) Laut Unfallanzeige vom 13. Mai 1980 rutschte der Beschwerdeführer beim Hinuntersteigen von einer Böschung aus und schlug mit dem Rücken auf einem Betonstück am Boden auf. Auch am 27. Mai 1980 gab er gegenüber der SUVA den gleichen Unfallhergang an. Aus den diversen weiteren Schilderungen über den Ablauf des Unfalles geht hervor, dass es sich um eine ca. 2 m hohe Böschung gehandelt haben musste. Nach der dargelegten Rechtsprechung ist auf diese ersten Aussagen abzustellen, weil es am wahrscheinlichsten ist, dass sich der Unfallablauf tatsächlich entsprechend dieser Darstellung zugetragen hat, während die verschiedenen späteren Versionen als weniger wahrscheinlich zu gelten haben.
b) Aufgrund des augenfälligen Ablaufes ist dieser Unfall weder der Gruppe der leichten noch jener der schweren Unfälle zuzuordnen. Er gehört in den mittleren Bereich, kann aber als Grenzfall zu den leichten Unfällen eingestuft werden. Für die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs sind somit weitere unfallbezogene Kriterien - die nach den Erfahrungen des Lebens geeignet sind, eine psychische Fehlreaktion auszulösen (vgl. Erw. 6c/aa) - erforderlich, damit dem Unfall die vorausgesetzte massgebende Bedeutung zukommt. Dabei müssen solche Kriterien bei einem
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Unfall wie dem vorliegenden in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sein.
Besonders dramatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des Unfalls liegen nicht vor. Wenn der Beschwerdeführer geltend macht, er habe einen Schock erlitten, so handelt es sich um den üblichen bei einem Unfall auftretenden Schrecken. Er war gemäss Bericht des erstbehandelnden Arztes Dr. F. vom 24. Mai 1980 bei Bewusstsein; eine Amnesie trat nicht ein. Sodann handelt es sich bei der erlittenen Kompressionsfraktur des 11. Thorakalwirbels (Bericht des Kreisarztes Dr. I. vom 15. Juni 1982) nicht um eine Verletzung von besonderer Art oder Schwere. Bezüglich der Dauer der ärztlichen Behandlung ist zunächst festzuhalten, dass der Spitalaufenthalt nur vom 13. bis 23. Mai 1980 dauerte. Allerdings musste der Beschwerdeführer in der Folge für die Dauer von ca. 10 Wochen ein Drei-Punkt-Stützmieder tragen. Auch wurde eine physikalische Therapie durchgeführt. Die Röntgenkontrolle vom 14. August 1980 zeigte bereits fortschreitende Konsolidation. Während eines vom 3. Dezember 1980 bis 30. Januar 1981 dauernden Aufenthaltes im Nachbehandlungszentrum B. konnten trotz geklagter Dauerschmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule weder eine wesentliche Bewegungseinschränkung noch ein paravertebraler Hartspann festgestellt werden. Die Arbeitsfähigkeit wurde ab 2. Februar 1981 auf 50% geschätzt. Im Juli 1981 nahm der Beschwerdeführer die Arbeit wieder ganztägig auf. Der geschilderte Krankheitsverlauf und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit können nicht als so auffallend bezeichnet werden, dass sie aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet wären, eine psychische Fehlentwicklung auszulösen. Auch allfällige weitere unfallbezogene Umstände, welche erfahrungsgemäss eine psychische Fehlreaktion begünstigen könnten, sind nicht ersichtlich. Ab Juli 1981 bis zum 29. April 1983 arbeitete der Beschwerdeführer ganztags. An diesem Tag erlitt er einen Rückfall, worauf eine physiotherapeutische Behandlung durchgeführt wurde. Ein schwieriger Heilungsverlauf oder erhebliche Komplikationen sind aber auch im Anschluss an diesen Rückfall nicht eingetreten.
Schliesslich wird im Gutachten der Sozialpsychiatrischen Klinik vom 6. Februar 1986 die Auffassung vertreten, ein Unfall, wie ihn der Beschwerdeführer erlitten hat, sei bei ungebildeten Versicherten, die schwere körperliche Arbeit verrichten, schlecht assimiliert sind und unter ihrer familiären Situation als Saisonnier leiden,
BGE 115 V 133 S. 146
generell geeignet, erhebliche psychische Störungen zu verursachen. Soweit damit natürliche Kausalzusammenhänge dargestellt werden, ist dagegen nichts einzuwenden. Wenn diese Aussage jedoch die Adäquanz werten soll, kann der Auffassung der Psychiater nicht beigepflichtet werden; denn die Rechtsfrage der adäquaten Kausalität ist von der Verwaltung bzw. vom Richter zu beantworten. Weder aus der Persönlichkeitsstruktur des Verunfallten noch aus seiner Herkunft oder aus seiner familiären Situation kann für die Adäquanz des Kausalzusammenhangs direkt etwas abgeleitet werden. Vielmehr wird diesen Umständen dadurch Rechnung getragen, dass bei der Frage, ob ein Unfall nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, eine psychische Gesundheitsschädigung herbeizuführen, auf eine weite Bandbreite der Versicherten abgestellt wird. Hiezu gehören auch jene Versicherten, welche einen Unfall aufgrund ihrer psychisch belastenden sozialen oder familiären Situation oder wegen der einfachen Persönlichkeitsstruktur schlechter verkraften als Versicherte ohne zusätzliche Belastungen (vgl. Erw. 4b hievor). Erfahrungsgemäss vermag aber ein Versicherter innerhalb des Rahmens dieser weiten Bandbreite einen Unfall von der vorliegenden Art, welcher von keinerlei auffälligen Begleitumständen und Folgen gekennzeichnet ist, zu verkraften. Löst ein solcher Unfall wie hier dennoch eine psychische Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit aus, so muss diese unter den gegebenen Umständen auf unfallfremde Faktoren zurückgeführt werden.
Kommt nach dem Gesagten dem Unfall vom 13. Mai 1980 keine massgebende Bedeutung für die Entstehung der festgestellten psychischen Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit von 30% zu, so muss der adäquate Kausalzusammenhang verneint werden. Demzufolge besteht diesbezüglich kein Anspruch auf eine Invalidenrente der SUVA. | null | nan | de | 1,989 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb921dcf-1f87-4413-8a6a-d144369c6a80 | Urteilskopf
104 IV 6
3. Urteil des Kassationshofes vom 11. April 1978 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegen H. | Regeste
Art. 69 StGB
.
Die Untersuchungshaft muss auf die Freiheitsstrafe angerechnet werden, die in dem Verfahren ausgefällt wurde, in welchem der Angeklagte auch die Haft erstanden hat. | Sachverhalt
ab Seite 7
BGE 104 IV 6 S. 7
A.-
H. war am 19. Mai 1976 vom Korrektionsgericht Vevey wegen wiederholten Diebstahls und Hausfriedensbruchs zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von drei Monaten abzüglich 14 Tage Untersuchungshaft verurteilt worden. Im Jahre 1977 wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz eröffnet, in dessen Verlauf er sich vom 5. bis 13. Mai und vom 1. Juni bis 15. August in Sicherheitshaft befand. Am 11. Oktober 1977 bestrafte ihn das Strafgericht Basel-Stadt wegen wiederholter und fortgesetzter Widerhandlung gegen das BetmG zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von acht Monaten. Gleichzeitig widerrief es den H. vom Korrektionsgericht Vevey gewährten bedingten Vollzug der Strafe, erklärte diese aber als getilgt durch die vom Korrektionsgericht angerechneten 14 Tage Untersuchungshaft und die im neuen Strafverfahren vom 1. Juni bis 15. August 1977 erstandene Sicherheitshaft. Die vom 5. bis 13. Mai 1977 erstandene Haft wurde auf die neue Strafe angerechnet.
B.-
Auf Rekurs der Staatsanwaltschaft bestätigte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 8. Februar 1978 den erstinstanzlichen Entscheid bezüglich der Anrechnung der im neuen Strafverfahren erstandenen Sicherheitshaft.
C.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Appellationsgerichtes sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die von H. vom 1. Juni bis 15. August 1977 erstandene Untersuchungshaft ebenfalls an die neu ausgefällte Strafe von acht Monaten Gefängnis anrechne und nicht an die Vorstrafe des Korrektionsgerichtes Vevey. H. hat sich innert der ihm gesetzten Frist nicht vernehmen lassen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Unbestritten ist, dass dem Beschwerdegegner die gesamte Dauer der im neuen Strafverfahren erstandenen Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe anzurechnen ist. Zur Entscheidung steht einzig, ob die Haft teils auf die frühere, teils auf die neue Strafe angerechnet werden kann. Die Staatsanwaltschaft stellt sich auf den Standpunkt, die Haft hätte ausschliesslich
BGE 104 IV 6 S. 8
auf die neue Strafe angerechnet werden dürfen mit der Folge, dass ein Rest der früheren Strafe zu verbüssen sei.
Die Vorinstanz anerkennt, dass die Freiheitsstrafe, von welcher das Gesetz spricht, in der Regel die Strafe ist, zu der der Angeklagte im hängigen Verfahren verurteilt wird. Ständen in diesem Verfahren aber zwei Freiheitsstrafen zur Diskussion, so lasse sich dem Wortlaut des Gesetzes nicht ohne weiteres entnehmen, auf welche von ihnen die Haft anzurechnen sei. Auch in diesem Fall werde es regelmässig die neue Strafe sein, sofern sie vollzogen werde. Treffe das nicht zu, müsse die Haft vernünftigerweise auf die Strafe angerechnet werden, die der Angeklagte nach dem Urteil tatsächlich zu verbüssen habe, hier also - da die neue Strafe bedingt aufgeschoben worden sei - auf die nunmehr vollziehbare frühere Strafe. Zwar hänge die Haft hier ausschliesslich mit der neuen Straftat zusammen. Wo jedoch die Voraussetzungen für die Anrechnung erfüllt seien, gehe es nicht mehr um Sinn und Zweck der Sicherheitshaft, die sich von denen der Strafverbüssung in verschiedener Hinsicht unterschieden (
BGE 102 IV 157
), sondern um jene der Anrechnung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sei diese eine Billigkeitsmassnahme, durch welche vermieden werden solle, dass sich der Angeklagte vor dem Urteil der Haft und nachher überdies der Strafe, also einem doppelten Freiheitsentzug unterziehen müsse. Dem entspreche, dass nach der Praxis der Anrechnung die rechtliche Wirkung der Strafvollstreckung zukomme (
BGE 102 IV 157
,
BGE 101 IV 387
). Unter diesen Umständen aber könne es nicht mehr entscheidend auf den ursprünglichen Zusammenhang zwischen Tat und Haft ankommen, sondern vielmehr darauf, ob in ein und demselben Verfahren der anrechenbaren Haft eine zu verbüssende Freiheitsstrafe gegenüberstehe. Es erschiene als unbillig, wenn dem Angeklagten, der sich während längerer Zeit in Haft befunden habe, einerseits der bedingte Strafvollzug gewährt würde, er aber anderseits ungeachtet der erstandenen Haft einen gleichzeitig beurteilten Vorstrafenrest verbüssen müsste. Ähnliche Überlegungen lägen
BGE 87 IV 1
zugrunde.
2.
Der Vorinstanz ist zuzugestehen, dass
Art. 69 StGB
nicht ausdrücklich sagt, dass die Anrechnung auf die Freiheitsstrafe erfolgen muss, die in dem Verfahren ausgefällt wurde, in welchem der Angeschuldigte auch die Untersuchungshaft erstanden hat. Sinngemäss ist jedoch dem Gesetz nichts anderes
BGE 104 IV 6 S. 9
zu entnehmen. Wenn
Art. 69 StGB
vorschreibt, dass die Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe anzurechnen sei, soweit der Täter die Haft nicht durch sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt hat, so wird damit unmittelbar auf die Beziehung hingewiesen, die nicht nur zwischen Tat und Sanktion einerseits, sondern auch zwischen Tat und Untersuchungshaft anderseits bestehen muss. Haft und Sanktion müssen aus Anlass des sich auf dieselbe Tat beziehenden Verfahrens angeordnet bzw. ausgefällt worden sein. Dass dies allein der ratio legis entspricht, folgt auch aus dem zweiten Satz des
Art. 69 StGB
, wo ausdrücklich auf die Sanktion Bezug genommen und gesagt wird, wenn das Urteil auf Busse laute, könne die Dauer der Untersuchungshaft in angemessener Weise berücksichtigt werden. Hier wird der Zusammenhang zwischen Tat, Untersuchungshaft und Sanktion zweifelsfrei herausgestellt. Lehre und Rechtsprechung haben denn auch bis anhin
Art. 69 StGB
stets dahin verstanden, dass der Richter, der die Strafe abschliessend ausmisst, die Anrechnung der Haft auf diese vorzunehmen hat, mit anderen Worten, dass für die Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe der Grundsatz der Identität der Tat besteht (SCHWANDER, Das schweiz. StGB, S. 238; HAFTER, Allg. Teil, S. 355; H. R. ENDERLI, Die Anrechnung der Untersuchungshaft, Diss. Zürich 1942, S. 74; F. NÜSSLI, Die Anrechnung der Untersuchungshaft im schweiz. Strafrecht, Diss. Freiburg i.Ü. 1954, S. 45; und insbesondere
BGE 85 IV 12
). Entsprechend verhält es sich auch im deutschen Recht (SCHÖNKE/SCHRÖDER, Strafgesetzbuch, Kommentar, 18. Aufl. N. 8 ff. zu § 51) und im französischen (ENCYCLOPEDIE DALLOZ, Pénal II, unter "Détention provisoire et contrôle judiciaire" N. 197).
Nach dem Gesagten kann aber nicht eine in einem zweiten Strafverfahren erstandene Untersuchungshaft auf eine frühere Strafe, deren bedingter Strafvollzug vom zweiten Strafrichter widerrufen wird, angerechnet werden. Darüber hilft auch der Umstand nicht hinweg, dass seit der am 1. Juli 1971 in Kraft getretenen Fassung des
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB
bei Verbrechen oder Vergehen während der Probezeit der dafür zuständige Richter auch über den Vollzug der bedingt aufgeschobenen früheren Strafe befinden und dabei das neue Strafurteil und den Widerruf gegebenenfalls redaktionell in einem Entscheid zusammenfassen kann. Es handelt sich dabei gleichwohl um
BGE 104 IV 6 S. 10
zwei Verfahrensgänge mit unterschiedlichem Verfahrensgegenstand (s.
BGE 99 IV 194
oben).
Zudem übersieht die Vorinstanz, dass die Anrechnung der Untersuchungshaft nicht eine blosse Vollzugsmassnahme ist, sondern Inhalt eines sachrichterlichen Entscheides bildet, der nach Erschöpfung der Rechtsmittel in Rechtskraft erwächst (s.
BGE 102 IV 160
E. 3). Wenn deshalb das Korrektionsgericht Vevey in seinem Urteil vom 19. Mai 1976 entschied, dass H. 14 Tage der im damaligen Verfahren erstandenen Untersuchungshaft auf die bedingt aufgeschobene Strafe anzurechnen seien, so ist damit auch die Frage der Anrechnung von Untersuchungshaft auf diese Strafe mangels Anfechtung auf dem Rechtsmittelweg rechtskräftig und endgültig entschieden worden, und es kann insoweit nicht vom zweiten Richter, der den Widerruf des bedingten Strafvollzuges ausspricht, die Rechtskraft durchbrochen werden, indem er auf die frühere Strafe zusätzlich eine im zweiten Strafverfahren erstandene Untersuchungshaft anrechnet. Ein solches Vorgehen wäre vor dem 1. Juli 1971, als in aller Regel der Richter den bedingten Strafvollzug widerrief, der ihn gewährt hatte, schon an sich unmöglich gewesen. Dafür aber, dass der Gesetzgeber mit der Änderung der Zuständigkeit in
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB
materiell in die Ordnung des
Art. 69 StGB
hätte eingreifen und den Grundsatz der Identität der Tat aufgeben wollen, ist den Materialien nichts zu entnehmen.
Schliesslich ist auch nicht einzusehen, weswegen es unbillig sein sollte, einem Angeklagten einerseits für die neue Strafe den bedingten Strafvollzug zu gewähren und ihn anderseits ungeachtet der im neuen Strafverfahren erstandenen Untersuchungshaft die Vorstrafe verbüssen zu lassen. Die zuletzt erstandene Untersuchungshaft wird ihm auf die neue Strafe angerechnet, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen hiefür erfüllt sind. Sie kommt ihm zugute, falls er während der neuen Probezeit wieder straffällig werden oder das richterliche Vertrauen sonstwie täuschen sollte. Unbillig wäre es vielmehr, beispielsweise einem Angeklagten, dem eine im früheren Verfahren erstandene Untersuchungshaft nicht angerechnet werden konnte, weil er sie schuldhaft veranlasst hatte, bei Anlass des Widerrufs des ihm damals gewährten bedingten Strafvollzugs auf die Strafe eine im zweiten Verfahren erlittenen Haft anzurechnen. Das aber wäre die Konsequenz der von der Vorinstanz vertretenen
BGE 104 IV 6 S. 11
Auffassung. Aus
BGE 87 IV 1
kann nichts Gegenteiliges abgeleitet werden, zumal dort auch der Zusammenhang von Tat, Sicherheitshaft und Sanktion klar gegeben war.
3.
Verletzt demnach der angefochtene Entscheid
Art. 69 StGB
, so ist er aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die im neuen Strafverfahren von H. erstandene Sicherheitshaft ausschliesslich auf die neue Strafe anrechne. Ob der von H. vom 16. August bis 12. Oktober 1977 erstandene "vorläufige Strafvollzug" als Vollzug der widerrufenen Strafe zu gelten habe, ist eine Vollzugsfrage, die dem Entscheid der kantonalen Vollzugsbehörden anheimgestellt ist.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationsgerichts-Ausschusses des Kantons Basel-Stadt vom 8. Februar 1978 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. | null | nan | de | 1,978 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
eb9483ea-59ac-47ff-9cab-78c65f1c4d38 | Urteilskopf
120 III 32
13. Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 24. März 1994 i.S. Kanton Tessin (Rekurs) | Regeste
Kollokationsprozess über öffentlichrechtliche Forderungen;
Art. 250 SchKG
.
Auch für öffentlichrechtliche Forderungen kann ein Kollokationsprozess nach Massgabe von
Art. 250 SchKG
angestrengt werden. Für die Beurteilung der Kollokationsklage ist der Konkursrichter am Ort, wo der Konkurs durchgeführt wird, zuständig. Änderung der Rechtsprechung (E. 2).
Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Konkursverwaltung und dem über die Kollokationsklage befindenden Konkursrichter (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 32
BGE 120 III 32 S. 32
A.-
Nachdem, in Abänderung des Kollokationsplanes und des Lastenverzeichnisses im Konkurs der Monagal AG, Forderungen des Kantons Tessin und der Einwohnergemeinde Massagno als pfandgesichert aufgenommen worden waren, beschwerte sich die Solothurner Handelsbank bei der Aufsichtsbehörde des Kantons Solothurn. Diese erkannte mit Urteil vom 16. Dezember 1993:
"1. a) Die Beschwerde der Solothurner Handelsbank wird teilweise gutgeheissen.
b) Von den Forderungen der Einwohnergemeinde Massagno sind im Sinne der Erwägungen bloss Fr. 7'616.50 an Steuern und Fr. 1'944.20 an Kanalisationsgebühren (jeweils nebst Zins zu 5% seit Verfall) als gesetzlich grundpfandversichert zuzulassen; die restlichen Forderungen der Gemeinde sind nicht in das Lastenverzeichnis aufzunehmen und in die 5. Klasse zu verweisen.
BGE 120 III 32 S. 33
2. Die Beschwerde des Kantons Tessin wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.
3. Es werden keine Kosten erhoben."
B.-
Mit Rekursschrift vom 20. Januar 1994 zog der Kanton Tessin, vertreten durch das Finanzdepartement, die Sache an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts weiter. Er beantragte die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und wollte alle seine im Konkurs der Monagal AG angemeldeten Forderungen als pfandgesichert kolloziert wissen.
Der Rekurs wurde von der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts abgewiesen.
Erwägungen
Erwägungen:
1.
Insoweit von der Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs des Kantons Solothurn begründet wird, weshalb die Konkursverwaltung - ausnahmsweise - zur Korrektur des Kollokationsplanes befugt war, widerspricht der Rekurrent den Ausführungen im angefochtenen Entscheid nicht. Die kantonale Aufsichtsbehörde hat ihre Auffassung auf die Rechtsprechung gestützt (
BGE 96 III 74
E. 3, S. 78 f.;
BGE 98 III 67
E. 3, S. 70), und in deren Licht erscheint die Korrektur des Kollokationsplanes in der Tat als bundesrechtskonform (siehe auch FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Band II, Zürich 1993, § 49, N. 35 f., insbesondere Anm. 81).
2.
Der Rekurrent spricht nun aber der Aufsichtsbehörde des Kantons Solothurn die Befugnis ab, über die Kollokation der angemeldeten Forderungen zu befinden. Es handle sich um Steuerforderungen, welche rechtskräftig veranlagt worden seien und für welche die tessinische Steuergesetzgebung ein gesetzliches Pfandrecht einräume. Zuständig zur Feststellung des Bestandes einer Steuerforderung wie auch des gesetzlichen Pfandrechtes seien - wie das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung festgehalten habe - die kantonalen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden und nicht die Konkursverwaltung oder (im Sinne von
Art. 250 SchKG
) der Konkursrichter. Dieser müsse sich als unzuständig erklären und die Parteien an die in Steuersachen zuständige Gerichtsbehörde verweisen, deren Entscheid für die Kollokation verbindlich sei. Das gelte nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht nur für die öffentlichrechtliche Forderung an sich, sondern auch für das sie sichernde Pfandrecht.
BGE 120 III 32 S. 34
a) In der Tat ist nach einer älteren bundesgerichtlichen Rechtsprechung der Entscheid über Bestand, Umfang und konkursrechtliche Qualifikation einer im Konkurs eingegebenen Steuerforderung ausschliesslich den nach den Vorschriften über den Steuerprozess dazu berufenen Behörden vorbehalten (
BGE 85 I 121
E. 3a, S. 125). Die Rechtsprechung hat es als eine unnötige Komplikation bezeichnet, wenn wegen einer öffentlichrechtlichen Forderung die Kollokationsklage angestrengt würde. Der Konkursrichter müsste sich nämlich darauf beschränken, das Urteil über die Kollokationsklage bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts auszusetzen, um nachher einfach die Kollokation oder Nichtkollokation gemäss jener Entscheidung anzuordnen. Unter diesen Umständen bleibe für die Kollokationsklage praktisch überhaupt kein Raum, sondern der Streit über die Zulassung der Forderung sei endgültig vor den materiell zuständigen Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten auszutragen, sofern ihre Entscheidung nicht bereits vorliege (
BGE 62 II 300
E. 4, S. 304; ferner
BGE 77 III 43
, S. 45 f.;
BGE 59 II 314
, S. 317;
BGE 48 III 228
, S. 230 f.).
Von dieser Rechtsprechung, welche die Kollokationsklage für öffentlichrechtliche Forderungen rundweg ausgeschlossen hat, wenn andere Behörden als die Zivilgerichte zur Entscheidung darüber zuständig sind (
BGE 57 III 176
), ist das Bundesgericht in
BGE 63 III 57
, S. 61, abgewichen. Es ging um eine Forderung der Suval, und deren Kollokation sollte - nach der dort vom Bundesgericht vertretenen Auffassung - durch Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht verlangt werden. In einem Urteil vom 2. November 1993 hat die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts dafürgehalten, dass über die Kollokation von Forderungen, welche im öffentlichen Recht begründet sind, die für diesbezügliche Streitigkeiten zuständigen Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden befinden müssten. Die an jenem Fall ebenfalls beteiligten Tessiner Behörden können sich jedoch der Auffassung des Bundesgerichts nicht anschliessen. Sie möchten von einem Kollokationsprozess um öffentlichrechtliche Forderungen überhaupt nichts wissen und weisen zutreffend darauf hin, dass die frühere Rechtsprechung den Entscheid über Bestand und Höhe einer öffentlichrechtlichen Forderung den zuständigen Verwaltungsbehörden überlassen und deren Entscheid als für die Kollokation verbindlich bezeichnet hat.
b) Bei erneuter Betrachtung kann an der Rechtsprechung, wonach der Kollokationsprozess für öffentlichrechtliche Forderungen ausgeschlossen
BGE 120 III 32 S. 35
sein soll, nicht festgehalten werden. Der Entscheid über die materiellrechtliche Begründetheit ist ein anderer als der Entscheid über die vollstreckungsrechtliche Frage der Kollokation. In der jüngsten Literatur wird denn auch erklärt, dass die Kollokationsgerichtsbarkeit zur Ordnung des Konkursverfahrens gehöre und als zwingend zu betrachten sei (FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Band II, Zürich 1993, § 49 Rz. 29).
In dem die zitierte Rechtsprechung einleitenden
BGE 48 III 228
ist gesagt worden, es könne keinem Zweifel unterliegen, dass eine aus öffentlichem Recht hergeleitete Forderung des Fiskus als Konkursforderung anerkannt werden müsse. Das ist grundsätzlich zweifellos richtig; doch völlig auszuschliessen ist die Möglichkeit nicht, dass Bestand und Höhe einer öffentlichrechtlichen Forderung im Laufe eines Konkursverfahrens streitig werden. Insbesondere aber ist ein im Kollokationsprozess auszutragender Streit hinsichtlich des Rangverhältnisses oder - wie gerade der vorliegende Fall zeigt - der Gültigkeit eines Pfandrechtes leicht denkbar. Es liegt im Wesen des gesetzlichen Pfandrechtes, wie es hier zur Diskussion steht, dass die übrigen Konkursgläubiger hintangestellt und allenfalls zu Unrecht benachteiligt werden (vgl.
BGE 85 I 121
E. 3, S. 125). Daher sollen die übrigen Konkursgläubiger sich in einem Kollokationsprozess dagegen zur Wehr setzen können, dass einer öffentlichrechtlichen Forderung ein ihr nicht zukommender Rang eingeräumt wird oder dass sie gar unberechtigterweise als (gesetzlich) pfandgesichert kolloziert wird. Nicht rundweg auszuschliessen ist aber auch, wie gesagt, der Kollokationsprozess um Bestand und Höhe einer Forderung.
Der Übersicht über das Verfahren und damit der Rechtssicherheit dient es, wenn - wie FRITZSCHE/WALDER (a.a.O., § 49 N. 30) vorschlagen - für die Kollokation öffentlichrechtlicher Forderungen die allgemeinen Regeln befolgt werden. Das läuft darauf hinaus, dass erstens der Kollokationsprozess über öffentlichrechtliche Forderungen zuzulassen ist und dass zweitens der Konkursrichter am Ort, wo der Konkurs durchgeführt wird, für die Beurteilung einer Kollokationsklage zuständig ist (
Art. 250 Abs. 1 SchKG
). Der Prozess ist im beschleunigten Verfahren zu führen (
Art. 250 Abs. 4 SchKG
).
3.
a) Was nun die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Konkursverwaltung einerseits und dem über die Kollokationsklage befindenden Konkursrichter anderseits betrifft, lässt sich nur das wiederholen, was die
BGE 120 III 32 S. 36
Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts in ihrem Urteil vom 2. November 1993 ausgeführt hat: Gemäss
Art. 36 Abs. 1 VZG
(SR 281.42) dürfen Forderungen, die keine Belastung des Grundstücks darstellen, nicht in das Lastenverzeichnis aufgenommen werden. Das Betreibungs- oder Konkursamt ist zur Prüfung der in einem gewissen Grad immer auch materiellrechtlichen Frage, ob eine Forderung eine Belastung des Grundstücks darstelle, befugt; denn wenn die angemeldete Forderung durch das geltend gemachte Pfandrecht nicht gedeckt ist, stellt sie keine Belastung des Grundstücks dar und ist somit gemäss der zitierten Bestimmung nicht in das Lastenverzeichnis - und dementsprechend nicht als pfandgesichert in den Kollokationsplan - aufzunehmen (
BGE 117 III 36
E. 3, S. 38).
b) Wenn die kantonale Aufsichtsbehörde nur die angemeldeten Liegenschaftssteuern (bzw. die Restanzen) als pfandgesichert betrachtet hat, weil diese Steuern eine besondere Beziehung zum belasteten Grundstück haben, so erscheint dies als bundesrechtskonform (vgl.
BGE 110 II 236
E. 1, S. 237;
BGE 112 II 322
E. 3 in fine, S. 325).
Die Feststellung im angefochtenen Entscheid, dass eine klare Ausscheidung desjenigen Teilbetrages des steuerbaren Reinertrages, der auf das Pfandgrundstück entfällt, unterblieben sei, ist tatsächlicher Natur und somit für die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts nach Massgabe von
Art. 63 Abs. 2 OG
(in Verbindung mit
Art. 81 OG
) verbindlich. Dass der kantonalen Aufsichtsbehörde ein offensichtliches Versehen anzulasten wäre, tut der Rekurrent nicht in rechtsgenügender Weise dar (vgl.
BGE 104 II 68
E. 3b, S. 74;
BGE 104 II 108
E. 3a, S. 114). | null | nan | de | 1,994 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
eb94ce70-1434-4afb-b245-f754658e1a30 | Urteilskopf
107 V 46
9. Urteil vom 24. März 1981 i.S. Kahn gegen Schweizerische Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Zürich | Regeste
Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG.
Die psychotherapeutische Behandlung durch einen von einem Arzt angestellten (nichtärztlichen) Psychologen oder Psychotherapeuten in den Praxisräumen dieses Arztes und unter dessen Aufsicht und Verantwortlichkeit ist als "ärztliche Behandlung" im Sinne des KUVG und damit als von den Krankenkassen entschädigungspflichtige Leistung zu qualifizieren, sofern die betreffende therapeutische Vorkehr nach den Geboten der ärztlichen Wissenschaft und Berufsethik sowie nach den Umständen des konkreten Falles grundsätzlich an eine solche (unselbständige) Hilfsperson delegierbar ist. | Sachverhalt
ab Seite 47
BGE 107 V 46 S. 47
A.-
Der 1970 geborene und bei der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia unter anderm für Krankenpflege versicherte Josef Kahn steht sei Juni 1978 in Behandlung bei Dr. med. M., Spezialarzt FMH für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Am 3. November 1978 teilte Dr. M. der Kasse auf deren Anfrage hin mit, dass die Psychotherapie bei Josef Kahn nicht durch ihn persönlich, sondern durch die bei ihm angestellte diplomierte Psychologin in seiner Praxis und unter seiner Aufsicht durchgeführt werde.
Mit Verfügung vom 22. Mai 1979 lehnte die Kasse eine Kostenübernahme für die an die Psychologin delegierte Psychotherapie mit der Begründung ab, hiebei handle es sich nicht um eine gesetzliche Pflichtleistung der Krankenkassen...
B.-
Gegen diese Verfügung liess Josef Kahn Beschwerde führen und beantragen, die Kasse habe für die bei Dr. M. durchgeführte Psychotherapie vollumfänglich aufzukommen. Am 4. September 1979 bestätigte das Versicherungsgericht des Kantons Zürich den Standpunkt der Kasse und wies damit die Beschwerde ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Josef Kahn seinen Antrag erneuern. Die Kasse sowie das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 KUVG
haben die Leistungen der Krankenkassen bei ambulanter Behandlung mindestens
BGE 107 V 46 S. 48
die ärztliche Behandlung (lit. a), die von einem Arzt angeordneten, durch medizinische Hilfspersonen vorgenommenen wissenschaftlich anerkannten Heilanwendungen (lit. b), die von einem Arzt verordneten Arzneimittel (lit. c) und angeordneten Analysen (lit. d) sowie die Behandlung durch einen Chiropraktor (lit. e) zu umfassen.
Als ärztliche Behandlung im Sinne von lit. a dieser Bestimmung gilt gemäss Verfügung 8 des Eidgenössichen Departementes des Innern über die Krankenversicherung vom 16. Dezember 1965 auch die Psychotherapie, mit Ausnahme der analytisch-tiefenpsychologisch orientierten Methoden.
Ärzte im Sinne des KUVG sind diejenigen Personen, welche das eidgenössische Diplom besitzen (
Art. 21 Abs. 1 KUVG
). Personen, denen ein Kanton aufgrund eines wissenschaftlichen Befähigungsausweises die Bewilligung zur Ausübung des ärztlichen Berufes erteilt hat, sind ihnen innerhalb der Schranken dieser Bewilligung gleichgestellt (
Art. 21 Abs. 2 KUVG
).
2.
Streitig ist die Frage, ob die psychotherapeutische Behandlung durch einen von einem Arzt angestellten (nichtärztlichen) Psychologen oder Psychotherapeuten in den Praxisräumen dieses Arztes und unter dessen Aufsicht und Verantwortlichkeit als "ärztliche Behandlung" im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG und damit als von den Krankenkassen entschädigungspflichtige Leistung zu betrachten ist.
Es handelt sich im vorliegenden Fall unbestrittenermassen nicht um eine an medizinische Hilfspersonen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. b KUVG delegierte Psychotherapie. Diese Kategorie medizinischer Hilfskräfte übt ihre Tätigkeit nach der Definition von Art. 1 Vo VI KUVG "selbständig und auf eigene Rechnung" aus. Dadurch unterscheiden sie sich von den sogenannten unselbständigen Hilfspersonen, welche als Angestellte des Arztes in dessen Praxis und unter dessen direkter Aufsicht therapeutische Massnahmen durchführen. Ihre Tätigkeit fällt (im Gegensatz zu derjenigen der Hilfspersonen nach Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. b KUVG) gemäss Rechtsprechung unter den Begriff der ärztlichen Behandlung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG (
BGE 100 V 4
Erw. 2; vgl. auch BONER-HOLZHERR, die Krankenversicherung, Bern 1969, S. 43 und 88).
3.
Die Vorinstanz und die Kasse sowie das Bundesamt für Sozialversicherung vertreten den Standpunkt, dass die von
BGE 107 V 46 S. 49
einem Arzt an einen von ihm angestellten nichtärztlichen Psychologen oder Psychotherapeuten übertragene Psychotherapie nicht als ärztliche Behandlung im oben erwähnten Sinne und damit nicht als Pflichtleistung der Krankenkassen gelten könne. Sie berufen sich hiefür auf
BGE 104 V 15
Erw. 1 und 2; dort habe das Eidg. Versicherungsgericht festgestellt, dass die Tätigkeit der nichtärztlichen Psychotherapeuten oder Psychologen generell nicht zur ärztlichen Behandlung im Sinne des KUVG gehöre. Daraus sei zu schliessen, dass das auch für den bei einem Arzt angestellten Psychotherapeuten oder Psychologen zutreffe.
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Im genannten Urteil hatte das Eidg. Versicherungsgericht zu entscheiden, ob die von einem selbständigerwerbenden Psychologen auf Anordnung eines Arztes durchgeführte Psychotherapie eine gesetzliche oder statutarische Leistungspflicht der am Rechtsstreit beteiligten Krankenkasse begründet. Hiebei hat das Gericht lediglich erkannt, dass einerseits die durch einen selbständigerwerbenden nichtärztlichen Psychotherapeuten oder Psychologen vorgenommenen medizinischen Massnahmen keine ärztliche Behandlung gemäss Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG darstellen und dass anderseits diese selbständigen Therapeuten auch keine medizinischen Hilfspersonen gemäss Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. b KUVG in Verbindung mit der Vo VI KUVG sind. Nicht geprüft wurde dagegen die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Tätigkeit der von einem Arzt angestellten psychologisch-psychotherapeutschen Hilfskräfte der ärztlichen Behandlung im Sinne des KUVG zugerechnet werden kann. Es ist daher davon auszugehen, dass
BGE 104 V 14
die Leistungspflicht der Krankenkassen für an nichtärztliche Psychologen oder Psychotherapeuten übertragene (und ihrem Fachbereich zugehörige) medizinische Verrichtungen nicht schlechthin ausschliesst und die im vorliegenden Fall aufgeworfene Frage nicht beantwortet.
4.
Die Kasse vertritt weiter die Auffassung, dass Psychotherapie nicht delegierbar sei. Die Abklärung und Wahl der anzuwendenden Therapie sowie die Durchführung der Behandlung würden derart wesentlich mit dem ärztlichen Psychotherapeuten zusammenhängen, dass nur dieser persönlich die Psychotherapie vornehmen könne. Es ergebe sich somit aus der Natur der Psychotherapie als höchstpersönliche geistige Leistung des
BGE 107 V 46 S. 50
Arztes, dass eine unselbständige psychotherapeutische Behandlung durch eine medizinische Hilfsperson überhaupt nicht möglich sei. Denn auch diese habe dabei eine höchstpersönliche geistige Leistung zu erbringen. Denkbar sei lediglich, dass gewisse spezielle Verrichtungen (wie etwa die Abnahme von Tests) an Hilfspersonen übertragen werden können. Die Vorinstanz gelangt im wesentlichen zum gleichen Ergebnis.
a) Dass fachlich und menschlich qualifizierte (nichtärztliche) Psychologen oder Psychotherapeuten heute in der Lage sind, gewisse psychotherapeutische Massnahmen oder psychologische Abklärungen sachgerecht durchzuführen, kann nicht in Abrede gestellt werden. Entgegen der Auffassung der Kasse lässt sich somit nicht sagen, dass jegliche Psychotherapie in der Durchführung notwendigerweise dem Arzt vorbehalten bleiben müsse und dass sich nur dieser in diesem Bereich medizinisch einwandfrei betätigen könne. Der Beizug eines Fachpsychologen mit seinen speziellen Kenntnissen kann unter Umständen für eine erfolgreiche Therapie sogar geboten sein. Das dürfte namentlich für die Kinder- und Jugendpsychiatrie gelten. Die Delegierbarkeit gewisser psychotherapeutischer oder psychologischer Vorkehren ist demnach im Prinzip möglich.
b) Das KUVG enthält keine Bestimmungen über die bei einem frei praktizierenden Arzt (oder in einer Heilanstalt) angestellten medizinischen Hilfspersonen und insbesondere keine Vorschriften darüber, welche therapeutischen Verrichtungen diesen anvertraut werden dürfen. Ob und welche therapeutischen Massnahmen delegationsfähig sind, liegt demzufolge grundsätzlich in der Entscheidung und Verantwortung des behandelnden Arztes, der hierüber nach den Geboten der ärztlichen Wissenschaft und Berufsethik sowie den besondern Umständen des konkreten Falles und der beruflichen Qualifikation der Hilfskraft zu befinden und der auch für allfällige Fehlleistungen einzustehen hat. Das schliesst die Möglichkeit mit ein, dass gegebenenfalls nicht bloss einfache Einzelvorkehren mehr oder weniger technisch-mechanischer Art (wie etwa Injektionsbehandlungen, Wundverbände, psychologische Tests und dergleichen) delegationsfähig sind, sondern auch menschlich und fachlich anspruchsvollere Aufgaben. Therapeutische Massnahmen, die nach Massgabe der angeführten Kriterien an Hilfskräfte übertragen und von diesen durchgeführt werden, sind
BGE 107 V 46 S. 51
daher als ärztliche Behandlung im Sinne des KUVG zu qualifizieren.
Einzuräumen ist, dass der nichtärztliche Psychotherapeut oder Psychologe mit der Anwendung verhältnismässig anspruchsvoller Heilbehandlungen auch seinerseits eine gewisse eigenständige geistige Leistung erbringt und dabei ähnlich wie ein Arzt als Vertrauensperson mit dem Patienten in Verbindung steht, so dass gegebenenfalls sein Anteil an der Behandlung insgesamt quantitativ und qualitativ bedeutsamer sein kann, als es bei der Mehrzahl anderer medizinischer Hilfspersonen der Fall ist. Ein grundsätzlicher Unterschied zu bescheideneren Hilfstätigkeiten besteht jedoch nicht, sofern die Tätigkeit des nichtärztlichen Psychologen oder Psychotherapeuten innerhalb des Behandlungsgesamtkomplexes im Rahmen einer Hilfsfunktion bleibt und die therapeutischen Verrichtungen nach den oben angeführten Kriterien im konkreten Fall delegationsfähig sind.
c) Abgesehen von den delegationsfähigen Hilfsfunktionen hat der Arzt in der Psychotherapie - gleich wie in allen andern Bereichen der Medizin - die eigentlichen ärztlichen Funktionen persönlich zu erfüllen. Das gilt namentlich für die Diagnosestellung, die Wahl oder Änderung der Therapie und allgemein für alle Bereiche, in denen das spezifische ärztliche Wissen oder die unmittelbare Beziehung zwischen Arzt und Patient ausschlaggebend ist. Bei der ärztlichen Psychotherapie dürfte die Abgrenzung zu den delegationsfähigen therapeutischen Massnahmen unter Umständen besonders heikel sein. Die Missbrauchsgefahr allein, die grundsätzlich in allen Bereichen delegierter Hilfstätigkeit besteht, ist jedoch kein hinreichender Grund, die delegierte Psychotherapie generell nicht als ärztliche Behandlung gemäss KUVG anzuerkennen. Auf das Problem verantwortungsloser oder missbräuchlicher Delegation ärztlicher Funktionen an Hilfskräfte braucht im vorliegenden Fall nicht eingetreten zu werden, da Anhaltspunkte für einen solchen Sachverhalt fehlen.
5.
Die Kasse und die Vorinstanz haben das Vorliegen einer ärztlichen Behandlung im Sinne des KUVG auch deshalb verneint, weil die durch Hilfskräfte getätigten medizinischen Verrichtungen nach der Rechtsprechung (
BGE 100 V 4
Erw. 2a) nur dann als solche gelten könnten, wenn sie unter
BGE 107 V 46 S. 52
direkter Kontrolle vorgenommen würden und wenn der Arzt anlässlich der Durchführung der Massnahme in persönlichen Kontakt zum Patienten trete. Die einem nichtärztlichen Psychologen oder Psychotherapeuten übertragene psychotherapeutische Behandlung könne - so die Kasse - vom Arzt weder beeinflusst noch kontrolliert werden. Und nach der Vorinstanz können auch unter dem Gesichtspunkt der ärztlichen Kontrolle als delegierbare Aufgaben nur Einzelhandlungen (vorab technischer Natur) in Frage kommen.
Im genannten Urteil war die Frage zu entscheiden, ob ein Arzt das Recht hatte, für die von seiner Arztgehilfin selbständig vorgenommenen Injektionen ausser der hiefür geltenden Tariftaxe auch noch jene für Konsultation zu verrechnen. Es ging demnach um die Frage der Abgrenzung der gemäss kantonaler Taxordnung vorgesehenen "Konsultationstaxe" für direkte bzw. unter direkter Aufsicht erfolgte ärztliche Leistungen in einem engeren Sinne und um Leistungen von unselbständigen Hilfspersonen des Arztes, welche ohne solche unmittelbare Mitwirkung bzw. Aufsicht erbracht wurden. Insoweit der Begriff der "ärztlichen Behandlung" im Sinne von
Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 KUVG
als Auslegungshilfe zum Begriff der "Konsultation" gemäss kantonaler Taxordnung herbeigezogen wurde, wollte damit der Begriff der "ärztlichen Behandlung" gemäss KUVG keineswegs auf den engeren Begriff der "Konsultation" gemäss kantonaler Taxordnung eingeschränkt werden.
Die Frage der für den Begriff der "ärztlichen Behandlung" gemäss KUVG vorausgesetzten Kontaktnahme des Arztes mit dem Patienten anlässlich der Durchführung therapeutischer Massnahmen ist im Zusammenhang mit der Aufsichtspflicht des Arztes zu prüfen. Der Arzt hat die therapeutischen Verrichtungen seiner Hilfsperson zu beaufsichtigen. Es soll Gewähr dafür bestehen, dass er unverzüglich eingreifen oder auf eine angeordnete Massnahme zurückkommen kann, wenn sich dies aus besondern Gründen als notwendig erweisen sollte. Dabei kann vernünftigerweise nicht als Regel gefordert werden, dass er den Ablauf der übertragenen Therapie in jedem Fall mit eigenen Augen dauernd überwacht und unmittelbar mitverfolgt oder jede Sitzung mit einer ärztlichen Konsultation verbindet. Dergleichen wäre häufig weder praktikabel noch mit dem Gebot der Wirtschaftlichkeit vereinbar. Tatsächlich werden
BGE 107 V 46 S. 53
denn auch in Arztpraxen vielfach Hilfspersonen nicht in unmittelbarer Gegenwart des Arztes tätig, ohne dass deswegen der Begriff der ärztlichen Behandlung schon in Frage gestellt werden müsste. Erweist sich eine therapeutische Massnahme im Sinne der oben angeführten Kriterien als grundsätzlich delegationsfähig, so sind medizinische und allenfalls berufsethische Gesichtspunkte dafür massgebend, wie intensiv - je nach den Umständen des besonderen Falles - die ärztliche Überwachung und Kontrolle zu gestalten sind.
Diese Grundsätze gelten auch für die Aufsicht des Arztes über die Heilanwendungen oder Abklärungen der von ihm angestellten (nichtärztlichen) Psychologen oder Psychotherapeuten. Es kann nicht gesagt werden, dass eine solche, geeigneten Hilfskräften übertragene Psychotherapie vom Arzt weder kontrolliert noch beeinflusst werden könne. Regelmässige Gespräche des Arztes mit dem Hilfstherapeuten und dem Patienten oder allfällige weitergehende ärztliche Überwachungsmassnahmen können einen genügenden Einblick in den Therapieverlauf gestatten und hinreichende Gewähr dafür bieten, dass der Arzt die in Gang befindliche Behandlung durch entsprechende Anweisungen beeinflussen kann.
6.
Im vorliegenden Fall sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die durchgeführte Psychotherapie als solche nicht delegationsfähig oder dass die Hilfstherapeutin hiefür fachlich oder menschlich unzureichend ausgewiesen wäre. Ebensowenig lässt sich sagen, dass der Therapieverlauf nicht kontrollierbar gewesen sei oder dass Dr. M. seine Aufsichts- und Kontrollpflicht versäumt habe. Die Kosten für die fragliche Behandlung sind daher von der Kasse als gesetzliche Pflichtleistung zu übernehmen. Die Sache wird an die Kasse zurückgewiesen zur Festsetzung dieser Leistungen nach Massgabe der anwendbaren tarifarischen Bestimmungen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 4. September 1979 und die Verfügung der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia vom 22. Mai 1979 aufgehoben. Die Schweizerische Krankenkasse Helvetia wird verpflichtet, die
BGE 107 V 46 S. 54
Kosten der beim Beschwerdeführer durchgeführten Psychotherapie zu übernehmen. Die Sache wird zur Festsetzung der zu erbringenden Leistungen an die Schweizerische Krankenkasse Helvetia zurückgewiesen. | null | nan | de | 1,981 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb98e0dd-ab5c-4309-b1f3-ea1c84d0643e | Urteilskopf
136 I 265
24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde Lindau gegen Kantonsrat und Regierungsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_11/2010 vom 27. August 2010 | Regeste
Art. 29 Abs. 2 und
Art. 50 BV
,
Art. 85 KV/ZH
,
Art. 82 lit. b und
Art. 89 BGG
, Art. 4 und 9 f. RPG; Rechtsmittel gegen den kantonalen Richtplan, Mitwirkung der Gemeinde im Richtplanverfahren.
Anfechtung des kantonalen Richtplans durch die betroffene Gemeinde mit Beschwerde gegen kantonale Erlasse (E. 1).
Autonomie der Zürcher Gemeinden im Bau- und Planungsrecht (E. 2).
Anspruch der Gemeinden auf Anhörung und Mitwirkung im Richtplanverfahren (E. 3.2). Der Kantonsrat verletzte das Mitwirkungsrecht der Gemeinde, weil er ihren Einwand, der notwendige Bahnanschluss sei nicht während der gesamten Abbauzeit der Kiesgrube gesichert, nicht prüfte (E. 3.3). | Sachverhalt
ab Seite 266
BGE 136 I 265 S. 266
A.
Am 24. November 2009 beschloss der Kantonsrat des Kantons Zürich eine Teilrevision des kantonalen Richtplans zu den Bereichen Gewässer, Gefahren sowie Ver- und Entsorgung. Im Kapitel 5.3, Materialgewinnung, setzte er unter anderem neu eine Kiesgrube bei Tagelswangen in der Gemeinde Lindau fest. Die Richtplanänderungen wurden im kantonalen Amtsblatt vom 4. Dezember 2009 publiziert.
B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, eventuell subsidiärer Verfassungsbeschwerde, vom 11. Januar 2010 beantragt die politische Gemeinde Lindau, der Beschluss des Kantonsrats vom 24. November 2009 sei bezüglich der Festsetzung der Kiesgrube Tagelswangen aufzuheben. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug)
Erwägungen
BGE 136 I 265 S. 267
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Angefochten ist der Entscheid des Kantonsparlaments über die Änderung des kantonalen Richtplans (
Art. 6 ff. RPG
; SR 700). Ein Ausschlussgrund nach
Art. 83 BGG
liegt nicht vor. Die Festsetzung des Richtplans erfolgt durch den Kantonsrat (§ 32 Abs. 1 des kantonalen Gesetzes vom 7. September 1975 über die Raumplanung und das öffentliche Baurecht [Planungs- und Baugesetz, PBG/ZH; LS 700.1]). Dabei kommen im Wesentlichen die Grundsätze des kantonalen Rechtssetzungsverfahrens zur Anwendung. Der Richtplan unterliegt deshalb der Beschwerde gegen einen kantonalen Erlass im Sinne von
Art. 82 lit. b BGG
(REGINA KIENER, Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, in: Neue Bundesrechtspflege, Berner Tage für die juristische Praxis 2006, S. 240; AEMISEGGER/SCHERRER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 39 zu
Art. 82 BGG
; HEINZ AEMISEGGER, in: Kommentar zum Bundesgesetz über die Raumplanung, 2010, N. 29 zu
Art. 34 RPG
). Nach
Art. 87 Abs. 1 BGG
ist die Beschwerde unmittelbar gegen den kantonalen Erlass zulässig, sofern kein anderes Rechtsmittel ergriffen werden kann. Das Zürcher Recht sieht kein Rechtsmittel gegen die Richtplanfestsetzung vor. Akte des Kantonsrats sind vom Rekurs an eine kantonale Rechtsmittelinstanz ausdrücklich ausgenommen (§ 19 Abs. 2 lit. b des kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 24. Mai 1959 [VRG; LS 175.2]). Ausserdem kommt dem Richtplan insgesamt vorwiegend politischer Charakter zu (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4327). Auch aus diesem Grund kann der Beschluss des Kantonsrats über die Richtplanfestsetzung beim Bundesgericht direkt angefochten werden (
Art. 86 Abs. 3 BGG
; Urteil des Bundesgerichts 1C_101/2007 vom 26. Februar 2008 E. 1.4). Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist somit grundsätzlich zulässig. Die eventualiter erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde kommt somit nicht zum Zug.
1.2
Richtpläne unterliegen der Genehmigung durch den Bundesrat (
Art. 11 RPG
). Für den Bund und die Nachbarkantone werden Richtpläne erst mit dieser Genehmigung verbindlich (
Art. 11 Abs. 2 RPG
). Daraus ergibt sich e contrario, dass die bundesrätliche Genehmigung im Bereich innerkantonaler Fragen deklaratorisch wirkt. Insofern unterscheiden sich die Rechtswirkungen der Genehmigung des Richtplans von jenen der Genehmigung eines Nutzungsplans (vgl.
Art. 26
BGE 136 I 265 S. 268
Abs. 3 RPG
;
BGE 135 II 22
E. 1.2.1 S. 24 mit Hinweisen). Die Kantone können den innerkantonalen Teil des Richtplans schon vor der Genehmigung in Kraft treten lassen (PIERRE TSCHANNEN, in: Kommentar zum Bundesgesetz über die Raumplanung, Aemisegger und andere [Hrsg.], 2009, N. 36 zu Art. 11 und N. 19 zu
Art. 10 RPG
). Der Festsetzungsbeschluss des Kantonsrats ist für die Gemeinde ungeachtet der Genehmigung des Richtplans durch den Bundesrat rechtlich verbindlich (
Art. 9 Abs. 1 RPG
und
§ 32 Abs. 1 PBG
/ZH). Es liegt insoweit ein anfechtbarer Endentscheid im Sinne von
Art. 90 BGG
vor (vgl. AEMISEGGER/SCHERRER, a.a.O., N. 38 zu
Art. 82 BGG
).
1.3
Richtpläne sind nach
Art. 9 Abs. 1 RPG
für Behörden verbindlich. Gemeinden, die sich durch einen kantonalen Richtplan in ihrer Autonomie verletzt fühlen, können ihn gestützt auf
Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG
vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung direkt und unter Umständen auch akzessorisch anfechten (
BGE 119 Ia 285
E. 3b S. 290 und E. 4a S. 293 f.;
BGE 111 Ia 129
E. 3c und d S. 130 f.; KIENER, a.a.O., S. 240; AEMISEGGER/SCHERRER, a.a.O., N. 38 zu
Art. 82 BGG
; AEMISEGGER, a.a.O., N. 28 zu
Art. 34 RPG
). Die Gemeinde wird durch die umstrittene Richtplanfestsetzung insbesondere als Trägerin der kommunalen Richt- und Nutzungsplanung (§§ 31 f. und 45 PBG/ZH) sowie als Baubewilligungsbehörde (
§ 318 PBG
/ZH) in ihren hoheitlichen Befugnissen betroffen. Damit ist sie nach
Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG
berechtigt, unter Berufung auf
Art. 50 Abs. 1 BV
und
Art. 85 KV/ZH
(SR 131.211) Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie zu erheben (
BGE 135 I 302
E. 1.1 S. 304 mit Hinweisen). Ob ihr die beanspruchte Autonomie tatsächlich zukommt, ist eine Frage der materiellen Beurteilung (
BGE 135 I 43
E. 1.2 S. 45 mit Hinweisen).
1.4
Zudem kann sich die Beschwerdeführerin auf die allgemeinen Legitimationsbestimmungen von
Art. 89 Abs. 1 lit. b und c BGG
berufen. Dieses allgemeine Beschwerderecht ist grundsätzlich auf Privatpersonen zugeschnitten. Gemeinwesen können es für sich in Anspruch nehmen, wenn sie durch die angefochtene Verfügung gleich oder ähnlich wie Private betroffen sind (
BGE 135 I 43
E. 1.3 S. 47;
BGE 135 II 156
E. 3.1 S. 157; je mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kann jedoch ein Gemeinwesen auch zur Beschwerde legitimiert sein, wenn es durch den angefochtenen Entscheid in seinen hoheitlichen Befugnissen und Aufgaben berührt wird. Die Gemeinden sind mithin zur Beschwerdeführung befugt, wenn sie als Gebietskorporationen öffentliche Anliegen wie den Schutz der Einwohner zu
BGE 136 I 265 S. 269
vertreten haben und insofern durch Einwirkungen, welche von Bauten und Anlagen ausgehen, in hoheitlichen Befugnissen betroffen werden (vgl.
BGE 131 II 753
E. 4.3.3 S. 759 f.;
BGE 124 II 293
E. 3b S. 304;
BGE 123 II 371
E. 2c S. 374 f.; mit zahlreichen Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall in Bezug auf die Gemeinde Lindau erfüllt. Sie wehrt sich mit ihrer Beschwerde als Trägerin der kommunalen Planungshoheit gegen die unerwünschten Auswirkungen, die sich ihrer Meinung nach aus der angefochtenen Richtplanrevision ergeben. Sie ist direkt durch den angefochtenen Beschluss berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung (siehe auch Urteil 1A.25/2007 i.S. Kanton Thurgau gegen BAZL vom 11. Mai 2007 E. 1.2, nicht publ. in:
BGE 133 II 120
).
1.5
Auf die im Übrigen form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde kann eingetreten werden.
2.
2.1
Nach der Rechtsprechung sind Gemeinden in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Der geschützte Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder Vollzug eigener kommunaler Vorschriften beziehen oder einen entsprechenden Spielraum bei der Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen. Der Schutz der Gemeindeautonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen Aufgabengebiet, sondern lediglich im streitigen Bereich voraus. Im Einzelnen ergibt sich der Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich anwendbaren kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht (
BGE 135 I 233
E. 2.2 S. 241 f.;
BGE 129 I 290
E. 2.1 S. 294; je mit Hinweisen).
2.2
Nach
Art. 85 KV/ZH
regeln die Gemeinden ihre Angelegenheiten selbstständig. Das kantonale Recht gewährt ihnen möglichst weiten Handlungsspielraum. Der Kanton berücksichtigt die möglichen Auswirkungen seines Handelns auf die Gemeinden, die Städte und auf die Agglomerationen (
Art. 85 Abs. 2 KV/ZH
). Er hört die Gemeinden rechtzeitig an (
Art. 85 Abs. 3 KV/ZH
). Verfassungsmässige Schranken bei der Umschreibung der Gemeindeautonomie durch die kantonale Gesetzgebung sind für den hier betroffenen Bereich nicht ersichtlich und auch nicht vorgebracht. Die Autonomie der
BGE 136 I 265 S. 270
Beschwerdeführerin reicht deshalb so weit, als dies die kantonale Gesetzgebung zum Planungs- und Baurecht zulässt. Wie das Bundesgericht mehrfach entschieden hat, steht den Zürcher Gemeinden aufgrund von
§
§ 2 lit. c und 45 ff. PBG
/ZH insbesondere beim Erlass der Ortsplanung ein weiter Gestaltungsspielraum zu; sie sind insoweit grundsätzlich autonom (
BGE 119 Ia 285
E. 4b S. 295 mit Hinweisen). Die Kantonsverfassung vom 27. Februar 2005 hat daran nichts geändert (TOBIAS JAAG, in: Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, 2007, N. 11 zu
Art. 85 KV/ZH
).
2.3
Eine in ihrer Autonomie betroffene Gemeinde kann unter anderem geltend machen, die kantonale Behörde habe die Tragweite von verfassungsmässigen Rechten missachtet. Sie kann sich auf das Willkürverbot und auf Verfahrensgrundrechte berufen, soweit diese Vorbringen mit der behaupteten Rüge der Autonomieverletzung in engem Zusammenhang stehen. Die Anwendung von eidgenössischem und kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, die Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots. Das Bundesgericht auferlegt sich Zurückhaltung, soweit die Beurteilung der Streitsache von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser überblicken (
BGE 135 I 302
E. 1.2 S. 305 mit Hinweisen).
2.4
Im vorliegenden Fall wird die Autonomie der Beschwerdeführerin nicht dadurch tangiert, dass ein kommunaler Erlass im Genehmigungsverfahren oder eine Verfügung der Gemeinde in Anwendung von kommunalem, kantonalem oder eidgenössischem Recht in einem Rechtsmittelverfahren aufgehoben worden wäre. Die Beschränkung beruht vielmehr auf einer im Verfahren der Richtplanung ergangenen Anordnung des Kantonsrats (vgl.
BGE 119 Ia 285
E. 4c S. 295 mit Hinweisen). Nach der bundesgerichtlichen Praxis kann der kantonale Gesetzgeber durch Gesetzesänderung die von ihm einmal gezogenen Schranken der Autonomie nachträglich enger ziehen, solange nicht irgendwelche unmittelbar durch die Verfassung gewährleisteten Befugnisse oder Anforderungen berührt werden. Gleiches gilt für Autonomiebeschränkungen, die sich durch Erlass oder Änderung der kantonalen Richtplanung ergeben (
BGE 119 Ia 285
E. 4c S. 295 mit Hinweisen). Wird eine Gemeinde in dieser Weise durch eine kantonale Anordnung in ihrer Autonomie eingeschränkt, so kann sie insbesondere verlangen, dass die kantonale Behörde in
BGE 136 I 265 S. 271
formeller Hinsicht ihre Befugnisse nicht überschreitet und korrekt vorgeht und dass sie in materieller Hinsicht die kantonal- und bundesrechtlichen Vorschriften im autonomen Bereich nicht verletzt. Sie kann insbesondere vorbringen, der Eingriff in ihre Autonomie sei materiell rechtswidrig, etwa weil die neue richtplanerische Anordnung den gesetzlichen Zweck des Planungsinstrumentes verfehle (
BGE 119 Ia 285
E. 4c S. 295 f. mit Hinweisen).
3.
In der vorliegenden Angelegenheit ist die Festlegung eines neuen Kiesabbaugebiets auf dem Gebiet der Gemeinde Lindau umstritten. Die Gemeinde wird durch diese Festsetzung in ihrer Planungsfreiheit eingeschränkt. Nach
§ 44a Abs. 1 PBG
/ZH werden für jene Flächen, die nach der Richtplanung für Materialgewinnung oder -ablagerung vorgesehen sind, kantonale oder regionale Gestaltungspläne festgesetzt. Die von der Richtplanfestsetzung betroffene Fläche wird somit der Planungshoheit der Gemeinde entzogen. Diese geht auf die kantonalen Behörden über, während den betroffenen Gemeinden ein Anhörungsrecht verbleibt (
§ 44a Abs. 4 PBG
/ZH). Diese Einschränkung planungsrechtlicher Entscheidungsbefugnisse stellt eine Beschränkung der Gemeindeautonomie, insbesondere der kommunalen Planungshoheit, dar.
3.1
Die Beschwerdeführerin kritisiert in formeller Hinsicht, dass kein genügendes Mitwirkungsverfahren stattgefunden habe. Sie macht geltend, der Kantonsrat gehe aufgrund mangelhafter Sachverhaltsabklärungen fälschlicherweise von einer Abbaudauer von 20 Jahren aus, während richtigerweise mit einer Abbaudauer von 50 Jahren gerechnet werden müsse, wobei darin der Zeitaufwand für die Endgestaltung nach erfolgtem Materialabbau nicht mitberücksichtigt sei. Die Gemeinde habe mehrfach versucht, diesen Sachverhalt darzulegen, sei mit diesem Anliegen vom Kantonsrat jedoch nicht angemessen zur Kenntnis genommen worden. Darin liege eine Verletzung ihres Mitwirkungsanspruchs sowie des Anspruchs auf rechtliches Gehör (
Art. 29 Abs. 2 BV
). Zudem habe der Kantonsrat nicht berücksichtigt, dass der in der umstrittenen Richtplanfestsetzung verlangte Gleisanschluss nur bis 2016 rechtlich verbindlich gesichert sei. Diesbezüglich fehle die erforderliche Abstimmung der umstrittenen Festlegung im Teilplan Ver- und Entsorgung mit dem Teilplan Verkehr. Aufgrund dieser Umstände sei bei Wegfall der Erschliessung der Kiesgrube mit der Bahn eine Zunahme des Lastwagenverkehrs im kommunalen Siedlungsgebiet zu befürchten.
BGE 136 I 265 S. 272
3.2
Die rechtzeitige Anhörung der Gemeinden in Bereichen, die zu einer Beschränkung der Gemeindeautonomie führen können, wird in
Art. 85 Abs. 3 KV/ZH
ausdrücklich vorgeschrieben. Der Mitwirkungsanspruch der Gemeinden im Richtplanverfahren ist auch in
Art. 10 Abs. 2 RPG
erwähnt. Dieser Anspruch geht weiter als die Mitwirkung der Bevölkerung nach
Art. 4 Abs. 2 RPG
(s. hierzu
BGE 135 II 286
E. 4 S. 290 ff. mit Hinweisen). Verlangt wird eine bevorzugte Beteiligung der betroffenen Gemeinden. Soweit Gemeinden wie im Kanton Zürich mit raumwirksamen Aufgaben betraut sind, muss der Kanton mindestens sicherstellen, dass sie ihre Interessen selber formulieren, in den Planungsprozess frühzeitig eingeben und vor den zuständigen kantonalen Behörden selber vertreten können (TSCHANNEN, a.a.O., N. 7 zu
Art. 10 RPG
; WALDMANN/HÄNNI, Raumplanungsgesetz, 2006, Rz. 5 zu
Art. 10 RPG
).
Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich zudem insbesondere das Recht der Betroffenen, sich vor Erlass eines Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (
BGE 135 II 286
E. 5.1 S. 293;
BGE 132 II 485
E. 3.2 S. 494;
BGE 127 I 54
E. 2b S. 56;
BGE 117 Ia 262
E. 4b S. 268; je mit Hinweisen).
Solche Mitwirkungsrechte sind den Gemeinden in Bezug auf Richtplanfestsetzungen, die auf eine Beschränkung ihrer Autonomie in der Raumplanung ausgerichtet sind, umfassend zu gewähren. Die Stellungnahmen sind in einem Zeitpunkt einzuholen, in welchem sie noch in die Entscheidungen einfliessen können. Zwar besteht kein Anspruch der Gemeinden, dass ihre Vorschläge tatsächlich berücksichtigt werden. Die kantonale Behörde hat sich jedoch mit den Vorschlägen der Gemeinden - wie der übrigen Vernehmlassungsteilnehmer - auseinanderzusetzen und zu begründen, weshalb sie nicht berücksichtigt werden (JAAG, a.a.O., N. 22 f. zu
Art. 85 KV/ZH
).
3.3
Die umstrittene Richtplanfestsetzung betrifft die Gemeinde konkret in ihrer planerischen Entscheidungsfreiheit und Entwicklungsmöglichkeit. Die Realisierung des Kiesabbaus setzt nach dem Wortlaut der umstrittenen Festsetzung einen Anschluss an die Bahngeleise voraus, welcher nach den Akten mittels Vereinbarung mit den SBB nur bis ins Jahr 2016 gesichert ist. Für den weiteren Kiesabbau, dessen Dauer im Richtplan nicht näher festgelegt wird, steht nicht fest, ob der Gleisanschluss weiterbenutzt werden kann. Insbesondere wurde der Teilplan Verkehr des Richtplans nicht an die hier umstrittene Änderung des Teilplans Ver- und Entsorgung angepasst. Die Gemeinde Lindau macht zu Recht geltend, sie sei zu einer entscheidenden Besprechung des Kantons mit den SBB und dem Kiesabbau-Unternehmen nicht beigezogen worden und sie sei mit ihrem Argument, der Abtransport mit der Bahn sei nach 2016 nicht gesichert, nicht gehört worden. Selbst wenn die Sachverhaltsdarstellung der kantonalen Behörden zutreffen sollte, nach welcher der Kiesabbau 20 und nicht 50 Jahre, d.h. lediglich von 2012 bis ca. 2032 dauern werde, so ergibt sich für die Jahre 2017 bis ca. 2032 in Bezug auf den Gleisanschluss für die Kiesgrube offensichtlich ein Koordinationsbedarf in Bezug auf die Weiterentwicklung der Bahninfrastruktur, welchem der Kantonsrat mit dem angefochtenen Beschluss keine Rechnung trägt. Er hat sich mit dem möglichen Fehlen des Bahnanschlusses während eines erheblichen Teils der Kiesabbaudauer nicht auseinandergesetzt und die diesbezüglichen Einwände der Gemeinde gegen die Festsetzung des Kiesabbaugebiets nicht entkräftet. Darin liegt eine Missachtung der Mitwirkungsrechte der Gemeinde im Richtplanungsverfahren. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und die Richtplanfestsetzung in Bezug auf die umstrittene Kiesgrube aufzuheben. | public_law | nan | de | 2,010 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
eb9b3d5e-81c7-464d-a2a0-25c572a03447 | Urteilskopf
135 V 65
9. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen K. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_915/2008 vom 13. Februar 2009 | Regeste
Art. 50 ATSG
;
Art. 52 AHVG
; Zulässigkeit eines Vergleichs in Beschwerdeverfahren um Schadenersatzforderungen; Anforderungen an die Begründung des Abschreibungsbeschlusses.
Auch unter der Herrschaft des ATSG ist für Schadenersatzforderungen nach
Art. 52 AHVG
im gerichtlichen Beschwerdeverfahren ein Vergleich zulässig (E. 1).
Der Beschluss, mit welchem ein Gericht das Verfahren infolge eines vor ihm geschlossenen Vergleichs abschreibt, muss zumindest eine summarische Begründung enthalten, welche darlegt, dass und inwiefern der Vergleich mit Sachverhalt und Gesetz übereinstimmt (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 2.1-2.6). | Sachverhalt
ab Seite 66
BGE 135 V 65 S. 66
A.
Die Ausgleichskasse des Kantons Solothurn verpflichtete mit Einspracheentscheid vom 7. Juni 2006 K., ehemals Präsident der Verwaltung der am 30. August 2004 in Konkurs gefallenen Genossenschaft S., zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 67'462.35.
K. erhob dagegen beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Beschwerde. Dieses hiess das Rechtsmittel mit Entscheid vom 24. September 2007 gut und hob den Einspracheentscheid auf, da K. im Einspracheverfahren gegen andere potenziell Mithaftende nicht beigeladen worden war. Auf Beschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) hin hob das Bundesgericht mit Urteil 9C_767/2007 vom 24. Juni 2008 (
BGE 134 V 306
) den Entscheid des Versicherungsgerichts auf und wies die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurück.
B.
Anlässlich einer vor dem kantonalen Versicherungsgericht durchgeführten Instruktionsverhandlung schlossen K. und die Ausgleichskasse in der Folge einen Vergleich; darin verpflichtete sich K., der Ausgleichskasse per Saldo aller Ansprüche Fr. 39'000.- Schadenersatz zu bezahlen. Mit Beschluss vom 29. September 2008 schrieb das Versicherungsgericht das Verfahren als gegenstandslos geworden ab.
BGE 135 V 65 S. 67
C.
Das BSV erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der Abschreibungsbeschluss aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese über die Schadenersatzpflicht von K. in einem begründeten Urteil entscheide.
Die Ausgleichskasse äussert sich, ohne einen Antrag zu stellen. K. schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Das BSV macht in erster Linie geltend, ein Vergleich sei in Beschwerdeverfahren um Schadenersatzforderungen nach
Art. 52 AHVG
nicht zulässig.
1.1
Nach der bis Ende 2002 geltenden Rechtslage war es gemäss Rechtsprechung zulässig, in Streitigkeiten um Schadenersatz nach
Art. 52 AHVG
einen gerichtlichen Vergleich abzuschliessen. Kam ein solcher Vergleich zustande, hatte das Gericht die Einigung der Parteien im Rahmen der jeweiligen Kognition auf ihre Übereinstimmung mit Tatbestand und Gesetz zu prüfen und im Falle der Genehmigung einen Abschreibungsbeschluss zu erlassen, der nicht begründet, jedoch mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen sein musste; er konnte von den Parteien, die an der Einigung beteiligt waren, nur wegen Verfahrens- oder Willensmängeln, von an der Einigung nicht beteiligten Dritten (z.B. den zur Beschwerde legitimierten Bundesbehörden) auch materiell angefochten werden (SVR 1996 AHV Nr. 74 S. 223, H 57/95 E. 2b und 3a; AJP 2003 S. 65, H 64/01 E. 3b; ULRICH MEYER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, BJM 1989 S. 1 ff., 28).
1.2
Nach Art. 50 des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1; gemäss
Art. 1 Abs. 1 AHVG
in der AHV anwendbar) können Streitigkeiten über sozialversicherungsrechtliche Leistungen durch Vergleich erledigt werden (Abs. 1). Laut Abs. 2 hat der Versicherungsträger den Vergleich in Form einer anfechtbaren Verfügung zu eröffnen. Die Absätze 1 und 2 gelten sinngemäss im Einsprache- und in den Beschwerdeverfahren (Abs. 3 der genannten Gesetzesnorm). Das BSV bringt vor, gemäss dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung seien nurmehr Streitigkeiten über Leistungen einem gerichtlichen Vergleich
BGE 135 V 65 S. 68
zugänglich, nicht aber Streitigkeiten über andere Forderungen, namentlich Schadenersatzansprüche nach
Art. 52 AHVG
.
1.3
Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich in
BGE 131 V 417
eingehend mit der Zulässigkeit von Vergleichen nach
Art. 50 ATSG
auseinandergesetzt. In diesem Fall waren vor dem kantonalen Gericht sowohl Leistungsansprüche eines Versicherten gegen die Krankenversicherung als auch Prämienforderungen der Krankenversicherung gegen den Versicherten streitig gewesen; die Parteien schlossen einen Vergleich, der alle offenen Punkte ausräumte. Auf Beschwerde des Bundesamtes für Gesundheit hin erwog das Eidg. Versicherungsgericht, der Wortlaut von
Art. 50 Abs. 1 ATSG
sei klar, soweit er die Vergleichszulässigkeit auf sozialversicherungsrechtliche Leistungen beschränke, worunter die Gesamtheit der Geld- und Sachleistungen (Art. 14 f. ATSG) zu verstehen sei (E. 4.1 S. 421). Die Bedeutung der Einschränkung in
Art. 50 Abs. 1 ATSG
auf Leistungen liege darin, die Durchführungsorgane, insbesondere die Ausgleichskassen, von Druckversuchen freizuhalten, welche sich im Beitragsbereich aus der Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit der angeschlossenen Arbeitgeber ergeben könnten; damit stehe nach
Art. 50 Abs. 1 ATSG
der Ausschluss von Vergleichen für Sozialversicherungsbeiträge fest (E. 4.2 S. 421 f.). Der Wortlaut des Abs. 3 von
Art. 50 ATSG
sei unklar, indem sich nicht eindeutig beantworten lasse, worauf sich die Wendung "gelten sinngemäss" beziehe. Die gesetzgeberische Regelungsabsicht, die Durchführungsstellen vor Druckversuchen zu schützen, stosse beim Beschwerdeverfahren ins Leere, weil die Gerichte keinen solchen Interventionsrisiken ausgesetzt seien; aufgrund einer historischen und teleologischen Auslegung sei daher der Anwendungsbereich des Vergleichs vor dem Sozialversicherungsgericht insofern über reine Leistungsstreitigkeiten hinaus zu erweitern, als vergleichsweise Einigungen zwischen Versicherern und Versicherten über gegenseitige Ansprüche im Beschwerdeverfahren als zulässig zu erachten seien. Ausgeschlossen sei eine vergleichsweise Einigung im kantonalen Beschwerdeverfahren, wenn sich der Streit ausschliesslich um Sozialversicherungsbeiträge handle (E. 4.3.2 S. 422 ff.). In der Folge erkannte das Bundesgericht in zwei Urteilen vom 31. Januar 2008 (H 141/06 und H 195/06), ein Vergleich über AHV-Beiträge vor dem kantonalen Gericht sei unzulässig.
1.4
Über die Zulässigkeit von Vergleichen über Schadenersatzforderungen gemäss
Art. 52 AHVG
hat sich das Bundesgericht unter
BGE 135 V 65 S. 69
der Herrschaft des ATSG bisher nicht geäussert. In
BGE 131 V 417
E. 4.2 S. 421 f. wurde die Frage ausdrücklich offengelassen. In der Lehre wird die Zulässigkeit mehrheitlich verneint, wobei dies allerdings meistens nicht ausdrücklich und klar auch auf das Beschwerdeverfahren bezogen wird (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 10 zu
Art. 50 ATSG
;
derselbe
, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 257 Fn. 142 und S. 1307 Rz. 321;
derselbe
, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, 2008, S. 140 Rz. 57 und S. 230 Fn. 104; KIESER/RIEMER-KAFKA, Tafeln zum schweizerischen Sozialversicherungsrecht, 4. Aufl. 2008, S. 127; MARCO REICHMUTH, Die Haftung des Arbeitgebers und seiner Organe nach
Art. 52 AHVG
, 2008, S. 227 Rz. 950; ausdrücklich auch für das Beschwerdeverfahren THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl. 2003, S. 485 Rz. 41). Teilweise erachtet die Lehre freilich Vergleiche über Schadenersatzforderungen gemäss
Art. 52 AHVG
nach wie vor generell (TURTÈ BAER, Die Streiterledigung durch Vergleich im Schadenersatzverfahren nach
Art. 52 AHVG
, SZS 2002 S. 430 ff., 449; wohl auch ANDREAS FREIVOGEL, Zu den Verfahrensbestimmungen des ATSG, in: Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 2003, S. 89 ff., 107 f.) oder zumindest im Beschwerdeverfahren für zulässig (PETER FORSTER, AHV-Beitragsrecht, 2007, S. 204; vgl. auch MAURER/SCARTAZZINI/HÜRZELER, Bundessozialversicherungsrecht, 3. Aufl. 2009, S. 581: auch für Beiträge im Beschwerdeverfahren).
1.5
Nach dem klaren Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 ATSG ist ein Vergleich über Schadenersatzansprüche im Verfügungsverfahren nicht zulässig. Ob dasselbe auch gilt für das Einsprache- und das hier interessierende Beschwerdeverfahren, ist damit aber nicht präjudiziert, da für diese gemäss Abs. 3 die Absätze 1 und 2 nur "sinngemäss" gelten, was Raum für sachlich begründete weitere Konkretisierungen des Vergleichsrechts lässt (vgl. Bericht "Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht" der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4523 ff., 4608 f. ad Art. 56
bis
E-ATSG; AUGUST MÄCHLER, Vertrag und Verwaltungsrechtspflege, 2005, S. 467).
1.6
Im ATSG-Entwurf der Nationalrats-Kommission war generell die Zulässigkeit von Vergleichen für sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten vorgesehen gewesen (BBl 1999 4608 f.). Die sinngemässe Geltung für das Beschwerdeverfahren bezog sich demnach
BGE 135 V 65 S. 70
ebenfalls auf sämtliche Streitigkeiten. Im Nationalrat wurde auf Antrag der Kommissionsminderheit Abs. 1 dahin geändert, dass der Vergleich nur noch für Leistungen möglich war (AB 1999 N 1244 ff.; AB 2000 S 182 f.). Über Abs. 3 wurde in der parlamentarischen Beratung nicht gesprochen. Es gibt somit keine ausdrückliche Stellungnahme des historischen Gesetzgebers zu der hier interessierenden Frage.
1.7
In den parlamentarischen Beratungen wurden Bedenken gegen eine Vergleichslösung hauptsächlich im Zusammenhang mit den Beiträgen geäussert (AB 1999 N 1244 ff.; AB 2000 S 182 f.), während im Bereich der Leistungen (mit Einschluss der Rückforderungen von Leistungen, vgl. AB 1999 N 1245, Votum Gross) ein Bedürfnis nach vergleichsweiser Regelung anerkannt wurde, namentlich weil hier Sachverhaltsungewissheiten und Ermessensbereiche bestehen, die einer vergleichsweisen Regelung zugänglich sind (BBl 1999 4609; AB 1999 N 1245, Berichterstatter Rechsteiner; vgl. auch
BGE 133 V 593
E. 4.3 S. 596). Über andere Streitigkeiten wurde kaum gesprochen. Nationalrat Suter wies immerhin darauf hin, dass nach der bisherigen Rechtsprechung Vergleiche in Schadenersatzverfahren nach
Art. 52 AHVG
zulässig seien, was sinnvoll sein könne (AB 2000 N 1246). Die Bedenken gegen eine Vergleichslösung im Beitragsbereich waren hauptsächlich damit begründet, die Ausgleichskassen sollten nicht einem Druck ausgesetzt werden, bei finanziellen Schwierigkeiten von Arbeitgebern auf die Erhebung der gesetzlichen Beiträge teilweise zu verzichten (AB 1999 N 1245, schriftliches Votum Bundesrat, Votum Gross; S. 1246, Votum Bundespräsidentin Dreifuss), was aber bei gerichtlichen Beschwerdeverfahren im Sinne von
Art. 50 Abs. 3 ATSG
kaum von Bedeutung ist (
BGE 131 V 417
E. 4.3.2 S. 423; vgl. auch
BGE 133 V 593
E. 4.3 S. 595 f. und E. 6 S. 596 f.). Des Weitern wurde in der Bundesversammlung mit dem Legalitätsprinzip und der Gleichbehandlung argumentiert, welche durch Vergleiche nicht verletzt werden dürfen (AB 1999 N 1245, Berichterstatter Rechsteiner). Dieses Argument ist im Beitragsrecht begründet, weil hier strikte gesetzliche Voraussetzungen gelten und kaum Ermessensspielräume bestehen (vgl. AB 1999 N 1246, Bundespräsidentin Dreifuss). Bei den Schadenersatzforderungen nach
Art. 52 AHVG
verhält es sich diesbezüglich anders: Zwar stehen auch bei ihnen am Ausgangspunkt Beitragsforderungen, doch müssen weitere Anspruchsvoraussetzungen gegeben sein (namentlich Rechtswidrigkeit und Verschulden
BGE 135 V 65 S. 71
der Arbeitgeber bzw. ihrer Organe), bezüglich welcher häufig ein Sachverhaltsermessen besteht, so dass eine vergleichsweise Regelung Sinn macht (BAER, a.a.O., S. 447 ff.; FREIVOGEL, a.a.O., S. 107 f.). Hinzu kommt, dass bei Schadenersatzverfahren nach
Art. 52 AHVG
das Gleichbehandlungsgebot ohnehin eingeschränkt gilt, indem mehrere haftpflichtige Organe solidarisch haften und die Ausgleichskasse sich darauf beschränken kann, gegen einen oder einige von mehreren potenziell Haftenden vorzugehen (
BGE 119 V 86
E. 5a S. 87). Insoweit besteht bei Schadenersatzverfahren - anders als in Beitragsstreitigkeiten - von vornherein ein Dispositionsbereich der Ausgleichskasse. Wenn es der Ausgleichskasse freisteht, gegen bestimmte Personen gar nicht vorzugehen, wäre es widersprüchlich, ihr zu verbieten, einen Vergleich einzugehen (BAER, a.a.O., S. 439).
1.8
Insgesamt ergibt sich aus diesen Gründen, dass für Schadenersatzforderungen nach
Art. 52 AHVG
im gerichtlichen Beschwerdeverfahren auch unter der Herrschaft des ATSG ein Vergleich zulässig ist.
2.
In zweiter Linie macht das BSV geltend, aus dem Beschluss der Vorinstanz sei nicht ersichtlich, weshalb das Gericht die Reduktion der Schadenersatzforderung um rund 42 % genehmigt habe.
2.1
Soweit ein Vergleich unter der Herrschaft von
Art. 50 ATSG
weiterhin zulässig ist, gelten dafür die Regeln gemäss der früheren Rechtsprechung (
BGE 133 V 593
E. 4.3 S. 596). Danach musste der infolge eines gerichtlichen Vergleichs ergehende Abschreibungsbeschluss zwar angeben, dass der Genehmigung nichts entgegensteht, aber nicht begründet werden (vorne E. 1.1; Urteil C 143/06 vom 3. Oktober 2007 E. 8.2, nicht publ. in:
BGE 133 V 593
, aber in: SVR 2008 AlV Nr. 15 S. 43).
2.2
Das BSV argumentiert demgegenüber, dass gemäss
Art. 50 Abs. 2 ATSG
der Vergleich in Form einer anfechtbaren Verfügung eröffnet werden müsse, was aufgrund von Abs. 3 auch für das Beschwerdeverfahren gelte. Verfügungen seien zu begründen (
Art. 49 Abs. 3 ATSG
). Als an den Vergleichsverhandlungen nicht beteiligtes Bundesamt könne es andernfalls sein gesetzlich verankertes Beschwerderecht (
Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG
i.V.m.
Art. 201 AHVV
[SR 831.101]) nicht vernünftig ausüben.
2.3
Dass die Genehmigung eines Vergleichs und der daraufhin ergehende Abschreibungsbeschluss nicht begründet werden müssen, geht auf eine alte Rechtsprechung zurück, für welche in
BGE 135 V 65 S. 72
BGE 104 V 162
E. 2 S. 165 f. angeführt wurde, dass die Beweggründe für einen Vergleich sich kaum in einer Verfügung wiedergeben liessen; der Hinweis auf den Vergleich genüge, da die Gründe, die zu seinem Abschluss geführt hätten, den Parteien bekannt seien; zudem schreibe
Art. 35 Abs. 1 VwVG
(SR 172.021; dessen Gehalt etwa
Art. 49 Abs. 3 ATSG
entspricht) nicht vor, was die Begründung zu enthalten habe, und sei eingehalten, wenn als Grundlage der Verfügung der abgeschlossene Vergleich angegeben werde. Im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 19/79 vom 10. März 1982 E. 3 wurde diese Rechtsprechung bestätigt und weiter ausgeführt, der Abschreibungsbeschluss müsse nicht begründet werden, da die den Vergleich schliessenden Parteien - unter Vorbehalt von Verfahrens- und Willensmängeln - den Abschreibungsbeschluss nicht anfechten könnten.
2.4
Diese Argumente, welche einen Verzicht auf eine Begründung des Abschreibungsbeschlusses rechtfertigen, treffen nun allerdings nicht zu im Verhältnis zu Dritten, die am Vergleich nicht beteiligt waren, namentlich die beschwerdelegitimierte Aufsichtsbehörde. Die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör fliessende Begründungspflicht bezweckt, wenigstens kurz die Gründe zu nennen, die dem Entscheid zugrunde liegen, damit Beschwerdelegitimierte diesen sachgerecht anfechten können (
BGE 134 I 83
E. 4.1 S. 88). Dies wird der am Vergleich nicht beteiligten Aufsichtsbehörde verunmöglicht, wenn sie nur einen unbegründeten Abschreibungsbeschluss erhält. Zwar können die sich vergleichenden Parteien verschiedenste Beweggründe haben, einen Vergleich einzugehen. Im Verhältnis zwischen Privaten ist es denn auch ohne weiteres zulässig, dass die Beweggründe für den Abschluss eines Vergleichs nicht offengelegt werden. Dies kann jedoch nicht in gleicher Weise gelten für die an verfassungsmässige Grundsätze (namentlich Gesetzmässigkeit und Gleichbehandlung) gebundene Verwaltung. Diese darf keine rechtswidrigen Vergleiche eingehen, was nur sinnvoll überprüft werden kann, wenn sie zumindest kurz angibt, weshalb sie dem Vergleich zustimmt (MÄCHLER, a.a.O., S. 451 f.). Sodann muss auch das Gericht, welches den Vergleich genehmigt, diesen auf seine Übereinstimmung mit Sachverhalt und Gesetz hin überprüfen (vorne E. 1.1). Korrelat der Überprüfungspflicht ist die Begründungspflicht; ob das Gericht seiner Prüfungspflicht nachgekommen ist, ergibt sich in erster Linie aus der Begründung des Entscheids und kann nicht sachgerecht überprüft werden, wenn überhaupt keine Begründung vorliegt (
BGE 117 Ib 481
E. 6b/bb S. 492).
BGE 135 V 65 S. 73
2.5
Bereits unter der vor dem Inkrafttreten des ATSG geltenden Rechtslage hat denn auch die neuere Rechtsprechung den Grundsatz, wonach der Abschreibungsbeschluss nicht begründet werden müsse, relativiert: Das Eidg. Versicherungsgericht hat ausgeführt, die Angabe, wonach der Genehmigung des Vertrags nichts entgegenstehe, habe mehr Gewicht, wenn das Ergebnis der Sachverhalts- und Gesetzmässigkeitskontrolle im Entscheid festgehalten sei (SVR 2000 AHV Nr. 23 S. 73, H 105/99 E. 2a; Urteil H 325/00 vom 11. Mai 2001 E. 3a; H 162/98 vom 16. Juni 1999 E. 3).
2.6
Aus den genannten Gründen (E. 2.4) sowie in Präzisierung und Weiterentwicklung der bisherigen Rechtsprechung (E. 2.5) ist festzuhalten, dass der Beschluss, mit welchem ein Gericht das Verfahren infolge eines vor ihm geschlossenen Vergleichs abschreibt, zumindest eine summarische Begründung enthalten muss, welche darlegt, dass und inwiefern der Vergleich mit Sachverhalt und Gesetz übereinstimmt.
2.7
Der Vollständigkeit halber sei weiter angemerkt, dass der Inhalt des Vergleichs wörtlich oder zumindest durch Verweis auf die Erwägungen in das Dispositiv des Abschreibungsbeschlusses aufgenommen werden müsste, damit dieser zu einem Vollstreckungstitel werden könnte (Urteil C 143/06 vom 3. Oktober 2007 E. 12, nicht publ. in:
BGE 133 V 593
, aber in: SVR 2008 AlV Nr. 15 S. 43). Nachdem hier aber die direkt involvierten Parteien gegen die Formulierung des Abschreibungsbeschlusses nicht Beschwerde erhoben haben und auch das BSV keinen entsprechenden Antrag stellt, erübrigen sich diesbezügliche Weiterungen (
Art. 107 Abs. 1 BGG
). | null | nan | de | 2,009 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eb9b5a80-c0b2-40fc-b499-7a07daf26b3b | Urteilskopf
102 II 329
47. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. April 1976 i.S. Müller und Mitbeteiligte gegen Müller | Regeste
Herabsetzungsklage, Lidlohn, ungerechtfertigte Bereicherung.
1. Die Herabsetzungsklage ist nicht identisch mit der Klage auf Rückleistung. Ein Verzug mit der Rückleistung ist erst vom Erlass des Herabsetzungsurteils an möglich (Erw. 2).
2. Der Lidlohnanspruch gemäss dem früheren
Art. 633 ZGB
kann erst bei der Teilung geltend gemacht werden. Er ist grundsätzlich nicht zu verzinsen (Erw. 3).
3. Die Bereicherungsklage ist gegenüber den andern Klagen subsidiär (Erw. 5). | Sachverhalt
ab Seite 330
BGE 102 II 329 S. 330
Aus dem Tatbestand:
A.-
Die Eheleute Hermann Alfred und Lina Müller-Bucher hatten sieben Kinder. Am 18. Januar 1956 verkaufte Vater Müller seinem Sohn Hermann Alfred Acker- und Wiesland zum Preise von Fr. 3'500.--. Am 27. August 1958 starb Mutter Müller unter Hinterlassung eines Testamentes, in dem sie Vermächtnisse ausrichtete und bestimmte, dass ihr Ehemann von ihrem Nachlass 3/16 zu Eigentum und den Rest zur Nutzniessung oder, falls er es vorziehe, 7/16 zu Eigentum erhalten solle. Am 11. Oktober 1958 verkaufte Vater Müller seinem Sohn Hermann Alfred alle noch in seinem Eigentum stehenden Grundstücke zum Preise von Fr. 35'000.-- und gleichzeitig schloss er mit ihm einen Verpfründungsvertrag ab. Am 13. April 1963 starb er. Er hinterliess eine öffentliche letztwillige Verfügung vom 17. Januar 1959, in der er seinem Sohn Hermann Alfred die verfügbare Quote zuwies und die übrigen gesetzlichen Erben auf den Pflichtteil setzte. Sein Vermögen zur Zeit des Todes bestand in einer Geldsumme von Fr. 4'850.--.
B.-
Am 22. Juni 1964 leiteten fünf Geschwister gegen Hermann Alfred Müller und eine Schwester eine Klage ein, mit der sie im wesentlichen verlangten, es seien die Nachlässe von Vater und Mutter Müller festzustellen und in bestimmter Weise unter die Erben zu verteilen, die Entäusserungen von Vater Müller vom 18. Januar 1956 und 11. Oktober 1958 im
BGE 102 II 329 S. 331
Sinne von
Art. 522 ff. ZGB
herabzusetzen und drei Erben zu Lasten beider Nachlässe Lidlöhne zuzusprechen.
Der Prozess wurde durch Urteil des Bundesgerichts vom 13. Juli 1972 beendet (vgl.
BGE 98 II 352
ff.). Der Vertrag vom 11. Oktober 1958 (nicht aber derjenige vom 18. Januar 1956) wurde im Sinne von
Art. 527 Ziff. 1 ZGB
als herabsetzbar erklärt, und Hermann Alfred Müller wurde verpflichtet, die darin enthaltene Zuwendung gemäss
Art. 475 ZGB
in den Nachlass des verstorbenen Vaters einzuwerfen. An Lidlöhnen wurden sodann zugesprochen: Rosa Altorfer-Müller Fr. 2'000.--, Alice Pfister-Müller Fr. 14'000.-- und Hermann Alfred Müller Fr. 20'000.-- abzüglich Fr. 16'000.-- Vorausanrechnung = Fr. 4'000.--. Für die Geschwister des Hermann Alfred Müller bzw. ihre Erben ergab sich aus dem bundesgerichtlichen Urteil ein Guthaben von insgesamt Fr. 94'421.80. Hermann Alfred Müller zahlte diesen Betrag den Miterben am 24. August 1972 aus.
C.-
Mit Klageschrift vom 28. August 1973 verlangten die Miterben des Hermann Alfred Müller von diesem gestützt auf
Art. 102 ff. OR
, eventuell gestützt auf
Art. 62 ff. OR
, 5% Verzugszinsen von Fr. 94'421.80 für die Dauer vom 22. Juni 1964 bis 24. August 1972 (d.h. vom Datum der Klageeinleitung im ersten Prozess bis zur Zahlung des genannten Betrages), total Fr. 38'581.45, zuzüglich 5% Verzugszins seit 30. September 1972. Hermann Alfred Müller beantragte die Abweisung der Klage. Das Bezirksgericht Bülach hiess die Klage am 24. Dezember 1974 gut, ausgenommen die Zinsforderung seit 30. September 1972.
Demgegenüber wies das Obergericht des Kantons Zürich in Gutheissung einer Berufung des Beklagten mit Urteil vom 21. Oktober 1975 die Klage ab.
D.-
Gegen diesen Entscheid erhoben die Kläger kantonalrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an das Bundesgericht. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich trat am 29. Januar 1976 auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht ein.
Mit der Berufung beantragen die Kläger die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils.
Der Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung und die Bestätigung des angefochtenen Urteils.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab.
BGE 102 II 329 S. 332
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
In erster Linie verlangen die Kläger Verzugszinsen vom Betrag, den der Beklagte ihnen auf Grund des Herabsetzungsurteils bezahlte, und zwar vom Zeitpunkt der Einleitung der Herabsetzungsklage an. Zu prüfen ist somit vorerst, ob sich der Beklagte mit dieser Zahlung in Verzug befand.
a) Die Herabsetzungsklage geht auf Feststellung, dass eine letztwillige Verfügung den Pflichtteil verletzt, sowie auf Herabsetzung der fraglichen Verfügung auf das erlaubte Mass. Sie ist eine Gestaltungsklage, und das Herabsetzungsurteil hat insofern konstitutive Wirkung, als es eine neue Rechtslage begründet. Die Herabsetzung tritt als Wirkung des sie aussprechenden Urteils ein. Bis zu diesem Zeitpunkt äussert die Zuwendung ihre volle Wirksamkeit, und zwar auch dem berechtigten Erben gegenüber (TUOR, N. 8 und 10, und ESCHER, N. 14 zu den Vorbemerkungen zu Art. 522 bis 533 ZGB).
Das Herabsetzungsurteil entfaltet seine Wirkungen also grundsätzlich erst mit dem Eintritt seiner Rechtskraft. Nach der heute herrschenden Lehrmeinung werden diese Wirkungen dann aber zurückbezogen auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Erbganges. Die Herabsetzung der Verfügungen von Todes wegen wirkt demnach ex tunc (TUOR, N. 10, und ESCHER, N. 14 zu den Vorbemerkungen zu Art. 522 bis 533 ZGB; PIOTET, Droit successoral, Traité de droit privé suisse, IV, S. 354, 441). Dies bedeutet indessen lediglich, dass die der Herabsetzung unterliegenden Vermögenskomplexe nach ihrem Wert zur Zeit des Todes des Erblassers zu schätzen sind. Wird die Erbschaft gemäss
Art. 560 ZGB
beim Tod des Erblassers erworben, so muss dieser Zeitpunkt auch massgebend sein für die Festlegung ihres zahlenmässigen Umfangs, d.h. für die Feststellung der beim Tod des Erblassers vorhandenen Erbmasse, die nicht zu verwechseln ist mit der im Zeitpunkt der Teilung vorhandenen und unter die Erben zu verteilenden Teilungsmasse.
Die rückwirkende Kraft des Herabsetzungsurteils ist dadurch begründet, dass das Recht zur Herabsetzung mit der Eröffnung des Erbganges entsteht. In diesem Zeitpunkt erwirbt der Erbe seinen Pflichtteil. Ist dieser verletzt und will der Erbe ihn wieder herstellen, so muss ein Zustand geschaffen werden, der dem entspricht, der zur Zeit der Eröffnung
BGE 102 II 329 S. 333
des Erbganges vorhanden war. Würde das Herabsetzungsurteil erst mit der Rechtskraft seine Wirkungen entfalten, so läge zwischen der Eröffnung des Erbganges und der Urteilsfällung ein Zeitraum, während dem der Erbe nicht zu seinem Recht gekommen wäre (STEINER, Das Erfordernis des richterlichen Urteils für die Ungültigerklärung oder Herabsetzung von Verfügungen von Todes wegen, Diss. Freiburg 1945, S. 114).
Erwirbt der Erbe das Recht zur Herabsetzung mit der Eröffnung des Erbgangs, so kann er von diesem Zeitpunkte an die Herabsetzung geltend machen. Das Recht zur Anhebung der Herabsetzungsklage ist indessen nicht identisch mit dem Rückleistungsanspruch. Nach den Materialien und der in der Literatur einhellig vertretenen Auffassung hat das Herabsetzungsurteil nur spezifische Gestaltungskraft. Wenn (wie im vorliegenden Fall) mit der Herabsetzungsklage nicht zugleich eine Leistungsklage verbunden wurde, ist das Herabsetzungsurteil ein reines Gestaltungsurteil, das den Beklagten nicht zu einer Leistung verpflichtet, sondern dem Kläger lediglich die Grundlage gibt, um mit einer zweiten Klage seinem Leistungsanspruch zum Durchbruch zu verhelfen (TUOR, N. 13 zu den Vorbemerkungen zu Art. 522 bis 533 ZGB; ESCHER, N. 1 zu
Art. 528 ZGB
; STEINER, a.a.O. S. 48). Der Leistungsanspruch entsteht somit erst mit der Rechtskraft des Herabsetzungsurteils (STEINER, a.a.O. S. 114, 122 und 127).
b) Im vorliegenden Fall erwarben demnach die Kläger das Recht zur Anhebung der Herabsetzungsklage mit dem Tod des Erblassers. Ihre Herabsetzungsklage wurde vom Bundesgericht am 13. Juli 1972 rechtskräftig entschieden. Damit erwuchs ihnen ein Leistungsanspruch, den sie von diesem Moment an geltend machen konnten, der mit andern Worten vom 13. Juli 1972 an fällig war. Am 24. August 1972 zahlte der Beklagte die vom Bundesgericht festgelegten Beträge aus. Die Kläger behaupten nicht, dass sie den Beklagten nach der Urteilsfällung und vor der Zahlung noch eigens gemahnt hätten. Der Beklagte befand sich somit nicht im Verzug und schuldete daher keine Verzugszinsen.
c) Was die Kläger dagegen vorbringen, dringt nicht durch. Ob den Urteilsdispositiven im ersten Prozess, welche die Höhe des väterlichen und mütterlichen Nachlasses feststellten, selbständige Bedeutung oder nur die Bedeutung von Hilfsgrössen für die Ermittlung der Ansprüche der einzelnen Erben zukomme,
BGE 102 II 329 S. 334
ist für den Entscheid im vorliegenden Verfahren unerheblich. Die Kläger mögen ihre frühere Klage rechtlich bezeichnen, wie sie wollen, fest steht jedenfalls auf Grund der im ersten Prozess ergangenen Urteile, dass sie damals keine Leistungsklage erheben wollten. Die in jenem Prozess ergangenen Urteile waren demnach keine Leistungsurteile, weil die Rechtskraft eines Urteils nicht weiter gehen kann als die Klage selbst (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl. S. 305 Anmerkung 30).
Den Klägern kann darin beigepflichtet werden, dass die Gestaltungsklage in Fällen der vorliegenden Art auf den Tod des Erblassers zurückwirkt. Das ist indessen nur für die Berechnung des Herabsetzungsanspruches von Bedeutung. Soweit sie vorbringen, sie hätten ihre heute zu beurteilenden Forderungen auch schon mit der Eröffnung des Erbganges geltend machen dürfen, übersehen sie den Unterschied zwischen dem Anspruch auf Herabsetzung von Verfügungen und dem daraus erwachsenden Rückleistungsanspruch. Während der erste von der Eröffnung des Erbganges an besteht, entsteht der zweite erst mit der Rechtskraft des Herabsetzungsurteils. Vor der Ausfällung eines rechtskräftigen Herabsetzungsurteiles kann demnach keine Verzugszinsforderung geltend gemacht werden.
Richtig ist auch, dass im ersten Prozess die Erbmasse, d.h. der Wert des Nachlasses beim Tod des Erblassers berechnet worden war. Ob dieser Wert sich dann bis zur Auszahlung, d.h. bis zur faktischen Teilung, verändert habe und ob demzufolge die Teilungsmasse grösser gewesen sei als die Erbmasse, steht im vorliegenden Fall jedoch nicht zur Diskussion. Die Kläger fordern weder Kapitalzinsen aus dem zur Erbmasse gehörenden Vermögen noch machen sie geltend, dass die Erbmasse bis zur Teilung sonstwie, z.B. konjunkturbedingt, angewachsen sei. Sie verlangen ausdrücklich und ausschliesslich Verzugszinsen, so dass lediglich geprüft werden muss, ob der Beklagte sich im Verzug befunden habe oder nicht. Das ist nach dem Gesagten nicht der Fall. Aus dem gleichen Grund ist unerheblich, ob die Kläger je den Willen hatten, dem Beklagten Zinsen zu erlassen bzw. auf solche zu verzichten.
d) Zu erwägen wäre allenfalls, ob der Beklagte den Klägern nach den Besitzesregeln (
Art. 938-940 ZGB
) anteilsmässigen Ersatz der Früchte schulde, die er in der Zeit vom Erbgang bis
BGE 102 II 329 S. 335
zur Teilung aus dem herabsetzungspflichtigen Vermögen bezogen hat. Eine Klage auf Erstattung von Früchten haben die Kläger indessen nicht erhoben. Ihr Begehren auf Zusprechung von Verzugszinsen kann mangels hinreichender Substantiierung nicht in eine derartige Klage umgedeutet werden. Abgesehen davon stünde einer solchen Klage die Einrede der Rechtskraft entgegen. Die Kläger haben nämlich schon im ersten Berufungsverfahren ausdrücklich beantragt, der Beklagte sei zu verpflichten, zusätzlich zum Verkehrswert der Grundstücke am 13. April 1963 denjenigen Nutzen, inkl. Wertvermehrung, abzüglich allfällige Wertverminderung, sich anrechnen zu lassen, den er seit dem Todestag aus den fraglichen Grundstücken gezogen habe, resp. der den fraglichen Grundstücken zugekommen sei. Das Bundesgericht trat jedoch in seinem Urteil vom 13. Juli 1972 nicht auf diesen Antrag ein, da er nicht begründet war. Damit war die Frage der Erstattung der Vorteile, die der Beklagte aus den Grundstücken gezogen hat, endgültig entschieden.
3.
Die Kläger beanspruchen sodann Verzugszinsen auf den ihnen zugesprochenen Lidlöhnen. Dabei ist vorab zu bemerken, dass die Lidlöhne nicht vom Beklagten geschuldet sind, sondern den Nachlass als Ganzes belasten. Von einem Verzug des Beklagten mit der Bezahlung der Lidlöhne kann daher zum vornherein nicht gesprochen werden. Der Beklagte ist nur verpflichtet, den der Herabsetzung unterliegenden Betrag von Fr. 129'887.-- sowie das von ihm verwaltete Bargeld in den Nachlass einzuwerfen. Dieser Betrag ist unabhängig von der Höhe der Lidlöhne. Wären die Lidlöhne ab Todestag zu verzinsen, so würde sich einzig der an die Erben zu verteilende Nettonachlass entsprechend vermindern. Dies hätte zur Folge, dass nicht nur der Erbanteil des Beklagten, sondern auch die Anteile der Kläger reduziert werden müssten, was offensichtlich nicht der Sinn ihrer Klage ist.
Aber auch wenn die Klage so zu verstehen wäre, könnte sie nicht gutgeheissen werden. Es ist unbestritten, dass die Lidlohnansprüche der Kläger im vorliegenden Fall nach altem Recht (dem inzwischen aufgehobenen
Art. 633 ZGB
) zu beurteilen sind (vgl. dazu auch
BGE 100 II 433
). Die Lidlohnforderung im Sinne von
Art. 633 ZGB
entsteht grundsätzlich mit dem Tod des Erblassers (
BGE 79 II 372
f.; ESCHER, N. 25 zu
Art. 633 ZGB
). Mit diesem Zeitpunkt wird sie perfekt, aber
BGE 102 II 329 S. 336
noch nicht fällig. TUOR/PICENONI vertreten die Meinung, die Lidlohnforderung werde mit dem Tod des Erblassers auch schon klagbar (N. 11b und 27 zu
Art. 633 ZGB
). Dem kann insoweit beigepflichtet werden, als die Erben die Erbschaft mit dem Tod des Erblassers erwerben (
Art. 560 Abs. 1 ZGB
) und von diesem Zeitpunkt an die Teilung verlangen (
Art. 604 Abs. 1 ZGB
) und demzufolge mit einer Teilungsklage auch Lidlohnforderungen geltend machen können. Die Lidlohnforderung kann (wie im vorliegenden Fall) auch zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden (ESCHER, N. 25 und TUOR/PICENONI, N. 11b zu
Art. 633 ZGB
; dazu auch
BGE 57 II 148
Erw. 2). Eine in diesem Sinne verstandene Geltendmachung der Lidlohnforderung ist indessen nicht gleichbedeutend mit der Geltendmachung des Ausgleichungsanspruchs.
Nach dem Wortlaut des
Art. 633 ZGB
können Kinder, die ihren Eltern im gemeinsamen Haushalt ihre Arbeit oder Einkünfte zugewendet haben, hiefür erst "bei der Teilung der Erbschaft" eine billige Ausgleichung beanspruchen. In Lehre und Rechtsprechung wird denn auch einhellig (wenn auch mit unterschiedlichen rechtlichen Begründungen) die Meinung vertreten, dass der eigentliche Ausgleichungsanspruch erst bei der Teilung geltend gemacht werden könne (
BGE 79 II 372
/73,
BGE 48 II 317
; ESCHER, N. 25, und TUOR/PICENONI, N. 11b und 28 zu
Art. 633 ZGB
; ZOLLER, Lidlohnansprüche, Diss. Zürich 1969 S. 66, 142).
Der Lidlohn im Sinne von
Art. 633 ZGB
kann als Ersparnis des mündigen Kindes betrachtet werden. Da die Auszahlung erst bei der Teilung, d.h. in der Regel längere Zeit nach der Arbeitsleistung erfolgt, könnte vermutet werden, dass solche Ersparnisse verzinst werden müssten. Dass der Anspruchsberechtigte zwischen seiner Arbeitsleistung und der Auszahlung des Lidlohnes einen Zinsausfall hatte, kann indessen bereits bei der Bemessung des "billigen Ausgleichs" im Sinne von
Art. 633 ZGB
neben andern Umständen mitberücksichtigt werden (dazu
BGE 58 II 113
). Nach der in der Literatur vertretenen Meinung sind eigentliche Zinsen zum fiktiv errechneten Lidlohn aber grundsätzlich nicht hinzuzurechnen, obschon der Berechtigte vielleicht die Möglichkeit gehabt hätte, einen Teil seines Arbeitslohnes in der Zwischenzeit zinstragend anzulegen (ESCHER, N. 30 und TUOR/PICENONI, N. 35 zu
Art. 633 ZGB
; ZOLLER, a.a.O. S. 36).
BGE 102 II 329 S. 337
Kann die Ausgleichung der Lidlohnforderung erst bei der Teilung geltend gemacht werden und sind für die Zeit vor der Teilung für die fragliche Forderung keine Zinsen geschuldet, so können für diese Zeit auch keine Verzugszinsen gefordert werden.
Die Kläger machen allerdings geltend, das den Lidlohn festsetzende Urteil des Bundesgerichts vom 13. Juli 1972 wirke ex tunc, d.h. auf den Zeitpunkt des Erbganges zurück, so dass der Beklagte von der Geltendmachung der Lidlohnforderung an sich in Verzug befinde. Sie verkennen damit die gemachte Unterscheidung zwischen dem Entstehen der Lidlohnforderung und der Geltendmachung des Ausgleichungsanspruchs.
4.
In der Klageschrift hatten die Kläger auch Verzugszinsen auf ihren Erbanteilen an dem beim Tod des Erblassers vorhandenen Barvermögen von Fr. 4'850.-- gefordert, das offenbar vom Beklagten verwaltet wurde. Mit der Abweisung der Klage hat das Obergericht auch dieses Begehren abgelehnt. In der Berufungsschrift wird nicht dargelegt, inwiefern es dadurch Bundesrecht verletzt habe (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
). Auf diese Frage ist daher nicht näher einzugehen.
Immerhin sei beigefügt, dass auch diesbezüglich von einem Verzug des Beklagten nicht gesprochen werden kann. Der Beklagte besass dieses Bargeld für die Erbengemeinschaft. Er war einzig verpflichtet, es bei der Erbteilung samt den seit dem Tod des Erblassers dazugekommenen Erträgnissen in den Nachlass einzuwerfen (vgl.
BGE 69 II 370
Erw. 8). Die Kläger sagen indessen nicht, wie das Geld angelegt war und welchen Nutzen der Beklagte seit dem Todestag daraus gezogen hat. Die Erträgnisse des Barvermögens können nicht einfach dem geforderten Verzugszins gleichgesetzt werden.
5.
a) Im Eventualstandpunkt berufen sich die Kläger auf ungerechtfertigte Bereicherung. Sie machen geltend, der Beklagte habe die Verbindlichkeiten statt am Todestag des Erblassers (13. April 1963) bzw. spätestens am 22. Juni 1964 (Klageeinleitung im ersten Prozess), erst am 24. August 1972 ausbezahlt; in der Zwischenzeit habe er alle Einkünfte und Wertvermehrungen an sich genommen und sich dadurch um mindestens Fr. 38'581.45 ungerechtfertigt bereichert.
b) Nach der angeführten Rechtsprechung (Erw. 2a) äussert eine Zuwendung des Erblassers bis zum Zeitpunkt ihrer Herabsetzung ihre volle Wirksamkeit, und zwar auch dem
BGE 102 II 329 S. 338
berechtigten Erben gegenüber. Der Vertrag vom 11. Oktober 1958 wurde erst durch das Urteil des Bundesgerichts vom 13. Juli 1972 rechtskräftig als herabsetzbar erklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt äusserte die Zuwendung ihre volle Rechtswirksamkeit, so dass der Beklagte daraus bis zu diesem Zeitpunkt nicht ungerechtfertigt bereichert sein konnte.
Für die Lidlohnforderung schuldete der Beklagte nach der angeführten Lehre (Erw. 3) keine eigentlichen Zinsen. Wenn er keine solchen auszahlte, konnte er dadurch ebenfalls nicht ungerechtfertigt bereichert sein.
c) Im übrigen hat die Klage aus ungerechtfertigter Bereicherung gegenüber den andern Klagen subsidiären Charakter. Wo eine andere Klage möglich ist, liegt nicht noch ein Bereicherungsanspruch vor (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 2, und BECKER, N. 5/6 zu den Vorbemerkungen zu Art. 62 bis 67 OR; GUHL/MERZ/KUMMER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 6. Aufl. S. 203).
Im vorliegenden Fall erwarben die Erben die Erbschaft als Ganzes mit dem Tod des Erblassers (
Art. 560 Abs. 1 ZGB
). Sie wurden damit an allen Nachlasswerten Eigentümer zur gesamten Hand und sie blieben dies bis zum Zeitpunkt der Teilung. Der Beklagte mochte tatsächlichen Gewahrsam an einzelnen Erbschaftswerten gehabt haben, aber er besass diese nicht für sich allein, sondern für alle Erben zusammen. Wenn die Kläger ihre Ansprüche gegenüber dem Beklagten geltend machen wollten, stand ihnen die Teilungsklage zur Verfügung. Diese bezieht sich nicht nur auf die Erbmasse, sondern auf die Teilungsmasse, d.h. auf das Erbschaftsvermögen zur Zeit der Teilung, samt dem seit dem Tod des Erblassers eingetretenen Zuwachs, so wie der Beklagte im vorliegenden Fall das Vermögen für sich und die Kläger besessen hat (dazu
BGE 69 II 366
Erw. 4 und 370 Erw. 8). Die Kläger hätten also die behaupteten Wertvermehrungen im Rahmen einer Teilungsklage geltend machen können. Wollte man annehmen, durch die Zahlung des Beklagten vom 24. August 1972 sei die Teilung erfolgt und die Erbengemeinschaft aufgelöst worden, wobei der Beklagte jedoch bestimmte Vermögenswerte zurückbehalten habe, die er noch herausgeben müsse, dann wäre den Klägern diesbezüglich die Erbschaftsklage im Sinne von
Art. 598 ff. ZGB
zur Verfügung gestanden (
BGE 69 II 367
oben, dazu ESCHER, N. 13 der Vorbemerkungen zu den
BGE 102 II 329 S. 339
Art. 598-600 ZGB
; TUOR/PICENONI, N. 12 zu
Art. 598 ZGB
). Konnten sie aber gestützt auf ihre Erbenstellung mit der Teilungs- oder der Erbschaftsklage gegen den Beklagten vorgehen, dann bleibt ihnen die subsidiäre Klage aus ungerechtfertigter Bereicherung versagt (vgl. analog
BGE 84 II 377
f., wonach die Rückerstattungspflicht eines unrechtmässigen Besitzers sich nach Art. 938/940 ZGB und nicht nach
Art. 62 ff. OR
richtet). Die Berufung erweist sich somit auch in diesem Punkt als unbegründet. | public_law | nan | de | 1,976 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
eb9f9086-e1a8-482f-be6e-7a2959639124 | Urteilskopf
99 Ib 185
21. Urteil vom 13. Juli 1973 i.S. Neue Warenhaus AG gegen Eidg. Volkswirtschaftsdepartement. | Regeste
Schlachtviehordnung (SVO): Einfuhrberechtigung für Rindsnierstücke.
- Begriff des Grossisten und des Lieferers in Grossverteilermengen nach Art. 12 lit. c SVO (Erw. 1).
- Verfassungs- und Gesetzmässigkeit der durch Art. 12 SVO getroffenen Ordnung (Erw. 2). | Sachverhalt
ab Seite 185
BGE 99 Ib 185 S. 185
A.-
Nach Art. 23 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Förderung der Landwirtschaft und die Erhaltung des Bauernstandes (Landwirtschaftsgesetz) vom 8. Oktober 1951 kann der Bundesrat u.a. die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse unter Rücksichtnahme auf die andern Wirtschaftszweige beschränken, wenn der Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu Preisen, die nach den Grundsätzen des Gesetzes angemessen sind, durch die Einfuhr gleichartiger Erzeugnisse gefährdet ist. Der Bundesrat hat in der Verordnung über den Schlachtviehmarkt und die Fleischversorgung (Schlachtviehordnung) vom 27. September 1971, die eine frühere Verordnung vom 30. Dezember 1953 ersetzte, die Einfuhr von Schlachttieren und Erzeugnissen aus solchen mengenmässig beschränkt und ihre Einfuhr von der Erteilung einer Einfuhrbewilligung abhängig gemacht. Art. 12 umschreibt den Kreis der Einfuhrberechtigten. Hinsichtlich der Einfuhr von Rindsnierstücken (Nierstücke von grossem Schlachtvieh, ganz oder zerlegt in Filet, Huft und Roastbeef, Tarifnummern ex 0201.20/22) erklärt die Schlachtviehverordnung (SVO) in lit. c als einfuhrberechtigt, Personen und Firmen des Lebensmittelhandels, die gewerbsmässig als
BGE 99 Ib 185 S. 186
Grossisten oder "in Grossverteilermengen" (französisch: "grandes maisons de distribution"; italienisch: "in quantitativi da grossisti") die vorgenannten Waren vertreiben sowie die gemäss Buchstabe a für Schlachtvieh und Fleisch Einfuhrberechtigten. Den Personen und Firmen des Lebensmittelhandels ist gesamthaft ein Anteil von 12% am Gesamtkontingent für Rindsnierstücke zugeteilt (Art. 14 Abs. 3 SVO). Weitere Gruppenkontingente stehen den Metzgereibetrieben und den Schlachtviehhandelsfirmen zu.
B.-
Die Neue Warenhaus AG in Zürich (nachfolgend NEWAG genannt) treibt u.a. Handel mit Lebensmitteln. Sie ist ein Filialunternehmen, das Waren einzig zur Verteilung an ihre Detailverkaufsstellen, zurzeit insgesamt deren 28, bezieht, die die Ware an die Konsumenten verkaufen.
Die NEWAG bewarb sich seit längerer Zeit um ein Einfuhrkontingent für Nierstücke im Rahmen des dem Lebensmittelhandel zustehenden Gruppenkontingentes. Die Abteilung für Landwirtschaft (ALw) des Eidg. Volkswirtschaftsdepartementes (EVD), die erstinstanzlich über die Einräumung von Kontingenten zu befinden hat, lehnte das Gesuch mit der Begründung ab, die NEWAG liefere über ihre Filialen direkt an die Konsumenten. Einfuhrberechtigt seien aber nur Grossisten oder in Grossverteilermengen liefernde Lebensmittelhändler.
Das EVD wies eine gegen diese Verfügung gerichtete Beschwerde ab. Es anerkannte zwar, dass die Beschwerdeführerin als Lebensmittelhändler im Sinne der SVO anerkannt werden könne. Obwohl der Einkauf der Waren zentral erfolge, handle sie aber doch nur auf der Detailstufe. Sie beziehe die Nierstücke ihrerseits von Grossisten. Sie sei daher nicht einfuhrberechtigt. Zwar verfügten auch die Migros und der Konsumverein über Einfuhrkontingente, aber nur weil sie auch Metzgerunternehmen seien. Einer blossen Verteilerorganisation wie der NEWAG seien dagegen noch nie Kontingente zugestanden worden. Der Beschwerdeführerin sei zwar unter der Herrschaft der alten SVO ein Kontingent für die Einfuhr von Corned Beef eingeräumt worden. Die Zuteilung eines solchen Kontingentes sei mit der geltenden SVO nicht mehr vereinbar.
C.-
Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die NEWAG, es sei der Entscheid des EVD aufzuheben und festzustellen, dass die NEWAG zur Einfuhr von Rindsnierstücken berechtigt sei; die ALw sei anzuweisen, der
BGE 99 Ib 185 S. 187
NEWAG das gesetzmässig zukommende Einfuhrkontingent zu erteilen.
Das EVD beantragt die Abweisung der Beschwerde.
D.-
In einer nachträglichen Eingabe führt die NEWAG aus, jeder ihrer Filialen sei ein Restaurant angeschlossen. Diese Restaurants wiesen den grössten Teil des Umsatzes an Rindsnierstücken auf. Damit sei der Vertrieb von Rindsnierstücken in Grossverteilermengen erwiesen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die SVO vom 30. Dezember 1953 anerkannte als einfuhrberechtigt für Rindsnierstücke neben den Metzgereibetrieben und ihren Organisationen, dem Schlachtviehhandel und seinen Organisationen die Personen und Firmen des Lebensmittelhandels, die gewerbsmässig und dauernd Fleischwaren vertreiben und Organisationen solcher Personen und Firmen (Art. 9 Abs. 1 lit. c). Gegenüber dieser Regelung enthält die revidierte SVO eine Einschränkung des Kreises der Importberechtigten. Die gewerbsmässige und dauernde Tätigkeit im Fleischhandel genügt zur Einfuhrberechtigung nicht mehr, vielmehr ist die Tätigkeit als Grossist oder Händler in Grossverteilermengen nötig. Die Beschwerdeführerin ficht diese Neuordnung als solche nicht unmittelbar an, sondern bekundet im Gegenteil Verständnis für die Neuordnung, soweit sie Kleinimporteure ausschliesst. Doch glaubt sie, durch die Verengung des Kreises der Kontingentsberechtigten nicht betroffen zu werden, weil sie selber Grossist sei oder mindestens mit Grossverteilermengen handle.
a) Grossist ist nach allgemeinem Sprachgebrauch ein Händler, der nicht an den Endverbraucher verkauft, sondern entweder an Detaillisten, die die Ware dann an den Konsumenten absetzen, oder an andere Händler, die ihrerseits Detaillisten beliefern. Die Beschwerdeführerin anerkennt, dass sie nicht Grossist in diesem Sinne ist. Sie hält aber dafür, für die Auslegung von Art. 12 SVO sei die Begriffsbestimmung massgebend, die der WUStB trifft. Nichts deutet indessen daraufhin, dass die SVO den Grossistenbegriff des Warenumsatzsteuerrechtes hätte übernehmen wollen. Die beiden Ordnungen verfolgen verschiedene Zwecke. Es ist klar, dass der Grossist nach SVO Grossist im Fleischhandel sein muss. Nach Warenumsatzsteuerrecht ist Grossist schon, wer jährlich im Inlande für mehr
BGE 99 Ib 185 S. 188
als Fr. 35 000.-- Waren liefert oder im Eigengebrauch verwendet, wobei, wenn ein Händler mit Waren verschiedener Art handelt, der Grundsatz der Einheit des Unternehmens gilt (WELLAUER, Warenumsatzsteuer, N. 101). Ein Grossist in diesem steuerrechtlichen Sinn ist daher auch, wer nur kleine Fleischmengen vertreibt, sofern er im übrigen den nötigen Umsatz aufweist. Damit der Grossist als Grossist betrachtet werden kann, muss sodann vom Umsatz mehr als die Hälfte auf Engroslieferungen entfallen. Da die Beschwerdeführerin keine Engroslieferungen im Sinne von
Art. 15 Abs. 3 WUStB
ausführt, wäre sie auch warenumsatzsteuerrechtlich nicht als Grossist zu betrachten. Dass eine freiwillige Unterstellung unter die Steuerpflicht nach
Art. 9 Abs. 1 lit. c WUStB
die Grossisteneigenschaft im Sinne der SVO nicht verschaffen kann, versteht sich von selbst, könnte doch sonst jedermann, der ein Interesse daran hätte, durch freiwillige Unterstellung unter die Warenumsatzsteuerpflicht Anspruch auf ein Kontingent erheben. Wie im allgemeinen der Detaillist nicht warenumsatzsteuerpflichtig werden soll (WELLAUER, a.a.O., N. 68), so will auch Art. 12 SVO den blossen Detaillisten von der Importberechtigung ausschliessen.
b) Die Beschwerdeführerin handelt auch nicht in Grossverteilermengen. Es ergibt sich gerade aus der geänderten Umschreibung der Einfuhrberechtigung, dass mit der neuen SVO der Detaillist, der nach der alten SVO einfuhrberechtigt war, für die Zukunft vom Import ausgeschlossen werden sollte. Man hätte auf die Umsatzgrösse abstellen müssen, wenn man eine Beschränkung auf Grosshändler hätte herbeiführen wollen. Zwar wird in der französischen Fassung des Art. 12 lit. c SVO der Begriff der Lieferer in Grossverteilermengen mit "grandes maisons de distribution" umschrieben, was für sich allein betrachtet auf einen grösseren Kreis von Importberechtigten schliessen liesse. Da aber die SVO auf die Umsatzgrösse gerade nicht abstellt, rechtfertigt sich die Annahme, es handle sich bei der französischen Fassung der Bestimmung um eine ungenaue Übersetzung des deutschen Originaltextes; mit letzterem stimmt überdies der italienische Text überein.
Wenn neben den Grossisten in der SVO noch Firmen, die in Grossverteilermengen liefern, ausdrücklich erwähnt werden, so deshalb, weil man auch die Lieferanten an Hotels, Spitäler, Heime usw. zum Import zulassen wollte. Diese liefern an derartige
BGE 99 Ib 185 S. 189
Abnehmer in der Regel in Mengen, die der Grossist an seinen Abnehmer liefert. Es ist deshalb ein Gebot der Rechtsgleichheit, dass auch diese Firmen zum Import zugelassen werden. Weil sie jedoch im strengen Sinne nicht Grossisten sind, mussten sie eigens als importberechtigt angeführt werden.
Die Beschwerdeführerin hat unbestrittenermassen einen grossen Fleischumsatz; sie verkauft ihr Fleisch jedoch nur im Einzelhandel. Damit, dass sie Fleisch auch den ihren Filialen angeschlossenen Restaurants liefert, erfüllt sie die Funktion des Vertriebs in Grossverteilermengen nicht. Der dabei erzielte Umsatz erfolgt nämlich im eigenen Betrieb, nicht durch Lieferungen an Dritte.
Die Vorinstanz hat Art. 12 SVO deshalb der Beschwerdeführerin gegenüber nicht unrichtig ausgelegt und angewandt. Auch aus Art. 18 Abs. 4 SVO lässt sich nichts zugunsten der Auffassung der NEWAG ableiten.
2.
Die Beschwerdeführerin begründet ihre Auslegung weiterhin mit dem Hinweis darauf, dass die Ordnung, die den Kreis der einfuhrberechtigten Personen auf Grossisten oder Lieferanten in Grossverteilermengen beschränke, nur dann zulässig sei, wenn für sie ein vernünftiger Grund bestehe. Dieser Grund liege darin, Kleinverteiler von der Importberechtigung auszuschliessen, da ihnen nur symbolische Kontingente zugeteilt werden könnten, weil ihre Berücksichtigung zu einer Aufblähung des bürokratischen Apparates führen müsste und weil diese Firmen auch keine Gewähr für die zuverlässige Mitwirkung bei der Überschussverwertung bieten würden. Diese Ausschlussgründe träfen auf sie nicht zu. Damit macht die Beschwerdeführerin indirekt geltend, die in Art. 12 SVO getroffene Ordnung sei in der Weise, wie sie von der Vorinstanz verstanden wird, verfassungswidrig, weil sie gegen die Rechtsgleichheit verstosse. Diesen Einwand kann das Bundesgericht, auch wenn er nicht klar zum Ausdruck gebracht wird, prüfen, da es bei der Beschwerdebeurteilung nicht an die Beschwerdebegründung gebunden ist. Überdies sind Verordnungsbestimmungen wie Gesetzesvorschriften dann, wenn ihr mehrere Auslegungen gegeben werden können, verfassungskonform auszulegen (
BGE 96 I 187
mit Hinweisen). Die Ausführungen der Beschwerdeführerin können in dem Sinne verstanden werden, dass die verfassungskonforme Auslegung ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
BGE 99 Ib 185 S. 190
a)
Art. 23 Abs. 1 Ziff. 1 LwG
ermächtigt den Bundesrat, die Einfuhr mengenmässig zu beschränken, wenn die im Gesetz dafür genannten Voraussetzungen gegeben sind. Eine mengenmässige Beschränkung der Einfuhr lässt sich praktisch nur durch eine Kontingentierung bewirken. Das Gesetz ermächtigt den Bundesrat somit, eine solche Kontingentierung einzuführen, was er mit der SVO bezüglich der Einfuhr u.a. von Rindsnierstücken getan hat. Hinsichtlich der Grundsätze, die er bei der Verteilung der Kontingente zu beachten hat, spricht sich das Gesetz nicht aus. Es schreibt einzig vor, dass die Einfuhrberechtigungen periodisch neu zu ordnen sind und eine angemessene Kontingentsreserve zu schaffen ist. Der Gesetzgeber hat damit offensichtlich dem Bundesrat hinsichtlich der Kontingentsbemessung ein weites Ermessen einräumen wollen. Das Bundesgericht kann gegenüber der Regelung, wie der Bundesrat sie für die Fleischeinfuhr in der SVO getroffen hat, nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen und hat sich deshalb auf die Prüfung zu beschränken, ob die Verordnungsvorschriften, wie er sie geschaffen hat, offensichtlich aus dem Rahmen der ihm delegierten Kompetenz herausfallen (
BGE 88 I 280
Erw. 3) oder ob sie aus andern Gründen gesetz- oder verfassungswidrig sind (
BGE 97 I 583
Erw. 3 und 446;
BGE 97 II 272
). Insbesondere kann es nicht Sache des Bundesgerichtes sein, zu prüfen, ob die vorgesehene Ordnung wirtschaftlich zweckmässig ist. Es ist deshalb nicht entscheidend, ob die Beschwerdeführerin ihre Kunden billiger beliefern und damit einen Beitrag zur Teuerungsbekämpfung leisten könnte, wenn sie, statt die Nierstücke von Grossisten, die sie eingeführt haben, kaufen zu müssen, selber importieren dürfte. Was den Verstoss gegen die Rechtsgleichheit anbetrifft, so verletzt eine generell-abstrakte Regelung, wie sie die SVO darstellt, nur dann
Art. 4 BV
, wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn- und zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht finden lässt (
BGE 97 I 782
Erw. 2 c;
BGE 96 I 143
). Bei mengenmässiger Beschränkung der Einfuhr ist sodann zu berücksichtigen, dass jede Kontingentsregelung ihrem Wesen nach in Grenzbereichen gewisse unvermeidbare Härten mit sich bringt.
b) Das EVD macht hinsichtlich des Zweckes der in der SVO getroffenen Regelung geltend, dass die Nachfrage nach Nierstücken
BGE 99 Ib 185 S. 191
seit 1953 stark anwuchs und deshalb die Begehren um Erteilung der Importberechtigung zugenommen haben, dass es anderseits aber gelte, die Importkontingente nicht allzusehr aufzusplittern. Diese Tendenz erscheint schon wegen des administrativen Aufwandes, der sonst zu befürchten wäre, gerechtfertigt. Dass zufolge Änderung der Konsumgewohnheiten die Nachfrage nach Nierstücken in den letzten Jahren stark gewachsen ist, ist allgemein bekannt, ebenso die Tatsache, dass die schweizerische Schlachtviehproduktion nicht genügt, um den Bedarf an Rindsnierstücken zu decken, so dass die Importe, auch abgesehen davon, dass die importierten Nierstücke billiger sind als die im Inland erzeugten, ansteigen. Es ist deshalb glaubhaft, dass man eine Aufsplitterung der Importe in sehr viele Kontingente vermeiden wollte. Das lässt sich auch damit rechtfertigen, dass der bisherige Importhandel in seiner Leistungsfähigkeit erhalten bleiben soll. Die Beschränkung der Importberechtigung auf Grossisten und grossistenähnliche Einfuhrberechtigte lässt sich daher mit sachlichem Grund vertreten und kann nicht als gegen das LwG oder
Art. 4 BV
verstossend betrachtet werden, auch wenn eine andere Regelung im Sinne der Beschwerdeführerin ebenfalls vertretbar gewesen wäre. Die durch die SVO getroffene Ordnung ist vertretbar auch insofern, als sie eine verhältnismässig klare Abgrenzung der Importberechtigung gestattet. Würde man, wie die Beschwerdeführerin das wünscht, auf die Grösse des Umsatzes abstellen, den sie tätigt, würde sich die nicht leicht und wiederum nicht ohne Härte zu beantwortende Frage stellen, von welchem Umsatz an einer Firma die Importberechtigung zuzuerkennen wäre. Es drängt sich deshalb von Verfassungs wegen keine von der durch die Vorinstanz gegebenen Interpretation abweichende Auslegung von Art. 12 SVO auf.
c) Ob auch der weitere von der Vorinstanz geltend gemachte Grund, der dahin geht, dass man die Fleischhandelsfirmen in der neuen SVO überhaupt nur noch wegen ihrer Ausgleichsfunktion zum Import zugelassen habe und dass sich auch deswegen eine Beschneidung der Importberechtigung des Lebensmittelhandels aufgedrängt habe, stichhaltig ist, braucht unter diesen Umständen nicht geprüft zu werden; offen bleiben kann auch die durch nichts erhärtete Behauptung der Vorinstanz, die Lieferanten von Konsumenten könnten dieser Ausgleichsaufgabe nicht gerecht werden. Die Beschwerde ist somit abzuweisen. | public_law | nan | de | 1,973 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
eba1632b-d778-4cdb-9882-2032d822fee3 | Urteilskopf
101 V 7
2. Auszug aus dem Urteil vom 17. Januar 1975 i.S. Stehrenberger gegen Ausgleichskasse des Kantons Basel-Landschaft und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft | Regeste
Bedeutung der Handelsregistereintragungen für die Beitragspflicht von Teilhabern an Kollektivgesellschaften (
Art. 20 Abs. 3 AHVV
). | Sachverhalt
ab Seite 7
BGE 101 V 7 S. 7
A.-
Fritz Stehrenberger ist Teilhaber der Kollektivgesellschaft F. Brodmann & Co., welche gemäss Eintragung im Handelsregister den Erwerb, die Verwaltung und den Verkauf von Immobilien bezweckt. Am Gesellschaftsvermögen, bestehend aus zwei Liegenschaften, ist Fritz Stehrenberger mit einem Kapitalanteil von 96% und F. Brodmann mit einem solchen von 4% beteiligt.
Mit Verfügungen vom 10. Oktober 1973 erhob die Ausgleichskasse für die Jahre 1969 bis 1973 die Sozialversicherungsbeiträge auf dem von Fritz Stehrenberger aus selbständiger Erwerbstätigkeit erzielten Einkommen ...
BGE 101 V 7 S. 8
B.-
Hiegegen beschwerte sich der Beitragspflichtige mit der Begründung, er übe seit dem Jahre 1964 keine selbständige Erwerbstätigkeit mehr aus. Bei den aus der Kollektivgesellschaft F. Brodmann bezogenen Einkünften handle es sich ausschliesslich um Mietzinseinnahmen; diese stellten nicht Erwerbseinkommen, sondern beitragsfreien Vermögensertrag dar.
Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft wies die Beschwerde mit Entscheid vom 27. Februar 1974 ab. Fritz Stehrenberger sei Teilhaber einer Kollektivgesellschaft, welche den Erwerb, die Verwaltung und den Verkauf von Immobilien bezwecke; seine Bezüge aus der Gesellschaft stellten nach der gesetzlichen Ordnung Erwerbseinkommen und nicht privaten Vermögensertrag dar; er unterliege daher für das von der Steuerverwaltung gemeldete Erwerbseinkommen der Beitragspflicht als Selbständigerwerbender ...
C.-
Fritz Stehrenberger erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und erneuert den vorinstanzlichen Beschwerdeantrag. Zur Begründung legt er die jährlichen Geschäftsabrechnungen der Firma Brodmann & Co. aus den Jahren 1964 bis 1973 auf, aus welchen hervorgehe, dass sich die von ihm bezogenen Einkünfte auf blossen Vermögensertrag beschränkten. Mit Ausnahme von Verwaltungskosten seien keine besonderen Entschädigungen ausgerichtet worden ...
Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Gemäss
Art. 9 Abs. 1 AHVG
gilt als Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit jedes Erwerbseinkommen, das nicht Entgelt für in unselbständiger Stellung geleistete Arbeit darstellt. Dazu gehören nach Art. 17 lit. c in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 AHVV
auch die Anteile der Teilhaber von Kollektivgesellschaften, soweit die Bezüge den vom rohen Einkommen abziehbaren Kapitalzins (
Art. 18 Abs. 2 AHVV
) übersteigen.
Praxisgemäss ist von der Vermutung auszugehen, die Kollektivgesellschaft sei ein auf Erwerb gerichtetes Unternehmen und die vom Gesellschafter bezogenen Anteile bildeten Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit und nicht (beitragsfreien)
BGE 101 V 7 S. 9
Kapitalertrag. Dies gilt grundsätzlich auch, wenn der Hauptgeschäftszweck in der Verwaltung von Liegenschaften besteht (EVGE 1964 S. 149 Erw. 1, 1959 S. 43).
b) Nach
Art. 554 OR
sind Kollektivgesellschaften in das Handelsregister des Ortes einzutragen, an dem sie ihren Sitz haben. In Ergänzung des gesetzlich vorgeschriebenen Inhaltes der Eintragung bestimmt Art. 42 Abs. 1 der Vo über das Handelsregister vom 7. Juni 1937 (HRV):
"Bei Einzelfirmen, Kollektiv- und Kommanditgesellschaften ist die Natur des Geschäftes und bei juristischen Personen ihr Zweck kurz und sachlich einzutragen".
Dem Handelsregister kommt zwar nur in beschränktem Masse öffentlicher Glaube zu (vgl. hiezu HIS, Berner Kommentar zum ZGB, N. 17 ff. zu
Art. 933 OR
; FUNK, Kommentar des OR, N. 1 zu
Art. 933 OR
; GUHL/MERZ/KUMMER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 6. Aufl. S. 740). Die Eintragungen haben jedoch der Wahrheit zu entsprechen und dürfen zu keinen Täuschungen Anlass geben (Art. 38 HRV); auch ist jede Änderung einer eingetragenen Tatsache ebenfalls im Handelsregister einzutragen (
Art. 937 OR
). Dritte können sich daher grundsätzlich darauf verlassen, der Inhalt einer Eintragung entspreche den tatsächlichen Verhältnissen. Der Registereintrag erbringt gemäss
Art. 9 ZGB
für die durch die Eintragung bezeugten Tatsachen zivilprozessrechtlich den vollen Beweis, solange nicht die Unrichtigkeit der Eintragung nachgewiesen ist (HIS, a.a.O., N. 16 zu
Art. 933 OR
; FUNK, a.a.O., N. 1 zu
Art. 933 OR
).
Bei dieser Rechtslage rechtfertigt es sich, der aus der beitragsrechtlichen Regelung sich ergebenden Vermutung, wonach die vom Teilhaber einer Kollektivgesellschaft bezogenen Anteile Erwerbseinkommen darstellen, zusätzliche Bedeutung beizumessen, wenn aus der Eintragung im Handelsregister klar hervorgeht, dass die Gesellschaft einen erwerblichen Zweck verfolgt. Trifft dies zu, so muss sich der Gesellschafter diesen Umstand auch hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen Beitragspflicht entgegenhalten lassen. Die von ihm bezogenen Anteile gelten demnach grundsätzlich als Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit, ohne dass geprüft werden müsste, was für eine Tätigkeit die Gesellschaft im jeweils massgebenden Zeitraum tatsächlich ausgeübt hat. Wie
BGE 101 V 7 S. 10
das Gesamtgericht entschieden hat, kann hievon nur abgewichen werden, wenn nachgewiesen ist, dass die Eintragung im Handelsregister offensichtlich und seit längerer Zeit den tatsächlichen Verhältnissen nicht entspricht und dass triftige Gründe gegen eine Änderung des Eintrages vorliegen.
2.
Die Firma F. Brodmann & Co., an deren Kapital Fritz Stehrenberger zu 96% beteiligt ist, bezweckt gemäss Eintragung im Handelsregister den Erwerb, die Verwaltung und den Verkauf von Immobilien. Der Beschwerdeführer ist somit für die aus der Gesellschaft bezogenen Gewinnanteile grundsätzlich der Beitragspflicht als Selbständigerwerbender unterstellt.
Was der Beschwerdeführer hiegegen vorbringt, vermag zu keinem anderen Ergebnis zu führen. Es mag zwar zutreffen, dass die im Jahre 1952 gegründete Gesellschaft seit längerer Zeit nicht mehr erwerblich tätig ist und dass die von den Gesellschaftern bezogenen Gewinnanteile ausschliesslich aus Mietzinsertrag auf den im Eigentum der Gesellschaft stehenden Liegenschaften stammen. Entscheidend bleibt jedoch, dass die Gesellschaft auf Grund der Eintragung im Handelsregister jederzeit in der Lage ist, erneut eine Geschäftstätigkeit auszuüben. Dies muss nach dem Gesagten genügen, solange nicht nachgewiesen ist, dass die Eintragung im Handelsregister den tatsächlichen Verhältnissen offensichtlich nicht entspricht und aus triftigen Gründen nicht abgeändert werden konnte. Im vorliegenden Fall fehlt es an Anhaltspunkten, die ein Abgehen von der sich aus dem Handelsregistereintrag ergebenden Beurteilung rechtfertigen würden. Den Akten ist vielmehr zu entnehmen, dass Fritz Stehrenberger gleichzeitig einziger Verwaltungsrat mit Einzelunterschrift der "Lilienstrasse AG (Immobiliengesellschaft)" ist, welche auch als Grundpfandgläubigerin der Firma Brodmann & Co. angegeben wird. Diese Umstände sprechen für weitreichende Interessen erwerblicher Natur und lassen den Schluss nicht zu, die fragliche Eintragung im Handelsregister entspreche den tatsächlichen Verhältnissen offensichtlich nicht. Die Beitragspflicht des Beschwerdeführers ist daher zu bejahen, ohne dass geprüft werden müsste, ob triftige Gründe für den Weiterbestand der angeblich unzutreffend gewordenen Eintragung des Gesellschaftszweckes gegeben wären. | null | nan | de | 1,975 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
eba1af34-08b2-4b98-a1db-963ff94a8156 | Urteilskopf
99 V 85
29. Urteil vom 28. Mai 1973 i.S. Zbinden gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern | Regeste
Altersrente der geschiedenen Frau.
Berechnungsgrundlage (
Art. 31 und 33 Abs. 3 AHVG
). Bestätigung der Rechtsprechung mit Rücksicht auf die seit dem 1. Januar 1973 verbesserte Rechtslage. | Sachverhalt
ab Seite 86
BGE 99 V 85 S. 86
A.-
Die 1910 geborene, seit 1968 geschiedene A. Zbinden bezieht seit dem 1. Mai 1972 eine einfache AHV-Altersrente. Deren Berechnung hatte die Ausgleichskasse des Kantons Bern das durchschnittliche Jahreseinkommen der Versicherten von Fr. 7600.-- aus 24 Jahren und die Rentenskala 20 zugrunde gelegt. In diesem Sinn verfügte die Kasse am 20. Oktober 1972.
B.-
A. Zbinden beschwerte sich gegen diese Verfügung beim Versicherungsgericht des Kantons Bern. Sie machte geltend, sie habe während 30 Jahren das Geschäft ihres geschiedenen Ehemannes geführt und das mittlere Jahreseinkommen habe den Betrag von Fr. 7600.-- dank ihrer Arbeit um ein Mehrfaches überstiegen, so dass der Rentenberechnung das während der Ehe erzielte Geschäftseinkommen zugrunde zu legen sei.
Mit Entscheid vom 20. Dezember 1972 hat die Vorinstanz die Beschwerde abgewiesen.
C.-
Gegen diesen Entscheid lässt A. Zbinden Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben und beantragen, die Sache sei an den kantonalen Richter zurückzuweisen, damit dieser die einfache Altersrente auf Grund eines neuen durchschnittlichen Jahreseinkommens entsprechend den Weisungen des Eidg. Versicherungsgerichts neu festsetze. Zur Begründung wird ausser den schon bekannten Einwänden im wesentlichen folgendes vorgebracht: Gestützt auf die Übergangsbestimmungen des Bundesgesetzes vom 30. Juni 1972 betreffend Änderung des AHVG seien fürdie Rentenberechnung die am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen, neu gefassten Abs. 3 und 4 des
Art. 30 AHVG
massgebend. Das mittlere Jahreseinkommen müsse mit dem Faktor 2,1 aufgewertet werden. Aber selbst wenn die neuen Bestimmungen nicht ohne Einschränkungen anwendbar wären, ergäbe sich eine wesentlich höhere monatliche Altersrente. Wäre aber die bisherige Rentenberechnung richtig, so läge doch ein ausgesprochener Härtefall vor, welcher nach einer angemessenen Korrektur rufe, die sich mit der analogen Anwendung der
Art. 31 Abs. 3 und 32 AHVG
realisieren liesse. Es sei stossend und ungerecht, wenn eine geschiedene Ehefrau, die sich jahrzehntelang als Geschäftsfrau eingesetzt und selber den grössten
BGE 99 V 85 S. 87
Teil des Erwerbseinkommens des Ehepaares erzielt habe, bei der Rentenfestsetzung von dieser Situation nicht profitieren könne. Der Auffassung der Vorinstanz, die Beschwerdeführerin sei für die tiefe Altersrente bereits bei der Ehescheidung im Rahmen des
Art. 151 ZGB
entschädigt worden, könne nicht gefolgt werden.
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Gegenstand des heutigen Prozesses ist die am 20. Oktober 1972 rückwirkend auf den 1. Mai 1972 verfügte Rentenfestsetzung, über die der kantonale Richter befunden hat. Soweit die Überprüfung der dank der 8. AHV-Revision auf den 1. Januar 1973 erfolgten Rentenerhöhung verlangt wird, kann auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht eingetreten werden.
2.
Die Beschwerdeführerin verlangt dem Sinne nach, dass bei der Berechnung ihrer Altersrente nicht bloss auf jenes Erwerbseinkommen abzustellen sei, von dem sie selber Sozialversicherungsbeiträge entrichtet habe. Vielmehr müsse auch jenes Erwerbseinkommen angemessen berücksichtigt werden, das dank ihrer Mitarbeit im Geschäft ihres geschiedenen Ehemannes erzielt worden sei.
a) Da bis zur 8. AHV-Revision eine besondere Gesetzesbestimmung über die Berechnung der ordentlichen Altersrente der geschiedenen Frau fehlte, hat das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass diese Rente nach der Grundnorm des
Art. 31 Abs. 1 AHVG
errechnet werden muss. Gemäss dieser Vorschrift ist für die Berechnung der einfachen Altersrente grundsätzlich das gemäss Art. 30 ermittelte durchschnittliche Jahreseinkommen des Versicherten selber massgebend (EVGE 1953 S. 223). Im erwähnten Urteil wurde die unterschiedliche Berechnung der einfachen Altersrente der Witwe einerseits und der geschiedenen Frau anderseits sachlich damit begründet, dass die Geschiedene im Gegensatz zur Witwe auch dann Beiträge entrichte, wenn sie nicht erwerbstätig sei, so dass sie in der Regel bis zum Rentenalter reichlich eigene Beitragsjahre aufzuweisen habe. Dadurch werde unter Berücksichtigung der Jahre, während deren sie
BGE 99 V 85 S. 88
gemäss Art. 3 Abs. 21it. b AHVG keine Beiträge geleistet hat, für den nötigen Ausgleich gesorgt. Zudem wurde entschieden, dass die Altersrente einer geschiedenen Frau nie weniger betragen dürfe als die Witwenrente, welche die Rentnerin allenfalls vorher bezogen hat. Bei dieser Rechtsprechung ist das Gericht in EVGE 1955 S. 275 geblieben.
b) Im Jahre 1969 hat das Eidg. Versicherungsgericht diese Praxis unter besonderer Berücksichtigung der seit 1955 und vor allem der auf den 1. Januar 1969 erfolgten Gesetzesänderungen überprüft und erneut bestätigt. Dazu äusserte es sich wie folgt (ZAK 1969 S. 596):
Art. 33 Abs. 3 AHVG
in der seit anfangs 1969 gültigen Fassung zeigt, dass die bisherige Stellung der geschiedenen Frau bezüglich der Berechnung der Altersrente nicht verändert und besonders nicht derjenigen der Witwe angeglichen werden wollte. Hätte der Gesetzgeber die geschiedene Frau generell der Witwe gleichstellen wollen, so hätte er durch ausdrückliche Erwähnung der geschiedenen Frau in der Neufassung des
Art. 33 Abs. 3 AHVG
eine neue Rechtslage schaffen können. Nachdem dies nicht geschehen ist, muss angenommen werden, er habe die bisherige Regelung bewusst beibehalten. Auch der im Jahre 1960 in Kraft getretene
Art. 29bis Abs. 2 AHVG
bedeutet keine grundsätzliche Änderung der bisherigen Ordnung, weil diese Bestimmung vom frühern Art. 39 Abs. 2 materiell nicht abweicht; es wird lediglich auch die Ehefrau, die eine einfache Altersrente bezieht, neben der geschiedenen Frau erwähnt.
Den
Art. 33 Abs. 3 AHVG
und 55 Abs. 2 AHVV ist überdies zu entnehmen, dass ausschliesslich für die Witwe die Altersrente auf Grund der Beiträge des Ehemannes oder der eigenen Beiträge berechnet werden kann, je nachdem welche Beiträge eine höhere einfache Altersrente ergeben. Diese Vergleichsrechnung bildet eine Sonderregelung, welche der Gesetzgeber ausdrücklich der Witwe vorbehalten hat und die daher nicht durch Ausdehnung auch der geschiedenen Frau zuerkannt werden darf. Für diese kann nur die Berechnung anhand der eigenen Beiträge in Frage kommen, wobei ihr die nach
Art. 3 Abs. 2 lit. b AHVG
beitragslosen Ehejahre als Beitragsjahre anzurechnen sind (
Art. 29bis Abs. 2 AHVG
). Die soeben zitierte Bestimmung wäre unnötig, wenn die Altersrente der geschiedenen Frau auf Grund der Beiträge des Ehemannes zu berechnen oder wenn die
BGE 99 V 85 S. 89
für Witwen vorgesehene Vergleichsrechnung auch für Geschiedene anwendbar wäre. Einen billigen Ausgleich zur Stellung der Witwe schafft der Grundsatz, dass die Altersrente der geschiedenen Frau, die nach dem Tod ihres Mannes Anspruch auf eine Witwenrente hatte, auch dann nicht kleiner als die bezogene Witwenrente sein darf, wenn ihre eigenen Beiträge. nur eine niedrigere Altersrente zugelassen haben (EVGE 1953 S. 224 Erw. 2, 1955 S. 275).
c) Im Rahmen der 8. AHV-Revision sah sich der Bundesrat veranlasst, die Stellung der geschiedenen Frau hinsichtlich der Berechnung ihrer Altersrente zu überprüfen. Er gab sich davon Rechenschaft, dass die oben dargelegte bisherige Regelung einen kaum genügenden Vorsorgeschutz in erster Linie für jene geschiedenen Frauen darstellt, deren eigenes rentenbildendes Einkommen bescheiden war, vor allem wenn sie im vorgerückten Alter geschieden werden und deshalb nach der Scheidung überhaupt nicht mehr oder nur mit Schwierigkeiten ins Erwerbsleben sich eingliedern können. Der Bundesrat beantragte den eidgenössischen Räten, die Besserstellung der geschiedenen Frau dadurch zu realisieren, dass deren Altersrente nach dem Tod des geschiedenen Mannes auf den für die Witwenrente massgebenden Berechnungsgrundlagen, d.h. anhand des mittleren Jahreseinkommens des Ehemannes, festgesetzt wird, sofern dies zu einer höheren Rente führt. Diese Regelung generell für die Altersrente der geschiedenen Frau vorzusehen, erachtete der Bundesrat nicht für angebracht. Zur Begründung äusserte er sich in der Botschaft wie folgt (BBl 1971 II 1096):
"Dadurch hätte sich die geschiedene Frau aber besser gestellt als die verheiratete Frau, die altersrentenberechtigt wird, bevor der Ehemann die Altersgrenze zum Bezuge einer Ehepaar-Altersrente erreicht hat; denn in diesem Falle wird die Altersrente nur nach ihrem eigenen massgebenden Einkommen berechnet. Es entstünde auch eine Ungereimtheit im Verhältnis zum Zivilrecht, nach welchem bei der Scheidung Ansprüche der Ehefrau durch Leistungen nach den Artikeln 151 und 152 ZGB abgedeckt werden. Die Frau kann auf diese Weise indirekt an der Rente des Mannes teilhaben. Eine eigentliche Härte, die durch die Sozialversicherung zu beheben ist, entsteht erst, wenn der geschiedene Mann stirbt und die Unterhaltsbeiträge wegfallen."
In der Folge haben die eidgenössischen Räte dem Antrag des Bundesrates auf entsprechende Erweiterung des
Art. 31 AHVG
(durch Beifügung der Absätze 3 und 4) zugestimmt, ohne am Prinzip, dass die geschiedene Frau bei der Berechnung der
BGE 99 V 85 S. 90
einfachen Altersrente erst nach dem Tod ihres frühern Ehemannes der Witwe gleichgestellt sein soll, etwas zu ändern. Dem Gesetzgeber ist also bei der 8. AHV-Revision die problematische Stellung der geschiedenen Frau nicht entgangen. Da er selber deren Gleichstellung mit der Witwe bewusst nur für die Zeit nach dem Tod des geschiedenen Mannes vorgenommen hat, besteht für den Richter um so weniger Veranlassung, an der bisherigen Praxis, soweit sie nicht durch die neuen Absätze 3 und 4 des
Art. 31 AHVG
überholt ist, etwas zu ändern.
3.
Die Beschwerdeführerin war während Jahrzehnten im Betrieb ihres Ehemannes tätig, ohne dafür einen Barlohn zu beziehen, von dem sie Sozialversicherungsbeiträge hätte entrichten müssen. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass die Geschäftserträgnisse weitgehend auf die Mitarbeit der Versicherten zurückzuführen waren, können sie doch nicht als ihr persönliches Erwerbseinkommen qualifiziert werden. Mit Recht hat darum die Ausgleichskasse ausschliesslich die eigenen Beiträge der Beschwerdeführerin der Rentenberechnung zugrunde gelegt. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich demzufolge als unbegründet.
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist. | null | nan | de | 1,973 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
ebaa39c1-547f-4474-be91-7287a1aca202 | Urteilskopf
95 II 242
32. Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. Juni 1969 i.S. Weisskredit Handels- und Anlagebank gegen Hiltmann. | Regeste
Bürgschaft, Rückgriff unter Solidarbürgen.
Rechtliche Bedeutung einer Mitteilung des Gläubigers an einen Solidarbürgen, die Hauptschuld sei durch Zahlung zweier anderer Solidarbürgen getilgt (Erw. 1).
Die Abtretung der verbürgten Forderung durch den Gläubiger an einen von mehreren Solidarbürgen oder an einen von diesem vorgeschobenen Dritten ist für das Rückgriffsverhältnis zwischen den Solidarbürgen unbeachtlich (Erw. 2).
Die Zulässigkeit einer Eventualbegründung, die sich auf einen vom Hauptstandpunkt abweichenden Tatbestand stützt, bestimmt sich nach dem kantonalen Prozessrecht (Erw. 3).
Der Aberkennungsbeklagte kann im Aberkennungsprozess seinen Anspruch anders begründen als im Betreibungs- und Rechtsöffnungsverfahren; er kann sich auch auf eine erst nach dem Zahlungsbefehl erfolgte Abtretung berufen (Erw. 4). | Sachverhalt
ab Seite 243
BGE 95 II 242 S. 243
A.-
Die Bank "Crédit Agricole Chevenez" gewährte gemäss Vertrag vom 4. Mai 1966 der EGA SA ein Darlehen von Fr. 105 000.--. Für diese Schuld einschliesslich Zinsen und Nebenkosten bis zum Gesamtbetrag von Fr. 115 000.-- leisteten E.A. Misteli (Aktionär und Gläubiger der EGA SA), W. Hiltmann (Verwaltungsrat dieser Gesellschaft), sowie A. und G. Borruat Solidarbürgschaft.
Am 30. November 1966 schlossen Misteli einerseits und die EGA SA, Hiltmann und A. und G. Borruat anderseits eine Vereinbarung, wonach Misteli aus der EGA SA ausschied. Ziffer 2 Abs. 2 dieser Vereinbarung bestimmte:
"Sollte E.A. Misteli aus irgendwelchen Bürgschaften für die EGA SA von den Banken persönlich in Anspruch genommen werden, sind ihm die entsprechenden Beträge von W. Hiltmann und den Herren Borruat zu ersetzen."
Die EGA SA, Hiltmann und A. und G. Borruat ersuchten am 25. April 1967 den Crédit Agricole unter Hinweis auf diese Vereinbarung, Misteli aus der Bürgschaftsverpflichtung zu entlassen; sie erklärten, für allfällige Bürgschaftsansprüche des Crédit Agricole gegenüber Misteli einstehen zu wollen. Inzwischen war der EGA SA, die sich in Zahlungsschwierigkeiten befand, eine Nachlassstundung bewilligt worden. Der Crédit Agricole lehnte daher mit Schreiben vom 1. Mai 1967 an alle vier Bürgen die Entlassung Mistelis aus der Bürgschaft ab und teilte ihnen mit, sie habe der EGA SA das Darlehen vertragsgemäss auf den 7. Juni 1967 gekündigt; nach Ablauf dieser Frist werde sie jeden der vier Solidarbürgen für den ganzen Forderungsbetrag von Fr. 105 000.-- nebst Zinsen und Kosten betreiben.
Am 21. Juli 1967 schrieb die Weisskredit Handels- und Anlagebank, Zürich, dem Crédit Agricole, sie sei auf Ersuchen ihres Kunden Misteli bereit,
"... de reprendre un montant total de fr. 30 000.-- ... comme crédit dénoncé de votre part contre la maison EGA SA ... à une simple
BGE 95 II 242 S. 244
cession de crédit partielle de votre part pour le montant indiqué avec tous les droits de cautions solidaires envers toutes les parties indiquées dans votre crédit."
Der Crédit Agricole wollte sich jedoch offenbar unter Hinweis auf die solidarische Bürgschaftsverpflichtung Mistelis mit einer Zahlung von Fr. 30 000.-- nicht begnügen, sondern forderte den ganzen, nach Eingang einer Zahlung des Bürgen Hiltmann von Fr. 30 000.-- noch offenen Betrag von Fr. 78 957.--. Die Bank Weisskredit überwies ihm daher Ende Juli/Anfang August 1967 diese Summe mit dem erneuten Hinweis, die Zahlung erfolge unter der Bedingung, dass der Crédit Agricole ihr alle seine Rechte gegen die EGA SA und die Solidarbürgen abtrete.
Am 5. August 1967 schrieb der Crédit Agricole an die EGA SA, an "Weisskredit pr. Misteli", an Hiltmann und an A. und G. Borruat:
"Nous accusons réception des montants suivants:
fr. 30 000.-- par M. Walter Hiltmann, Zurich, valeur 27 juillet 1967 fr. 78 000.-- par Weisskredit Zurich pr M. Misteli, Zurich, valeur 1.8.67
fr. 957.-- idem, valeur 5.8.67.
Nous avons le plaisir de vous communiquer que l'emprunt de fr. 105 000.-- est entièrement libéré par le règlement des deux cautions ci-dessus."
Da die Bank Weisskredit die verlangte Abtretungserklärung vom Crédit Agricole nicht erhielt, mahnte sie diesen in den Monaten September und Oktober 1967 mehrmals mit der Androhung, sie werde die geleistete Zahlung von Fr. 78 957.-- zurückfordern, wenn der Crédit Agricole ihrem Begehren nicht entspreche.
Am 7. November 1967 stellte der Crédit Agricole der Bank Weisskredit die Erklärung aus, er trete ihr die Darlehensforderung gegen die EGA SA bis zum Betrag von Fr. 78 957.-- samt allen Nebenrechten, insbesondere den Bürgschaftsansprüchen, ab.
Gestützt auf diese Abtretungserklärung forderte die Bank Weisskredit am 29. November 1967 Hiltmann auf, ihr den Betrag von Fr. 78 957.-- nebst Zinsen auf Grund seiner Solidarbürgschaft für die EGA SA zu ersetzen. Hiltmann kam jedoch dieser Aufforderung nicht nach und erhob gegen den Zahlungsbefehl vom 1. Dezember 1967 Rechtsvorschlag, anerkannte dann
BGE 95 II 242 S. 245
aber am 5. März 1968 das Begehren der Weisskredit um provisorische Rechtsöffnung unter dem Vorbehalt der Aberkennungsklage.
Am 23. April 1968 trat Misteli "alle seine Rechte aus Ziffer 2 letzter Absatz der Vereinbarung vom 30.11.66 mit Walter Hiltmann und Konsorten" an die Bank Weisskredit ab.
B.-
Am 25. März 1968 klagte Hiltmann gegen die Bank Weisskredit auf Aberkennung der gegen ihn in Betreibung gesetzten Forderung von Fr. 78 957.-- nebst Zinsen und Kosten.
Zur Begründung brachte er vor, die Hauptschuld, also die Darlehensforderung des Crédit Agricole gegen die EGA SA, sei infolge seiner Bürgschaftszahlung von Fr. 30 000.-- und der Zahlung der Beklagten von Fr. 78 957.-- am 5. August 1967 bereits getilgt gewesen. Mit dem Erlöschen der Hauptschuld sei auch seine Bürgschaftsverpflichtung kraft Gesetzes dahingefallen. Im Zeitpunkt der Abtretung vom 7. November 1967 habe somit die EGA SA dem Crédit Agricole nichts mehr geschuldet, noch habe eine Bürgschaftsverpflichtung seinerseits bestanden. Selbst wenn aber am 7. November 1967 noch eine Schuld der EGA SA bestanden haben sollte, sei auf Grund des Schreibens des Crédit Agricole vom 5. August 1967 seine Bürgschaftsverpflichtung dahingefallen.
Die Beklagte beantragte, die Aberkennungsklage abzuweisen. Sie machte geltend, sie habe dem Crédit Agricole die Fr. 78 957.-- nicht bezahlt, um die Bürgschaftsverpflichtung des Misteli abzulösen, sondern um die nach der Bürgschaftszahlung des Klägers von Fr. 30 000.-- noch verbleibende Restforderung des Crédit Agricole gegen die EGA SA zu erwerben. Infolge der Abtretungserklärung des Crédit Agricole vom 7. November 1967 sei diese Restforderung samt allen Nebenrechten auf sie übergegangen. Sie sei daher berechtigt, den Solidarbürgen Hiltmann für die ganze noch ungedeckte Forderung von Fr. 78 957.-- zu belangen. Falls man annehme, ihre Zahlung an den Crédit Agricole sei zur Ablösung der Bürgschaftsverpflichtung Mistelis erfolgt, stütze sie ihren Anspruch auf die Zession des Misteli vom 23. April 1968, durch welche dieser alle seine Rechte aus der Ausscheidungsvereinbarung vom 30. November 1966 auf sie übertragen habe. In diesem Falle hafte der Kläger nicht als Bürge der EGA SA, sondern aus seiner Verpflichtung, Misteli schadlos zu halten, wenn er nach seinem Ausscheiden aus der EGA SA als Bürge belangt werden sollte.
BGE 95 II 242 S. 246
Im Laufe des kantonalen Verfahrens setzte die Beklagte ihre Forderung um den Betrag von Fr. 1725.-- herab, den sie bei den Bürgen G. und A. Borruat eingetrieben hatte.
C.-
Das Handelsgericht des Kantons Zürich schützte am 11. Juni 1968 die Aberkennungsklage.
D. - Gegen dieses Urteil erklärte die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht mit dem erneuten Antrag, die Aberkennungsklage abzuweisen.
Der der Beklagten auferlegte Kostenvorschuss für das Berufungsverfahren wurde erst am Tage nach Ablauf der gesetzten Frist geleistet, und zwar durch Misteli. Nach den Ausführungen in dem von ihm und der Beklagten gestellten Gesuch um Wiederherstellung der versäumten Zahlungsfrist (dem am 31. Oktober 1968 entsprochen wurde), hatte Misteli es auf Grund einer Absprache mit der Beklagten übernommen, den Kostenvorschuss zu leisten.
Der Kläger beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
- Das Handelsgericht hat die Aberkennungsklage mit der Begründung geschützt, der Kläger habe das Schreiben des Crédit Agricole vom 5. August 1967 als Befreiung von der Bürgschaft infolge Untergangs der Hauptschuld verstehen können und dürfen. Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden.
a) In erster Linie fragt sich, ob am 7. November 1967 die abgetretene Forderung noch bestand und dem Crédit Agricole gehörte. Denn nur wenn beides zutraf, konnte der Crédit Agricole sie der Bank Weisskredit abtreten und konnten mit ihr auch die Rechte gegen den Bürgen Hiltmann, die von der Beklagten geltend gemacht werden, auf sie übergehen.
Das Handelsgericht hat sich mit den genannten beiden Fragen nicht befasst. Dass die Darlehensforderung am 7. November 1967 noch bestand, kann indessen nicht zweifelhaft sein. Auf Grund des Schreibens des Crédit Agricole vom 5. August 1967 durfte niemand annehmen, die Schuld der EGA SA sei getilgt worden oder wolle vom Crédit Agricole erlassen werden. Namentlich durfte auch der Kläger einen solchen Schluss nicht ziehen. Der Crédit Agricole schrieb ja nicht, die EGA SA habe gezahlt, sondern die beiden Bürgen Hiltmann und Misteli hätten das getan. Aus dem Schreiben musste daher jedermann
BGE 95 II 242 S. 247
schliessen, die Forderung gegen die EGA SA sei gemäss Art. 507 auf die zahlenden Bürgen Hiltmann und Misteli übergegangen. Daran änderte auch die vom Crédit Agricole im Schlussatz seines Schreibens abgegebene Erklärung nichts, die Darlehensforderung von Fr. 105 000.-- sei "entièrement libéré par le règlement des deux cautions ci-dessus". Das hiess nach Treu und Glauben nur, dass der Crédit Agricole sich nicht mehr als Gläubiger betrachte. Darin lag aber weder eine Anerkennung, dass die Schuld der EGA SA getilgt sei, noch ein Schulderlass, sondern es handelte sich einfach um eine rechtliche Schlussfolgerung des Crédit Agricole aus den mitgeteilten Zahlungen der beiden Bürgen.
Diese Schlussfolgerung war richtig für die Fr. 30 000.--, die der Kläger bezahlt hatte. Dagegen traf sie möglicherweise nicht zu für die Fr. 78 957.--, von denen der Crédit Agricole annahm, die Beklagte habe sie ihm im Namen Mistelis bezahlt. Wenn er sich in diesem Punkte geirrt haben sollte, weil die Beklagte im eigenen Namen bezahlt hatte, um die noch ungedeckte Restforderung des Crédit Agricole zu erwerben, wäre dieser für die Fr. 78 957.-- Gläubiger geblieben und hätte somit diese Teilforderung am 7. November 1967 noch an die Beklagte abtreten können. Man kann nicht folgern, weil die EGA SA sich als befriedigt ausgegeben habe, müsse der Richter auf Grund der Vertrauenstheorie zum Vorteil Hiltmanns annehmen, der Crédit Agricole sei vom 5. August 1967 an nicht mehr Gläubiger gewesen. Die möglicherweise unrichtige Mitteilung konnte beim Leser nur eine irrige Vorstellung über die Person des Gläubigers, nicht einen Irrtum über den Fortbestand der Forderung bewirken. Aus einem Irrtum über die Person des Gläubigers, der im Zeitpunkt der Belangung behoben ist, kann aber weder der Schuldner noch der Bürge etwas ableiten. Das ergibt sich aus
Art. 167 OR
, der sich zwar auf den Fall der Abtretung bezieht, aber sinngemäss auch in andern Fällen irriger Vorstellungen des Schuldners über einen Gläubigerwechsel (Erbgang, eheliches Güterrecht, Subrogation) zutrifft. Ein Eingreifen der Vertrauenstheorie kommt hier nicht in Betracht. Diese gilt nur für die Auslegung rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen, nicht auch für die Auslegung blosser Mitteilungen ohne rechtsgeschäftlichen Charakter. Die Vertrauenstheorie vermag eine solche Mitteilung nicht zu einem Angebot auf den Abschluss eines Rechtsgeschäftes zu machen. Um eine Anzeige ohne rechtsgeschäftlichen
BGE 95 II 242 S. 248
Inhalt handelte es sich aber beim Schreiben des Crédit Agricole vom 5. August 1967. Der Empfänger durfte in ihm nicht eine Offerte zum Abschluss eines Vertrages, z.B. eines Schulderlasses, sehen, sondern musste es als das hinnehmen, was es war, nämlich eine schlichte Mitteilung, dass die Forderung des Crédit Agricole nach dessen Meinung infolge der Zahlungen der beiden Bürgen kraft Gesetzes auf diese übergegangen sei.
b) Was sodann die Frage des Fortbestandes der Bürgschaftsverpflichtung des Klägers betrifft, meint das Handelsgericht, dieser habe das Schreiben vom 5. August 1967 dahin verstehen dürfen, "er sei infolge vollständiger Tilgung der Hauptschuld von seiner Verpflichtung als Bürge gegenüber dem Crédit Agricole befreit". Es spricht von einer "Schuldbefreiungserklärung", von einem "Entlastungsschreiben", durch das die Bürgschaftsverpflichtung erloschen sei. Das Handelsgericht meint also, der Crédit Agricole habe den Kläger als Bürgen entlassen, d.h. auf seine Bürgschaftsansprüche ihm gegenüber verzichtet.
Das wäre eine "Aufhebung durch Uebereinkunft" im Sinne des
Art. 115 OR
. Von einer solchen könnte aber nur die Rede sein, wenn der Kläger das Schreiben vom 5. August 1967 nach Treu und Glauben als Angebot zum Abschluss einer solchen Uebereinkunft hätte auslegen dürfen. Das nimmt aber nicht einmal das Handelsgericht an, vertritt es doch, wie gesagt, die Auffassung, der Kläger habe sich infolge vollständiger Tilgung der Hauptschuld von seiner Verpflichtung befreit erachten dürfen. Dass die Hauptschuld vollständig getilgt sei, sagt indessen das Schreiben, wie bereits dargelegt wurde, in keiner Weise; es spricht nur von einer Befriedigung des Crédit Agricole durch Zahlung zweier Bürgen, was nach
Art. 507 OR
Fortbestand der Hauptschuld unter Eintritt eines Gläubigerwechsels (Uebergang der Hauptforderung samt Sicherheiten auf den zahlenden Bürgen) bedeutet. Nach dem Wortlaut des Schreibens vom 5. August 1967 durfte der Kläger schlechterdings nicht annehmen, der Crédit Agricole wolle ihm eine Vertragsofferte zur Aufhebung seiner Bürgschaftsverpflichtung machen. Er musste das Schreiben als blosse Ansichtsäusserung des Gläubigers über die angeblich eingetretene gesetzliche Subrogation verstehen. So wenig diese Ansichtsäusserung einen vertraglichen Untergang der Hauptschuld zur Folge haben konnte, so wenig konnte sie den Untergang der Bürgschaftsverpflichtung des
BGE 95 II 242 S. 249
Klägers bewirken. Wenn der Inhalt des Schreibens richtig sein sollte, könnte der Crédit Agricole und folglich auch die Bank Weisskredit als dessen Rechtsnachfolgerin den Kläger allerdings nicht mehr belangen, weil dann die Subrogation eingetreten und der Kläger dem Misteli gemäss
Art. 497 Abs. 2 Satz 4 OR
und der Vereinbarung vom 30. November 1966 regresspflichtig geworden wäre. Das wäre aber nicht die Folge der Aeusserung des Crédit Agricole vom 5. August 1967, sondern die gesetzliche Folge der von Misteli geleisteten Zahlung. Wenn dagegen der Inhalt des Schreibens unrichtig war, so kann der Kläger daraus nichts für sich ableiten. Dieses hat ihn dann lediglich über die Person des Gläubigers irregeführt, indem er annehmen konnte, er sei fortan nicht mehr dem Crédit Agricole, sondern dem Misteli verpflichtet. Hätte der Kläger auf Grund dieses Irrtums dem Misteli bezahlt, so müsste wahrscheinlich entschieden werden, er sei gegenüber dem Crédit Agricole und der Beklagten als dessen Rechtsnachfolgerin befreit. Der Kläger hat aber nicht bezahlt, sondern wird unter Hinweis auf den Irrtum, der dem Crédit Agricole bei seinem Schreiben vom 5. August 1967 unterlaufen sein soll, auf Zahlung belangt. Er muss sich deshalb einen allfälligen Irrtum entgegenhalten lassen.
c) Die Auslegung des Schreibens als Vertragsofferte zur Aufhebung der Bürgschaftsverpflichtung des Klägers ist nicht nur mit den Regeln von Treu und Glauben unvereinbar, sondern geradezu unmöglich. Der Crédit Agricole teilte ja am 5. August 1967 mit, der Bürge Misteli habe ihn befriedigt. Wenn das zugetroffen haben sollte, d.h. die Zahlung der Beklagten wirklich im Namen Mistelis erfolgt wäre, hätte der Crédit Agricole den Mitbürgen Hiltmann gar nicht mehr aus seiner Bürgschaft entlassen können; die Rechte des befriedigten Gläubigers wären von Gesetzes wegen auf den Bürgen Misteli übergegangen, und zwar kraft der Zahlung, die bereits erfolgt war, als das Schreiben vom 5. August 1967 abgeschickt wurde. Wer das Schreiben las, konnte daher schlechterdings nicht annehmen, der Crédit Agricole sei noch Gläubiger und wolle durch dasselbe auf seine Forderung oder zum mindesten auf die Bürgschaftsrechte gegen den Kläger verzichten; nach dem im Schreiben geschilderten Sachverhalt hätte nur noch Misteli die Hauptschuld erlassen oder den Kläger seiner Verpflichtung entheben können.
Mit der von der Vorinstanz gegebenen Begründung kann daher die Aberkennungsklage nicht geschützt werden.
2.
- Die Beklagte will dem Crédit Agricole den Betrag von
BGE 95 II 242 S. 250
Fr. 78 957.-- in der Absicht bezahlt haben, die noch ungedeckte Darlehensforderung in dieser Höhe gegen die EGA SA samt allen Nebenrechten, namentlich den Bürgschaftsansprüchen, zu erwerben.
Diese Behauptung hat angesichts des Schreibens vom 21. Juli 1967, mit dem die Beklagte erstmals an den Crédit Agricole herantrat, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Denn entgegen der Darstellung der Vorinstanz teilte die Beklagte damals dem Crédit Agricole nicht mit, "ihr Kunde Misteli habe sie beauftragt, ihr, der Crédit Agricole, Fr. 30 000.-- zur anteilmässigen Ablösung seiner Bürgschaftsverpflichtung zukommen zu lassen". Sie schrieb vielmehr, sie sei auf Ersuchen ihres Kunden Misteli bereit, den vom Crédit Agricole der EGA SA gekündigten Kredit bis zum Totalbetrag von Fr. 30 000.-- zu übernehmen gegen einfache Abtretung dieser Teilforderung samt den entsprechenden Solidarbürgschaftsansprüchen. Ebenso wies sie bei der Bezahlung des vom Crédit Agricole verlangten vollen Betrages von Fr. 78 957.-- erneut darauf hin, diese erfolge unter der Bedingung, dass der Crédit Agricole ihr alle seine Rechte gegen die EGA SA und gegen die Solidarbürgen abtrete.
Die Vorinstanz hat indessen die Frage, ob die Beklagte zwecks Forderungserwerbs oder zur Ablösung der Bürgschaftsverpflichtung Mistelis bezahlt habe, offen gelassen. Es ist jedoch nicht nötig, die Sache zur Abklärung des Sachverhalts in diesem Punkte an sie zurückzuweisen. Denn selbst wenn die Darstellung der Beklagten zutreffen sollte, könnte diese sich dem Kläger gegenüber nicht auf den Forderungserwerb berufen, weil er offensichtlich nur dazu dienen sollte, dem Solidarbürgen Misteli eine bessere Stellung zu verschaffen, als ihm nach den Regeln des Bürgschaftsrechtes zukäme.
Hätte nämlich Misteli die Bürgschaftsverpflichtung erfüllt, für die ihn der Crédit Agricole betrieben hatte, so wäre dessen Darlehensforderung gegen die EGA SA im noch ungedeckten Betrag von Fr. 78 957.-- mit allen Nebenrechten kraft Gesetzes auf ihn übergegangen. Alsdann hätte er auf die drei andern Solidarbürgen, also den Kläger, sowie auf G. und A. Borruat, Rückgriff nehmen können, und zwar nicht nur für die seinen Kopfanteil übersteigende Leistung, sondern auf Grund der Ausscheidungsvereinbarung vom 30. November 1966 für den ganzen von ihm bezahlten Betrag von Fr. 78 957.--. Diese Vereinbarung
BGE 95 II 242 S. 251
sieht aber für den Ersatzanspruch Mistelis keine solidarische Haftung der drei andern Bürgen vor, so dass Misteli von jedem von ihnen nur einen Drittel seiner Leistung, also Fr. 26 319.--, hätte fordern können. Einen Ausfall, den er allenfalls an den beiden Bürgen Borruat erleiden würde, hätte er an sich zu tragen, wobei er schlimmstenfalls einen Schaden von Fr. 52 638.-- erlitte. Der Bürge Hiltmann dagegen hätte über seine bereits geleistete Bürgschaftszahlung hinaus weitere Fr. 26 319.-- an Misteli zu zahlen, so dass er, vorbehältlich seiner Regressansprüche gegen die beiden Mitbürgen Borruat, insgesamt mit Fr. 56 319.-- belastet wäre.
Von der Beklagten gestützt auf den Erwerb der noch ungedeckten Darlehensforderung von Fr. 78 957.-- samt allen Nebenrechten belangt, hätte der Kläger dagegen als Solidarbürge für den vollen Betrag aufzukommen. Da die übrigen Solidarbürgen (Misteli, G. und A. Borruat) vom ursprünglichen Gläubiger ebenfalls betrieben worden sind, könnte er sich nicht darauf berufen, dass er mit seiner Leistung von Fr. 30 000.-- an den Crédit Agricole bereits mehr als seinen Kopfanteil bezahlt habe (
Art. 497 Abs. 2 OR
). Kraft seiner Bürgschaftsleistungen von Fr. 30 000.-- und Fr. 78 957.-- würde die volle Darlehensforderung auf den Kläger übergehen. Auf den Mitbürgen Misteli könnte er jedoch angesichts der Ausscheidungsvereinbarung vom 30. November 1966 nicht Rückgriff nehmen, sondern er könnte nur von den beiden andern Mitbürgen G. und A. Borruat je einen Drittel seiner gesamten Zahlung von Fr. 108 957.--, also von beiden zusammen Fr. 72 638.--, ersetzt verlangen. Bei Nichteinbringlichkeit dieser Forderungen bliebe der Ausfall auf ihm haften, während dieser ohne den Forderungserwerb der Beklagten, wie oben dargelegt wurde, von Misteli zu tragen wäre. Diesem bliebe somit dank dem Forderungserwerb der Beklagten ein Verlust von Fr. 52 638.-- erspart.
Dieses günstige Ergebnis hätte Misteli nicht erzielen können, indem er selber dem Crédit Agricole die noch ungedeckte Restforderung von Fr. 78 957.-- abgekauft hätte, statt seine Bürgschaftsverpflichtung zu erfüllen. Eine solche Abtretung der Gläubigerrechte wäre dem Kläger gegenüber unwirksam gewesen, da das Rückgriffsverhältnis unter den Solidarschuldnern der Einwirkung des Gläubigers gänzlich entzogen ist (
BGE 53 II 30
). Offensichtlich aus diesem Grunde wurde die Beklagte als Forderungserwerberin vorgeschoben, während der
BGE 95 II 242 S. 252
wirkliche Forderungsinhaber Misteli war. Denn es ist schon an und für sich wenig glaubhaft, dass die Beklagte, eine Bank, auf eigene Rechnung eine Forderung gegen einen Schuldner erwerben wollte, der sich, wie die EGA SA, bereits in Zahlungsschwierigkeiten befand. Abgesehen hievon geht aus den Akten deutlich hervor, dass die Beklagte nur der Strohmann Mistelis war. Schon mit ihrem Schreiben vom 21. Juli 1967 an den Crédit Agricole hatte sie sich als Beauftragte ihres Kunden Misteli vorgestellt, auf dessen Ersuchen sie bereit sei, die Forderung des Crédit Agricole gegen die EGA SA zum Teil zu übernehmen. Bezeichnend ist aber vor allem, dass der der Beklagten für das Berufungsverfahren auferlegte Gerichtskostenvorschuss von Misteli erlegt wurde. Dies zeigt eindeutig, dass der vorliegende Prozess auf seine Rechnung, in seinem Interesse und auf sein Betreiben hin geführt wird. Als bloss vorgeschobene Forderungserwerberin muss sich die Beklagte gleich wie Misteli selber entgegenhalten lassen, dass ein Abkommen mit dem Gläubiger der Hauptschuld für das Rückgriffsverhältnis unter den Solidarbürgen unbeachtlich ist.
Mit ihrem Hauptstandpunkt, der Kläger schulde ihr die streitigen Fr. 78 957.-- aus Solidarbürgschaft für die durch Abtretung auf sie übergegangene Darlehensforderung gegen die EGA SA, vermag die Beklagte somit nicht durchzudringen.
3.
- Für diesen Fall hat die Beklagte im kantonalen Verfahren geltend gemacht, der Kläger schulde ihr den streitigen Betrag auf Grund der Zession Mistelis vom 23. April 1968, mit der dieser ihr alle seine Rechte aus der Ausscheidungsvereinbarung vom 30. November 1955 abgetreten habe.
Das Handelsgericht hat erklärt, dieser Eventualstandpunkt sei nach zürcherischer Praxis unbeachtlich, weil er mit der Hauptbegründung in unlösbarem Widerspruch stehe.
Im Berufungsverfahren hat die Beklagte diese Eventualbegründung nicht mehr vorgebracht. Das schlösse indessen ihre Berücksichtigung nicht ohne weiteres aus. Denn
Art. 63 OG
verpflichtet das Bundesgericht - und damit auch die kantonale Instanz - das auf den festgestellten Tatbestand anwendbare Bundesrecht selbst ohne Anrufung durch die Parteien, also von Amtes wegen, anzuwenden, ohne an eine unvollständige oder irrige rechtliche Begründung seitens der Parteien gebunden zu sein (
BGE 89 II 340
,
BGE 90 II 40
Erw. 6 b,
BGE 91 II 65
Erw. 2). Es ist deshalb zu prüfen, ob die Auffassung der Vorinstanz, der Eventualstandpunkt
BGE 95 II 242 S. 253
der Beklagten sei aus Gründen des kantonalen Prozessrechtes unbeachtlich, vor dem Bundesrecht standhält.
Das Bundesgericht hat gestützt auf die oben erwähnte Rechtsprechung entschieden, ein kantonales Gericht dürfe die Beurteilung einer aus dem selben Sachverhalt abgeleiteten Eventualbegründung nicht mit dem Hinweis darauf ablehnen, dass dafür eine andere kantonale Instanz zuständig sei (z.B. das Gewerbegericht,
BGE 91 II 65
Erw. 3; der ordentliche kantonale Richter anstelle der bundesrechtlich vorgeschriebenen einzigen kantonalen Instanz für Markenrechtsstreitigkeiten,
BGE 92 II 312
Erw. 5), und so den streitigen Anspruch in zwei Klagen zerlegen.
Im vorliegenden Falle hat die Beklagte jedoch ihre Eventualbegründung nicht auf den gleichen Sachverhalt gestützt, sondern sie beruft sich auf einen völlig andern Tatbestand. Im Hauptstandpunkt bezeichnet sie sich als Abtretungsgläubiger des Crédit Agricole und belangt den Kläger aus seiner Solidarbürgschaft für die Darlehensforderung ihres Rechtsvorgängers; im Eventualstandpunkt macht sie dagegen geltend, sie sei Abtretungsgläubiger des zahlenden Solidarbürgen Misteli und stützt ihre Forderung auf den Ausscheidungsvertrag vom 30. November 1966.
Kraft der ihnen durch
Art. 64 Abs. 3 BV
vorbehaltenen Prozessrechtshoheit steht es den Kantonen frei, durch eine ausdrückliche Vorschrift ihrer Prozessordnung oder durch Auslegung und Praxis das Vorbringen eines Eventualstandpunktes, der sich auf einen vom Hauptstandpunkt abweichenden Tatbestand stützt, zu verbieten. Der Rechtsuchende wird dadurch freilich gezwungen, bei Abweisung seines Hauptstandpunktes den eventualiter behaupteten Sachverhalt in einem neuen Verfahren geltend zu machen. Das ist aber ein Ausfluss des kantonalen Prozessrechtes und verstösst nicht gegen die bundesrechtliche Pflicht des kantonalen Richters, das auf den gegebenen Tatbestand anwendbare Bundesrecht von Amtes wegen und im vollen Umfang anzuwenden.
4.
- Da das Handelsgericht den Eventualstandpunkt der Beklagten als in diesem Verfahren unbeachtlich bezeichnet hat und somit nicht darauf eingetreten ist, liegt in bezug auf die aus der Abtretung der Rechte des Misteli gegen seinen Mitbürgen abgeleiteten Anspruch der Beklagten keine beurteilte Sache vor. Die Beklagte kann daher diesen Anspruch in einem neuen Betreibungs- und Prozessverfahren geltend machen. Dem steht
BGE 95 II 242 S. 254
nicht entgegen, dass das Handelsgericht beiläufig ausgeführt hat, die Eventualbegründung wäre auch materiellrechtlich nicht stichhaltig. Dabei handelt es sich um eine blosse, der materiellen Rechtskraft nicht teilhaftige Meinungsäusserung, die den in erster Linie getroffenen Nichteintretensentscheid nicht zum Sachurteil zu machen vermag.
Es ist jedoch zweckmässig, schon heute zu diesen subsidiären Ausführungen des Handelsgerichts Stellung zu nehmen, da ihnen nicht beigepflichtet werden kann.
Das Handelsgericht meint, es fehle an den materiellen Voraussetzungen, die Misteli bezw. seine Rechtsnachfolgerin berechtigen würden, gestützt auf die Ausscheidungsvereinbarung vom 30. November 1966 auf den Kläger Rückgriff zu nehmen, da nicht behauptet worden sei, Misteli habe der Beklagten den streitigen Betrag ersetzt.
Mit der Berufung auf die Abtretung der dem Misteli aus der Ausscheidungsvereinbarung zustehenden Rechte machte die Beklagte jedoch implicite geltend, Misteli habe - durch ihre Zahlung - seine Bürgschaftsverpflichtung gegenüber dem Crédit Agricole erfüllt. Damit wäre die materielle Voraussetzung gegeben, um gemäss der Ausscheidungsvereinbarung die drei andern Bürgen für je einen Drittel der von Misteli erbrachten Bürgschaftsleistung belangen zu können.
Das Handelsgericht ist sodann der Ansicht, die Abtretung der Rechte aus der Ausscheidungsvereinbarung dürfe im vorliegenden Aberkennungsprozess nicht angerufen werden, weil sie erst nach der Zustellung des Zahlungsbefehls stattgefunden habe.
Diese Auffassung widerspricht jedoch der Rechtsprechung des Bundesgerichtes, wonach der Aberkennungsbeklagte im Aberkennungsprozess seinen Anspruch anders begründen kann als im Betreibungs- und Rechtsöffnungsverfahren und die Natur der Aberkennungsklage der Berücksichtigung einer erst während der Betreibung erfolgten Abtretung nicht entgegensteht (
BGE 78 II 160
,
BGE 83 II 214
,
BGE 91 II 111
).
5.
- Die Beklagte beruft sich schliesslich noch auf die Bestimmungen über die ungerechtfertigte Bereicherung. Sie macht geltend, wenn das Bundesgericht zum Schluss komme, der Inhalt des Schreibens des Crédit Agricole vom 5. August 1967 entspreche nicht der Wahrheit, sei der Kläger ungerechtfertigt bereichert; denn in diesem Falle sei er aus Irrtum oder andern Gründen zu Unrecht aus der Bürgschaft entlassen worden und
BGE 95 II 242 S. 255
müsse daher eine Zahlung nicht leisten, die er auf Grund der wahren Sachlage erbringen müsste.
Wie jedoch in Erw. 1 ausgeführt wurde, kann das erwähnte Schreiben des Crédit Agricole nicht als Entlassung des Klägers aus der Bürgschaft aufgefasst werden. Damit ist dem Einwand der Beklagten der Boden entzogen. Der Anspruch der Beklagten aus der Ausscheidungsvereinbarung aber, auf den sich die Beklagte übrigens zur Begründung ihres angeblichen Bereicherungsanspruchs nicht beruft, ist noch nicht beurteilt, sodass eine Bereicherung des Klägers unter diesem Gesichtspunkt nicht in Frage kommt.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handels gerichts des Kantons Zürich vom 11. Juni 1968 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,969 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
ebab5580-8646-4683-9507-d204938dfa2b | Urteilskopf
120 II 93
20. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour civile du 20 janvier 1994 dans la cause H. SA contre Banque X. (recours en réforme) | Regeste
Art. 48 Abs. 1 OG
; Säumnisurteil; Einsprache.
Unzulässigkeit der Berufung der säumigen Partei gegen ein Säumnisurteil, gegen das Einsprache erhoben werden kann, die an keine besonderen Bedingungen gebunden ist. | Erwägungen
ab Seite 93
BGE 120 II 93 S. 93
Extrait des considérants:
1.
La présente espèce soulève la question de la recevabilité du recours en réforme interjeté par la partie défaillante contre un jugement par défaut.
a) Le Tribunal fédéral a examiné cette question dans deux arrêts de principe publiés (
ATF 79 II 106
ss,
ATF 60 II 51
ss).
Dans le premier en date, qui a été rendu sous l'empire de l'ancienne loi fédérale d'organisation judiciaire, il a admis que la partie défaillante pouvait recourir en réforme contre un jugement par défaut, ce jugement fût-il susceptible de relief. Certes, y souligne-t-il, "ce n'est pas sans apparence de raison que l'intimé considère le relief comme un moyen ordinaire d'obtenir un nouvel examen de la
BGE 120 II 93 S. 94
cause" (
ATF 60 II 55
). Toutefois, "le droit de relief n'appartient pas aux deux parties, mais au défaillant seul. Par conséquent, si la faculté de recourir au Tribunal fédéral avait pour condition l'exercice préalable du droit de relief, le défaillant seul serait maître de la condition et pourrait, en ne demandant pas le relief, priver du même coup son adversaire de la possibilité de recourir. Cela est inadmissible" (ibid.).
Dans le second arrêt, postérieur à l'entrée en vigueur de la loi fédérale d'organisation judiciaire du 16 décembre 1943 (OJ), le Tribunal fédéral a, en revanche, déclaré irrecevable le recours en réforme interjeté par la partie défaillante contre un arrêt par lequel le Tribunal cantonal vaudois avait rejeté le recours en nullité visant un jugement par défaut rendu par un tribunal de district. Se référant à son précédent arrêt, il a, en effet, considéré que l'arrêt cantonal n'était pas une décision finale, au sens de l'
art. 48 al. 1 OJ
, du moment que la partie défaillante aurait pu demander le relief du jugement par défaut et que la partie présente aurait pu recourir contre ce jugement, tout comme s'il s'était agi d'un jugement rendu en contradictoire, ce qui n'était pas le cas dans la première affaire (
ATF 79 II 106
consid. 1 p. 110/111).
b) La solution, sinon les motifs, retenue dans l'arrêt publié aux
ATF 79 II 106
ss est approuvée par la doctrine quasi unanime.
Certains auteurs se bornent à l'énoncer, en se référant à ce précédent (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3e éd., p. 543 in fine; HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2e éd., p. 478, n. 779 et note de pied 8; MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, p. 89, note de pied 4).
Deux auteurs ont examiné le problème de manière plus approfondie. WURZBURGER (Les conditions objectives du recours en réforme au Tribunal fédéral, thèse Lausanne 1964, p. 189/190 n. 254) estime difficile de considérer la demande de relief comme un recours ordinaire, vu son absence d'effet dévolutif. Il est cependant d'avis que, pour le défaillant tout au moins, le jugement ne signifie pas la perte définitive de ses droits et ne constitue donc pas une décision finale. POUDRET (COJ, p. 310/311, n. 1.3.5 ad art. 48) conteste, quant à lui, que l'on puisse dénier la qualification de final à un jugement par défaut du seul fait qu'il est susceptible, en vertu de la procédure cantonale, d'une demande de relief permettant au défaillant d'obtenir la reprise de la cause en contradictoire dans un certain délai. En revanche, il lui paraît justifié d'assimiler le relief à un recours
BGE 120 II 93 S. 95
ordinaire de droit cantonal, en tout cas dans la mesure où ce moyen a un effet suspensif et dévolutif, en ce sens qu'il reporte la cause dans son entier devant les mêmes juges. Il en résulte, selon lui, que le défaillant est tenu d'exercer ce moyen, s'il entend pouvoir ensuite recourir en réforme, conformément à l'exigence de l'épuisement des recours ordinaires cantonaux. Cet auteur ne fait qu'une exception - elle n'entre pas en ligne de compte en l'espèce - pour le cas où le défaillant utiliserait une autre voie de recours ordinaire mise concurremment à sa disposition par le droit de procédure cantonal pour remédier à la violation du droit fédéral. Enfin, à l'instar de WURZBURGER (op.cit., p. 190, n. 254 et note de pied 84), il précise que le droit de recours des parties présentes ne dépend pas de l'exercice ou non du relief par le défaillant; ces parties devront donc recourir sans égard au relief, quitte à suspendre le recours en réforme, en application de l'
art. 57 al. 1 OJ
, si le défaillant fait usage de ce moyen. MERCIER (Le jugement par défaut en procédure civile vaudoise, thèse Lausanne 1974, p. 199 in limine et note de pied 35) est apparemment le seul auteur à exprimer une opinion dissidente, qu'il ne motive du reste pas puisqu'il se contente d'affirmer - en se référant notamment à l'arrêt publié aux
ATF 60 II 51
ss et en se réclamant de BIRCHMEIER - que le défaillant peut recourir en réforme au Tribunal fédéral contre un jugement par défaut de la Cour civile, alors même que ce jugement est susceptible de relief. Il est douteux que l'avis de BIRCHMEIER soit invoqué ici à bon escient, dès lors que cet auteur, tout en reconnaissant que le jugement par défaut est un jugement final ("Endentscheid"; Bundesrechtspflege, p. 162), assimile le relief à un recours ordinaire de droit cantonal (op.cit., p. 170). Au demeurant, MERCIER ne cite même pas l'arrêt
ATF 79 II 106
ss qui contredit sa thèse et qui a été rendu postérieurement à la publication de l'ouvrage de BIRCHMEIER.
c) Aux termes de l'
art. 48 al. 1 OJ
, le recours en réforme n'est recevable en règle générale que contre les décisions finales prises par les tribunaux ou autres autorités suprêmes des cantons et qui ne peuvent pas être l'objet d'un recours ordinaire de droit cantonal. La jurisprudence qualifie une décision de finale lorsque la juridiction cantonale statue sur une prétention matérielle ou refuse d'en juger pour un motif interdisant définitivement que la même prétention soit une nouvelle fois émise entre les mêmes parties (
ATF 118 II 447
consid. 1b et les références,
ATF 116 II 381
consid. 2a). Tel est le cas du jugement par défaut, dans la mesure où il statue sur le fond ou, de toute autre manière, entraîne la perte de l'action, comme le souligne
BGE 120 II 93 S. 96
à juste titre POUDRET (op.cit., p. 310). L'opinion de cet auteur mérite également d'être suivie en ce qui concerne l'assimilation du relief à un recours ordinaire de droit cantonal. Il doit en aller ainsi en tout cas lorsque la partie défaillante peut demander - sans autres conditions que le paiement des frais frustratoires et le respect du délai ainsi que des prescriptions de forme prévus par le droit de procédure cantonal - le relief du jugement par défaut et que ce moyen a un effet suspensif et dévolutif, c'est-à-dire empêche de plein droit le jugement par défaut d'entrer en force de chose jugée et reporte la cause dans son entier devant les mêmes juges. Cette solution, conforme dans son résultat à celle de l'arrêt publié aux
ATF 79 II 106
ss, correspond d'ailleurs à celle que la Cour de cassation pénale a adoptée de longue date en matière de recevabilité du pourvoi en nullité contre un jugement cantonal rendu par défaut (
ATF 102 IV 59
,
ATF 80 IV 137
). Cela étant, la possibilité de demander le relief n'a pas d'incidence sur le droit de recours de la partie non défaillante. Si celle-ci interjette un recours en réforme et que la partie défaillante dépose parallèlement une demande de relief, il convient simplement de surseoir à l'arrêt du Tribunal fédéral jusqu'à droit connu sur cette demande (
art. 57 al. 1 OJ
appliqué par analogie).
En l'occurrence, la défenderesse attaque directement devant le Tribunal fédéral le jugement par défaut rendu à son encontre, alors qu'elle aurait pu en demander le relief, en payant les frais frustratoires, et obtenir ainsi d'être replacée dans la situation où elle se trouvait avant l'audience à laquelle elle avait fait défaut (
art. 311 al. 3 CPC
/VD; MERCIER, op.cit., p. 219 ss). Son recours en réforme est, en conséquence, irrecevable faute d'épuisement préalable des recours ordinaires de droit cantonal. | public_law | nan | fr | 1,994 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
ebb170f9-0127-4b04-90e8-51cea721bbf1 | Urteilskopf
101 Ia 583
90. Extrait de l'arrêt du 9 juillet 1975 dans la cause Bussard et consorts contre Fribourg, Grand Conseil et Conseil d'Etat. | Regeste
Kantonales Finanzreferendum.
1. Gegen ein kantonales Dekret, das nicht unmittelbar Ausgaben zulasten des Staates zur Folge hat, ist das Finanzreferendum nicht gegeben (E. 2).
2. Es liegt keine Verletzung des Volkswillens in der Tatsache, dass die Finanzierung eines Werkes, das ursprünglich in einem - vom Volk dann in der Referendumsabstimmung abgelehnten - Kredit vorgesehen war, in anderer Weise, ohne Staatsbeitrag sichergestellt wird (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 584
BGE 101 Ia 583 S. 584
A.-
Le 27 novembre 1974, le Grand Conseil du canton de Fribourg a adopté un décret ratifiant la convention passée entre l'Etat de Fribourg et la Fondation pour les bâtiments de l'Université de Fribourg (en abrégé: la Fondation), par laquelle le Conseil d'Etat chargeait cette dernière de la construction et du financement des bâtiments universitaires de Miséricorde, selon le projet comportant le prolongement de l'aile des cours jusqu'à la route du Jura et la fermeture du quadrilatère par une galerie libérant entièrement le sol. Selon la convention, le financement de cette construction, dont le coût total est devisé à 13'086'000 fr., est assuré par les subventions fédérales pour un montant de 11'777'400 fr., ainsi que par un apport de la Fondation de 1'308'600 fr. L'octroi des subventions fédérales au taux de 90% était subordonné à la condition que l'adjudication des travaux se fasse avant le 31 décembre 1974.
Promulgué par le Conseil d'Etat le 2 décembre 1974, le décret du 27 novembre 1974 a été publié dans la "Feuille officielle" du 6 décembre 1974.
B.-
La solution adoptée par la convention faisait suite au rejet par le peuple fribourgeois, en votation du 26 mai 1974, d'un crédit de 1'416'500 fr. voté par le Grand Conseil le 14 novembre 1973 et contre lequel le référendum avait été demandé. Le montant de ce crédit représentait la part à supporter par le canton de Fribourg pour l'agrandissement de l'Université, dont les travaux étaient devisés à 14'165'000 fr., le solde étant couvert par des subventions fédérales.
C.-
Agissant par la voie du recours de droit public, Paul Bussard à Epagny, Jules Bossel à Saint-Martin et Oscar Papaux aux Ecasseys requièrent le Tribunal fédéral d'annuler le décret du Grand Conseil du 27 novembre 1974 et l'arrêté de promulgation du Conseil d'Etat du 2 décembre 1974.
Le Tribunal fédéral a rejeté le recours dans la mesure où il était recevable.
BGE 101 Ia 583 S. 585
Erwägungen
Extrait des motifs:
2.
L'art. 28bis Cst. frib. a la teneur suivante:
"Toute loi ou décret de portée générale voté par le Grand Conseil et n'ayant pas le caractère d'urgence doit être soumis au peuple si la demande en est faite par 6000 citoyens.
Toute loi ou décret entraînant une dépense extrabudgétaire de plus de 500'000 francs doit être soumis à la votation populaire, à la demande d'un quart des députés ou de 6000 citoyens.
Toute loi ou décret entraînant une dépense extrabudgétaire de 3'000'000 de francs (trois millions) et plus doit être soumis à la votation populaire."
Les recourants soutiennent que, par le décret du 27 novembre 1974, les autorités fribourgeoises auraient soustrait volontairement à la procédure de référendum financier la dépense qui, d'après eux, devrait résulter de l'agrandissement de l'Université. Ils allèguent que cet agrandissement entraînera pour l'Etat diverses dépenses, notamment celles qui concernent la couverture des voies CFF, qui avait été réservée par l'art. 8 du décret du 14 novembre 1973 et qui, d'après le Message du Conseil d'Etat du 8 octobre 1973 relatif audit décret, devrait coûter au total 3 millions de francs. Ils ajoutent qu'il n'a pas été tenu compte non plus de la dépense qu'entraînera la création de places de parc, mais ils n'évaluent pas le montant nécessaire à cet effet. Ils ne disent pas s'ils considèrent que le décret aurait dû être soumis au référendum financier facultatif (art. 28bis al. 2) ou au référendum financier obligatoire (art. 28bis al. 3).
a) Le décret du 27 novembre 1974, comportant ratification de la convention passée entre l'Etat et la Fondation, n'est certainement pas un décret de portée générale; il n'est donc pas soumis au référendum législatif facultatif (art. 28bis al. 1). Le Grand Conseil l'a constaté à juste titre dans l'art. 2 du décret en y insérant la mention Selon laquelle il n'a pas de portée générale. Les recourants ne contestent pas cette décision.
b) Pour qu'un décret Soit sujet au référendum financier (facultatif ou obligatoire), il faut d'une part qu'il "entraîne une dépense" et d'autre part que cette dépense soit "extrabudgétaire"; il faut aussi, bien que le texte constitutionnel ne le dise pas expressément, que la dépense soit nouvelle et non
BGE 101 Ia 583 S. 586
liée, car rien ne permet d'admettre que le constituant ait voulu obliger les autorités politiques du canton à soumettre au peuple un décret comportant une dépense que le canton a l'obligation d'effectuer (RO 100 Ia 371).
c) Dans le texte même du décret du 27 novembre 1974, on ne trouve aucune trace d'un engagement entraînant une dépense à la charge du canton. Ce décret ratifie une convention aux termes de laquelle le financement de l'agrandissement des bâtiments universitaires est assuré d'une part par la Confédération, d'autre part par la Fondation, qui est autorisée à émettre des emprunts pour assurer les liquidités nécessaires. L'art. 2 de la convention laisse entendre que l'exécution de celle-ci est de nature à entraîner des économies pour l'Etat (suppression des diverses locations qui chargent actuellement le budget universitaire).
d) Au sujet de la couverture des voies CFF, le Conseil d'Etat avait indiqué, dans son Message de 1973 présenté à l'appui du premier décret, que cette couverture avait été jugée indispensable afin d'éviter les nuisances et surtout le bruit et de permettre aux nouveaux bâtiments d'être utilisés normalement. Dans son Message du 21 novembre 1974, le Conseil d'Etat a déclaré que "la couverture de la voie ferrée devant les bâtiments de Miséricorde reste un complément nécessaire des constructions projetées", que des pourparlers avec les CFF et les PTT sont envisagés, le consentement de principe de la part des CFF étant pratiquement assuré, mais qu'en tout état de cause cette couverture ne constituera pas, pour l'Etat, de problème financier. Dans son intervention devant le Grand Conseil, le Conseiller d'Etat directeur de l'instruction publique a précisé que, "d'après les calculs, l'Etat ne sera pas appelé à participer à cette réalisation".
Les intimés confirment cette dernière information dans leur réponse au recours. Ils se contredisent cependant sur un point. Dans leur mémoire du 7 février 1975, produit en réponse à la demande de mesures provisionnelles, ils affirment que la couverture de la voie ferrée "a été clairement liée à la construction proprement dite", en ajoutant que la Fondation prendrait en charge la part de l'Etat au financement de la couverture de la voie ferrée après que les pourparlers en cours avec les CFF et les PTT auront abouti. Cependant, d'après leur réponse au fond du 28 février 1975, la couverture de la
BGE 101 Ia 583 S. 587
voie du chemin de fer constituerait un problème qui serait "totalement indépendant de la construction des bâtiments eux-mêmes"; ils ajoutent même qu'en déclarant ces aménagements absolument nécessaires à l'agrandissement de l'Université, les recourants font une affirmation toute gratuite.
Mais cette contradiction est peut-être plus apparente que réelle. Ainsi qu'il ressort du dossier, la couverture des voies CFF est souhaitable - dans l'intérêt de l'enseignement - même si l'agrandissement des bâtiments n'était pas entrepris. On peut donc admettre qu'il s'agit d'un aménagement qui ne fait pas partie du train des travaux prévus par la convention. Mais les architectes en ont affirmé la nécessité, et c'est dans ce sens que le problème est lié aux nouveaux aménagements. Il s'agit probablement d'une dépense qui devra être effectuée, mais on ne sait pas encore qui sera appelé à la supporter; la question doit encore être discutée par les autorités fédérales et cantonales, éventuellement aussi avec la Fondation, avant qu'une décision ne soit prise. Et si, finalement, une partie de la charge devait incomber à l'Etat, elle devrait faire l'objet d'un crédit à accorder par le Grand Conseil dans un nouveau décret.
e) Au sujet de l'aménagement de places de parc, les recourants déclarent qu'il est rendu nécessaire en raison de la fermeture envisagée du quadrilatère des bâtiments de Miséricorde; ils prétendent qu'en application du règlement communal "sur les emplacements pour véhicules et les places de jeux exigibles sur fonds privé", il faudrait aménager plus de 280 places de parc pour les étudiants et les professeurs.
Le problème des places de stationnement pour véhicules automobiles a été soulevé devant le Grand Conseil par le rapporteur de la minorité de la commission opposée au décret. Le Directeur de l'instruction publique a reconnu que "le problème du "parking" est réel" et qu'il doit être étudié entre le Conseil d'Etat et la commune de Fribourg. Mais, dans leur réponse au présent recours, les intimés ne s'expriment pas sur le point de savoir si, en vertu du règlement communal, l'Etat est obligé d'aménager des places de parc; ils se réfèrent cependant à un avis de droit du professeur Macheret, qui relève d'une part que la commune est seulement "en droit" d'exiger l'aménagement d'emplacements pour véhicules et qu'elle n'est donc pas tenue de le faire, et que d'autre part ce règlement ne s'applique qu'aux fonds privés.
BGE 101 Ia 583 S. 588
La jurisprudence admet qu'en principe l'Etat est soumis, pour ses constructions, aux prescriptions communales en la matière; tout au plus faut-il réserver le cas où cette soumission entraverait le canton dans l'exécution de ses tâches découlant de la constitution ou de la loi (RO 91 I 423 ss; cf. aussi RO 92 I 210 s.). En l'espèce, il n'est pas sûr que le règlement communal "sur les emplacements pour véhicules et les places de jeux exigibles sur fonds privé" du 25 juin/19 juillet 1968, approuvé par le Conseil d'Etat le 3 septembre 1968, soit applicable, puisqu'il semble viser uniquement les propriétaires privés et bien que son barème annexe - calqué vraisemblablement sur les normes établies par l'Union suisse des professionnels de la route, auxquelles se réfère l'art. 24 du règlement cantonal d'exécution de la loi sur les constructions - contienne une rubrique "écoles" et une sous-rubrique "université". D'autre part, il est vrai que l'art. 1er dit seulement que la commune "est en droit d'exiger" l'aménagement de telles places: en raison des circonstances spéciales du cas, notamment du fait que les bâtiments universitaires servent également à de nombreuses manifestations publiques à caractère socio-culturel dont bénéficie principalement la collectivité urbaine, il est possible que la commune ne demande pas à l'Etat d'aménager lui-même de nouvelles places de stationnement; d'ailleurs, les nouvelles normes élaborées par l'Union suisse des professionnels de la route (SNV 641050 de mars 1972 remplaçant les précédentes - SNV 40617 - de septembre 1961) ne donnent plus d'indications chiffrées pour les universités, mais précisent que les besoins en places de parc ne peuvent être déterminés que dans le cadre d'une étude d'ensemble des transports. Aussi bien les autres universités de Suisse sont-elles loin de prévoir toutes des places de parc pour les étudiants autour des bâtiments sis en ville. Les dimensions de la ville de Fribourg, de même que la proximité des moyens de transport publics, pourraient éventuellement ne pas imposer de tels aménagements.
Ainsi, l'on ne sait encore de façon sûre ni s'il faudra aménager d'autres places de stationnement pour les bâtiments de Miséricorde, ni quel en sera éventuellement le coût, ni à qui en incombera la charge. Si finalement l'Etat lui-même devait supporter une dépense à ce titre, il faudrait vraisemblablement qu'il se fasse ouvrir un crédit par décret du Grand Conseil,
BGE 101 Ia 583 S. 589
décret qui pourrait, le cas échéant, tomber sous le coup des dispositions de l'art. 28bis al. 2 ou 3 Cst. frib.
3.
a) La constitution et la législation fribourgeoises n'indiquent pas dans quels cas l'on doit considérer qu'une loi ou un décret "entraîne une dépense". Mais on peut appliquer par analogie les règles qui ont été admises récemment sur le plan fédéral, dans l'arrêté fédéral du 20 juin 1975 Sur les décisions en matière de dépenses. D'après l'art. 1er al. 1 lettre c de l'arrêté fédéral, on doit considérer qu'un acte législatif de portée générale entraîne des dépenses à la charge de la Confédération lorsqu'il institue un droit à des prestations financières de celle-ci ou qu'il la contraint à fournir des prestations financières déterminées ou à assumer des obligations de paiement conditionnelles (cautionnements, garanties). Le décret attaqué n'institue certes pas un droit à des prestations financières à la charge du canton de Fribourg et ne contraint pas ce canton à assumer des obligations de paiement conditionnelles. On ne saurait dire non plus qu'il contraigne le canton à fournir des "prestations financières déterminées". Certes, ces constructions peuvent être la cause indirecte - ou l'une des causes indirectes - de certaines dépenses: elles pourraient, par exemple, rendre possibles l'engagement de nouveaux professeurs, l'admission de nouveaux étudiants, l'exécution de nouveaux aménagements urbains ou d'autres dépenses de même nature. Mais elles n'obligent pas le canton à effectuer de nouvelles dépenses, et les autorités ne seront tenues d'en effectuer qu'en vertu de nouvelles décisions. Le décret attaqué n'entraîne donc pas des dépenses à la charge de l'Etat au sens de l'art. 28bis Cst. frib. Les intimés relèvent même, en accord avec l'art. 2 de la convention, que la construction envisagée entraînera plutôt des économies pour le canton, du fait que l'Etat pourra se dispenser de prendre en location des locaux, pour un loyer annuel de plus de 200'000 fr.; au total, une économie de 100'000 fr. pourrait être ainsi réalisée par le regroupement des instituts et séminaires à Miséricorde. Les recourants ne contestent pas l'exactitude de ce montant.
b) Pour être soumises au référendum financier, il faut encore que les dépenses que peut entraîner une loi ou un décret soient des dépenses extrabudgétaires. On considère comme telles les dépenses qui ne peuvent pas être supportées
BGE 101 Ia 583 S. 590
par le budget d'un seul exercice et doivent être amorties par des annuités budgétaires (art. 21 de la loi financière du 15 novembre 1960; RO 100 Ia 369). Il s'agit notamment des crédits d'engagement votés par le Grand Conseil et réactivés au budget en vue de leur amortissement par tranches. Contrairement à ce que prévoient les constitutions de certains cantons (Zurich, art. 30 al. 2 Cst. cant.; Berne, art. 6 ch. 4 Cst. cant.; Schwyz, art. 30 al. 2 Cst. cant.), il ne suffit donc pas, dans le canton de Fribourg, que la dépense soit nouvelle ou même extraordinaire pour qu'elle doive être soumise au référendum financier; comme dans le canton de Vaud (art. 27 al. 1 ch. 2 Cst. cant.), il faut encore qu'il y ait une certaine relation entre la dépense et le budget de l'Etat: le peuple ne sera appelé à se prononcer que si la dépense ne peut pas être couverte par le budget de l'année au cours de laquelle elle doit être effectuée, son financement devant être reporté sur des exercices ultérieurs, en partie tout au moins.
Or la réponse à cette question ne pourrait être donnée qu'au moment où de nouveaux crédits éventuels devraient être votés Par le Grand Conseil. Mais alors les dépenses à couvrir par de tels crédits ne pourraient pas être considérées comme des dépenses liées et donc soustraites pour cette raison au référendum, puisqu'il est admis qu'elles ne sont pas entraînées nécessairement par le décret attaqué. D'ailleurs, en principe, une dépense ne peut être considérée comme liée que si elle découle déjà d'une loi ou d'une décision antérieures qui étaient sujettes au référendum, ce qui n'est pas le cas du décret en cause.
4.
Les recourants soutiennent encore qu'en adoptant le décret attaqué, le Grand Conseil aurait violé une décision prise régulièrement par le souverain dans l'exercice de ses droits politiques. En rejetant le 26 mai 1974 le décret du 14 novembre 1973, qui approuvait le projet de l'agrandissement et de l'aménagement des bâtiments universitaires et ouvrait un crédit d'engagement de 1'416'500 fr. en vue d'assurer la part du canton au coût de construction, le peuple se serait prononcé contre l'agrandissement de l'Université, et non seulement contre le crédit alloué par ledit décret. Selon les recourants, les opposants au décret de 1973 ont mis l'accent sur l'absence de planification à long terme, sur l'insuffisance de l'étude du projet, sur la médiocre qualité architecturale des
BGE 101 Ia 583 S. 591
futurs bâtiments, sur la trop modeste participation de la commune de Fribourg, sur la mission intellectuelle et morale de l'Université; faisant fi de tous ces éléments, le Grand Conseil aurait bafoué la volonté populaire en adoptant un projet destiné à réaliser un agrandissement dont le peuple ne voudrait pas.
Les intimés rétorquent qu'en rejetant le décret du 14 novembre 1973, le peuple fribourgeois a refusé une dépense extrabudgétaire et rien d'autre.
a) En vertu du principe dit du "parallélisme des formes", une autorité ne peut reviser valablement ses actes que selon la forme dans laquelle ils ont été adoptés. Le législateur ne peut notamment pas s'écarter d'une loi sujette au référendum par un décret qui y est soustrait; il ne peut en outre déléguer ses compétences à l'autorité exécutive, en l'habilitant à s'écarter de la législation en vigueur, que par un acte soumis au référendum (RO 94 I 36, 89 I 275 s.).
En l'espèce, le décret du 14 novembre 1973, rejeté par le peuple à la suite d'une demande de référendum, ne peut sortir aucun effet juridique et la situation est la même que si aucun projet n'avait été soumis au peuple. Il n'est évidemment pas possible de savoir quelles sont les raisons qui ont amené la majorité du corps électoral à rejeter le projet, ou plus exactement quelles sont les raisons qui ont pesé du plus grand poids dans la décision du corps électoral: l'agrandissement de l'Université comme tel, ou les raisons d'ordre purement financier.
Mais cela ne joue pas de rôle sur le plan juridique. Le décret du 14 novembre 1973 n'ayant pas été accepté par le peuple, le Grand Conseil n'était pas lié par le principe du parallélisme des formes en votant le nouveau décret qui lui était présenté. Tout autre eût été la situation si le décret du 14 novembre 1973 avait été accepté par le corps électoral et que le Grand Conseil eût voulu le modifier par un nouveau décret qu'il aurait soustrait au référendum.
b) D'ailleurs, le décret du 14 novembre 1973 a été soumis au peuple en vertu du droit de référendum financier facultatif prévu à l'art. 28bis al. 2 Cst. frib. N'ayant pas de portée générale, ce décret n'était pas soumis au référendum législatif et a été publié en vue de l'exercice du référendum facultatif, parce qu'il entraînait une dépense extrabudgétaire de plus de
BGE 101 Ia 583 S. 592
500'000 fr. et de moins de 3 millions de francs. En revanche, il a été constaté que le décret du 27 novembre 1974 n'entraînait pas de dépenses à la charge de l'Etat. Le Grand Conseil n'a donc pas voté un acte du même genre que celui qui a été refusé précédemment par le peuple. Les autorités fribourgeoises pouvaient légitimement considérer que, le crédit n'ayant pas trouvé grâce devant le peuple, elles avaient la faculté - sinon le devoir - de rechercher une autre solution évitant des dépenses pour l'Etat. Dès lors, le point de savoir dans quelle mesure il y avait lieu de tenir compte de tendances qui s'étaient exprimées dans certains milieux de la population et qui étaient hostiles à l'agrandissement de l'Université était une question purement politique - et non juridique - qu'il appartenait aux autorités politiques de résoudre dans la limite de leurs attributions constitutionnelles. En tant que les recourants reprochent aux autorités fribourgeoises d'avoir violé une décision prise régulièrement par le souverain dans l'exercice de ses droits politiques, leur argumentation est précisément politique, et non pas fondée sur un principe constitutionnel ou même sur un principe juridique quelconque. Le Tribunal fédéral n'a pas à s'immiscer dans ce débat politique. | public_law | nan | fr | 1,975 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
ebb5e1de-504a-4689-b21e-55678c1a6925 | Urteilskopf
104 Ib 157
27. Urteil vom 12. Juli 1978 i.S. Ortsgemeinde Steckborn gegen Eidg. Departement des Innern | Regeste
Kürzung einer Bundessubvention.
1. Rechtsweg: Verwaltungsrechtliche Klage, nicht Verwaltungsgerichtsbeschwerde (E. 1).
2. Übergangsrecht zum BG über Massnahmen zum Ausgleich des Bundeshaushaltes vom 5. Mai 1977. Rückwirkende Anwendung des BG hier verneint (E. 2 u. 3.).
3. Unklare Widerrufsklausel in der die Subvention zusichernden Verfügung. Keine Grundlage für die nachträgliche Reduktion der Beitragssätze (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 157
BGE 104 Ib 157 S. 157
Am 28. Januar 1976 stellte die Ortsgemeinde Steckborn beim Eidg. Departement des Innern (EDI) ein Gesuch um Ausrichtung einer Bundessubvention für den Erwerb der Halbinsel Feldbach bei Steckborn. Auf dem Areal der Halbinsel war seinerzeit eine Fabrik der Steckborn Kunstseide AG errichtet
BGE 104 Ib 157 S. 158
worden. Bei Stillegung dieses Betriebs bot sich die Möglichkeit, dieses Gelände, auf dem ehemals ein Kloster gestanden hatte und das auch landschaftlich besonders reizvoll ist, zu erwerben. Das EDI kam zum Schluss, dass die Halbinsel Feldbach Bestandteil eines Objektes von nationaler Bedeutung sei, und traf am 31. Dezember 1976 unter anderem folgenden Entscheid:
"9.1 Dem Gesuch wird entsprochen. An die subventionsberechtigten Kosten des Erwerbes der Halbinsel Feldbach in Steckborn durch die Ortsgemeinde Steckborn von Fr. 7'660'050.- wird der höchstmögliche Bundesbeitrag zur Zeit 41%, d.h. maximal Fr. 3'140'620.50 zugesichert. Änderungen der Beitragssätze im Laufe des weiteren Verfahrens aufgrund von Gesetzes- oder Verordnungsrevisionen bleiben vorbehalten.
9.2...
9.3 Die Zusicherung des Bundesbeitrages erfolgt unter nachstehenden Bedingungen und Auflagen:
...
f)...
Das Eidg. Oberforstinspektorat, Abteilung Natur- und Heimatschutz, wird ermächtigt, aufgrund der ihm einzureichenden rechtsgültigen Kaufverträge und definitiv erhobenen Grundstückmasse den durch diese Verfügung zugesicherten Globalbetrag nach Massgabe der verfügbaren Kredite ratenweise auszuzahlen."
Gestützt auf diese Verfügung fällte das Eidg. Oberforstinspektorat (Abteilung Natur- und Heimatschutz) noch am selben Tag den Entscheid, dass aus dem Kredit zur Förderung des Natur- und Heimatschutzes des Jahres 1976 an die Kosten des Erwerbs der Halbinsel Feldbach der Ortsgemeinde Steckborn ein Bundesbeitrag von Fr. 650'000.- zugesichert und ausbezahlt werde. Ein weiterer entsprechender Entscheid erfolgte am 13. Januar 1977 in bezug auf den Kredit für das Jahr 1977, wonach an die Kosten des Erwerbs ein Bundesbeitrag von Fr. 350'000.- zugesichert und ausbezahlt wurde.
Am 15. Juli 1977 wurden die abgeschlossenen Verträge mit den genauen Ausmassen der Grundstücke im Grundbuch eingetragen bzw. vorgemerkt. Schon kurz zuvor, am 5. Juli 1977, hatte das Eidg. Oberforstinspektorat auf Anfrage hin der Munizipalgemeinde Steckborn mitgeteilt, dass zufolge des Bundesgesetzes über Massnahmen zum Ausgleich des Bundeshaushaltes vom 5. Mai 1977 der Höchst-Subventionsansatz gemäss Art. 13 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz von 50% auf neu 40% reduziert werde. Das habe zur Folge, dass die Restsubvention für die Halbinsel
BGE 104 Ib 157 S. 159
Feldbach auf der Basis von 31% (anstatt wie bisher 41%) ausgerichtet werde. Die Rechnung stelle sich wie folgt dar:
Subventionsberechtigte Summe gemäss
Entscheid EDI vom 31.12.1976 Fr. 7'660'050.-
Bereits subventioniert durch Teilzahlungen
pro 1976 und 1977 Fr. 1'000'000.- zu 41% 2'439'024.-
---------------
Subventionsberechtigte Restsumme Fr. 5'221'026.-
===============
Unter Vorbehalt zusätzlicher Gesetzes- oder Verordnungsrevisionen im Verlaufe des weiteren Verfahrens werde auf der subventionsberechtigten Restsumme von Fr. 5'221'026.- ein Bundesbeitrag von 31% oder Fr. 1'618'518.- bezahlt. Es sei in Aussicht genommen, die Regelung in jährlichen Raten von ca. Fr. 300'000.- vorzunehmen.
Die Kommission für das Feldbach-Areal ersuchte in der Folge um nochmalige Prüfung. Das Eidg. Oberforstinspektorat hielt indessen mit Brief vom 26. Juli 1977 an seinem Standpunkt fest. Im September 1977 bewilligten die Ortsgemeinde und die Schulgemeinde Steckborn Nachtragskredite zur Deckung des Ausfalls, beschlossen aber, ein Wiedererwägungsgesuch an das EDI zu stellen, welches sie am 8. Dezember 1977 einreichten. Das EDI wies das Gesuch am 31. Januar 1978 ab. Zur Begründung wies es darauf hin, dass der Bundesbeitrag am 31. Dezember 1976 unter dem Vorbehalt zugesichert worden sei, dass im Laufe des weitern Verfahrens aufgrund von Gesetzes- oder Vorordnungsrevisionen keine Änderung der Beitragssätze beschlossen würde. Der Entscheid wurde mit der Rechtsmittelbelehrung versehen, dass die Verfügung innert 30 Tagen beim Bundesgericht angefochten werden könne.
Die Ortsgemeinde Steckborn erhob am 3. März 1978 Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des EDI vom 31. Januar 1978 sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückweisen. In einer weiteren Eingabe vom 6. März 1978 ergänzte sie das Rechtsbegehren insofern, als sie primär beantragte, es sei festzustellen, dass der Entscheid des EDI vom 31. Dezember 1976 von dieser Instanz bis heute nicht aufgehoben oder abgeändert worden sei und demzufolge der ablehnende Wiedererwägungsentscheid des EDI vom 31. Januar 1978 als gegenstandslos und hinfällig zu erklären sei. Den früheren Antrag beliess sie als Eventualantrag.
Das EDI beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
BGE 104 Ib 157 S. 160
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Ortsgemeinde Steckborn verlangt, wie namentlich durch die Ergänzung bzw. Präzisierung des Rechtsbegehrens durch Eingabe vom 6. März 1978 hervorgeht, dass ihr der zugesicherte Beitrag gemäss Verfügung vom 31. Dezember 1976 voll ausbezahlt werde. Es liegt mithin eine Streitigkeit nach
Art. 116 lit. e OG
vor. Danach hat das Bundesgericht als einzige Instanz in Streitigkeiten aus dem Verwaltungsrecht des Bundes über die Auszahlung bewilligter oder die Rückerstattung ausbezahlter Zuwendungen und die Herausgabe unrechtmässig erworbener oder anderer öffentlich-rechtlicher Vermögensvorteile zu befinden. Eine Ausnahme nach
Art. 117 lit. c OG
greift nicht ein. Es steht nichts entgegen, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als verwaltungsrechtliche Klage zu behandeln (
BGE 102 Ib 106
f. E. 2).
2.
Das EDI hat am 31. Dezember 1976 der Klägerin eine Bundessubvention von Fr. 3'140'620.50 zugesichert. Für die Jahre 1976 und 1977 erfolgte je eine Teilzahlung, insgesamt von Fr. 1'000'000.-. In der Folge nahm das EDI eine Kürzung der Bundessubvention um Fr. 522'102.50 vor, indem es auf die noch auszuzahlende Restsumme der Subvention den durch das Bundesgesetz über Massnahmen zum Ausgleich des Bundeshaushaltes vom 5. Mai 1977 von 41% auf 31% herabgesetzten Subventionssatz gemäss
Art. 13 Abs. 1 NHG
anwandte.
3.
Aus den geänderten Gesetzesbestimmungen ergibt sich eine solche Rückwirkung nicht.
a) Als das Eidg. Oberforstinspektorat auf Anfrage hin am 5. Juli 1977 mitteilte, dass für die künftigen Raten die Beitragssätze reduziert würden, war - wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend bemerkt wird - das Bundesgesetz über Massnahmen zum Ausgleich des Bundeshaushaltes vom 5. Mai 1977 nicht in Kraft. Vielmehr galt damals der Bundesbeschluss über den Abbau von Bundesbeiträgen vom 31. Januar 1975 (AS 1975, 177). Nach diesem Bundesbeschluss durfte für zugesicherte Leistungen nur die Fälligkeit angemessen erstreckt werden (Art. 1 Abs. 4). Es ging somit höchstens an, die Höhe und die Terminierung der künftigen Raten vorzusehen. Indessen war die Geltungsdauer dieses Bundesbeschlusses auf den 31. Dezember 1977 beschränkt und die Rate für das
BGE 104 Ib 157 S. 161
Jahr 1977 der Klägerin bereits ausbezahlt worden. Dieser Bundesbeschluss lässt höchstens erkennen, dass sich der Abbau von Bundesbeiträgen nur auf Gesuche beziehen sollte, die nach dem 31. Dezember 1976 bewilligt wurden. In den Übergangsbestimmungen (Ziff. II 2/21) zu der Verordnung über den Abbau von Bundesbeiträgen im Jahre 1977 vom 9. Februar 1977 (AS 1977, 315) wird für Werke der Grundsatz aufgestellt, dass auf Beitragsgesuche, über welche nach dem 31. Dezember 1976 verfügt werde, das neue Recht Anwendung finde. Zu diesem Grundsatz wurden Ausnahmen statuiert, die folgendermassen lauten:
"Sofern im Einvernehmen mit der zuständigen Bundesbehörde bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts mit der Ausführung des Werkes begonnen worden ist, bemisst sich der Beitrag für das gesamte Werk, bzw. bei etappenweisen Subventionierungen für die erste Etappe, nach den im Zeitpunkt des Arbeitsbeginns geltenden Bestimmungen. Ausgenommen sind Fälle, in welchen die zuständige Bundesbehörde bei der Genehmigung des vorzeitigen Baubeginns den Vorbehalt angebracht hat, dass das Gesuch aufgrund der im Zeitpunkt der Beitragsverfügung geltenden Vorschriften beurteilt werde.
Hat die zuständige Bundesbehörde für ein bestimmtes Werk vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts die Subventionierung aufgrund des alten Rechts ausdrücklich sowie schriftlich und vorbehaltlos in Aussicht gestellt, so bemisst sich der Beitrag nach altem Recht."
(Ziff. II 2/22).
Diese Ausnahme gilt also nur für Werke, mit denen unter altem Recht begonnen und die unter neuem Recht fortgeführt werden. Selbst dann sollte aber bei Bewilligung unter altem Recht grundsätzlich keine Herabsetzung erfolgen. Anders würde es nur gehalten, wenn mit der Genehmigung des vorzeitigen Baubeginns der Vorbehalt verbunden wurde, dass das Gesuch aufgrund der im Zeitpunkt der Beitragsverfügung geltenden Vorschriften beurteilt werde. Das konnte immer noch altes oder neues Recht sein.
b) Nicht anders verhält es sich in bezug auf das Bundesgesetz über Massnahmen zum Ausgleich des Bundeshaushaltes vom 5. Mai 1977, welches den Bundesbeschluss über den Abbau von Bundesbeiträgen vom 31. Januar 1975 mit Wirkung auf 1. Januar 1978 ablöste und demnach zur Zeit des Wiedererwägungsentscheids des EDI vom 31. Januar 1978 in Kraft war. Das Bundesgesetz übernahm nämlich wörtlich die Übergangsregelung,
BGE 104 Ib 157 S. 162
die in der erwähnten Verordnung vom 9. Februar 1977 zum früheren Bundesbeschluss enthalten war und hievor wiedergegeben wurde (Ziff. II des BG; vgl. Botschaft über Massnahmen zum Ausgleich des Bundeshaushaltes vom 9. Februar 1977, BBl 1977 I 853). In der Botschaft wird namentlich noch ausgeführt:
"Nach den vorgeschlagenen Übergangsbestimmungen sind Beiträge an laufende Ausgaben nach dem im Zeitpunkt der Entstehung dieser Ausgaben geltenden Recht zu bemessen. Gesuche um Beiträge an einmalige Ausgaben für Werke sollen demgegenüber nach dem im Zeitpunkt ihrer Beurteilung massgeblichen Recht behandelt werden. Eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt sich deshalb, weil Gesuche um Subventionierung laufender Ausgaben in der Regel nach, solche um Subventionierung einmaliger Ausgaben für Werke vor ihrer Entstehung gestellt und beurteilt werden." (a.a.O.).
Die Übergangsbestimmungen regeln also bloss die Beitragsleistungen für Werke, die ganz oder teilweise unter neuem Recht ausgeführt werden. Sie enthalten keine Bestimmung, der zufolge für den Erwerb von Objekten zugesicherte Beiträge, wenn der Erwerb vor Inkrafttreten des neuen Rechtes erfolgt ist, die späteren, herabgesetzten Ansätze gelten würden. Dazu bestand schon deswegen kein Anlass, weil jedenfalls nach Art. 18 lit. a VV zum NHG der Beitrag bei Erwerb von Objekten in einer einmaligen Leistung bestehen sollte. Wenn zum Nachteil des Beitragsempfängers und aus den Interessen des Bundes ohne Vergütungszins eine ratenweise Zahlung vorgesehen wird, darf daraus dem Beitragsberechtigten jedenfalls ohne klare gesetzliche Bestimmung nicht noch eine spätere Reduktion der Beitragssätze angelastet werden.
4.
Es bleibt zu prüfen, ob die Reduktion allenfalls nach dem in der Verfügung vom 31. Dezember 1976 angebrachten Vorbehalt zulässig war. Eine Kürzung der Subvention käme dabei nur in Frage, wenn sie auf eine ausdrückliche, dem Gesetz nicht widersprechende Widerrufsklausel zurückgeführt werden könnte. Treu und Glauben, die auch im Verkehr zwischen dem Staat und dem Bürger massgebend sind, und das öffentliche Interesse an der Wahrung der Rechtssicherheit dass eine durch einen rechtmässigen Verwaltungsakt zugesicherte Subvention nur dann durch Widerruf der Verfügung aufgehoben werden darf, wenn hiefür eine klare, eindeutige Rechtsgrundlage besteht (
BGE 93 I 675
).
BGE 104 Ib 157 S. 163
Der Vorbehalt, der in der Verfügung des EDI vom 31. Dezember 1976 unmittelbar der Zusicherung des erwähnten Maximalbeitrags angefügt war, lautete:
"Änderungen der Beitragssätze im Laufe des weiteren Verfahrens aufgrund von Gesetzes- oder Verordnungsrevisionen bleiben vorbehalten."
Abgesehen davon, dass über den Ausdruck "im Laufe des weiteren Verfahrens" keine Klarheit herrscht, ergibt sich aus dem Gesagten, dass die der Verfügung vom 31. Dezember 1976 zugrundegelegten Beitragssätze von den neuen Vorschriften nicht berührt wurden, da diese nicht rückwirkend geändert wurden. Das bedeutet, dass die Klausel gar nicht wirksam wurde. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn ihr die Bedeutung zukäme, dass jede, d.h. auch eine sich nur auf künftige Subventionen beziehende Änderung der Beitragssätze durch Gesetzes- oder Verordnungsrevisionen, eine Änderung der Beitragssätze für die in der Verfügung vom 31. Dezember 1976 zugesicherte Subvention nach sich ziehen sollte. Ein solcher Vorbehalt hätte indessen unmissverständlich angebracht werden müssen. Die unbestimmt formulierte Klausel in der Verfügung des EDI vom 31. Dezember 1976 reicht hierfür nicht aus. Im Zweifel ist ein solcher Vorbehalt im Einklang mit den Regeln des intertemporalen Rechts auszulegen. Er konnte mithin nicht als Grundlage dafür dienen, um die nach dem Bundesgesetz vom 5. Mai 1977 geltenden niedrigeren Beitragsansätze auf die der Ortsgemeinde Steckborn noch zustehende Restsumme der Subvention anzuwenden. Ob im übrigen ein solcher Vorbehalt mit dem Gesetz überhaupt vereinbar wäre, kann hier offen bleiben.
5.
Die Beklagte ist demnach verpflichtet, der Klägerin die restlichen Bundesbeiträge nach Massgabe der Verfügung vom 31. Dezember 1976 auszurichten. Damit dringt die Klägerin mit ihrem Hauptbegehren durch. Die Klage ist demnach gutzuheissen. Mit diesem Ausgang des Verfahrens werden die von der Klägerin zusätzlich erhobenen verfahrensrechtlichen Einwendungen gegenstandslos, und es erübrigt sich eine Stellungnahme dazu. Nachdem ferner dem Hauptantrag entsprochen werden kann, hat sich das Bundesgericht zur Frage der Auszahlungsmodalität in bezug auf die ungekürzte Restsubvention nicht zu äussern. Es wird Sache der Bundes- und
BGE 104 Ib 157 S. 164
Gemeindebehörden sein, hiefür eine gangbare Lösung zu finden. Immerhin lässt sich in diesem Zusammenhang festhalten, dass das EDI in seiner Vernehmlassung selber anführt, es könne kaum in Zweifel gezogen werden, dass die Klägerin aufgrund des Entscheids vom 31. Dezember 1976 und vor allem auch aufgrund der vorangegangenen, mit den antragsstellenden Organen des Oberforstinspektorats gepflogenen Verhandlungen, nach Treu und Glauben davon ausgehen durfte, die Subventionsleistungen des Bundes würden entsprechend den eigenen finanziellen Verpflichtungen der Klägerin eintreffen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird als Klage behandelt.
2. Die Klage wird gutgeheissen. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die restlichen Bundesbeiträge nach Massgabe der Verfügung des Eidg. Departements des Innern vom 31. Dezember 1976 auszurichten (Subventionssatz 41%). | public_law | nan | de | 1,978 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
ebb83e8d-eaa3-474d-a5df-a4bfcae7f284 | Urteilskopf
85 IV 208
54. Entscheid der Anklagekammer vom 26. Oktober 1959 i.S. Lauber. | Regeste
Art. 262 ff. BStP
.
1. Einfluss auf den Gerichtsstand, wenn die Anklagekammer erst kurz vor der Aburteilung des Angeklagten angerufen wird (Erw. 2).
2. Ein nachträglicher Wechsel des von den Strafbehörden verschiedener Kantone vereinbarten Gerichtsstandes ist nur aus triftigen Gründen zulässig (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 208
BGE 85 IV 208 S. 208
A.-
Am 12. August 1959 erhob die Bezirksanwaltschaft Zürich gegen Lauber, der am 1. April 1959 schon im Kanton Aargau wegen verschiedener Delikte erstinstanzlich abgeurteilt worden war, Anklage wegen gewerbsmässigen Diebstahls, gewerbsmässigen Betruges und fortgesetzten Verweisungsbruches. Die Hauptverhandlung vor Bezirksgericht Zürich wurde auf den 7. Oktober 1959 angesetzt. Mit einer persönlichen Eingabe vom 2. Oktober und durch mündliche Ausführungen seines Verteidigers in der gerichtlichen Hauptverhandlung bestritt Lauber die Zuständigkeit der Zürcher Gerichte. Das Bezirksgericht
BGE 85 IV 208 S. 209
beschloss daraufhin, die Frage des Gerichtsstandes der Anklagekammer des Bundesgerichtes zu unterbreiten, und übermittelte diesem die Akten.
B.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich stellt sich in ihrer Vernehmlassung auf den Standpunkt, es handle sich um ein Gesuch des Bezirksgerichtes, und beantragt, darauf nicht einzutreten.
Erwägungen
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
1.
Man kann sich in der Tat fragen, ob es sich bei dem vorliegenden Gerichtsstandsbegehren nicht um ein Gesuch des Bezirksgerichtes Zürich handelt und ob ein solches Vorgehen von Seiten einer mit der Sache befassten gerichtlichen Instanz überhaupt zulässig sei; ist es doch zumindest ungewöhnlich, dass der Sachrichter auf eine Bestreitung des Gerichtsstandes durch den Angeklagten hin ohne eigene Stellungnahme einfach die Akten zur Prüfung der Frage dem Bundesgericht übermittelt. Immerhin ist nicht ausgeschlossen, dass das Bezirksgericht damit nicht ein eigenes Gesuch stellen, sondern, nachdem der Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung beantragt hatte, es sei die Anklagekammer des Bundesgerichtes einzuladen, gemäss
Art. 264 BStP
den zur Beurteilung Laubers zuständigen Kanton zu bestimmen, mit seinem Beschluss lediglich dieses Begehren an das Bundesgericht weiterleiten wollte. Indessen braucht die Frage nicht entschieden zu werden; denn so oder anders kann dem Gesuch nicht entsprochen werden.
2.
Angenommen, es handle sich um ein Begehren des Angeklagten, dann ist es nach der Rechtsprechung der Anklagekammer verspätet (
BGE 72 IV 194
).
Das hat jedoch entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht zur Folge, dass die Sache durch Nichteintreten zu erledigen sei. Denn irgendeine gesetzliche Frist zur Einreichung eines solchen Gesuches gibt es nicht. Der Angeklagte hat daher formell das Recht, bis zu seiner
BGE 85 IV 208 S. 210
Aburteilung die Anklagekammer anzurufen. Wenn dennoch das Bundesgericht Gerichtsstandsbegehren, die erst unmittelbar vor der Hauptverhandlung gestellt werden, keine Folge gibt, so geschieht das aus materiellen Gründen. Nach
Art. 262 ff. BStP
und nach ständiger Rechtsprechung ist die Anklagekammer befugt, auch dann, wenn ein Gesuch nach den Bestimmungen der
Art. 346 ff. StGB
begründet ist, von der gesetzlichen Norm abzuweichen, sofern sie das für zweckmässig erachtet. Dass wichtige Gründe der Zweckmässigkeit für ein Festhalten am ursprünglichen Gerichtsstand sprechen, versteht sich dann von selbst, wenn, wie im vorliegenden Falle, die Untersuchung abgeschlossen ist, der Angeschuldigte bereits in den Anklagezustand versetzt wurde und das Verfahren bis zur Hauptverhandlung gediehen ist, ohne dass der Angeklagte früher - wozu er in der Lage gewesen wäre - die Zuständigkeit der mit der Sache befassten Behörden je bestritten hätte.
3.
Das Gesuch ist aber auch dann abzuweisen, wenn anzunehmen wäre, es sei in zulässiger Weise vom Bezirksgericht im Namen des Kantons Zürich gestellt worden. Wie aus den Akten hervorgeht, hatten im Verlaufe des Untersuchungsverfahrens bereits Verhandlungen über die Zuständigkeitsfrage zwischen den Behörden der Kantone Aargau und Zürich stattgefunden, die damit endeten, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau eine Übernahme der Zürcher Fälle ablehnte, die Bezirksanwaltschaft Zürich sich damit abfand und das Verfahren in diesem Kanton fortgeführt wurde. Der damalige Kompetenzkonflikt wurde somit in der Weise beigelegt, dass sich die Bezirksanwaltschaft Zürich zumindest durch konkludentes Verhalten den Argumenten der aargauischen Behörden anschloss und die Zuständigkeit Zürichs anerkannte. Nach ständiger Rechtsprechung ist aber die nachträgliche Änderung des von den Strafbehörden verschiedener Kantone vereinbarten Gerichtsstandes nur aus triftigen Gründen zulässig (statt vielerBGE 71 IV 61). Solche Gründe werden
BGE 85 IV 208 S. 211
nicht geltend gemacht und liegen, soweit sich das auf Grund der Akten ermessen lässt, auch nicht vor.
Dispositiv
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Das Gesuch wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,959 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
ebc51e7c-76a5-4d34-99c8-c84d35cad7c6 | Urteilskopf
97 IV 73
19. Arrêt de la Cour de cassation pénale du 5 mars 1971 dans la cause Mottier contre Ministère public du Canton de Vaud. | Regeste
Notwehr,
Art. 33 StGB
.
Der Angriff eines Tieres begründet keinen Notwehrzustand, ausser wenn es von einem Menschen als Werkzeug benutzt wird (Erw. 2).
Notstand,
Art. 34 Ziff. 2 StGB
.
Wer einen andern aus einer unmittelbaren Gefahr erretten will, ist nicht verpflichtet, sich dieser Gefahr auszusetzen, sofern die von ihm ergriffene Massnahme der dem andern drohenden Gefahr angemessen ist (Erw. 3 und 4). | Sachverhalt
ab Seite 73
BGE 97 IV 73 S. 73
A.-
H. Stalder, hôtelier à Château-d'OEx, possédait deux chiens saint-Bernard pesant 80 et 90 kilos. Ils ont plus d'une fois attaqué des passants sans provocation.
Le 2 avril 1970, ils réussirent à s'échapper dans la rue et s'en prirent à deux employés qui livraient du mazout chez Mottier. L'un d'eux se réfugia dans la cabine du camionciterne, tandis que l'autre, acculé contre une haie, fut mordu à l'avant-bras et au pied. Ayant finalement saisi une pelle à neige, il frappa les chiens et les mit en fuite.
P. Morard, né en 1904, qui passait là, ne fut pas effrayé lorsqu'il les vit courir dans sa direction. L'un d'eux le saisit néanmoins à la cuisse et le renversa. L'épaisseur de ses vêtements et les outils qu'il portait sur lui le protégèrent d'une blessure. Assis par terre, il se défendit à coups de canne durant
BGE 97 IV 73 S. 74
près d'une minute, mais les deux bêtes déchaînées revenaient sans cesse à la charge. Mottier, qui, de sa fenêtre, au premier étage, avait assisté aux deux attaques, jugea que la vie ou l'intégrité corporelle de Morard étaient menacées; il prit son mousqueton, le chargea d'une cartouche, revint à la fenêtre et épaula. Craignant d'atteindre Morard, il n'osa viser le chien qui le menaçait à 1 m 50; il tira sur le second, qui était plus éloigné et s'apprêtait à revenir à la charge; il le blessa mortellement.
B.-
Poursuivi pour atteinte à la propriété, Mottier a été libéré, le 2 septembre 1970, par le Tribunal de police du district du Pays-d'Enhaut.
Sur recours du plaignant Stadler, la Cour vaudoise de cassation pénale a annulé ce jugement et renvoyé la cause devant le Tribunal de police du district d'Oron pour nouvelle instruction et nouveau jugement. Elle estime que l'attaque émanant d'un animal ne saurait donner lieu à légitime défense; seul l'état de nécessité entre en considération; mais il suppose un danger "impossible à détourner autrement"; cette condition n'est pas remplie en l'espèce; le prévenu aurait eu largement le temps de descendre dans la rue et d'intervenir pour éloigner les bêtes, au besoin à coups de crosse; son acte est d'autant moins excusable qu'il a tiré sur le chien qui s'était déjà éloigné du tiers.
C.-
Contre cet arrêt, Mottier se pourvoit en nullité au Tribunal fédéral. Il conclut à libération.
D.-
Tandis que le Ministère public conclut à l'admission du pourvoi, Stalder propose de le rejeter, en tant qu'il est recevable.
Erwägungen
Considération en droit:
1.
...
2.
Le droit ne régit que des actions humaines. Le comportement des animaux lui échappe, à moins qu'ils ne servent d'instruments. L'art. 33 CP supposant qu'une personne a été attaquée ou menacée sans droit, la menace ou l'attaque qui émane d'un animal ne saurait - sauf si ce dernier est l'instrument d'un homme - créer l'état de légitime défense. Telle est, en Suisse, l'opinion de la doctrine unanime (HAFTER, Lehrbuch des schweiz. Strafrechts, Allg. Teil, 2e éd., § 29 II, 2; THORMANN/OVERBECK, n. 4 ad art. 33; LOGOZ, n. 2 b ad art. 33; STRECKEISEN, Die Notwehr speziell nach thurgauischem Recht und schweizerischem Strafgesetz, p. 68; K. MÜLLER, Notwehr und Notwehrexzess,
BGE 97 IV 73 S. 75
p. 23). SCHWANDER, que le recourant invoque à tort en faveur de l'opinion contraire, par le assurément de l'attaque par un chien, mais le contexte, "Tötung eines angereizten Hundes", montre qu'il vise le cas où cet animal est utilisé comme un instrument (p. 83 i.f.). En Allemagne, la doctrine dominante et le Reichsgericht se sont prononcés dans le même sens (SCHÖNKE-SCHRÖDER, 14e éd., n. 6 ad § 53 et les références).
3.
Assailli par deux chiens particulièrement puissants, dont l'un l'avait renversé, et qui, selon des constatations souveraines, déchaînés revenaient sans cesse à la charge, Morard a été exposé à un péril imminent sinon dans sa vie, du moins dans son intégrité corporelle.
La cour vaudoise a néanmoins refusé d'appliquer l'art. 34 ch. 2 CP, car le prévenu aurait pu détourner autrement le danger couru par la victime, notamment en mettant les chiens en fuite à coups de crosse. Cette appréciation est précédée de la remarque que Mottier, "qui a observé toute la scène et a vu les chiens s'en prendre successivement à plusieurs personnes, aurait eu largement le temps de descendre dans la rue et d'intervenir pour éloigner les bêtes".
Selon la méthode préconisée par la cour cantonale, le recourant aurait dû affronter lui-même les deux chiens. Mais l'art. 34 ch. 2 CP n'oblige pas celui qui veut préserver un tiers d'un danger imminent à s'y exposer lui-même. Au regard de la loi, la vie et l'intégrité corporelle du tiers intervenant ne sont pas moins dignes de protection que celles de la personne qu'il veut secourir. De plus, Mottier n'aurait pas pu frapper les deux chiens en même temps. Pendant qu'il aurait levé la crosse de son mousqueton contre l'un d'eux, le second aurait pu sauter sur lui et le jeter à terre, où son arme ne lui aurait plus guère été utile. Enfin la cour vaudoise relève qu'il aurait eu largement le temps de descendre dans la rue; elle tient manifestement compte du fait qu'il a observé toute la scène et elle suppose qu'il avait décidé dès le début d'intervenir. Tel n'est pas le cas. Le jugement de première instance, dont les constatations ne sont pas infirmées par l'arrêt entrepris, précise que Mottier n'a sauté sur son mousqueton que lorsque, les deux bêtes revenant sans cesse à la charge, la vie ou l'intégrité corporelle de Morard lui ont paru menacées. La situation était critique. Morard risquait à tout instant d'être mordu grièvement. Pour être efficace, une intervention devait être immédiate. On ne saurait reprocher au
BGE 97 IV 73 S. 76
recourant, qui était au premier étage, de n'avoir pas perdu le temps nécessaire pour descendre dans la rue.
Le reproche d'avoir tiré sur le chien le moins proche de Morard n'est pas plus fondé. Sans doute l'autre, qui se trouvait à 1 m 50 de la victime, la menaçait-il davantage. Mais tirer sur lui eût comporté, pour Morard, des risques que le recourant n'a pas voulu assumer. Cette circonstance à elle seule n'eût assurément pas justifié un coup de feu sur le chien le plus éloigné s'il n'avait eu de son côté une attitude agressive. Or le jugement du 2 septembre 1970 constate, à ce sujet, qu'il s'apprêtait à revenir à la charge.
4.
La mesure prise par le recourant n'est pas disproportionnée au danger couru par Morard: on ne pouvait raisonnable ment exiger de ce dernier le sacrifice de son intégrité corporelle.
Il s'ensuit que les conditions de l'art. 34 ch. 2 CP étaient toutes réalisées en l'espèce.
Dispositiv
Par ces motifs, la cour de cassation pénale:
Admet le pourvoi; annule l'arrêt attaqué; renvoie la cause à l'autorité cantonale pour nouvelle décision. | null | nan | fr | 1,971 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
ebc5ae5c-344e-41e2-96e5-87d8cb6594ec | Urteilskopf
92 II 10
2. Arrêt de la Ire Cour civile du 25 janvier 1966 dans la cause Hodara contre Deutsche Lufthansa AG | Regeste
Vertrag zugunsten eines Dritten,
Art. 112 Abs. 2 OR
.
Der Schuldner kann dem Gläubiger eine vom Stipulanten begangene Täuschung oder die Nichterfüllung des Vertrages entgegenhalten. Verzicht des Schuldners auf die Geltendmachung dieser Rechtsbehelfe? | Sachverhalt
ab Seite 10
BGE 92 II 10 S. 10
A.-
a) Les MCO (Miscellaneous Charges Orders, bons pour services divers) sont émis par une compagnie d'aviation ou en son nom (par exemple par une agence de voyages) au bénéfice d'une personne déterminée - ou de son nommable - pour prouver l'existence d'une promesse de fournir certains services, notamment d'effectuer des transports aériens. Plusieurs coupons y sont assemblés, les uns d'intérêt comptable, les autres destinés au bénéficiaire; ceux-ci comprennent un ou plusieurs coupons d'échange et le coupon "passager"; les premiers permettent d'obtenir les services promis, notamment les billets d'avions. Parfois, seuls les coupons comptables sont utilisés: on recourt à ce genre de documents lorsqu'une agence dite d'encaissement touche le montant d'un billet et envoie à une agence dite d'acheminement un PTA (prepaid ticket advice; avis de paiement de passage) pour la prier de délivrer à une personne déterminée un MCO ordinaire ou un billet d'avion. Il arrive couramment que la compagnie d'aviation fasse crédit à une agence agréée et convienne avec elle d'un règlement périodique, postérieur aux contrats passés.
b) En 1962, alors qu'il était au service de Ficomer SA, David Hodara fit la connaissance de Claude Lévi, qui offrait des MCO au rabais. Il n'avait pas un besoin défini et immédiat de billets d'avions, mais il voulut saisir l'occasion, se réservant de céder ses droits avec bénéfice. C'est ainsi que Lévi fit établir notamment, à son intention, par l'intermédiaire de l'agence parisienne
BGE 92 II 10 S. 11
de voyages Alca-Travel, un MCO de 2808 $ à l'usage interne, correspondant à cinq voyages aller et retour Genève-Francfort-New York. Alca-Travel, propriété d'Alcalay, était habilitée à représenter, dans ce genre d'affaires, la Deutsche Lufthansa AG, qui lui ouvrait un crédit. Elle informa aussitôt le siège parisien de la compagnie, qui envoya un télex à la succursale genevoise pour la prier d'établir un MCO ordinaire au nom de Hodara (no 453 488). Il s'agissait d'une opération PTA. Hodara versa à Lévi le prix convenu.
Le document émis à Genève le 5 octobre 1962 comprenait quatre coupons d'échange. Le premier a été utilisé. Lorsque le bénéficiaire voulut obtenir d'autres prestations, le siège genevois de la compagnie lui objecta, le 23 novembre 1962, que la contrevaleur du MCO n'avait pas été réglée, bien qu'il ait confirmé auparavant à la secrétaire de Hodara que le titre "était bon, valable et régulier". Lévi, le donneur d'ordre, avait payé en chèques sans provision, endossés par Alcalay à la Deutsche Lufthansa AG, et il se révéla qu'il pratiqua le carambouillage sur une vaste échelle. La compagnie ayant persisté dans son refus, Hodara résilia le contrat le 3 décembre.
B.-
Hodara a actionné la Deutsche Lufthansa AG en remboursement du solde de la valeur des services promis par le paiement de 2117,50 $, soit 9147 fr. 60 avec intérêt à 5% du 23 novembre 1962. La défenderesse a conclu principalement à libération.
Le 25 septembre 1964, le Tribunal de première instance de Genève a admis l'action, mais le 1er octobre 1965, la Cour civile l'a rejetée.
C.-
Agissant par la voie du recours en réforme, Hodara prie le Tribunal fédéral de lui allouer se conclusion. L'intimée propose le rejet du recours.
Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Dans leurs mémoires respectifs des 6 avril et 25 mai 1964, le recourant et l'intimée considéraient que le droit suisse était seul applicable. Cette opinion commune ne constitue pas une élection de droit: les parties ne pensaient pas opérer un choix (RO 89 II 216 et les arrêts cités).
Il est constant que la prestation caractéristique du contrat conclu, l'émission d'un MCO en faveur du recourant, devait
BGE 92 II 10 S. 12
être exécutée par la succursale de Genève et que les coupons d'échange devaient être utilisés dans cette ville. Cette circonstance entraîne l'application du droit suisse, selon la jurisprudence actuelle constante.
2.
Il paraît vraisemblable que le MCO ne constitue pas un papier-valeur, même s'il s'agit d'une opération PTA, mais qu'il sert uniquement à prouver que la compagnie d'aviation a conclu un contrat qui lui impose d'effectuer une prestation en faveur d'un tiers contre paiement d'un prix. Cela ressort assez clairement des "règles et conditions" imprimées au verso du coupon "passager".
On peut toutefois laisser cette question indécise, car la qualité de papier-valeur n'empêcherait pas l'intimée, en soi, d'invoquer le dol ou l'inexécution du contrat. Le bénéficiaire du document est Hodara ou son nommable: on n'est donc pas en présence d'un titre au porteur, dont le débiteur voit ses exceptions limitées (art. 979 CO); au demeurant, le recourant serait le premier preneur, que la loi ne privilégie aucunement, le titre fût-il au porteur (art. 979 al. 1 CO; cf. JÄGGI, nos 107 et 191 ad art. 965 CO).
3.
Selon l'usage et la commune intention des parties, le recourant est devenu, du moins dès la remise du document constatant son droit - notamment des coupons d'échange, le créancier d'une obligation stipulée en sa faveur au sens de l'art. 112 al. 2 CO, quand bien même seul le stipulant pouvait exiger le remboursement éventuel du prix (cf. RO 46 II 137). Son débiteur, l'intimée, pouvait-il opposer à sa réclamation le dol du stipulant ou l'inexécution du contrat? Selon la jurisprudence (RO 23 II 1764 et 41 II 454), il possède contre le créancier tous les moyens que le contrat lui confère contre le stipulant. Le second arrêt ajoute que cela va de soi et la doctrine partage l'avis du tribunal (VON TUHR, RDS 17 p. 26 sv.; VON TUHR/SIEGWART, § 83 IV p. 691 sv.; BECKER, no 28 ad art. 112 CO; OSER/SchÖNENBERGER, no 10 ad art. 112 CO).
4.
Pour déterminer les personnes intéressées au rapport juridique en vertu duquel fut émis le MCO litigieux, et leurs obligations réciproques, il convient d'abord de constater que le siège genevois de l'intimée ne jouit pas d'une personnalité juridique indépendante (RO 89 I 407 sv.; cf. aussi RO 90 II 196 consid. 3 litt. a). Peu importe que ce soit aussi le cas de son agence parisienne: elle a en effet agi, dans tous les cas, pour la
BGE 92 II 10 S. 13
Deutsche Lufthansa AG à Cologne, qui a émis le document et défend à l'action, par l'intermédiaire de sa succursale de Genève.
Selon la Cour cantonale, Lévi a stipulé avec l'intimée, représentée par son agent agréé Alcalay. Reniant le point de vue qu'il exprima dans la demande du 6 janvier 1964 et dans le second mémoire d'appel du 21 mai 1965, le recourant soutient aujourd'hui qu'Alcalay n'intervint pas en qualité de représentant de l'intimée, mais comme stipulant; en conséquence - du moins si l'on saisit son argumentation -, Lévi ne serait pas partie et les agissements de ce dernier ne sauraient lui être opposés en sa qualité de bénéficiaire de la stipulation conclue en sa faveur.
Ce moyen du recours est vain, même si sa prémisse est exacte, car il ne modifie pas la solution de l'arrêt attaqué. Peu importe, en effet, qu'Alcalay ait agi pour son propre compte ou comme représentant de l'intimée ou de Lévi (ce qui serait aussi concevable). Si l'intimée a contracté avec Lévi, elle peut opposer le dol; si la partie adverse était Alcalay, elle possède l'exception non adimpleti contractus. Certes, il se peut que son agence parisienne soit indépendante. Mais on a vu que cela n'est pas décisif, car cette agence a agi pour le compte de la Deutsche Lufthansa AG, qui a émis le document en exécution de la prestation convenue. Au demeurant, l'intimée aurait, dans le cas contraire, conclu une reprise de dette privative avec l'accord anticipé de Lévi ou d'Alcalay; le recours donne en effet lui-même comme objet au contrat la délivrance d'un MCO par la succursale de Genève.
5.
Par son agence de Genève, l'intimée a délivré un MCO portant la mention PTA, et le recourant aurait en outre reçu d'elle l'assurance que le document était "bon, valable et régulier".
a) On pourrait se demander si, ce faisant, l'intimée n'a pas conclu avec le recourant un nouvel accord, indépendant; dans ce cas, elle ne saurait opposer à sa partie adverse le dol de Lévi et l'inexécution du premier contrat (VON TUHR, RDS 17 p. 27).
Les parties toutefois n'avaient pas l'intention de conclure une nouvelle convention. La première prévoyait déjà la remise du MCO. Quant à la déclaration de l'intimée, elle ne tendait pas à créer un contrat mais à confirmer l'accord déjà passé et la délivrance régulière du document, qui en était l'exécution partielle.
b) A vrai dire, le recourant tire plutôt de ces deux faits une
BGE 92 II 10 S. 14
autre conséquence, du moins si l'on saisit sa pensée. Précisant qu'il n'a payé Lévi qu'après avoir reçu le renseignement de l'intimée, il soutient en substance ou que celle-ci a renoncé aux moyens qu'elle soulève ou qu'elle abuse de son droit en les invoquant.
Cette thèse est erronnée. Le recourant affirme en effet qu'il ne connaissait pas les manoeuvres dolosives de Lévi au moment où il questionna la succursale de Genève et il ne prétend pas que celle-ci les connaissait; en fait, elle ignorait même l'existence d'un intermédiaire qui offrait des MCO avec un rabais important. La demande et le renseignement ne pouvaient donc porter sur l'exécution fidèle du contrat par Lévi et le recourant n'a pu, selon les règles de la bonne foi, comprendre la déclaration qu'on lui fit comme une renonciation à exciper, le cas échéant, du dol et de l'inexécution du contrat. Au demeurant, s'il doutait réellement de la correction de Lévi, il eût dû formuler sa question de manière que les représentants genevois de l'intimée en comprissent exactement la portée. Faute d'avoir reçu des précisions, ceux-ci se bornèrent en réalité, en s'exprimant en termes généraux, à confirmer l'accord passé et la délivrance régulière du document, qui en était l'exécution partielle.
c) Certes, la mention du mode de paiement PTA, encore qu'elle serve à l'usage interne, paraît impliquer un versement déjà effectué, comme aussi la délivrance même du MCO. Mais il est constant que l'agence Alca-Travel bénéficiait d'un crédit et ne réglait compte, selon les conventions passées avec le siège parisien de l'intimée, qu'après la conclusion de la stipulation pour autrui. Si néanmoins le recourant a cru ou a pu croire qu'une quittance avait été donnée à un tiers, il demeurait loisible à l'intimée, soit au débiteur, de prouver qu'elle reposait sur une erreur. Elle ne saurait y avoir renoncé que si elle connaissait l'absence de paiement mais entendait en faire abstraction à l'égard du bénéficiaire: tel ne fut pas le cas.
6.
L'intimée a détaché un premier coupon d'échange du MCO, au bénéfice d'un tiers à qui le recourant avait cédé le droit correspondant à un billet de transport. Ce faisant, elle a exécuté partiellement le contrat. Cela n'emporte pas une renonciation à soulever les exceptions de dol et d'inexécution du contrat quant aux autres prestations: au moment où elle s'exécuta partiellement, l'intimée ignorait en effet les circonstances sur lesquelles ces moyens se fondaient. | public_law | nan | fr | 1,966 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
ebd131e0-a43f-4eb2-a02f-9b1bdb60ac06 | Urteilskopf
90 I 227
35. Auszug aus dem Urteil vom 7. Oktober 1964 i.S. Riniker gegen Bodenverbesserungsgenossenschaft Habsburg und Kantonale Bodenverbesserungskommission Aargau. | Regeste
Staatsrechtliche Beschwerde, Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges. Kantonale Rechtsmittel im Sinne von
Art. 86 Abs. 2 OG
sind nur solche, bei deren Ergreifung Anspruch auf einen Bescheid besteht, was bei der Petition oder bei der nach der aargauischen Verwaltungspraxis zulässigen "Aufsichtsbeschwerde" nicht zutrifft (Erw. 2).
Güterzusammenlegung, Willkür. Neuzuteilungen und insbesondere die Zerstückelung eines Grundstücks sind willkürlich, wenn damit ein dem Güterzusammenlegungsverfahren fremder Zweck verfolgt wird (Erw. 4). | Sachverhalt
ab Seite 228
BGE 90 I 227 S. 228
Aus dem Tatbestand:
A.-
In der Gemeinde Habsburg wird eine Güterzusammenlegung gemäss der aarg. Verordnung über Bodenverbesserungen vom 21. Juni 1957 (BVV) durchgeführt.
Der Beschwerdeführer August Riniker ist Eigentümer von 24 über das gesamte Gemeindegebiet verstreuten Parzellen, die zusammen 605,84 a halten und alle in die Zusammenlegung einbezogen wurden. Das am Dorfrand gelegene, 78,25 a haltende Hausgrundstück mit dem Baumgarten ist etwa 55 m breit und 140 m lang und grenzt mit der einen Längsseite an die aus dem Dorf nach Brugg führende Strasse.
Nach dem Wegnetzentwurf wird diese Strasse als Ortsverbindungsstrasse ausgestaltet und beim Hausgrundstück des Beschwerdeführers in der Weise verlegt, dass sie dieses Grundstück schräg durchquert und es damit in zwei unregelmässig geformte Teile zerschneidet, von denen der etwas kleinere die Wirtschaftsgebäude und der etwas grössere den Baumgarten enthält.
Bei der Neuzuteilung wurde von diesem Baumgarten ein 8,70 a haltendes, dreieckiges Stück, das in der Gabelung zwischen der geplanten Ortsverbindungsstrasse und der als Nebenstrasse bestehen bleibenden bisherigen Dorfstrasse unmittelbar gegenüber dem Hof des Beschwerdeführers liegt, dem Nachbarn Emil Riniker zugeteilt, dessen Sohn Walter Riniker Posthalter ist und dort ein Postgebäude zu erstellen beabsichtigt. Der Rest des Baumgartens wurde, vermindert um ein durch eine weitere Nebenstrasse abgetrenntes Stück und vermehrt um ein vom Haus abgelegenes Stück, wiederum dem Beschwerdeführer zugeteilt. Ferner erhielt er an Stelle der früheren über 20 kleinen und verstreuten Parzellen 3 grössere arrondierte Grundstücke, von denen die beiden Flurgrundstücke unweit vom Hausgrundstück gelegen sind.
BGE 90 I 227 S. 229
Der Beschwerdeführer erhob wegen der Abtrennung eines Teils seines Baumgartens und Zuteilung desselben an Emil Riniker Einsprache, wurde aber von der Schätzungskommission am 23. Januar 1964 abgewiesen.
Hiegegen führte er Beschwerde mit dem Antrag, die vorgesehene Zuteilung an Emil Riniker für das Postgebäude aufzuheben und dem Beschwerdeführer die ganze Fläche des durch die neue Ortsverbindungsstrasse abgegrenzten Teils seines Baumgartens zuzuweisen.
Die Kantonale Bodenverbesserungskommission (KBK) nahm einen Augenschein vor und wies hierauf das Begehren des Beschwerdeführers am 30. April 1964 ab mit der Begründung: Die Zuteilung eines Grundstücks (an Emil Riniker) für die Erstellung eines Postgebäudes sei gerechtfertigt, denn das Postgebäude solle im Interesse aller Dorfeinwohner an zentraler Verkehrslage zu stehen kommen.
B.-
Mit der staatsrechtlichen Beschwerde stellt August Riniker den Antrag, den Entscheid der KBK aufzuheben und ihm die ganze Fläche des durch die neue Ortsverbindungsstrasse abgegrenzten Teiles seines Baumgartens zuzuweisen. Als Beschwerdegrund wird Willkür sowie Verletzung der Eigentumsgarantie (Art. 22 KV) geltend gemacht.
C.-
Die KBK beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den Entscheid der KBK auf.
Erwägungen
Erwägungen:
1.
(Prozessuales).
2.
Staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung des
Art. 4 BV
und der Eigentumsgarantie sind erst zulässig, nachdem von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht worden ist (
Art. 86 Abs. 2 OG
). Der Begriff des Rechtsmittels im Sinne dieser Bestimmung ist weit auszulegen und umfasst nicht nur die ausserordentlichen Rechtsmittel, mit denen die gerügte Verfassungsverletzung
BGE 90 I 227 S. 230
geltend gemacht werden kann (
BGE 89 I 126
Erw. 1 mit Verweisungen), sondern alle Rechtsbehelfe, mit denen die Beseitigung des mit der staatsrechtlichen Beschwerde angefochtenen Rechtsnachteils erreicht werden kann (
BGE 78 I 250
,
BGE 81 I 61
/62,
BGE 84 I 171
/72).
§ 53 Abs. 1 BVV bezeichnet die Entscheide der KBK über Beschwerden aus ihrem Zuständigkeitsbereich ausdrücklich als "endgültig". Nach der Praxis steht jedoch gegen solche Entscheide das "Rechtsmittel der Aufsichtsbeschwerde" an den Regierungsrat wegen "eklatanter Rechtsverletzung und Verfahrensmängel" offen (Aarg. Gerichts- und Verwaltungsentscheide 1949 S. 292; Entscheid des Regierungsrates vom 13. Dezember 1963 i.S. Harnisch). Dieser Rechtsbehelf stellt indes, obwohl er zur Beseitigung des mit einer staatsrechtlichen Beschwerde wegen formeller oder materieller Rechtsverweigerung angefochtenen Rechtsnachteils führen kann, kein kantonales Rechtsmittel im Sinne von
Art. 86 Abs. 2 OG
dar. Darunter kann nur ein Rechtsmittel fallen, dessen Ergreifung die angerufene Behörde verpflichtet, sich mit der Sache zu befassen. Da bei der Petition kein Anspruch auf materielle Behandlung besteht, ist daher die Petition kein Rechtsmittel, das vor Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde ergriffen werden muss (nicht veröffentl. Urteil vom 7. Dezember 1960 i.S. Kunz, Erw. 4; vgl. Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden 1955 S. 163; MARTI, Probleme der staatsrechtlichen Beschwerde ZSR 1962 II S. 57). Das gleiche gilt für die nach der aargauischen Verwaltungspraxis zulässige, an keine Frist oder andere Formvorschrift gebundene Aufsichtsbeschwerde gegen die Entscheide der KBK und anderer, der Aufsicht des Regierungsrates unterstehender Verwaltungsbehörden. Wer eine solche Beschwerde einreicht, hat keinen Anspruch auf einen Bescheid (MEIER, Die verwaltungsbehördliche Verwaltungsrechtspflege im Kt. Aargau, Diss. Zürich 1949, S. 67/68) und ist daher dann, wenn seiner Beschwerde keine oder nicht die gewünschte Folge gegeben wird, nicht in
BGE 90 I 227 S. 231
seinen persönlichen Interessen verletzt und zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen den Regierungsrat nicht legitimiert (Urteil vom 7. Februar 1962, abgedruckt in ZBl 1962 S. 465 ff.). Kann aber der Entscheid, mit welchem der Regierungsrat eine Aufsichtsbeschwerde gegen einen Entscheid der KBK abweist oder darauf nicht eintritt, nicht mehr mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden, so kann, ja muss diese schon im Anschluss an den Entscheid der KBK erhoben werden. Das Bundesgericht ist denn auch auf Beschwerden gegen Entscheide der aargauischen KBK von jeher ohne weiteres eingetreten (Urteile vom 29. Januar 1964 i.S. Stäuble und vom 1. Juli 1964 i.S. Schneider sowie zahlreiche frühere Urteile).
3.
(Die Berufung auf die Eigentumsgarantie fällt mit der Rüge der Verletzung von
Art. 4 BV
(Willkür) zusammen).
4.
Da der Entscheid über Güterzusammenlegungen in erster Linie von örtlichen Gegebenheiten abhängt und die Aufhebung einer einzelnen Neuzuteilung weitgehende Auswirkungen haben kann, hat sich das Bundesgericht bei der Überprüfung von Beschwerden gegen die Neuzuteilung stets Zurückhaltung auferlegt. Es schreitet nur ein, wenn der angefochtene Entscheid gesetzlichen Vorschriften offensichtlich zuwiderläuft oder sonst elementarste Grundsätze über Güterzusammenlegungen verletzt (
BGE 85 I 90
/91).
Der Beschwerdeführer macht geltend, die streitige Zuteilung sei unvereinbar mit dem Zweck, den die BVV verfolge. Nach § 1 Abs. 1 BVV gelten als Bodenverbesserungen "alle den landwirtschaftlich benützten oder nutzbaren Boden... betreffenden Verbesserungen, die geeignet sind, unfruchtbares oder wenig fruchtbares Land in fruchtbares umzuwandeln, zerstörtes Kulturland wieder herzustellen oder die Bearbeitung oder den Betrieb wirtschaftlicher zu gestalten". Es ist klar, dass die Erstellung eines Postgebäudes oder eines Wohnhauses mit einem Postbüro, wofür das streitige Land dem Beschwerdeführer weggenommen
BGE 90 I 227 S. 232
und Emil Riniker zugeteilt worden ist, nicht unter diese Zwecke der Bodenverbesserung fällt. Ebensowenig lässt sich die angefochtene Zuteilung auf § 1 Abs. 3 BVV stützen, wonach bei Bodenverbesserungen "auf die Belange der Orts- und Regionalplanung Rücksicht zu nehmen" ist. Diese Belange können die Ausgestaltung des Wegnetzes (vgl. § 82 Ziff. 6 BVV) sowie die Aufteilung des Zusammenlegungsgebietes in einen landwirtschaftlichen und einen nichtlandwirtschaftlichen Perimeter (§ 71 Abs. 1 BVV) beeinflussen, vermögen aber die Ausscheidung von Land für die Erstellung eines Postgebäudes oder für andere regulierungsfremde Zwecke nicht zu rechtfertigen. Für die Verwendung von Land zu solchen Zwecken gelten die in § 83 Abs. 2 und § 84 Abs. 4 BVV enthaltenen Bestimmungen, die jedoch, wie die KBK in der Beschwerdeantwort mit Recht anerkennt, vorliegend nicht anwendbar sind. Für die Zuteilung war vielmehr § 84 Abs. 2 BVV massgebend.
Nach dieser Bestimmung ist nicht nur jedem Grundeigentümer für die abgetretenen Grundstücke nach Möglichkeit Ersatz in Land von ähnlicher Beschaffenheit und Lage zuzuweisen, sondern ist auch "eine möglichst rationelle Arrondierung anzustreben". Das heisst freilich nicht, dass die Grundeigentümer verlangen können, dass ihnen bei der Neuzuteilung ein einziges Grundstück zugewiesen werde. Wenn dagegen ein einzelnes Grundstück, und insbesondere das Hausgrundstück, nicht arrondiert, sondern im Gegenteil zerstückelt wird, so kann dies angesichts des Arrondierungsgebotes nur zulässig sein, wenn es für einen im Rahmen der BVV liegenden Zweck geschieht. Dass die neue Ortsverbindungsstrasse das Hausgrundstück des Beschwerdeführers in zwei Stücke zerschneidet, wird in der Beschwerde mit Recht nicht beanstandet, da die Schaffung eines verbesserten Wegnetzes dazu beiträgt, die landwirtschaftliche Nutzung aller Grundstücke im Gemeindegebiet wirtschaftlicher zu gestalten. Dagegen dient die Abtrennung eines weiteren, 870 m2 haltenden Stückes
BGE 90 I 227 S. 233
und dessen Zuteilung an Emil Riniker zur Erstellung eines Postgebäudes, wie bereits dargetan, nicht mehr einem mit der Güterzusammenlegung verfolgten Zwecke.
Ein Entscheid, der auf unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden Erwägungen beruht, ist willkürlich und verletzt den
Art. 4 BV
(
BGE 86 I 85
/86,
BGE 87 I 249
). Der angefochtene Entscheid, bei dem dies zutrifft, ist daher aufzuheben. Dagegen kann dem weitergehenden Begehren des Beschwerdeführers, ihm die ganze Fläche des durch die neue Ortsverbindungsstrasse abgegrenzten Teils seines Baumgartens zuzuweisen, wegen der rein kassatorischen Natur einer staatsrechtlichen Beschwerde der vorliegenden Art nicht entsprochen werden. Es wird Sache der KBK sein, unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen neu über die vom Beschwerdeführer gegen den Entscheid der Schätzungskommission erhobene Beschwerde zu befinden. | public_law | nan | de | 1,964 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
ebd3ee61-f38c-49e6-b986-56f50bb24a31 | Urteilskopf
97 I 112
20. Auszug aus dem Urteil vom 3. März 1971 i.S. Baumann gegen Gemeinden Horgen und Hirzel sowie Verwaltungsgericht des Kantons Zürich. | Regeste
Entschädigung für materielle Enteignung.
Der Umstand, dass Bauerwartungsland, das in ein Naturschutzgebiet einbezogen wird, an den Wald grenzt und Bauten auf diesem Land einen Waldabstand einzuhalten hätten, darf bei der Bestimmung des Verkehrswerts des Landes als wertvermindernder Faktor berücksichtigt werden. | Sachverhalt
ab Seite 112
BGE 97 I 112 S. 112
Aus dem Tatbestand:
Die Gemeinderäte von Horgen und Hirzel haben mit Beschlüssen vom 9. bzw. 11 Juli 1962 gestützt auf §§ 1-3 der kantonalen Verordnung betreffend den Natur- und Heimatschutz vom 9. Mai 1912 Vorschriften zum Schutze des Bergweihers und dessen Umgebung erlassen. Im Schutzgebiet ist insbesondere untersagt,
"a) Hoch- und Tiefbauten aller Art auszuführen sowie Mauern und Einfriedungen zu erstellen;
b) Abgrabungen und Aufschüttungen vorzunehmen;
c) Kehricht, Fabrikationsrückstände, Bauschutt und andere Materialien abzulagern;
d) Lagerplätze anzulegen..."
Die Beschlüsse der Gemeinderäte über die Schaffung des Schutzgebietes wurden erfolglos an die obern kantonalen Instanzen weitergezogen.
Bei dem in der Folge eingeleiteten Schätzungsverfahren zur Festsetzung der den betroffenen Grundeigentümern für das
BGE 97 I 112 S. 113
Bauverbot zu leistenden Entschädigungen wurde u.a. streitig, wie die Wiesen zu bewerten seien, die Eigentum des Emil Baumann sind und von denen einige an den Wald grenzen. Die Gemeindebehörden bestritten jede Entschädigungspflicht für diejenigen Teile dieser Wiesen, die innerhalb des in der Bauordnung auf 30 m festgesetzten Waldabstandes liegen und ohnehin nicht überbaut werden dürften. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich als letzte kantonale Instanz nahm für die an den Wald grenzenden Wiesen einen einheitlichen Verkehrswert an und führte aus, die Waldnähe sei im allgemeinen als ein Umstand zu berücksichtigen, der den Verkehrswert des ganzen Grundstücks mindere; dabei rechtfertige es sich aber in der Regel nicht, ein teilweise durch die Waldabstandsvorschrift belastetes Grundstück in verschiedene Wertzonen aufzuteilen, da nicht anzunehmen sei, dass der Eigentümer das Waldabstandsgebiet je allein in den Handel gebracht hätte.
Baumann hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts insoweit, als die Grundstücke mit Waldabstand tiefer als anderes Land bewertet sind, staatsrechtliche Beschwerde wegen Willkür und Verletzung der Eigentumsgarantie erhoben.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Dass die Vorschriften über das Schutzgebiet Bergweiher enteignungsähnliche Eigentumsbeschränkungen enthalten und dass der Beschwerdeführer als betroffener Grundeigentümer Anspruch auf volle Entschädigung der durch die Eigentumsbeschränkung bewirkten Werteinbusse hat, ist unbestritten. Auch der Zeitpunkt für die massgebende Schätzung, der sich aus § 183 bis Abs. 3 EG/ZGB ergibt (vgl. hiezu
BGE 93 I 133
ff), ist nicht streitig. Der Beschwerdeführer lässt ferner die vom Verwaltungsgericht bei der Schätzung angewandten allgemeinen Grundsätze gelten. Der auf Grund von Preisvergleichen festgelegte Rahmen von. Fr. 8.-/m2 bis Fr. 15.-/m2 für die Bestimmung des Verkehrswertes und der einheitliche Ansatz von Fr. 3.-/m2 für den Restwert landwirtschaftlich nutzbaren Wieslandes werden nicht beanstandet. In diesem Verfahren ist lediglich die Frage zu entscheiden, ob die Berücksichtigung des Waldanstosses als eines den Wert der Parzelle mindernden Umstandes gegen eine Verfassungsvorschrift verstösst.
BGE 97 I 112 S. 114
Die von den kantonalen Behörden bei der Festlegung von Entschädigungen angewandten Bewertungsmethoden und das Ergebnis der Schätzungen prüft das Bundesgericht nur unter dem Aspekt der Willkür (
BGE 93 I 138
/139). Die auf dem Wege von Schätzungen festgestellte Entschädigung ist als verfassungswidrig aufzuheben, wenn sie als mit sachlichen Gründen nicht haltbar erscheint.
a) Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich in Übereinstimmung mit der Schätzungskommission die durch die Schutzvorschriften betroffenen Grundstücke als sogenanntes Bauerwartungsland betrachtet, d.h. als Land, dessen Überbauung noch in unbestimmter Zukunft liegt, dessen Wert aber doch schon den Preis reinen Kulturlandes übersteigt und eine wesentliche, durch die Möglichkeit künftiger Überbauung bestimmte Komponente enthält. Über diese Qualifikation des Wieslandes als Bauerwartungsland sind sich die Beteiligten einig. In der Beschwerdeschrift wird zutreffend ausgeführt, der Verkehrswert solchen Landes hänge von verschiedenen heute schon feststellbaren Faktoren ab, wie Lage, Besonnung, Aussicht, Grösse der Parzelle usw.; es wird hingegen in Abrede gestellt, dass auch die Tatsache des Waldanstosses wertvermindernd wirke. Die Waldnähe und die Vorschrift, dass Bauten einen Waldabstand von 30 m einzuhalten haben, ist jedoch bei jeder vorhandenen Parzelle ein Umstand, der sich heute schon feststellen lässt und der auch bei einem Handel auf dem Liegenschaftsmarkt nicht unbeachtet bliebe. Dass man bei einer künftigen Überbauung durch geschickte Einteilung versuchen würde, die zulässige Ausnützungsziffer trotz der Waldnähe zu erreichen, hebt die wertvermindernde Wirkung des Waldanstosses nicht auf. Wer an einem Waldrand gelegenes Bauerwartungsland kaufen will, der wird die durch die Waldabstandsvorschrift geschaffene Erschwerung der Überbauung und den Schattenwurf des Waldes auf künftige Gärten oder Anlagen in Rechnung stellen, auch wenn er hofft, bei der Realisierung eines Bauprojektes die nachteiligen Auswirkungen der Waldnähe auf ein Minimum reduzieren zu können. Dass das Verwaltungsgericht bei seiner Schätzung der einzelnen Parzellen neben den andern Faktoren wie Lage, Grösse usw. den Waldabstand wertmindernd in Betracht zog, beruht somit auf realistischen, sachlichen Überlegungen. Damit wird weder gegen die Eigentumsgarantie noch gegen
Art. 4 BV
verstossen.
BGE 97 I 112 S. 115
b) Es trifft zu, dass künftige, heute noch nicht feststehende Einschränkungen der Baufreiheit durch Zonenvorschriften, Baulinien usw. in der Regel nicht zu einer Differenzierung in der Bewertung von Bauerwartungsland führen können; denn dabei handelt es sich um Faktoren, die heute noch völlig unbestimmt sind und sich nicht feststellen lassen. Der Waldanstoss aber ist ein klar erkennbarer, wegen des Rodungsverbotes grundsätzlich unveränderlicher Umstand, dessen tatsächliche und rechtliche Auswirkungen die Preisbildung beeinflussen. Feststehende entschädigungslose Eigentumsbeschränkungen sind bei der Bestimmung des Verkehrswertes (als Wertminderungsfaktoren) zu erfassen (WIEDERKEHR, Die Expropriationsentschädigung, Winterthur 1966, S. 80/81; MEIER-HAYOZ/ROSENSTOCK, Zum Problem der Grünzonen, Bern 1967, S. 76 f).
c) Aus
BGE 96 I 129
, in welchem erklärt wurde, Waldabstandsvorschriften dienten der Gefahrenabwehr und seien polizeilich begründet, folgert der Beschwerdeführer, diese Vorschriften seien somit von den übrigen baupolizeilichen Vorschriften nicht wesensverschieden, und da Grenz- und Gebäudeabstandsvorschriften auf den Verkehrswert von Bauerwartungsland keinen Einfluss haben könnten, sei es willkürlich, den Waldabstand als Minderungsfaktor zu beachten. Nun können aber Vorschriften über Grenz- und Gebäudeabstände, Ausnützungsziffern usw. nur deswegen keine differenzierende Bewertung von Bauerwartungsparzellen zur Folge haben, weil diese die künftige Preisbildung beeinflussenden Faktoren noch nicht bekannt sind. Mit der polizeilichen Natur solcher Vorschriften hat dies nichts zu tun. Soweit polizeiliche Beschränkungen bereits feststehen - wie der Waldabstand oder auch der in einem kantonalen Gesetz vorgeschriebene Abstand von öffentlichen Gewässern - beeinflussen sie den Wert der betroffenen Grundstücke und sind auch bei der Festsetzung der Entschädigung für ein Bauverbot zu beachten.
d) Zum Beweis dafür, dass der Waldanstoss den Verkehrswert von Bauerwartungsland nicht beeinflusse, erwähnt der Beschwerdeführer zwei Liegenschaftskäufe der Gemeinde Horgen, welche Grundstücke mit Waldanstoss betreffen. Er behauptet, in den vereinbarten Quadratmeterpreisen von Fr. 24.- und Fr. 18.- sei ein Minderwert wegen des Waldabstandsgebietes nicht berücksichtigt.
Die erwähnten Preise zeigen, dass es sich dabei um Bauerwartungsland handelt, das aus irgendwelchen Gründen, die sich
BGE 97 I 112 S. 116
den Akten nicht entnehmen lassen, einer andern Preisklasse angehört als das Land im Schutzgebiet Bergweiher. Ob die Lage, der Grad der Erschliessung, die grössere Wahrscheinlichkeit einer baldigen Überbauung oder irgendein anderer Faktor für den wesentlich höhern Verkehrswert ausschlag gebend ist, muss hier offen bleiben. Beide Käufe wurden von der Vorinstanz unbestritten nicht als vergleichstauglich betrach tet. Aus den von der Gemeinde bezahlten Preisen ergibt sich übrigens noch nicht, dass der Waldanstoss ohne Belang war; erst der Nachweis, dass Bauerwartungsland von in jeder Hinsicht gleicher Qualität, aber ohne Waldanstoss keinen höhern Preis erzielte, könnte den Standpunkt des Beschwerdeführers von der Bedeutungslosigkeit des Waldabstandsgebietes für die
Preisbildung stützen. Ein solcher Beweis dafür, dass - entgegen den oben dargelegten Erwägungen - die Tatsache des Waldanstosses generell vom Käufer einer Bauerwartungspar zelle nicht beachtet wird, fehlt jedoch. | public_law | nan | de | 1,971 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
ebd5d939-3acb-4f52-ad1a-5cc4428760a1 | Urteilskopf
101 IV 20
7. Sentenza 24 gennaio 1975 della Corte di cassazione penale nella causa Procuratore pubblico della giurisdizione sottocenerina contro X., Y. e Z. | Regeste
Beginn der Verjährung bei Delikten, die den Eintritt einer objektiven Strafbarkeitsbedingung voraussetzen.
Art. 71, 163-167 StGB
.
Wo Handlungen oder Unterlassungen nur verfolgt werden, wenn eine objektive Strafbarkeitsbedingung erfüllt ist, beginnt die Verfolgungsverjährung mit dem Tag, an dem die Handlungen oder Unterlassungen begangen werden, nicht mit dem Tag, an dem die objektive Strafbarkeitsbedingung eintritt. Anwendung dieses Grundsatzes auf
Art. 163-167 StGB
. | Sachverhalt
ab Seite 21
BGE 101 IV 20 S. 21
Riassunto dei fatti:
Il 29 settembre 1967 era dichiarato il fallimento della banca A. In seguito ad inchiesta penale, X., Y. e Z. erano rinviati a giudizio per titolo di bancarotta semplice. Il primo atto istruttorio nei loro confronti non era anteriore al 29 marzo 1972. Il 6 giugno 1974 l'autorità giudiziaria di prima istanza dichiarava prescritta l'azione penale. Statuendo sul gravame presentato dal Procuratore pubblico della giurisdizione sottocenerina, la Corte di cassazione e di revisione del Cantone Ticino confermava il 6 settembre 1974 tale decisione. Il Procuratore pubblico sottocenerino ha proposto ricorso per cassazione avverso la sentenza della Corte cantonale, postulandone l'annullamento e il rinvio della causa all'autorità cantonale per nuovo giudizio, previo accertamento che l'azione penale non è prescritta.
Erwägungen
Considerando in diritto:
1.
Essendo la bancarotta semplice (
art. 165 CP
) un reato punibile con la detenzione, l'azione penale si prescrive in cinque anni (
art. 70 CP
). La questione determinante nella fattispecie è se il decorso della prescrizione sia iniziato nel momento in cui i resistenti avrebbero commesso atti, omissioni o negligenze suscettibili di cagionare l'insolvenza della Banca A o d'aggravare la sua situazione, cioè ad una data anteriore al 29 marzo 1967, oppure se la prescrizione dell'azione penale abbia cominciato a decorrere soltanto dal giorno in cui è stato dichiarato il fallimento, cioè dal 29 settembre 1967. Nel primo caso, l'azione penale sarebbe prescritta, dato che non è stato compiuto alcun atto interruttivo ai sensi dell'
art. 72 n. 2 CP
, prima del 29 marzo 1972; nel secondo caso, la prescrizione sarebbe stata interrotta in tale data.
BGE 101 IV 20 S. 22
2.
a) La dichiarazione di fallimento, come pure il rilascio di un attestato di carenza di beni, è una condizione obiettiva di punibilità, e non un elemento costitutivo dei reati di cui agli
art. 163-167 CP
(cfr. ATF 89 IV 78, ATF 84 IV 15; e, in particolare, HAFTER, Allg. Teil, p. 131/132; LOGOZ, Partie spéciale, I p. 206 n. 4; SCHWANDER, Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2a ediz., p. 373 n. 589a n. 3, e Fiches juridiques suisses 1128, p. 12 n. 3 e 1129 p. 1; CASPAR, in Rivista penale svizzera 87 (1971) p. 21; STRATENWERTH, Bes. Teil, I, p. 277 e 280). Sino a che non si sia avverata tale condizione, l'azione pubblica (Strafanspruch) e il procedimento penale (Strafverfolgung) non possono aver luogo, pur essendo realizzati gli elementi costitutivi del reato (cfr. HAFTER, Allg. Teil, p. 132; SCHWANDER, n. 227 n. 2).
b) Il ricorrente sostiene che la prescrizione dell'azione penale deve decorrere dall'avverarsi della condizione obiettiva di punibilità, rappresentata nella fattispecie dalla dichiarazione di fallimento, e non già dalla commissione degli atti od omissioni che integrano gli elementi costitutivi del reato. Egli invoca al proposito l'opinione di SCHWANDER, (quale manifestata in N. 227, 411 oss. 6, e FJS 1128 p. 14 § 10 n. 3); questi si era fondato su quanto aveva dichiarato il Tribunale federale in una sentenza in cui la querela era stata definita quale presupposto processuale e non come condizione di punibilità; in tale occasione era stato affermato che, ove la querela fosse stata ritenuta condizione di punibilità, il termine di prescrizione non avrebbe potuto cominciare a correre prima della presentazione della querela (
DTF 69 IV 74
). Questo modo di vedere, che trae la sua origine dalla concezione per cui la prescrizione non può iniziare prima della esistenza dell'azione pubblica, sarebbe parimenti confermata dalla giurisprudenza relativa alla prescrizione dell'azione penale nei confronti dell'istigatore; in quella sede il Tribunale federale aveva dichiarato, tra l'altro, che sino a che non fosse ammissibile l'apertura di un procedimento penale per non essere ancora dato un atto punibile, tale prescrizione non poteva cominciare a correre (
DTF 69 IV 64
).
3.
a) Malgrado i passaggi sopra riportati, tratti da due sentenze del Tribunale federale invocate dal ricorrente, la questione concernente il momento in cui comincia a decorrere la prescrizione dell'azione penale nel caso di reati la cui esistenza
BGE 101 IV 20 S. 23
è vincolata all'avveramento di una condizione obiettiva di punibilità, non è mai stata esaminata né risolta dalla giurisprudenza.
Orbene, lo studio di detta questione alla luce del testo legislativo, dei lavori preparatori, dei fini e del senso dell'istituto della prescrizione, come pure di quanto rilevato dalla dottrina pressoché unanime, induce a respingere l'opinione sostenuta dal ricorrente e ad ammettere, come ha fatto la Corte cantonale, che la prescrizione dell'azione penale comincia a correre dal compimento degli atti od omissioni costitutivi del reato, e non dall'avveramento della condizione di punibilità.
b) Il testo dell'
art. 71 CP
fa decorrere la prescrizione dal giorno a cui risale l'ultimo atto dell'imputato (o dal giorno in cui è cessato l'ultimo atto). Mentre il testo italiano si riferisce, con minore precisione, al compimento del reato, i testi francese e tedesco parlano inequivocabilmente, il primo, di "exercice de l'activité coupable", di "dernier acte", di "agissements", il secondo, di "Ausführung der strafbaren Tätigkeit", di "letzte Tätigkeit" e di "Verhalten". L'elemento centrale e determinante della disposizione di legge è invero la nozione di atto, di attività e di condotta del colpevole. Ne discende che l'avveramento di una condizione obiettiva che intervenga al di fuori dell'attività colpevole propriamente detta dell'imputato esula dalla previsione del testo legale, che in nessun modo ad esso si riferisce.
c) Tale interpretazione tratta dal testo della legge corrisponde d'altronde alle intenzioni del legislatore e risulta chiaramente dai lavori preparatori. L'avanprogetto del 1908 conteneva nel suo art. 59 n. 2, oltre gli elementi rimasti nell'attuale art. 71, un capoverso ulteriore, secondo il quale, ove l'agente abbia cagionato l'evento del delitto, la prescrizione decorre dal giorno in cui s'è prodotto l'evento ("wenn er den Erfolg des Verbrechens verursacht, am Tage, an den dieser Erfolg eintritt"). Orbene, la 2a Commissione d'esperti ha soppresso tale capoverso, aderendo al punto di vista di Lang, il quale aveva sostenuto che il momento in cui è intervenuto l'evento non doveva valere quale punto di partenza della prescrizione, dato il suo carattere più o meno fortuito e quindi inidoneo a qualificare l'agente e il suo atto; Lang aveva in tale occasione ribadito che s'imponeva far decorrere la prescrizione del momento in cui l'agente avesse messo in opera
BGE 101 IV 20 S. 24
quanto fosse necessario per attuare la fattispecie punibile. Bolli aveva inoltre precisato che determinante doveva essere non l'evento, bensì il momento conclusivo dell'attività (cfr. processo verbale della 2a Commissione d'esperti, vol. I, p. 404 segg.).
Benché il problema specifico della relazione tra le condizioni obiettive di punibilità e la prescrizione non sia stato esaminato nel corso dei lavori preparatori, le considerazioni che hanno condotto a prescindere dall'evento per fissare il punto di partenza della prescrizione confermano chiaramente quanto risulta dal testo legale, ossia che esclusivamente determinante è l'attività dell'agente. La soluzione adottata durante i lavori preparatori per quel che concerne l'evento ha per effetto, in particolare, che la prescrizione può perfettamente decorrere prima che insorga l'azione pubblica e prima che possa essere aperto un procedimento penale.
L'
art. 71 CP
costituisce - almeno nel suo testo tedesco e francese - una norma di legge redatta in modo chiaro e che esprime inoltre la volontà del legislatore quale appare dai lavori preparatori. Tenuto conto della presenza di questi due elementi, l'
art. 1 CP
impedisce al giudice penale di scostarsi da tale disposizione (
DTF 91 IV 196
e giurisprudenza ivi citata).
d) Anche il fine ed il senso dell'istituto della prescrizione giustificano che l'inizio del suo decorso sia vincolato all'attività dell'agente e non al subentrare di fatti, condizioni od elementi suscettibili d'intervenire in un momento assai posteriore e indipendentemente da qualsiasi suo nuovo atto od omissione. La ragione principale della prescrizione è data dalla progressiva diminuzione dell'allarme sociale che s'accompagna al decorso del tempo. In linea generale, tale allarme suole cominciare in concomitanza con l'attività dell'agente ed essere sensibilmente ridotta ove gli ulteriori elementi considerati dalla legge a certi effetti sopravvengano molto tempo dopo. Può inoltre rilevarsi che una punizione dell'agente la quale abbia luogo una volta trascorso un lungo periodo di tempo dal momento della cessazione della sua attività repressa dalla legge penale, colpirebbe l'agente spesso in modo particolarmente duro e non più proporzionato al reato commesso.
La prescrizione è inoltre destinata ad impedire, nella misura del possibile, che si proceda all'assunzione delle prove in un momento eccessivamente lontano dall'attività dell'agente (cfr.
BGE 101 IV 20 S. 25
SCHULTZ, Allg. Teil, 1a ediz., I, p. 193/194). Qualora il decorso della prescrizione non iniziasse sempre già al momento in cui l'agente ha svolto la sua attività, tale fine non potrebbe più essere realizzato. Questo scopo della prescrizione non potrebbe essere in pratica attuato precisamente nel caso dei pochi reati per i quali è prevista una condizione obiettiva di punibilità. Nessuna considerazione teorica potrebbe giustificare una siffatta soluzione.
e) La disciplina per cui l'inizio del decorso della prescrizione dev'essere riferito all'attività dell'agente corrisponde d'altronde all'opinione della dottrina dominante. La maggioranza degli autori che hanno esaminato il problema sono d'avviso che l'avveramento di una condizione obiettiva di punibilità è privo d'effetti per quanto concerne l'inizio del decorso della prescrizione (HAFTER, Allg. Teil, p. 132; SCHAAD, Die objektiven Strafbarkeitsbedingungen im schweizerischen Strafrecht, pp. 49/60); essi ritengono, in particolare, che, nel caso dei reati di cui agli
art. 163-167 CP
, la data della dichiarazione del fallimento o del rilascio di una attestazione di carenza di beni è irrilevante ai fini della determinazione del momento in cui comincia a decorrere la prescrizione (HAFTER, Bes. Teil, p. 344; LOGOZ, Partie spéciale, I, n. 5c ad art. 163, p. 212; in senso contrario: SCHWANDER, n. 227 oss. 2, 411 oss. 6, e Fiche juridique suisse 1128 p. 14). Altri autori non hanno studiato la questione (STRATENWERTH, I, p. 227; SCHULTZ, 2a ediz., I, p. 205/206; HUGGENBERGER, Die Verjährung im StGB, p. 46, in Rivista penale svizzera 62 (1947), pp. 313/314; HÄFLIGER, in Blätter für Schuldbetreibung und Konkurs 18 (1954), p. 97), oppure si limitano a menzionarla come controversa (CASPAR, in Rivista penale svizzera 87 (1971), p. 42; FISCHER, Die Strafverfolgungsverjährung, pp. 121/122).
f) Per le ragioni sopra esposte la decisione della Corte cantonale va quindi confermata ed il gravame respinto. Accogliendo la tesi del ricorrente si adotterebbe, infatti, una soluzione estranea al sistema scelto dal legislatore e risultante chiaramente dal testo legale.
Dispositiv
Il Tribunale federale pronuncia:
Il ricorso è respinto. | null | nan | it | 1,975 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
ebdbf92d-4ddf-44a7-bdce-df71fe3e6bed | Urteilskopf
111 V 1
1. Auszug aus dem Urteil vom 10. Januar 1985 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Zürich gegen Schrepfer und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich | Regeste
Art. 16 Abs. 2,
Art. 20 Abs. 2 AHVG
,
Art. 43 AHVV
,
Art. 590 Abs. 1 ZGB
.
Eine im öffentlichen Inventar schuldhaft nicht angemeldete Beitragsforderung geht unter und kann nicht mehr mit Leistungen an die Hinterlassenen verrechnet werden. | Erwägungen
ab Seite 1
BGE 111 V 1 S. 1
Aus den Erwägungen:
2.
a) Stirbt ein Beitragspflichtiger, so haften seine Erben gemäss
Art. 43 AHVV
solidarisch für die von ihm zu seinen Lebzeiten geschuldeten Beiträge. Vorbehalten bleiben die Art. 566 (Ausschlagung), 589 (öffentliches Inventar) und 593 ZGB (amtliche Liquidation).
Art. 43 AHVV
ist gesetzmässig (
BGE 97 V 222
Erw. 1 mit Hinweisen).
b) Im vorliegenden Fall ist unbestritten und steht nach den Akten fest, dass es die Ausgleichskasse schuldhaft unterliess, ihre Beitragsforderungen im öffentlichen Inventar anzumelden. Zur Anmeldung war sie jedoch nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet, wie sich folgerichtig aus der Erwähnung von
Art. 589 ZGB
in
Art. 43 AHVV
ergibt (
BGE 97 V 223
Erw. 2a mit Hinweis; vgl. auch
BGE 102 Ia 488
Erw. 5b in fine). Eine Aufnahme von Amtes wegen (
Art. 583 ZGB
) fiel ausser Betracht, da Beitragsforderungen nicht aus öffentlichen Büchern ersichtlich und daher nicht von Amtes wegen in das Inventar aufzunehmen sind
BGE 111 V 1 S. 2
(
BGE 97 V 225
Erw. 4). Ebensowenig liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Erben nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge von den Beitragsschulden des Erblassers Kenntnis haben konnten und deshalb gemäss
Art. 581 Abs. 3 ZGB
verpflichtet gewesen wären, der zuständigen Behörde jene Beitragsschulden mitzuteilen (
BGE 97 V 225
Erw. 3).
Demnach hat es die Ausgleichskasse zu vertreten, dass eine Anmeldung der Beitragsforderungen im öffentlichen Inventar unterblieb. Gemäss
Art. 43 AHVV
entfällt daher eine Haftung der Witwe für die ausstehenden Sozialversicherungsbeiträge ihres verstorbenen Ehemannes (
BGE 97 V 223
Erw. 2a). Ebensowenig haften die beiden Kinder, da sie die Erbschaft ausgeschlagen haben.
3.
Es fragt sich jedoch, ob die strittigen Beitragsforderungen trotz fehlender Haftung der Erben nach
Art. 43 AHVV
mit den Hinterlassenenrenten (Witwen- und Waisenrenten) verrechnet werden können (Art. 20 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG).
a) Durch
Art. 20 Abs. 2 AHVG
wird für die Verrechnung eine eigene Ordnung geschaffen, welche auf die Besonderheiten der Sozialgesetzgebung im AHV-Bereich zugeschnitten ist (
BGE 104 V 7
Erw. 3b). Dabei geht die Verrechenbarkeit von Beiträgen mit Leistungen gemäss
Art. 20 Abs. 2 AHVG
über die obligationenrechtlichen Regeln (
Art. 120 Abs. 1 OR
) hinaus; denn nach ständiger Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts sind versicherungsrechtlich bzw. -technisch zusammenhängende Beiträge und Renten ohne Ansehen der pflichtigen bzw. berechtigten Person und ungeachtet erbrechtlicher Gegebenheiten verrechenbar (EVGE 1969 S. 94 Erw. c, 1966 S. 88 Erw. 3, 1951 S. 41 Erw. 2; nicht veröffentlichtes Urteil Oberli vom 30. Juli 1982). Daher ist - unter Beachtung bestimmter Rücksichtnahmen - auch nach amtlicher Liquidation (EVGE 1969 S. 95 Erw. g) und selbst bei Ausschlagung der Erbschaft (EVGE 1956 S. 190 Erw. 1, 1953 S. 287, 1951 S. 41 Erw. 2; obzitiertes Urteil Oberli) eine Verrechnung möglich.
Vorliegend ist ein versicherungsrechtlicher Zusammenhang zwischen den ausstehenden persönlichen Beiträgen des verstorbenen Beitragspflichtigen und der Witwenrente bzw. den Waisenrenten gegeben, weil diese nach Art. 33 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 32 Abs. 1 AHVG
vorab aufgrund des durchschnittlichen Jahreseinkommens des Ehemannes berechnet werden. Es bleibt zu beurteilen,
BGE 111 V 1 S. 3
ob die hinsichtlich der Ausschlagung und der amtlichen Liquidation gebildete Rechtsprechung zur Verrechenbarkeit auch für eine im öffentlichen Inventar schuldhaft nicht angemeldete Forderung gilt.
b) Forderungen, die aus Verschulden im öffentlichen Inventar nicht angemeldet wurden, gehen infolge Verwirkung unter und bestehen daher auch nicht als Naturalobligation weiter (
BGE 97 V 225
Erw. 5; ESCHER, N. 2 zu Art. 589/590 ZGB; TUOR/PICENONI, N. 2 zu Art. 589/590 ZGB; TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 9. Aufl. (Nachdruck 1979), S. 449; VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, S. 161 f.; anders
BGE 102 Ia 483
für Steuerforderungen). Dies hat zur Folge, dass eine Verrechnung nicht mehr möglich ist. Im Bereich der AHV erlischt eine verwirkte Beitragsforderung ebenfalls und ist der Verrechnung nach
Art. 20 Abs. 2 AHVG
nicht mehr zugänglich (EVGE 1955 S. 195 Erw. 1 und 2; ZAK 1964 S. 85 Erw. 2; vgl. auch
BGE 100 V 155
Erw. 2a mit Hinweisen und Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG).
c) Aus dem Gesagten folgt, dass die nicht inventarisierten Forderungen für die persönlichen Beiträge des verstorbenen Beitragspflichtigen der Jahre 1977 bis 1981 untergegangen sind. Die von der Ausgleichskasse beabsichtigte Verrechnung jener ausstehenden Beiträge mit den Hinterlassenenrenten ist deshalb nicht zulässig. Im Gegensatz zur Ausschlagung und zur amtlichen Liquidation bleibt eine verrechenbare Beitragsforderung bei schuldhaft unterlassener Anmeldung im öffentlichen Inventar nicht bestehen. | null | nan | de | 1,985 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
ebdde8db-3665-41b3-9ec9-5aea33e72534 | Urteilskopf
80 III 1
1. Sentenza 26 maggio 1954 nella causa Rusea. | Regeste
Gibt der Zahlungsbefehl nicht den richtigen Wohnort des Schuldners an, so ist er aufzuheben, auch wenn sich die richtige wie die angegebene Wohngemeinde im Kreis des Betreibungsamtes, von dem der Zahlungsbefehl ausgeht, befindet, jedoch zu einem andern Gerichtssprengel gehört. | Sachverhalt
ab Seite 1
BGE 80 III 1 S. 1
A.-
Maria Rusca ha escusso l'ing. Alfredo Rusca per ottenere il pagamento d'un credito di 280 fr. oltre accessori. Il precetto è stato notificato al debitore dall'Ufficio d'esecuzione del circondario di Lugano al domicilio indicato nella domanda di esecuzione: "c/o Pensione Gianella Montarina, Lugano".
Il debitore è insorto contro il precetto esecutivo adducendo, tra l'altro, di essere domiciliato a Agno, luogo dove avrebbe dovuto essere escusso.
BGE 80 III 1 S. 2
Con decisione 7 maggio 1954 l'Autorità cantonale di vigilanza ha accolto il reclamo e annullato il precetto esecutivo per i seguenti motivi: Il precetto che non indica il reale luogo di domicilio dell'escusso dev'essere annullato, quando il comune indicato comporta diversa giurisdizione giudiziaria. Tale situazione si avvera in concreto, atteso che l'importo del credito in escussione è di competenza del giudice di pace e che diverse sono le giudicature per Agno e per Lugano.
B.-
Maria Rusca ha deferito questo giudizio alla Camera di esecuzione e dei fallimenti del Tribunale federale. La ricorrente fa valere che non vi è motivo di annullare un precetto esecutivo quando il luogo della notifica e il luogo di domicilio del debitore si trovano nel medesimo circondario d'esecuzione.
Erwägungen
Considerando in diritto:
È pacifico che il debitore è domiciliato a Agno. Questo comune è nel circondario d'esecuzione di Lugano, ma nella giurisdizione di Lugano-Campagna. Il comune di Lugano, dove il debitore è stato escusso, è invece nella giurisdizione di Lugano-Città.
Secondo la prassi costante del Tribunale federale, la giurisdizione competente ratione loci in materia di rigetto dell'opposizione è quella del luogo dell'esecuzione, ossia quella della sede dell'ufficio d'esecuzione che ha notificato il precetto; il debitore che non ha contestato la competenza dell'ufficio mediante un reclamo contro il precetto non può sollevare quest'eccezione nella procedura di rigetto (RU 76 I 46 sgg.). In concreto l'Ufficio di Lugano non era incompetente. Tuttavia, se non si annullasse l'esecuzione, il rigetto dell'eventuale opposizione dovrebbe essere chiesto al giudice di Lugano-Città, pur essendo il debitore domiciliato in un comune appartenente ad un'altra giurisdizione. Per evitare quest'inconveniente, si giustifica di applicare per analogia il principio di giurisprudenza sopra riportato anche alla fattispecie. L'annullamento
BGE 80 III 1 S. 3
del precetto esecutivo deve quindi essere confermato, e ciò non perchè notificato da un ufficio incompetente, ma - come rettamente ha giudicato l'autorità cantonale - perchè contiene una falsa indicazione del luogo di domicilio del debitore.
Dispositiv
La Camera di esecuzione e dei fallimenti pronuncia:
Il ricorso è respinto. | null | nan | it | 1,954 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
ebe51da4-dfb2-49e2-a5a6-7e3c4e198909 | Urteilskopf
103 Ib 91
18. Auszug aus dem Urteil vom 9. März 1977 i.S. Nordostschweiz. Kraftwerke AG (NOK) und Schweiz. Bundesbahnen gegen Müller und Eidg. Schätzungskommission 10. Kreis | Regeste
Art. 12 und
Art. 13 EntG
; Ausdehnung der Enteignung.
Natur, Umfang und Inhalt der zu enteignenden Rechte werden - unter Vorbehalt von Ausdehnungsbegehren - von der Behörde bestimmt, die die Enteignungsermächtigung erteilt (Bestätigung der Rechtsprechung). Folgen dieses Grundsatzes im konkreten Fall (E. 2).
Begriff der "Teilenteignung" im Sinne von
Art. 13 Abs. 1 EntG
. Dem Enteigner steht nach
Art. 13 EntG
nur das Recht zu, die Ausdehnung der Enteignung in räumlicher, nicht aber in rechtlicher oder zeitlicher Hinsicht zu verlangen (E. 3). | Sachverhalt
ab Seite 92
BGE 103 Ib 91 S. 92
Für den Bau der Gemeinschafts-Hochspannungsleitung Aathal-Volketswil der Nordostschweiz. Kraftwerke AG (NOK) und der SBB wurde unter anderem auch die in der Industriezone Volketswil gelegene Parzelle Nr. 1398 von Frau Rosa Müller beansprucht. Das Grundstück, das sich unmittelbar neben dem Unterwerk Volketswil befindet, sollte auf der Länge von 84 m mit der Freileitung überspannt werden; ausserdem war vorgesehen, an der südwestlichen Grenze gegen das Unterwerk hin zwei Beton-Doppelmasten zu erstellen und die Kabelschlaufen einzulegen. Für die Errichtung und den Betrieb der Leitung und der dazugehörenden Anlagen auf dem Grundstück erteilte das Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement den Enteignern deren Anträgen entsprechend auf 50 Jahre beschränkte, einfache Durchleitungsrechte. Sowohl die Enteignete wie auch die Enteigner stellten ein Begehren um Ausdehnung der Enteignung; die Enteignete ersuchte um Totalenteignung, eventuell um Errichtung einer Bauverbots-Servitut. Für den Fall, dass den Ausdehnungsbegehren nicht stattgegeben oder nachträglich auf sie verzichtet werde, setzten die Parteien vergleichsweise die Entschädigung für Durchleitung, Maststandorte und Kabelschlaufen auf Fr. 1'000.-- fest.
Mit Entscheid vom 17. November 1975 hiess die Eidg. Schätzungskommission, Kreis 10, beide Begehren der Parteien um Ausdehnung der Enteignung gut. Sie erklärte zunächst,
BGE 103 Ib 91 S. 93
das fragliche Grundstück werde durch das Leitungstrasse derart durchschnitten, dass eine bestimmungsgemässe Verwendung, nämlich die Überbauung mit Industriegebäuden, unverhältnismässig erschwert sei und dem Begehren der Enteigneten um Totalenteignung deshalb stattzugeben sei. Durch die Gutheissung des Hauptantrages werde das Eventualbegehren um Bestellung einer Bauverbotsdienstbarkeit hinfällig, auf welches übrigens schon aus formellen Gründen nicht hätte eingetreten werden können. Aber auch das Ausdehnungsbegehren der Enteigner hielt die Schätzungskommission für begründet, obwohl die Enteignete bestritten hatte, dass diesen bei Einräumung beschränkt-dinglicher Rechte auf Grund von
Art. 13 EntG
die Möglichkeit zustehe, die Ausdehnung der Enteignung zu verlangen. Die Kommission schloss vor allem aus den Gesetzesmaterialien, dass das Ausdehnungsrecht des Enteigners ein Korrelat zu jenem des Enteigneten bilden solle und daher nicht nur im Falle einer flächenmässigen Teilenteignung bestehe, sondern auch dann, wenn das betroffene Grundstück durch Belastung mit beschränkten dinglichen Rechten "teilweise" enteignet werde. Demgemäss wurde der Enteigneten im Sinne von
Art. 71 EntG
entweder eine Entschädigung von Fr. 120.--/m2 für die Totalenteignung oder eine solche von Fr. 90.--/m2 für die Wertverminderung der Parzelle, d.h. für die Einräumung eines Bau- und Benützungsverbotes zugunsten der Enteigner zugesprochen. Dadurch war nach Ansicht der Schätzungskommission der Vergleich der Parteien, wonach die Vergütung für die einfachen Durchleitungsrechte Fr. 1'000.-- betragen sollte, hinfällig geworden.
Beide Parteien haben den Entscheid der Schätzungskommission mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten. Die Enteignete rügt ausschliesslich, dass den Enteignern das Recht, die Ausdehnung der Enteignung zu verlangen, zuerkannt worden sei, während die Enteigner einzig Schätzungsfragen aufwerfen.
Das Bundesgericht stellt in einem Teilentscheid fest, dass das Recht, die Ausdehnung der Enteignung zu verlangen, lediglich der Enteigneten Rosa Müller zusteht und dass im übrigen bei einem Verzicht auf Ausdehnung für die einfachen Durchleitungsrechte gemäss dem Vergleich der Parteien Fr. 1'000.-- zu bezahlen sind.
BGE 103 Ib 91 S. 94
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtes werden Natur, Umfang und Inhalt der zu enteignenden Rechte - unter Vorbehalt von Ausdehnungsbegehren - nicht von der Schätzungskommission, sondern von der Behörde bestimmt, die die Enteignungsermächtigung erteilt (
BGE 91 I 157
E. 2;
BGE 100 Ib 193
E. 1,
BGE 99 Ib 89
ff.,
BGE 95 I 602
; vgl.
Art. 3 EntG
,
Art. 50 ElG
).
Die NOK und die SBB haben die Ermächtigungsbehörde für den Bau und Betrieb ihrer Gemeinschaftsleitung auf dem Gebiet der Gemeinden Uster und Volketswil lediglich um Erteilung von einfachen Durchleitungsrechten sowie von Baurechten zur Erstellung von Masten und der weiteren, zur Leitung gehörenden Anlagen ersucht. Damit ist anders als in ähnlichen Fällen (vgl. beispielsweise
BGE 100 Ib 193
) auf die sofortige Bestellung von Bauverbots-Servituten verzichtet worden, obwohl sich eine solche Belastung der in Anspruch genommenen Parzellen, insbesondere jener mit Baulandcharakter, wohl gerechtfertigt hätte (vgl.
BGE 98 Ib 437
E. 3b). Das zur Erteilung des Enteignungsrechtes zuständige Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement hat sich seinerseits in seinem Entscheid vom 13. Oktober 1972 damit begnügt, die Enteigner ihren Anträgen gemäss zum Erwerb der verlangten Durchleitungsrechte zu ermächtigen, deren Dauer nach ständiger, für elektrische Leitungen geltenden Praxis (vgl.
BGE 99 Ib 89
;
Art. 6 EntG
und
Art. 47 ElG
) auf fünfzig Jahre beschränkt worden ist; zur Beurteilung der Ausdehnungsbegehren ist die Sache an die Schätzungskommission zurückgewiesen worden. Der an sich mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbare Departementsentscheid wurde nicht weitergezogen. Das Bundesgericht ist deshalb an ihn gebunden. Dementsprechend sind die Enteigner grundsätzlich - unter Vorbehalt einer allfälligen Ausdehnung der Enteignung - nur berechtigt, auf den vom Leitungsbau betroffenen Grundstücken einfache Durchleitungsrechte zu ihren Gunsten errichten zu lassen.
b) Gemäss dem Vergleich, den die Parteien am 14. August 1975 vor der Schätzungskommission geschlossen haben, soll die Entschädigung für die auf Parzelle Nr. 1398 zu bestellenden Rechte für Durchleitung, Maststandorte und Kabelschlaufen
BGE 103 Ib 91 S. 95
insgesamt Fr. 1'000.-- betragen. Diese Vereinbarung, deren Gültigkeit von keiner Seite in Frage gestellt wird (vgl. Art. 12 lit. c der Verordnung des Bundesgerichts für die Schätzungskommissionen vom 24. April 1972), bindet das Bundesgericht.
c)
Art. 36 lit. b EntG
(in Verbindung mit
Art. 35 EntG
) verpflichtet den von der Enteignung betroffenen Grundeigentümer, ein allfälliges Begehren um Ausdehnung der Enteignung schriftlich und begründet innerhalb der in
Art. 30 Abs. 1 und 3 EntG
festgelegten Frist anzumelden. Dieser Vorschrift ist die Enteignete nachgekommen, indem sie rechtzeitig und ausdrücklich verlangte, dass die Enteigner gezwungen würden, die Parzelle Nr. 1398 zu Eigentum zu erwerben. Die Schätzungskommission hat anerkannt, dass die Voraussetzungen zur Ausdehnung der Enteignung im Sinne von
Art. 12 Abs. 2 EntG
gegeben sind, und, was von den Enteignern nicht angefochten worden ist, das Begehren der Enteigneten um Totalenteignung gutgeheissen.
Zu Recht hat die Kommission sodann erklärt, dass durch die Gutheissung des Hauptantrages der Enteigneten ihr Eventualbegehren auf Bestellung einer Bauverbots-Servitut gegenstandslos geworden sei. Nicht zutreffend ist dagegen die zusätzliche Bemerkung, auf den Eventualantrag hätte angesichts der vom Bundesgericht aufgestellten strengen Anforderungen in formeller Hinsicht ohnehin nicht eingetreten werden können. Zwar wird in den von der Kommission zitierten Urteilen 91 I 159 und 95 I 604 tatsächlich eine klare und bestimmte Formulierung der Ausdehnungsbegehren verlangt. Doch genügte die Eingabe der Enteigneten dieser Anforderung durchaus: einerseits wurde ausdrücklich und begründet der Antrag gestellt, auf der fraglichen Parzelle gegen entsprechende Entschädigung wenigstens eine Bauverbots-Servitut zu errichten, andererseits ist dieser Eventualantrag an sich schon im weitergehenden Hauptbegehren um Totalenteignung enthalten.
d) Mit dem Antrag auf Totalenteignung hat die Enteignete übrigens nicht nur ein Ausdehnungsbegehren im Sinne von
Art. 12 Abs. 2 EntG
, sondern auch ein solches nach
Art. 6 Abs. 2 EntG
gestellt, da offensichtlich die umstrittene Parzelle von den Enteignern nicht nur vorübergehend zu Eigentum übernommen werden soll. Obschon in
Art. 36 lit. b EntG
nur
BGE 103 Ib 91 S. 96
auf
Art. 12 EntG
hingewiesen wird, bezieht sich diese Bestimmung nicht nur auf die räumliche Ausdehnung (Übernahme der ganzen Grundstücksfläche statt eines Teils davon) oder die rechtliche Ausdehnung (Erwerb des Eigentums statt eines beschränkt-dinglichen Rechts), welche in
Art. 12 EntG
umschrieben werden, sondern sinngemäss auch auf die in
Art. 6 Abs. 2 EntG
vorgesehene zeitliche Ausdehnung (dauernde statt vorübergehende Enteignung) (vgl.
BGE 101 Ib 262
E. 2b).
e) Nachdem die Schätzungskommission das Ausdehnungsbegehren der Enteigneten auf Totalenteignung gutgeheissen hatte, fehlten die Voraussetzungen zur Gewährung eines Ausdehnungsrechtes zugunsten des Enteigners, das diesem nur dann zusteht, wenn bei Teilenteignung die Entschädigung für die Wertverminderung des Restes mehr als einen Drittel seines Wertes beträgt (
Art. 13 Abs. 1 EntG
): haben die Enteigner nämlich die ganze Parzelle zu Eigentum zu erwerben, liegt keine Teilenteignung vor, und werden ihnen bei einem Verzicht auf die Ausdehnung der Enteignung lediglich einfache Durchleitungsrechte eingeräumt, beträgt die Entschädigung gemäss der Vereinbarung der Parteien nur Fr. 1'000.--, so dass - ganz abgesehen von der Frage, ob in diesem zweiten Fall den Enteigneten überhaupt ein Ausdehnungsrecht zustehen würde (vgl. E. 2) - schon die geringe Höhe der Entschädigung einer Ausdehnung der Enteignung entgegensteht.
f) Die Enteignete hat demnach die Wahl, entweder den Enteignern die ganze Parzelle gegen Bezahlung der vom Bundesgericht noch festzusetzenden Entschädigung zu überlassen, oder aber innert zwanzig Tagen nach der Festsetzung der Entschädigung auf die Ausdehnung der Enteignung zu verzichten und sich mit den vereinbarten Fr. 1'000.-- zu begnügen. Bei einem Verzicht auf die Ausdehnung bleibt ihr Recht, das Grundstück zu überbauen, grundsätzlich unangetastet, d.h. es wird nur virtuell eingeschränkt: will die Enteignete später auf dem Grundstück bauen, so kann sie die Verlegung der Leitung oder die Bestellung einer Bauverbots-Servitut auf dem Enteignungswege verlangen. Die Annahme der Schätzungskommission, Art. 110 der Verordnung vom 7. Juli 1933 über Starkstromanlagen verbiete eine Überbauung, ist nicht zutreffend. Diese Norm schafft nur Pflichten für den Unternehmer, beschränkt aber in keiner Weise die Rechte der
BGE 103 Ib 91 S. 97
Eigentümer der belasteten Grundstücke (
BGE 98 Ib 437
,
BGE 99 Ib 91
E. 2 in fine).
g) Es ergibt sich somit, dass die Beschwerde der Enteigneten gutzuheissen und der Entscheid der Schätzungskommission insoweit aufzuheben ist, als er einerseits den Enteignern das Recht auf Ausdehnung der Enteignung zuerkennt, andererseits diese berechtigt, gegen Bezahlung von drei Vierteln des Verkehrswertes der Parzelle Nr. 1398 zulasten dieses Grundstückes ein Bauverbot und eine Benützungsbeschränkung ins Grundbuch eintragen zu lassen. Ausserdem ist festzuhalten, dass die Entschädigung für die einfachen Durchleitungsrechte der Partei-Vereinbarung entsprechend Fr. 1'000.- beträgt.
3.
Die grundsätzliche Frage, was unter "Teilenteignung" ("expropriation partielle", "espropriazione parziale") im Sinne von
Art. 13 EntG
zu verstehen sei, ist durch diesen Entscheid nicht gegenstandslos geworden. Sie könnte nämlich dann wieder Bedeutung erlangen, wenn die Enteignete vor Bundesgericht, was an sich noch möglich wäre, ihr Ausdehnungsbegehren in dem Sinne teilweise zurückzöge, dass sie anstelle der Enteignung des ganzen Grundstückes - in maiore minus - nur die Errichtung einer Bauverbots-Dienstbarkeit verlangte. - Darüber hinaus ist die aufgeworfene Frage von solcher Tragweite, dass eine Stellungnahme des Bundesgerichtes hiezu als angezeigt erscheint.
Nach Auffassung der Schätzungskommission bezieht sich
Art. 13 EntG
nicht nur auf den Fall der räumlichen Teilenteignung, sondern ist der Enteigner auch dann berechtigt, die Totalenteignung zu verlangen, wenn Gegenstand der Enteignung die Belastung eines Grundstückes mit einem beschränkten dinglichen Recht (z.B. einem Bauverbot) ist und die dafür zu leistende Entschädigung mehr als einen Drittel des Gesamtwertes des ganzen Grundstücks ausmacht. Diese Meinung kann nicht geteilt werden.
a) Es wird schon sinngemäss durch
Art. 22ter BV
geboten und ausdrücklich noch im Enteignungsgesetz (Art. 1 Abs. 2) bestimmt, dass das Recht zur Enteignung nur so weit gehen kann, als es zur Erreichung des Zweckes notwendig ist. Soll dieser Grundsatz seinen Sinn behalten, so müssen die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen - eine solche stellt
Art. 13 EntG
dar - restriktiv und nicht über ihren Wortlaut hinausgehend
BGE 103 Ib 91 S. 98
ausgelegt werden (vgl. BOSSHARDT, Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit im Enteignungsrecht, ZBl 65/1964 S. 393 ff.).
b) Selbst wenn man annehmen will, dass das Ausdehnungsrecht des Enteigners ein Korrelat zum Ausdehnungsrecht des Enteigneten bilde, so heisst das nicht, dass die beiden Institute identisch ausgestaltet sein müssten. Tatsächlich hat das Gesetz unterschiedliche Regelungen getroffen:
Der Enteignete kann in dreierlei Hinsicht die Ausdehnung der Enteignung verlangen. Nach
Art. 6 Abs. 2 EntG
steht ihm zunächst zu, den Enteigner statt nur zu vorübergehender zu dauernder Enteignung zu zwingen. Diese zeitliche Ausdehnung ist nicht nur in den Fällen möglich, die in
Art. 6 Abs. 1 EntG
selbst geregelt werden (vorübergehende Enteignung mit 5jähriger Maximaldauer), sondern auch dort, wo auf Grund eines Gesetzes, Bundesratsbeschlusses oder einer Abrede eine länger andauernde, aber doch befristete Enteignung zulässig ist (Art. 6 Abs. 1 zweiter Satzteil; HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 8 f. zu
Art. 6 Abs. 2 EntG
). Sodann besteht nach
Art. 12 Abs. 1 EntG
ein Ausdehnungsrecht in räumlicher, und schliesslich nach
Art. 12 Abs. 2 EntG
ein solches in rechtlicher Hinsicht. Die Voraussetzungen dafür, dass die Enteignung ausgedehnt werden kann, sind streng. Für die zeitliche Ausdehnung verlangt das Gesetz, dass das vorübergehend enteignete Recht für den Enteigneten seinen Hauptwert verliere. Zur Ausdehnung in räumlicher Hinsicht ist erforderlich, dass durch die Teilenteignung die bestimmungsgemässe Verwendung des Restes verunmöglicht oder unverhältnismässig erschwert wird, und das gleiche gilt für die rechtliche Ausdehnung, wo die genannte Nutzungsbeeinträchtigung des ganzen belasteten Grundstücks vorausgesetzt wird.
Für die Ausübung des Ausdehnungsrechtes durch den Enteigner sind demgegenüber in
Art. 13 EntG
andere Erfordernisse aufgestellt worden. Nach dem Gesetzestext kann die Enteignung des Ganzen nur dann verlangt werden, wenn bei Teilenteignung die Entschädigung für die Wertverminderung des Restes mehr als einen Drittel seines Wertes beträgt. Schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ist ersichtlich, dass sie sich im Gegensatz zu
Art. 12 EntG
nur auf die flächenmässige Teilenteignung bezieht. Mit dem Ausdruck "Rest" ("partie restante", "frazione residua") kann kaum das bezeichnet
BGE 103 Ib 91 S. 99
werden, was dem Enteigneten bei einer vorübergehenden Enteignung oder bei dinglicher Belastung seines Grundstücks von diesem noch übrig bleibt. Wohl aber trifft der Ausdruck auf die Situation bei einer räumlichen Teilenteignung zu. Darüber hinaus besteht bei einer Auferlegung von Dienstbarkeiten auf dem Enteignungswege die in
Art. 13 EntG
vorausgesetzte Möglichkeit, zwischen dem Verkehrswert des enteigneten Rechtes (
Art. 19 lit. a EntG
) und dem Minderwert des Restteiles (
Art. 19 lit. b und
Art. 13 Abs. 1 EntG
) zu unterscheiden, überhaupt nicht. Die Entschädigung, die der Enteigner für die ihm eingeräumten Dienstbarkeiten zu entrichten hat, wird nämlich, da die Dienstbarkeiten an sich keinen Verkehrswert haben, stets im Sinne von
Art. 19 lit. b EntG
nach der Differenz berechnet, die sich zwischen dem Verkehrswert des unbelasteten Grundstücks und jenem des belasteten Grundstücks ergibt (
BGE 102 Ib 176
E. 2; HESS, a.a.O. N. 16 zu
Art. 19 EntG
).
c) Nur wenn das Ausdehnungsrecht des Enteigners einzig in räumlicher Beziehung gewährt wird, kann dieses schliesslich auch in einem vernünftigen Rahmen gehalten werden, der durch den Sinn und Zweck des Institutes gedeckt wird. Dieser Zweck liegt nicht nur im eigenen, finanziellen Interesse des Enteigners, sondern ebensosehr im allgemeinen Interesse daran, dass eine Zerstückelung des Bodens verhindert werden kann. Erfahrungsgemäss tritt die in
Art. 13 EntG
für die Möglichkeit der Ausdehnung verlangte Wertverminderung von einem Drittel in der Regel nur dann ein, wenn die Grundstücks-Restteile relativ klein und für den Enteigneten schlecht verwertbar sind.
Die weitergehende Auslegung von
Art. 13 EntG
, die die Schätzungskommission vertritt, würde dagegen zu unannehmbaren Ergebnissen führen. Man denke etwa an den Fall, dass ein gegenwärtig vom Eigentümer noch landwirtschaftlich genutztes Baugrundstück mit einem Bauverbot zum Schutze des Landschaftsbildes belegt würde. Hier würde die Entschädigung für die Bauverbots-Dienstbarkeit sicher einen Drittel des Wertes des ganzen Grundstückes übersteigen. Folgte man der Meinung der Schätzungskommission, so wäre in diesem Falle der Enteigner berechtigt, die Totalenteignung zu verlangen und den Eigentümer gegen seinen Willen von seinem Land zu weisen. Das gleiche, abwegige Resultat ergäbe sich
BGE 103 Ib 91 S. 100
beispielsweise auch dann, wenn ein Haus durch Immissionen um mehr als einen Drittel entwertet würde und demzufolge die Enteignung der Nachbarrechte auf eine Totalenteignung ausgedehnt werden könnte.
d) Entgegen der Auffassung der Schätzungskommission sind die Gesetzesmaterialien für die Auslegung von
Art. 13 EntG
nicht massgebend, soweit das, was sich aus ihnen ergibt, im Gesetzestext keinen Ausdruck gefunden hat (
BGE 98 Ib 380
E. 4a mit Hinweisen).
Davon abgesehen geht aus den Materialien keineswegs die einheitliche Meinung hervor, dass dem Enteigner auch bei Einräumung von Dienstbarkeiten ein Ausdehnungsrecht zustehen müsse. Der von Redaktionskommissions-Mitglied Rambert gestellte Antrag auf eine diesbezügliche Präzisierung blieb ohne Erfolg. Auf diesen Antrag bemerkte zwar, wie die Schätzungskommission in ihrem Entscheid anführt, der Verfasser des Gesetzesentwurfes Jäger, er halte den von Rambert erwähnten Fall "als in Art. 11 (heute Art. 13) inbegriffen"; doch fiel diese Bemerkung nur nebenbei und ohne Begründung. Zudem hat sich Burckhardt ausdrücklich gegen eine solche Lösung ausgesprochen (vgl. Materialien zum Expropriationsgesetz, Protokoll der Sitzung der Redaktionskommission vom 19./20. November 1923).
e) Aus diesen Überlegungen folgt, dass
Art. 13 EntG
den Enteigner nur im Falle einer Teilenteignung im räumlichen Sinne berechtigt, die Ausdehnung der Enteignung zu verlangen. | public_law | nan | de | 1,977 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
ebf3bb10-320f-4f3b-9091-8bd3cf99dde6 | Urteilskopf
119 V 298
43. Urteil vom 1. September 1993 i.S. B. gegen Krankenkasse KKB und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | Regeste
Art. 6bis KUVG
,
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
: Rückerstattung von zuviel bezahlten Krankenkassenprämien.
Bei Fehlen einer statutarischen Regelung ist auf den Rückforderungsanspruch des Versicherten sinngemäss die Rückerstattungsordnung nach
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
anwendbar. | Sachverhalt
ab Seite 298
BGE 119 V 298 S. 298
A.-
Die Eheleute Susanna und Ulrich B., seit 1. September 1969 Mitglieder der Krankenkasse KKB, traten auf den 1. Januar 1992 von der Kollektiv- in die Einzelversicherung über. Dabei wurde festgestellt, dass sie wegen einer falschen Altersgruppenzuteilung (Altersgruppe V statt IV) bei Kasseneintritt für die Krankenpflegeversicherung, seit 1. Februar 1974 auch für die Zusatzversicherung, zu hohe Prämien bezahlt hatten. Mit Verfügung vom 20. Juli 1992 anerkannte die KKB einen Rückerstattungsanspruch, dies jedoch nur für die letzten 5 Jahre, 1987 bis 1991; für die weiter zurückliegenden Jahre sei der Anspruch verwirkt.
B.-
Beschwerdeweise beantragte Ulrich B., die KKB sei zur "Rückzahlung der vom 1.2.74 - 31.12.91 unrechtmässig zuviel erhobenen
BGE 119 V 298 S. 299
Prämien" zu verpflichten; allenfalls sei, in "Anwendung der 10jährigen Verjährungsfrist nach OR", der Rückerstattungsanspruch für die Jahre 1982 bis 1991 zu schützen.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit Entscheid vom 7. Dezember 1992 ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert Ulrich B. das im kantonalen Verfahren gestellte Eventualbegehren.
Die KKB beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
(Kognition)
2.
Nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz unterliegen öffentlichrechtliche Forderungen auch beim Fehlen einer ausdrücklichen Gesetzesbestimmung der Verjährung. Regelt der massgebende Erlass Beginn und Dauer der Verjährungsfrist nicht, sind die gesetzlichen Fristenregelungen anderer Erlasse für verwandte Ansprüche heranzuziehen. Dabei ist in erster Linie auf die Ordnung, die das öffentliche Recht für verwandte Fälle aufgestellt hat, zurückzugreifen. Beim Fehlen entsprechender gesetzlicher Vorschriften ist die Verjährungsfrist schliesslich nach allgemeinen Grundsätzen festzulegen (
BGE 112 Ia 262
E. 5 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 113 Ia 154
E. 3d; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 34 I, III). Ob es sich bei der Frist um eine Verwirkungsfrist handelt, ergibt sich durch Analyse des massgebenden Erlasses (
BGE 111 V 136
E. 3b mit Hinweisen; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, a.a.O., VII).
3.
Das Gesetz über die Krankenversicherung (KUVG) wie auch die Statuten der Beschwerdegegnerin regeln die Verjährung oder Verwirkung des Anspruchs auf Rückerstattung von zu Unrecht zuviel bezahlten Prämien nicht. Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich mit dieser Frage bisher nur im Fall der irrtümlichen - wie es entschieden hat zu annullierenden - Aufnahme in die Mitgliedschaft einer Krankenkasse befasst (
BGE 101 V 225
). Mit Bezug auf die geleisteten Prämienzahlungen hielt das Gericht fest, dass es mit der Sozialversicherung kaum vereinbar wäre, der Kasse das Recht einzuräumen, diese ganz oder teilweise zu behalten. Denn zu Unrecht bezahlte Beiträge (Prämien) sind, wie namentlich
Art. 16 Abs. 3
BGE 119 V 298 S. 300
AHVG
statuiert, grundsätzlich rückzuerstatten (
BGE 101 V 228
E. 3).
Die Krankenversicherung ist Teil der Sozialversicherung. Es ist daher, wie Beschwerdegegnerin und kantonales Gericht richtig feststellen, vorab im (übrigen) Sozialversicherungsrecht nach einer passenden Regelung zu suchen.
4.
a) Nach
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
erlischt der Anspruch auf Rückerstattung zuviel bezahlter Beiträge mit Ablauf eines Jahres, nachdem der Beitragspflichtige von seinen zu hohen Leistungen Kenntnis erhalten hat, spätestens aber fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge bezahlt wurden. Sinn und Zweck dieser Bestimmung bestehen darin, dass "aus Gründen der Rechtssicherheit und aus verwaltungstechnischen Erwägungen (...) nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes in einem bestimmten Schuldverhältnis zwischen AHV und Beitragspflichtigen Ruhe eintreten" solle (
BGE 97 V 148
E. 2a). Gemäss Rechtsprechung handelt es sich bei diesen Fristen um Verwirkungsfristen (
BGE 111 V 136
E. 3b mit Hinweisen). Die Rückerstattungsordnung nach
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
gilt kraft gesetzlicher Vorschrift auch in der Invalidenversicherung, der Erwerbsersatzordnung, der Unfallversicherung, der Arbeitslosenversicherung und bei den Familienzulagen in der Landwirtschaft (
Art. 3 Abs. 2 IVG
,
Art. 27 Abs. 3 EOG
,
Art. 94 Abs. 2 UVG
,
Art. 6 AVIG
sowie
Art. 18 Abs. 3 FLG
).
b) aa) Der Rückforderungsanspruch im Leistungsbereich unterliegt nach
Art. 47 Abs. 2 AHVG
grundsätzlich ebenfalls einer relativen einjährigen und einer absoluten fünfjährigen Verwirkungsfrist (
BGE 111 V 137
E. 3c). Gleichgeschaltete Regelungen finden sich in
Art. 49 IVG
,
Art. 27 Abs. 1 ELV
,
Art. 20 Abs. 2 EOG
und
Art. 11 Abs. 2 FLG
. Die einschlägigen Bestimmungen in der Unfall- und in der Arbeitslosenversicherung, nämlich
Art. 52 Abs. 2 UVG
und
Art. 95 Abs. 4 AVIG
(in Kraft seit 1. Januar 1984), sind
Art. 47 Abs. 2 AHVG
nachgebildet (BBl 1976 III S. 141; BBl 1980 III S. 632). Demgegenüber verwies der bis 31. Dezember 1983 gültig gewesene Art. 99 Abs. 1 aKUVG für die Rückforderung nicht geschuldeter Leistungen der Unfallversicherung (noch) auf das Institut der ungerechtfertigten Bereicherung (
Art. 62 ff. OR
).
bb) Im Bereich der Krankenversicherung fehlt eine Bestimmung. Das Eidg. Versicherungsgericht hat im Grundsatzurteil EVGE 1967 S. 5, bestätigt in
BGE 102 V 99
E. 1 (vgl. auch
BGE 115 V 118
E. 3b,
BGE 112 V 194
oben), festgestellt, dass bei Fehlen einer statutarischen Regelung für diesen Leistungsbereich
Art. 47 AHVG
sinngemäss
BGE 119 V 298 S. 301
anwendbar sei. Das Gericht führte zur Begründung an, dass (auch privatrechtlich organisierte) Kassen trotz ihrer Autonomie (
Art. 1 Abs. 2 KUVG
) eine öffentliche Aufgabe erfüllen. Dies äussere sich namentlich in ihrer Verfügungskompetenz gemäss
Art. 30 KUVG
. Die Rückerstattungsfrage könne daher nicht nur eine Frage des Zivilrechts und die Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung nach
Art. 62 ff. OR
könnten nicht (nicht einmal vermutungsweise) unmittelbar anwendbar sein. Somit liege eine Lücke vor, welche durch eine passende, dem wesentlichen Charakter der Krankenversicherung Rechnung tragende Lösung in verwandten Rechtsgebieten zu füllen sei. Stünden hier die Merkmale der Sozialversicherung im Vordergrund, so dränge sich die sinngemässe Übernahme der in der AHV und weiteren Bereichen der Sozialversicherung festgeschriebenen Rückerstattungsordnungen auf. Diese Regeln, namentlich
Art. 47 AHVG
, würden gleichzeitig den Zielen der Versicherung und dem Schutz der sozial legitimen Interessen der Versicherten bestens Rechnung tragen (EVGE 1967 S. 13 E. 3c).
In
BGE 103 V 152
E. 4 erklärte das Gericht
Art. 47 Abs. 2 AHVG
auch im Verhältnis Krankenkasse/Arzt für sinngemäss anwendbar.
c) Aus den genannten Gründen, namentlich mit Blick auf die vom Sozialversicherungsgesetzgeber angestrebte Harmonisierung der Rückerstattungsordnungen im Beitrags- und im Leistungsbereich (E. 4a, b hievor; vgl. auch Art. 32 in Verbindung mit Art. 1 des Entwurfs zu einem Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [BBl 1992 II S. 186 ff., 195]), muss
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
sinngemäss (auch) in der sozialen Krankenversicherung zur Anwendung gelangen. Damit unterliegen Rückforderungsansprüche von Krankenkassen und Versicherten derselben Verwirkungsordnung. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass (zugunsten der Versicherten) das Gesetz Härtefällen Rechnung trägt (
Art. 47 Abs. 1 AHVG
) und gemäss Rechtsprechung der Vertrauensschutz uneingeschränkt auch im Anwendungsbereich von
Art. 47 AHVG
greift (
BGE 116 V 298
).
5.
Ist nach dem Gesagten auf den streitigen Rückerstattungsanspruch
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
sinngemäss anwendbar, kann sich der Beschwerdeführer nicht auf die obligationenrechtliche Verjährungsordnung berufen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich somit als unbegründet. | null | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
ebf88c7d-db65-4ce7-b9ca-e09e1a7b114d | Urteilskopf
135 I 302
34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde St. Gallen gegen GSoA Schweiz sowie Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_434/2008 vom 28. September 2009 | Regeste
Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative auf öffentlichem Grund; Gemeindeautonomie.
Zulässigkeit der Autonomiebeschwerde (E. 1).
Die Begriffe des schlichten und gesteigerten Gemeingebrauchs sind kantonalrechtlich bestimmt; Umschreibung in Praxis und Lehre; es verletzt die Gemeindeautonomie nicht, in den umstrittenen Unterschriftensammlungen keinen gesteigerten Gemeingebrauch zu erblicken und eine Bewilligungspflicht zu verneinen (E. 3).
Es besteht weder hinsichtlich der Wahrnehmung politischer Rechte noch zum Schutze von andern Grundrechtsausübungen ein hinreichendes verfassungsrechtliches Interesse, die umstrittenen Unterschriftensammlungen einer Bewilligungspflicht zu unterstellen (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 303
BGE 135 I 302 S. 303
Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) ersuchte die Stadtpolizei St. Gallen um Bewilligung von Unterschriftensammlungen für die von ihr lancierte "Volksinitiative für ein Verbot von Kriegsmaterialexporten". Sie forderte die Bewilligung für 13 Tage im Dezember 2006 und für 12 Tage im Januar 2007 an bevorzugten Standorten in der Innenstadt. Sie wies darauf hin, dass die Unterschriftensammlung ohne Stand erfolge.
Die Stadtpolizei erteilte der GSoA je 6 ganztägige Bewilligungen für Unterschriftensammlungen im Dezember 2006 und Januar 2007 und bezeichnete die Örtlichkeiten in der Innenstadt. Sie wies darauf hin, dass nach ihrer Bewilligungspraxis maximal 6 Aktionstage pro Monat bewilligt würden.
Die GSoA gelangte an den Stadtrat St. Gallen (Exekutive), welcher deren Rekurs im Wesentlichen mit der Begründung abwies, Sammelaktionen stellten an den stark frequentierten Orten der Innenstadt gesteigerten Gemeingebrauch dar und bedürften daher einer Bewilligung. Dieses Erfordernis diene dem Schutz von Polizeigütern, der Koordination unterschiedlichster Aktivitäten und der Sicherstellung einer Prioritätenordnung.
BGE 135 I 302 S. 304
Gegen den Stadtratsentscheid erhob die GSoA Rekurs beim Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen (heute Sicherheits- und Justizdepartement). Das Departement hiess den Rekurs im Sinne der Erwägungen unter Aufhebung des Stadtratsentscheides gut. Es hielt fest, dass für eine umfassende Bewilligungspflicht zur Sammlung von Unterschriften eine gesetzliche Grundlage fehle und die anbegehrte Unterschriftensammlung nicht bewilligungspflichtig sei. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen bestätigte diesen Entscheid auf Beschwerde der Politischen Gemeinde St. Gallen hin. Es führte im Wesentlichen aus, aufgrund der konkreten Verhältnisse könne bis zu einer Zahl von drei Personen kein gesteigerter Gemeingebrauch angenommen werden, weshalb eine Bewilligungspflicht entfalle.
Diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts hat die Politische Gemeinde St. Gallen beim Bundesgericht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten angefochten. Sie macht eine Verletzung der Gemeindeautonomie geltend und bringt vor, zum Schutz der Polizeigüter, zwecks Koordination unterschiedlichster Aktivitäten und im Hinblick auf die Sicherstellung einer Prioritätenordnung sei eine Bewilligungspflicht für Unterschriftensammlungen an den konkret betroffenen, besonders neuralgischen Orten in der Innenstadt erforderlich. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Die Politische Gemeinde St. Gallen ist durch den angefochtenen Entscheid des Verwaltungsgerichts, mit dem ihr Bewilligungsentscheid aufgehoben und ihre Bewilligungsbefugnis verneint werden, in ihren hoheitlichen Befugnissen betroffen. Sie ist daher nach
Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG
legitimiert, mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unter Berufung auf Art. 89 der Verfassung vom 10. Juni 2001 des Kantons St. Gallen (KV/SG; SR 131.225) eine Verletzung ihrer Gemeindeautonomie geltend zu machen (vgl.
BGE 135 I 43
E. 1.2 S. 45;
BGE 131 I 91
E. 1 S. 93;
BGE 128 I 136
E. 1.2 S. 139; je mit Hinweisen). Auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde kann eingetreten werden.
1.2
Nach
Art. 89 KV/SG
sind die Gemeinden im Rahmen der Gesetzgebung hinsichtlich des Erlasses von Verfügungen und in Bezug auf die Gesetzgebung autonom. Das Strassengesetz des
BGE 135 I 302 S. 305
Kantons St. Gallen vom 12. Juni 1988 (sGS 732.1; nachfolgend: StrG) überlässt das Verfügungsrecht über die öffentlichen Strassen weitestgehend den Gemeinden und räumt ihnen die Befugnis ein, den Gemeingebrauch einzuschränken und den gesteigerten Gemeingebrauch zu ordnen (vgl. Art. 20 f. StrG). Damit steht der Beschwerdeführerin im hier betroffenen Bereich Autonomie zu, was von keiner Seite in Frage gestellt wird.
Somit kann sich die Beschwerdeführerin dagegen zur Wehr setzen, dass eine kantonale Behörde in einem Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder die den betreffenden Sachbereich ordnenden Vorschriften unrichtig auslegt und anwendet. Ferner kann sie geltend machen, die kantonale Behörde habe die Tragweite von verfassungsmässigen Rechten missachtet. Schliesslich kann sie sich auf das Willkürverbot und auf Verfahrensgrundrechte berufen, soweit diese Vorbringen mit der behaupteten Rüge der Autonomieverletzung in engem Zusammenhang stehen. Die Anwendung von eidgenössischem und kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, die Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots (
BGE 131 I 91
E. 1 S. 93;
BGE 129 I 290
E. 2.3 S. 295,
BGE 129 I 410
E. 2.3 S. 414;
BGE 128 I 136
E. 2.2 S. 140;
BGE 126 I 133
E. 2 S. 136). Das Bundesgericht auferlegt sich Zurückhaltung, soweit die Beurteilung der Streitsache von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser überblicken (vgl.
BGE 132 II 408
E. 4.3 S. 415;
BGE 129 I 337
E. 4.1 S. 344;
BGE 126 I 219
E. 2c S. 222).
2.
Ausgehend vom Ersuchen der Beschwerdegegnerin sowie den Entscheidungen der Stadtpolizei und des Stadtrates bildet Gegenstand des vorliegenden Verfahrens einzig das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts mit dem zugrunde liegenden Sachverhalt. (...)
Hinsichtlich des Sachverhalts ist auf folgende Gegebenheiten abzustellen: Die Beschwerdegegnerin ersuchte um Bewilligung für Unterschriftensammlungen an 12 bzw. 13 Tagen im Dezember 2006 bzw. Januar 2007. Die Stadtpolizei erteilte - mit nachträglicher Zustimmung des Stadtrates - die Bewilligung für je 6 Tage; sie untersagte damit zusätzliche Sammeltage. Die Örtlichkeiten sind zwischen der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin nicht umstritten. Es handelt sich um bestimmte Orte in der Innenstadt, die sich
BGE 135 I 302 S. 306
für das Sammeln von Unterschriften eignen. So erteilte die Stadtpolizei Bewilligungen für die Spisergasse (beim Brunnen), die Multergasse, die Neugasse (beim Brunnen), den Bärenplatz, den Rösslitorplatz, die Marktgasse (beim Brunnen), den Neumarkt III und die Fussgängerzone. Für diese Orte verneinte das Verwaltungsgericht das Vorliegen von gesteigertem Gemeingebrauch und eine Bewilligungspflicht. Alle befassten Instanzen gehen weiter davon aus, dass die Unterschriftensammlung ohne einen Stand erfolgt. Das Verwaltungsgericht legt seinem Entscheid ferner zugrunde, dass an einem bestimmten Ort von Seiten der Beschwerdegegnerin höchstens drei Personen Unterschriften sammeln; es hat offen gelassen, wie es sich mit der Bewilligungspflicht bei einer grösseren Anzahl von Personen verhielte. Schliesslich steht die Erhebung einer Gebühr, die der Stadtrat aufgehoben hatte, nicht in Frage.
Zusammenfassend befand das Verwaltungsgericht entgegen dem Stadtrat, dass das Sammeln von Unterschriften durch Einzelpersonen bzw. durch zwei oder drei Personen je bezogen auf die genannten Örtlichkeiten keinen gesteigerten Gemeingebrauch darstelle und dass diese Tätigkeit keiner Bewilligungspflicht unterstellt werden dürfe. Es ist zu prüfen, ob dieser Entscheid vor der angerufenen Gemeindeautonomie standhält.
3.
Im Folgenden ist vorerst zu prüfen, ob die Annahme des Verwaltungsgerichts vor der Verfassung standhalte, dass die Unterschriftensammlung im genannten Rahmen keinen gesteigerten Gemeingebrauch darstelle und deshalb keiner Bewilligung bedürfe.
3.1
Die Nutzung von öffentlichen Sachen richtet sich in erster Linie nach kantonalem Recht. Dieses umschreibt insbesondere, in welchem Rahmen und Ausmass öffentliche Sachen im Gemeingebrauch genutzt werden dürfen und wie namentlich öffentlicher Grund von der Allgemeinheit benützt werden darf. Dabei unterscheiden die kantonalen Rechtsordnungen und die Praxis meist zwischen schlichtem Gemeingebrauch, gesteigertem Gemeingebrauch und Sondernutzung. Die Rechtsprechung und die Verwaltungsrechtswissenschaft haben diese Einteilung konkretisiert (vgl. zur Lehre HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2006, S. 507 ff. Rz. 2371 ff.; TOBIAS JAAG, Gemeingebrauch und Sondernutzung öffentlicher Sachen, ZBl 93/1992 S. 150 ff.; ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, 2. Aufl. 1984, S. 543 ff.; PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. III, 1992, S. 282 ff.). Dies ändert nichts am
BGE 135 I 302 S. 307
Umstand, dass insbesondere die Begriffe des schlichten bzw. des gesteigerten Gemeingebrauchs kantonalrechtlich bestimmt sind. Das kantonale Strassengesetz, welches auf öffentliche Plätze sachgemäss angewendet wird (Art. 1 Abs. 3 StrG), verwendet die Begriffe des einfachen bzw. des gesteigerten Gemeingebrauchs an verschiedener Stelle, ohne sie im Einzelnen näher zu umschreiben (vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 17, Art. 20, Art. 21 und Art. 29 StrG; vgl. ferner Art. 24 ff. StrG zur Sondernutzung).
3.2
Nach Rechtsprechung und Lehre gehören zum schlichten Gemeingebrauch die Nutzungen öffentlicher Sachen und all jene Tätigkeiten auf öffentlichem Grund, die entsprechend der breit umschriebenen und weit verstandenen Widmung der Allgemeinheit voraussetzungslos offen stehen. Merkmal des schlichten Gemeingebrauchs - und zugleich wesentliches Kriterium der Abgrenzung zum gesteigerten Gemeingebrauch - bildet die Gemeinverträglichkeit. Eine Nutzung wird als gemeinverträglich betrachtet, wenn sie von allen interessierten Bürgern gleichermassen ausgeübt werden kann, ohne dass andere an der entsprechenden Nutzung übermässig behindert werden. Wesentlich ist, dass im fraglichen Bereich gesamthaft eine gleichartige Benutzung durch alle Interessierten praktisch möglich ist (
BGE 122 I 279
E. 2e/cc S. 286 mit Hinweisen). Die Grenze des einfachen Gemeingebrauchs wird indes überschritten, wenn eine Nutzung ihrer Natur oder Intensität nach den Rahmen des Üblichen übersteigt, nicht mehr der bestimmungsgemässen Verwendung entspricht, den rechtmässigen Gebrauch durch andere Benützer beeinträchtigt und somit nicht mehr gemeinverträglich ist. Für die Abgrenzung im Einzelnen ist auf die konkreten örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten sowie die Art und das Ausmass der üblichen Benützung abzustellen (
BGE 126 I 133
E. 4c S. 139;
BGE 105 Ia 91
E. 2 S. 93; je mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., S. 507 ff. Rz. 2371 ff.; GRISEL, a.a.O., S. 543 ff.). Gesteigerter Gemeingebrauch unterliegt im Allgemeinen einer Bewilligungspflicht, welche nicht so sehr dem Schutz von Polizeigütern als vielmehr der Koordination und Prioritätensetzung zwischen verschiedenen Nutzungen des öffentlichen Raums dient (
BGE 127 I 164
E. 3b S. 169;
BGE 126 I 133
E. 4d S. 139; je mit Hinweisen). Nach der unter der alten Bundesverfassung ergangenen Rechtsprechung durfte gesteigerter Gemeingebrauch auch ohne gesetzliche Grundlage von einer Bewilligung abhängig gemacht werden (vgl.
BGE 121 I 279
E. 2b S. 283;
BGE 105 Ia 91
E. 2 S. 93; je mit Hinweisen). Unter der neuen
BGE 135 I 302 S. 308
Bundesverfassung wird von der Lehre eine gesetzliche Grundlage für eine Bewilligungspflicht gefordert (vgl. HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., S. 512 Rz. 2404; MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 428 f.; BEATRICE WEBER-DÜRLER, Grundrechtseingriffe, in: Die neue Bundesverfassung [BTJP 1999], 2000, S. 137 f.). Wie es sich mit dieser Frage verhält, kann im vorliegenden Fall offen bleiben. Bei der Bewilligungserteilung oder -verweigerung ist der mit dem gesteigerten Gemeingebrauch verbundenen Grundrechtsausübung Rechnung zu tragen. In diesem Sinne wird im Allgemeinen ein bedingter Anspruch auf Bewilligung von gesteigertem Gemeingebrauch anerkannt (vgl.
BGE 132 I 256
E. 3 S. 260;
BGE 127 I 164
E. 3b-c S. 168;
BGE 126 I 133
E. 4d S. 139).
In diesem Sinne stellen Kundgebungen auf öffentlichem Grund klar gesteigerten Gemeingebrauch dar und dürfen unter Bewilligungsvorbehalt gestellt werden (vgl.
BGE 127 I 164
E. 3b S. 168 mit Hinweisen). Gleich verhält es sich, wenn für eine bestimmte Tätigkeit Installationen wie Informationsstände oder Tische und Ähnliches aufgestellt werden (
BGE 105 Ia 91
E. 2 S. 92). Beim Verteilen von Druckerzeugnissen in der Zürcher Innenstadt zum Zweck eines entgeltlichen Vertriebes von Kursen und Büchern ist das Bundesgericht von gesteigertem Gemeingebrauch ausgegangen, unter Hinweis darauf, dass Gespräche mit Passanten geführt würden und dadurch Ausweichbewegungen der Strassenbenützer, Menschenansammlungen oder gar Auseinandersetzungen in stark frequentierten Lagen zu Störungen des Verkehrsflusses führen könnten (
BGE 126 I 133
E. 4 S. 137). Das Sammeln von Unterschriften auf öffentlichem Grund ist unterschiedlich beurteilt worden. In
BGE 109 Ia 209
liess das Bundesgericht offen, ob es gesteigerten Gemeingebrauch darstellt (E. 4a S. 210). Auch in
BGE 97 I 893
blieb die Frage offen; gleichwohl wurden bei einer Unterschriftensammlung das Vorliegen von gesteigertem Gemeingebrauch und ein entsprechendes Bewilligungserfordernis letztlich bejaht (E. 5 S. 896). In beiden Fällen wurde nur wenig Bezug genommen auf die konkreten örtlichen Gegebenheiten. Schliesslich hat das Bundesgericht unter Bezugnahme auf das Grundrecht der Meinungsäusserung erkannt, dass das unentgeltliche Verteilen einer vervielfältigten Schrift durch eine Einzelperson vor einem Fabrikgebäude nicht von einer Bewilligung abhängig gemacht werden dürfe; das Vorliegen von gesteigertem Gemeingebrauch blieb offen (
BGE 96 I 586
; vgl. zum Ganzen BÉNÉDICTE TORNAY, La démocratie directe saisie par le juge, 2008, S. 192 f.).
BGE 135 I 302 S. 309
3.3
Für die Beurteilung der vorliegenden Angelegenheit ist, wie dargetan, davon auszugehen, dass das Sammeln von Unterschriften für eine Volksinitiative durch Einzelpersonen bzw. durch zwei oder höchstens drei Personen an den genannten Örtlichkeiten in Frage steht. Es handelt sich um Orte in den Fussgängerzonen der St. Galler Innenstadt. Diese Situation ohne motorisierten Verkehr unterscheidet sich demnach erheblich von den Entscheiden
BGE 126 I 133
und
BGE 97 I 893
, wo die Rede war von Ausweichbewegungen von Passanten, Menschenansammlungen, Diskussionen oder gar Auseinandersetzungen, welche in stark frequentierten Lagen zu Störungen des Verkehrsflusses führen könnten (
BGE 126 I 133
E. 4c S. 139;
BGE 97 I 893
E. 5 S. 897). Bei den vorliegenden Örtlichkeiten ist weiter davon auszugehen, dass sie eine für Fussgängerzonen in der Altstadt übliche Frequentierung aufweisen und daher kaum mit eigentlichen Durchgangspassagen verglichen werden können, in denen grosse Passantenströme durch Unterschriftensammlungen erheblich gestört werden könnten (vgl.
BGE 132 I 49
E. 7.2 S. 63). Aus den Akten ergibt sich, dass die betroffenen Orte und Gassen an jenen Stellen, etwa mit alten Brunnen, eine gewisse Verengung aufweisen. Gleichwohl kann nicht angenommen werden, dass das Zirkulieren von Passanten durch das Sammeln von Unterschriften erheblich beeinträchtigt oder gestört würde und die Unterschriftensammlung vor dem Hintergrund der allgemeinen Zweckbestimmung zugunsten der Fussgänger nicht mehr gemeinverträglich wäre. Die Beschwerdeführerin räumt denn auch ein, dass die Unterschriftensammlung durch eine Einzelperson kaum zu erheblichen "Störungen des Verkehrsflusses" führen würde. Entgegen ihrer Auffassung kann aus
BGE 96 I 586
, wo eine Bewilligungspflicht für das Verteilen einer Schrift vor einer Fabrik durch eine Einzelperson aus grundrechtlicher Sicht als verfassungswidrig bezeichnet worden ist, nicht abgeleitet werden, dass Unterschriftensammlungen durch drei Personen oder gar durch eine einzige Person gesteigerten Gemeingebrauch darstellen würde.
Bei dieser Sachlage ergibt sich gesamthaft, dass das Verwaltungs gericht die kantonalrechtlich bestimmten Begriffe des schlichten bzw. gesteigerten Gemeingebrauchs weder willkürlich ausgelegt noch mit Blick auf die konkreten Verhältnisse willkürlich angewendet hat. Vor diesem Hintergrund ist es sachlich haltbar, dass das Verwaltungsgericht eine Bewilligungspflicht für entsprechende Unterschriftensammlungen verneint hat. Daraus ergibt sich, dass das
BGE 135 I 302 S. 310
Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Entscheid in dieser Hinsicht die Autonomie der Stadt St. Gallen nicht verletzt hat. Insoweit erweist sich die Beschwerde als unbegründet.
3.4
Diese Einschätzung stellt auf die heutigen konkreten Verhältnisse ab. Änderungen sind indes nicht ausgeschlossen. Sollten im Einzelfall namhafte Störungen auftreten, so können allgemeine polizeiliche Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ergriffen werden, ohne dass eine präventive Regelung notwendig wäre (vgl.
BGE 96 I 586
E. 4c S. 591). Ferner hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine Tätigkeit, die gemeinverträglich ist, solange sie nur von wenigen ausgeübt wird, bei häufigerem Vorkommen zu gesteigertem Gemeingebrauch werden und insoweit von einer Bewilligung oder andern Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann (
BGE 122 I 279
E. 2e/cc S. 287). Dies gilt auch für die vorliegende Konstellation.
4.
Ausgehend von der vorstehenden Erwägung stellt sich die weitere Frage, ob die Unterschriftensammlung an den entsprechenden Orten auf unterschiedlicher Grundlage gleichwohl einer Bewilligungspflicht unterstellt werden dürfe. Die Beschwerdeführerin erachtet die Bewilligungspflicht nicht in erster Linie wegen des von ihr angenommenen gesteigerten Gemeingebrauchs für erforderlich. Sie bringt vielmehr vor, die betroffenen Orte seien für verschiedenartigste Tätigkeiten äusserst attraktiv, insbesondere für unterschiedlichste Aktionen politischer, religiöser, gemeinnütziger oder kultureller Art. Es gelte, diese allesamt grundrechtlich geschützten Interessen bestmöglich zu koordinieren und ungestört zur Verwirklichung kommen zu lassen sowie eine Überbelastung der betroffenen Örtlichkeiten durch eine gleichzeitige Beanspruchung verschiedener Interessenten zu verhindern. Vor diesem Hintergrund und im Sinne einer umfassenden Grundrechtsgewährung rechtfertige sich eine Bewilligungspflicht gerade auch für das Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren.
4.1
Die Beschwerdeführerin bringt vor, dass Bewilligungen für gesteigerten Gemeingebrauch nicht nur dem Schutz von Polizeigütern, sondern der Koordination und Prioritätensetzungen zwischen verschiedenen Nutzungen des öffentlichen Grundes dienten. Das Bundesgericht hat sich in der Tat in dieser Weise geäussert (
BGE 127 I 164
E. 3b S. 168;
BGE 126 I 133
E. 4d S. 139). Dabei geht es um Tätigkeiten, welche gesteigerten Gemeingebrauch darstellen und die
BGE 135 I 302 S. 311
gleichartige Mitbenutzung durch unbeteiligte Personen einschränken. Das macht eine Koordination unter den verschiedenen Benutzern erforderlich, umso mehr als etwa für die Durchführung einer Demonstration ein bedingter Anspruch auf Benützung von öffentlichem Grund besteht (vgl.
BGE 132 I 256
E. 3 S. 258;
BGE 127 I 164
E. 4c S. 171; Urteil 1C_140/2008 vom 17. März 2009 E. 5). Die Koordination ist dabei ausgerichtet auf die Sicherstellung der ursprünglichen Funktion des betroffenen öffentlichen Grundes zugunsten von unbeteiligten Dritten. Ein solches Bedürfnis ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Es steht nach dem Gesagten eine Tätigkeit wie das Sammeln von Unterschriften in Frage, die vom Verwaltungsgericht als gemeinverträglich befunden worden ist. Bei dieser Sachlage ist eine Koordination bzw. eine Sicherstellung der ursprünglichen Funktion nicht wirklich erforderlich und eine Steuerung mit einem Bewilligungsverfahren grundsätzlich entbehrlich.
4.2
An diesen Erwägungen vermag auch eine grundrechtliche Optik nichts zu ändern. Es wird angenommen, dass bereits die Anordnung einer Bewilligungspflicht einen Grundrechtseingriff bedeutet (vgl.
BGE 96 I 219
E. 5 S. 225; WEBER-DÜRLER, a.a.O., S. 135; MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 427; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, 2. Aufl. 2006, N. 690 ff.). Das Bewilligungserfordernis für Kundgebungen auf öffentlichem Grund bewirkt Beschränkungen der aus
Art. 16 und 22 BV
fliessenden Gewährleistungen. Gleiches gilt für das Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren. Zur Garantie der politischen Rechte gemäss
Art. 34 Abs. 1 BV
im Allgemeinen sowie der Initiativ- und Referendumsrechte im Besondern (auf Bundesebene nach
Art. 136 Abs. 2 BV
) gehört auch das Sammeln von Unterschriften, das weitgehend auf die Benützung von öffentlichem Grund angewiesen ist (vgl.
BGE 97 I 893
E. 2 S. 895; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2007, § 51 N. 9). Erforderlich ist daher, dass entsprechende Beschränkungen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sind.
Unter diesem Gesichtswinkel ist im vorliegenden Fall ein öffentliches Interesse an einer Beschränkung zurzeit nicht ersichtlich. Es wird von Seiten der Beschwerdeführerin nicht nachgewiesen, dass die Freigabe der Unterschriftensammlung im Sinne der verwaltungsgerichtlichen Erwägungen zu konkreten Schwierigkeiten führen könnte. Es wird auch nicht dargelegt, dass sich in der Vergangenheit
BGE 135 I 302 S. 312
zahlreiche Gruppierungen um gleichzeitige Bewilligungen an gleichen Orten bemüht oder dass mehrere gleichzeitige Unterschriftensammlungen zu Nachteilen oder Störungen geführt hätten. Insoweit erweisen sich die Bedenken der Stadt St. Gallen als hypothetisch und vermögen daher kein aktuelles öffentliches Interesse an einer Einschränkung von Unterschriftensammlungen und einer entsprechenden Steuerung mit einem Bewilligungsverfahren zu begründen.
Auch ein Bedürfnis nach Schutz von dritten Grundrechtsträgern ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin zurzeit nicht ersichtlich. Ein allfälliges Schutzbedürfnis wird erst aktuell, wenn verschiedene Grundrechtsträger wie die genannten Gruppen politischer, religiöser, gemeinnütziger oder kultureller Art konkret zueinander in Konkurrenz treten oder miteinander in Konflikt geraten. Konkrete Hinweise auf derartige Situationen werden von Seiten der Beschwerdeführerin nicht namhaft gemacht. Soweit die Tätigkeiten solcher Gruppen im Bereiche des schlichten Gemeingebrauchs bleiben, treten diese in natürliche Konkurrenz zueinander und sprechen die Passanten je auf ihre eigene Art an.
Vor diesem Hintergrund bedarf es keines vorausgehenden Schutzes dieser Gruppen oder zwecks eines allfälligen Interessenausgleichs einer vorgängigen Steuerung von Seiten der Behörden. Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass die eine Gruppe möglicherweise aktiver auftritt als eine andere. In dieser Hinsicht kann vermutet werden, dass eine gewisse Selbstregulierung einsetzt und unterschiedliche Gruppen je in der für ihre Anliegen geeigneten Weise in Erscheinung treten, sodass im Allgemeinen ein dringendes Steuerungsbedürfnis entfällt. Auch unter diesem Gesichtswinkel ist ein Interesse an einer Einschränkung von Unterschriftensammlungen nicht dargetan.
Bei dieser Sachlage kann nicht gesagt werden, dass das Verwaltungsgericht die Tragweite von Verfassungsrecht missachtet hätte. Sein Entscheid hält auch insoweit vor der Verfassung stand und verletzt damit die Autonomie der Stadt St. Gallen nicht. | public_law | nan | de | 2,009 | CH_BGE | CH_BGE_001 | CH | Federation |
ec0294a1-b1ea-4b3f-8ee0-e42aa7cf95b2 | Urteilskopf
116 Ib 11
3. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 24. Januar 1990 i.S. Staat Zürich gegen P. und Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Enteignungsentschädigung für Lärmimmissionen aus dem Betrieb von Nationalstrassen.
Zulässigkeit eines Teilurteils (E. 1).
Die Zusprechung einer Enteignungsentschädigung für die Entwertung von Wohnliegenschaften durch übermässige, von Nationalstrassen ausgehende Lärmimmissionen ist de lege lata nur im formellen Enteignungsverfahren möglich; es bestehen keine gesetzlichen Eigentumsbeschränkungen, die einen Entschädigungsanspruch aus materieller Enteignung zu begründen vermöchten (E. 2). Eigenheiten des formellen Enteignungsverfahrens zur Abgeltung übermässiger Lärmeinwirkungen (E. 2aa-ee).
Welches Ausmass die Lärmeinwirkungen erreichen, insbesondere ob die Alarmwerte überschritten werden oder nicht, ist für die Frage der Voraussehbarkeit der Immissionen unerheblich (E. 3a).
Der Enteignungsrichter ist nicht zuständig, über Ansprüche zu befinden, die sich aus dem Umweltschutzgesetz ergeben (E. 3b). | Sachverhalt
ab Seite 12
BGE 116 Ib 11 S. 12
Am 29. November 1972 genehmigte das Eidgenössische Departement des Innern das Ausführungsprojekt für die Nationalstrasse SN 1.4.4 (Teilstrecke Schöneichstrasse-AMAG) auf dem Gebiet der Stadt Zürich. Der Kanton Zürich leitete hierauf das Enteignungsverfahren für den Erwerb der für den Strassenbau benötigten Rechte ein. Beansprucht wurde längs der Überlandstrasse unter anderem der 10 m tiefe Vorgarten des Grundstücks Kat.- Nr. 2762, auf welchem ein Mehrfamilienhaus (Überlandstrasse Nr. 99) steht. Das Wohnhaus grenzt heute - nach dem Bau der Nationalstrasse - seitlich unmittelbar an das Trottoir der verlegten Überlandstrasse an, welche ihrerseits längs der fünfspurigen Nationalstrasse verläuft.
An der Einigungsverhandlung vom 14. März 1974 erklärte sich der Eigentümer der Parzelle Nr. 2762, K. P., mit der vorzeitigen Inbesitznahme des zu enteignenden Bodens einverstanden. Zudem wurde vereinbart, dass über die vom Enteigneten verlangte Entschädigung für Lärm erst nach Inbetriebnahme der Nationalstrasse befunden werden solle. In einem zusätzlichen Teilvergleich vom 25. April 1975 setzten die Parteien die für die Landabtretung geschuldete Entschädigung auf Fr. 450.--/m2 fest und behielten die Zusprechung einer Minderwertsentschädigung für Immissionen weiterhin einem späteren Entscheid vor.
Im Zusammenhang mit dem Nationalstrassenbau erarbeitete die Stadt Zürich ein Immissionsschutzprojekt für die Überlandstrasse bzw. die SN 1.4.4. Der Regierungsrat des Kantons Zürich stimmte dem Projekt, das die Finanzierung der durch die Nationalstrasse bedingten Schutzmassnahmen durch den Kanton
BGE 116 Ib 11 S. 13
vorsah, am 20. Dezember 1978 zu. Gestützt auf dieses Projekt übernahm der Kanton Zürich die Kosten für den Einbau von Schallschutzfenstern am Hause Überlandstrasse Nr. 99 und leistete K. P., der auf die Erstellung einer Lärmschutzwand längs seines Grundstücks verzichtet hatte, zusätzlich für die Aussenrenovation des Hauses einen Beitrag von Fr. 40'000.--.
Auf Anfrage des Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 10, bestätigte K. P. im November 1985, dass er an der Minderwertsforderung festhalte. Der Enteignete verlangte an der Einigungs- und Schätzungsverhandlung vom 14. April 1986 eine zusätzliche Entschädigung von rund Fr. 40'000.-- für die Lärmeinwirkungen, die seit Beginn der Bauarbeiten an der Nationalstrasse die Vermietung der Wohnungen erheblich erschwert hätten. Der Vertreter des Kantons Zürich beantragte sinngemäss die Abweisung des Entschädigungsbegehrens.
Die Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10, entschied am 18. Februar 1987, dass der Entschädigungsanspruch des Enteigneten für übermässige Immissionen ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt der Enteignung nachbarlicher Abwehrrechte zu beurteilen sei und dass diese Immissionen aus dem Betrieb der SN 1.4.4 für den Enteigneten nicht voraussehbar gewesen seien. Ob die übrigen Voraussetzungen für die Zusprechung einer Entschädigung erfüllt seien, blieb einer späteren Beurteilung vorbehalten.
Gegen den Entscheid der Eidgenössischen Schätzungskommission hat der Staat Zürich Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht. Er stellt die Anträge, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der geltend gemachte Entschädigungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der materiellen Enteignung zu prüfen; es sei festzustellen, dass die Immissionen aus dem Betrieb der Nationalstrasse SN 1.4.4 für den Enteigneten voraussehbar waren, und dessen Entschädigungsforderung sei demzufolge abzuweisen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Schätzungskommission hat keinen Zwischenentscheid erlassen, sondern vorweg eine rechtliche Teilfrage abschliessend beantwortet und damit ein Teilurteil gefällt. Ein solches Vorgehen, das sich aus Gründen der Zweckmässigkeit und der Prozessökonomie aufdrängen kann (vgl.
BGE 109 Ib 31
f. E. 1c,
BGE 114 Ib 145
nicht
BGE 116 Ib 11 S. 14
publ. E. 2), ist zulässig und vom Beschwerdeführer ausdrücklich befürwortet worden.
2.
Der Staat Zürich bringt in seiner Beschwerde zunächst vor, dass in Abänderung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtes die Beeinträchtigungen durch Immissionen aus dem Bau und Betrieb von Strassen nicht mehr nach den Regeln über die formelle Enteignung nachbarlicher Abwehrrechte, sondern unter dem Gesichtspunkt einer allfälligen materiellen Enteignung beurteilt werden sollten. Inwiefern eine solche neue Betrachtungsweise den angefochtenen Entscheid hätte beeinflussen sollen und zu welchem Ergebnis sie hätte führen müssen, wird jedoch nicht dargelegt. Vielmehr geht der Staat Zürich nach seinen weiteren Ausführungen selbst davon aus, dass die im Rahmen der Rechtsprechung über die formelle Enteignung aufgestellten Bedingungen für die Gewährung einer Immissionsentschädigung, insbesondere die Voraussetzung der Unvorhersehbarkeit der Einwirkungen, weiterhin gelten sollten. Es ist daher nicht ersichtlich, welches schutzwürdige Interesse der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall an der verlangten Änderung der Rechtsprechung haben könnte. Immerhin ist die vom Staat Zürich aufgeworfene Frage in letzter Zeit auch in der Lehre erneut zur Diskussion gestellt worden (vgl. etwa GEORG MÜLLER, Kommentar zu
Art. 22ter BV
N. 64, CHRISTOPH BANDLI, Kommentar zum Umweltschutzgesetz N. 17 zu Art. 24 S. 11, DETLEV DICKE, Die materielle Enteignung, Baurechtstagung Freiburg 1983 S. 68, KARL LUDWIG FAHRLÄNDER, Zur Abgeltung von Immissionen aus dem Betrieb öffentlicher Werke, unter Berücksichtigung des Bundesgesetzes über den Umweltschutz, Diss. Bern 1985 S. 85 ff., FELIX SCHÖBI, Zur Unterscheidung von formeller und materieller Enteignung am Beispiel von Immissionsstreitigkeiten, in "recht" 1985 S. 126 ff.), so dass es sich rechtfertigt, ihr einige Bemerkungen zu widmen.
a) Die Bundesverfassung sieht in Artikel 22ter einerseits die Enteignung vor und lässt andererseits weitere, durch das Gesetz begründete Eigentumsbeschränkungen zu, für welche, wenn sie einer Enteignung gleichkommen, ebenfalls volle Entschädigung zu leisten ist (Art. 22ter Abs. 3). Solche Beschränkungen, die sich nicht auf das Enteignungsgesetz stützen, sich aber wie eine Expropriation auswirken und daher eine Entschädigungspflicht auslösen, werden in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung seit bald fünfzig Jahren "materielle Enteignungen" genannt (vgl.
BGE 113 Ia 375
E. 4a). Ob ein Eingriff in Eigentum als formelle oder als
BGE 116 Ib 11 S. 15
materielle Enteignung zu betrachten und zu behandeln sei, beurteilt sich somit in erster Linie danach, ob das Enteignungsgesetz zur Anwendung komme und die für ein im öffentlichen Interesse liegendes Werk beanspruchten Rechte im formellen Enteignungsverfahren erworben werden müssen oder ob durch gesetzliche Vorschrift oder entsprechende Pläne eine Eigentumsbeschränkung bereits eingetreten sei und nur noch die Entschädigung in Frage stehe.
Nun behauptet der Beschwerdeführer selbst nicht, es gebe - abgesehen von den Vorschriften über die Projektierungszonen und über die Baulinien (Art. 14 ff. und 22 ff. des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen) - eine gesetzliche Norm, durch welche das Grundeigentum in der Umgebung der Nationalstrassen in dem Sinne eingeschränkt werde, dass kein Recht auf ungestörte Nutzung bestehe und selbst übermässige Lärmimmissionen hinzunehmen seien. Die Bestimmungen von Art. 22 und 24 des Bundesgesetzes über den Umweltschutz vom 7. Oktober 1983 (USG), welche in zu stark lärmbelasteten Gebieten Neubauten oder die Schaffung neuer Wohnzonen verbieten, die Weiternutzung bestehender Wohnbauten dagegen nicht untersagen oder einschränken, vermögen jedenfalls keine gesetzliche Grundlage für die lärmbedingte Beeinträchtigung dieser bisherigen Nutzungen und den Ersatz des dadurch verursachten Schadens abzugeben. Wie das Bundesgericht in
BGE 110 Ib 372
ff. E. 2 zu den Lärmzonenplänen gemäss Luftfahrtgesetzgebung ausgeführt hat, können solche Pläne insoweit zu materiellen Enteignungen führen, als in den entsprechenden Zonenvorschriften der Bau neuer Wohnhäuser oder die Ausscheidung neuer Wohngebiete untersagt wird; solange aber die bisherige Nutzung bestehender Gebäude weiterhin zugelassen wird, fällt die Zusprechung einer Entschädigung aus materieller Enteignung für diese ausser Betracht und muss deren Eigentümer ein anderer Weg zur Geltendmachung ihrer Entschädigungsbegehren eröffnet werden (vgl. insbes.
BGE 110 Ib 371
f. E. 2d; Art. 42 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes über die Luftfahrt vom 21. Dezember 1948 und Art. 62 Abs. 5 der Luftfahrtverordnung vom 14. November 1973).
Bestehen keine speziellen gesetzlichen Eigentumsbeschränkungen hinsichtlich der Duldung von Lärmimmissionen längs von Nationalstrassen, so hat hingegen der Bundesgesetzgeber in Art. 5 des Bundesgesetzes über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (EntG; SR 711) alle dinglichen Rechte an Grundstücken, so ausdrücklich
BGE 116 Ib 11 S. 16
auch die aus dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte, zum möglichen Gegenstand der formellen Enteignung erklärt; hiezu zählen insbesondere die in den
Art. 679 und 684 ZGB
umschriebenen Abwehransprüche gegen übermässige Einwirkungen, die dem Eigentümer grundsätzlich auch gegenüber dem hoheitlich handelnden Gemeinwesen zustehen. Gemäss
Art. 4 lit. a EntG
kann denn auch das Enteignungsrecht nicht nur für die Erstellung, die Veränderung, den Unterhalt und die künftige Erweiterung, sondern auch für den Betrieb eines Werkes in Anspruch genommen werden. Dass der Beschwerdeführer die formelle Enteignung von Nachbarrechten für "konstruiert" und gekünstelt hält, vermag nichts daran zu ändern, dass diese "Konstruktion" vom Bundesgesetzgeber selbst stammt und für das Bundesgericht verbindlich ist. Nachdem die Nachbarrechte schon unter der Herrschaft des alten Expropriationsgesetzes vom 1. Mai 1850 in der Praxis als mögliche Enteignungsobjekte anerkannt worden waren, war bei der Schaffung des heute geltenden Gesetzes unbestritten, dass im Gesetzestext selbst klarzustellen sei, dass "jede infolge der Erstellung oder bestimmungsgemässen Benutzung des öffentlichen Werkes notwendig eintretende dauernde oder vorübergehende Überschreitung der nachbarrechtlichen Verpflichtungen" als Inanspruchnahme eines auf dem formellen Enteignungswege zu begründenden Rechtes gelten solle (vgl. HESS/WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 2 zu
Art. 5 EntG
; Art. 2 des Vorentwurfes und des II. Entwurfes JAEGER vom Oktober 1916, Protokolle der Expertenkommission vom 15. Oktober 1917 S. 14 ff.).
b) Die weiteren Argumente, die der Beschwerdeführer vorbringt, um die Ungeeignetheit des formellen Enteignungsverfahrens für die Abgeltung von übermässigen Lärmeinwirkungen darzulegen, vermögen ebenfalls nicht zu überzeugen:
aa) Der Beschwerdeführer macht geltend, Wesen der formellen Enteignung sei, dass dem Enteigneten ein privates Recht zwangsweise entzogen und auf den Enteigneten übertragen werde; es finde ein Leistungsaustausch, ein Subjektwechsel statt. Bei der Enteignung von Nachbarrechten gehe indessen kein nutzbares Recht auf den Enteigner über und gebe es keinen Leistungsausgleich.
Die Enteignung des nachbarlichen Abwehranspruches ist jedoch, wie bereits in
BGE 106 Ib 244
E. 3 dargelegt (s. auch
BGE 111 Ib 24
,
BGE 110 Ib 376
E. 2c), nichts anderes als die zwangsweise Errichtung einer Dienstbarkeit auf dem Grundstück des Enteigneten zugunsten des Werkeigentümers, deren Inhalt in der Pflicht zur
BGE 116 Ib 11 S. 17
Duldung von Immissionen besteht. Durch die Einräumung des ihn begünstigenden Servitutes wird der Rechtsbestand des Enteigners vermehrt, während das Grundeigentum des Enteigneten eingeschränkt wird. Abgesehen davon geht bei der formellen Enteignung nicht stets ein Recht - sei es das abgetretene oder ein neu begründetes - auf den Enteigner über. Aus diesem Grunde ist bei der Schaffung des Enteignungsgesetzes bewusst auf den im alten Expropriationsgesetz von 1850 verwendeten Begriff der "Abtretung" verzichtet und
Art. 5 Abs. 2 EntG
so formuliert worden, dass die Rechte, die Gegenstand der Enteignung bilden, dauernd oder vorübergehend "entzogen oder beschränkt" werden können. Hiezu wird in der bundesrätlichen Botschaft vom 21. Juni 1926 ausgeführt, der "Entzug" der Rechte brauche nicht immer auch mit einem Übergang auf den Enteigner, mit einer "Abtretung" verbunden zu sein; der Enteigner werde beispielsweise eine ihm im Wege stehende Grunddienstbarkeit oder das auf einer von ihm freihändig erworbenen Liegenschaft lastende Kaufsrecht einfach löschen lassen. Was mit dem einem Enteigneten entzogenen Recht geschehe, sei für diesen nebensächlich (BBl 1926 II 13).
bb) Der Beschwerdeführer macht darauf aufmerksam, dass bei Beeinträchtigungen durch übermässige Einwirkungen der Eingriff des Enteigners der Entschädigungsleistung vorausgehe, was ein typisches Merkmal der materiellen Enteignung sei, während bei der formellen Enteignung erst die Zahlung der Entschädigung den Rechtsentzug bewirke.
Es trifft zu, dass im formellen Enteignungsverfahren der Enteigner das Eigentum oder das auf dem Enteignungswege eingeräumte dingliche Recht erst durch Bezahlung der Entschädigung oder des nach
Art. 19bis Abs. 2 EntG
festgesetzten Betrages erwirbt (
Art. 91 Abs. 1 EntG
). Dass Rechte der Eigentümer in Anspruch genommen werden können, bevor eine Vergütung erfolgt, ist jedoch auch dem formellen Enteignungsrecht nicht fremd, kann sich doch der Enteigner gemäss
Art. 76 EntG
unter bestimmten Voraussetzungen schon vor der Bezahlung der Entschädigung zur Besitzergreifung oder zur Ausübung des Rechts ermächtigen lassen. Dieser vorzeitigen Inbesitznahme im Sinne von
Art. 76 EntG
sind die Fälle gleichzustellen, in denen Rechte auch ohne Ermächtigung schon vor dem eigentlichen Erwerb durch den Enteigner ausgeübt werden, sei es, weil deren Inanspruchnahme - wie bei allenfalls übermässigen Immissionen - nicht mit Bestimmtheit vorausgesehen werden konnte (vgl. unten lit. cc;
BGE 106 Ib 245
BGE 116 Ib 11 S. 18
E. 3, 249,
BGE 111 Ib 24
), sei es, weil früher für ein Werk eingeräumte, zeitlich beschränkte Rechte vor der Erneuerung abgelaufen sind (vgl.
BGE 115 Ib 23
E. 5a).
cc) In der Beschwerde wird weiter vorgebracht, Voraussetzung für eine formelle Enteignung sei, dass ein Verzeichnis der zu enteignenden Rechte erstellt und dem Betroffenen persönlich mitgeteilt werde, was der Enteigner von ihm verlange. Dieser sei aber in der Regel gar nicht in der Lage, anzugeben, welche Nachbarrechte und inwieweit diese durch das zukünftige Werk entzogen oder beschränkt würden.
Dass die für ein öffentliches Werk beanspruchten dinglichen Rechte in der Grunderwerbstabelle und in der persönlichen Anzeige verzeichnet seien, bildet jedoch nach Enteignungsgesetz kein Erfordernis für den Erwerb dieser Rechte durch den Enteigner. Gemäss
Art. 27 Abs. 2 EntG
sind in der Grunderwerbstabelle nur jene beschränkten dinglichen Rechte anzuführen, die aus dem Grundbuch oder den sonstigen öffentlichen Büchern ersichtlich sind. Alle anderen Rechte, auf die der Enteigner ebenfalls greifen kann - so die Pfandrechte, Nutzniessungsrechte und die nur obligatorischen Rechte der Mieter und Pächter -, müssen nicht im vornherein bezeichnet werden (vgl. HESS/WEIBEL, a.a.O., N. 21 zu
Art. 27 EntG
). Das gilt auch für die Abwehransprüche, in die erst durch den Betrieb des Werkes eingegriffen wird (
BGE 111 Ib 24
). Diesem Umstand, dass der Umfang der Enteignung nicht in allen Fällen zum voraus bestimmt und angezeigt werden kann, hat der Gesetzgeber durch
Art. 41 Abs. 1 lit. b EntG
Rechnung getragen, wonach Entschädigungsforderungen auch nachträglich noch geltend gemacht werden können, "wenn vom Enteigner entgegen dem aufgelegten Plan und Verzeichnis oder der persönlichen Anzeige ein Recht in Anspruch genommen oder geschmälert wird, oder wenn eine im Zeitpunkt der Planauflage oder der persönlichen Anzeige nicht oder nicht nach ihrem Umfang vorherzusehende Schädigung des Enteigneten sich erst beim Bau oder nach Erstellung des Werks oder als Folge seines Gebrauchs einstellt". Auf die Möglichkeit nachträglicher Entschädigungsgesuche ist sowohl in der öffentlichen Bekanntmachung wie auch in den persönlichen Anzeigen ausdrücklich hinzuweisen (
Art. 30 Abs. 2 und
Art. 34 Abs. 1 lit. f EntG
).
dd) Nach Auffassung des Beschwerdeführers spricht auch
Art. 19bis Abs. 1 EntG
, der die Einigungsverhandlung als Stichtag für die Entschädigungsbemessung bezeichnet, gegen eine Behandlung
BGE 116 Ib 11 S. 19
von Entschädigungsforderungen für Immissionen im formellen Enteignungsverfahren, da im Zeitpunkt der Einigungsverhandlung die Einwirkungen meist noch gar nicht aufgetreten seien. Die Anwendung von
Art. 19bis Abs. 1 EntG
sollte jedoch in diesem Zusammenhang keine Schwierigkeiten bieten: Ist der in seinen Nachbarrechten Verletzte bereits im Rahmen der Landabtretung ins Enteignungsverfahren einbezogen und die Beurteilung seines Entschädigungsanspruchs auf einen Zeitpunkt nach Inbetriebnahme des Werkes verschoben worden, so führt die Schätzungskommission - wie im vorliegenden Fall - sinnvollerweise bei Wiederaufnahme des Verfahrens eine zweite Einigungsverhandlung durch. Meldet der Betroffene seine Entschädigungsforderung für Immissionen gestützt auf
Art. 41 EntG
erst nachträglich an oder ersucht den Werkeigentümer, falls noch kein Enteignungsverfahren eröffnet worden ist, überhaupt erst um Verfahrenseinleitung, so ist die Einigungsverhandlung ohnehin nach Inbetriebnahme des Werkes und dem Auftreten der Einwirkungen durchzuführen.
ee) Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, der von Immissionen Betroffene werde nur entschädigt, wenn er seine Forderung rechtzeitig anmelde, während die Entschädigungsforderung des formell Enteigneten nicht verjähren könne. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung unterliegen jedoch grundsätzlich alle öffentlichrechtlichen Ansprüche der Verjährung (vgl.
BGE 105 Ib 11
f. E. 3a,
BGE 108 Ib 339
E. 5). Wohl sind gemäss
Art. 38 EntG
die formell enteigneten Rechte, soweit sie sich aus der Grunderwerbstabelle ergeben oder offenkundig sind, von der Schätzungskommission auch ohne Anmeldung zu schätzen. Falls der Enteigner aber nicht in der Grunderwerbstabelle verzeichnete oder nicht offenkundige Rechte in Anspruch nimmt und der Enteignete kein Entschädigungsbegehren stellt, verjähren die entsprechenden Ansprüche aus formeller Enteignung ebenfalls, sofern sie nicht schon gemäss
Art. 41 Abs. 2 EntG
verwirkt sind (
BGE 105 Ib 12
ff.,
BGE 108 Ib 485
ff.; s. auch
BGE 113 Ib 38
E. 3).
c) Es besteht somit kein Anlass, die bundesgerichtliche Rechtsprechung im vom Beschwerdeführer gewünschten Sinne zu ändern. Übrigens ist nicht ersichtlich, welche Vereinfachungen oder Verbesserungen eine Behandlung der Entschädigungsforderungen für übermässige Einwirkungen als Ansprüche aus materieller Enteignung bringen würde. Dass die von Immissionen Betroffenen das formelle Enteignungsverfahren nicht selbst bei der Schätzungskommission eröffnen lassen können, sondern den Werkeigentümer
BGE 116 Ib 11 S. 20
dazu veranlassen müssen, führt in der Regel zu keinerlei Schwierigkeiten, sorgen doch die Schätzungskommissions-Präsidenten, falls sie direkt angegangen werden, üblicherweise für die richtige Verfahrenseinleitung. Wären indessen die Schadenersatzbegehren für übermässige Einwirkungen aus dem Betrieb der Nationalstrassen als Forderungen aus materieller Enteignung zu behandeln, so wären einerseits die Eidgenössischen Schätzungskommissionen mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung zu deren Beurteilung gar nicht zuständig (zur Publ. best. Entscheid vom 29. November 1989 i.S. G., E. 2b,
BGE 114 Ib 146
, 112 Ib 126 E. 2). Andererseits würde durch Anwendung der geltenden Grundsätze über die materielle Enteignung der allgemeine Entschädigungsanspruch der Nachbarn öffentlicher Werke eher verringert als vergrössert, insbesondere wenn - wie offenbar dem Beschwerdeführer vorschwebt - das in der Rechtsprechung über die formelle Enteignung aufgestellte Erfordernis der Unvorhersehbarkeit der Immissionen auch für die materielle Enteignung übernommen würde. Ein solches Ergebnis - die weitere Einschränkung der Entschädigungsansprüche für übermässige Immissionen - stünde aber in Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers, der die im Enteignungsgesetz enthaltenen Garantien ausdrücklich auch den in ihren Nachbarrechten Verletzten bieten wollte.
Schliesslich ist daran zu erinnern, dass nach
Art. 5 EntG
alle aus dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte Gegenstand der Enteignung sein können, somit nicht nur der Anspruch des Eigentümers auf Unterlassung übermässiger Einwirkungen im Sinne von
Art. 684 ZGB
, sondern auch jener auf Unterlassung von schädlichen Grabungen und Bauten (
Art. 685 ZGB
) und der Änderung des natürlichen Wasserablaufs (
Art. 689 Abs. 2 ZGB
) sowie die sich im Sinne von
Art. 686 ZGB
aus dem kantonalen Recht ergebenden Abwehrrechte (BGE
BGE 113 Ib 36
f.,
BGE 106 Ib 235
f. E. 3, nicht publ. Entscheid vom 14. März 1989 i.S. Odermatt E. 3, s. auch
BGE 108 Ib 485
; HESS/WEIBEL, a.a.O., N. 7 zu
Art. 5 EntG
). Wie mit diesen zu verfahren wäre, wird in der Beschwerde nicht dargelegt.
3.
Die Schätzungskommission hat im ersten Teil ihres Entscheides übereinstimmend mit der bundesgerichtlichen Praxis ausgeführt, dass eine Entschädigung für die von der Nationalstrasse ausgehenden Immissionen nur geschuldet sei, wenn die Einwirkungen für den Gesuchsteller nicht voraussehbar waren, ihn in spezieller Weise treffen und einen schweren Schaden verursachen
BGE 116 Ib 11 S. 21
(vgl. etwa
BGE 110 Ib 48
E. 4, 346 E. 2). In ihren Erwägungen zur Voraussehbarkeit der Immissionen stützt sich die Kommission zunächst ebenfalls auf die Rechtsprechung (vor allem auf
BGE 111 Ib 236
und die dort zitierten Entscheide) und gelangt in richtiger Anwendung der vom Bundesgericht aufgestellten Grundsätze zum - vorläufigen - Ergebnis, dass die Strassenlärmimmissionen für K. P. voraussehbar gewesen seien. Sie weist insbesondere darauf hin, dass die Überlandstrasse schon im Jahre 1954, als P. die fragliche Liegenschaft kaufte, eine der meistbefahrenen Hauptstrassen der Schweiz gewesen sei. Der Grundeigentümer habe daher zwar nicht den Nationalstrassenbau als solchen voraussehen, so doch damit rechnen müssen, dass die Strasse in absehbarer Zukunft verbessert oder vergrössert werde, um den anwachsenden Verkehr überhaupt aufnehmen zu können. Selbst wenn keine Autobahn erstellt, sondern nur die Staatsstrasse ausgebaut worden wäre, wäre die Lärmbelastung heute nicht wesentlich geringer.
Die Kommission ist hierauf aber noch einen Schritt weiter gegangen und hat erklärt, obschon eine Zunahme der Lärmbeeinträchtigungen absehbar gewesen sei, sei doch nicht voraussehbar gewesen, dass die Immissionen ein unerträgliches Mass annehmen und sogar die Alarmwerte überschreiten würden. Ein solches Ausmass der Immissionen sei offenbar auch von den Fachleuten nicht vorausgesehen worden, da sonst zweifellos entsprechende Schutzmassnahmen getroffen worden wären; die mangelnde Voraussicht der Strassenbaufachleute dürfe nun aber nicht den betroffenen Grundeigentümern angelastet werden.-- Insoweit ist der Schätzungskommission jedoch nicht zu folgen.
a) Wie das Bundesgericht in
BGE 110 Ib 346
ff. E. 2 präzisiert hat, bilden die Unvorhersehbarkeit der vom Schienen- und Strassenverkehr ausgehenden Beeinträchtigungen, die Spezialität der Immissionen und die Schwere des Schadens drei voneinander unabhängige Bedingungen, die grundsätzlich kumulativ gegeben sein müssen, damit die Immissionen als übermässig im Sinne von
Art. 684 ZGB
gelten können. Von diesen drei Voraussetzungen sei jene der Spezialität insbesondere dann erfüllt, wenn die Immissionen eine Intensität erreichten, die das Mass des Üblichen und Zumutbaren übersteige. Dagegen beziehe sich die Voraussetzung der Schwere auf den durch die Lärmbelastung entstehenden Schaden, wobei sich die immissionsbedingte Entwertung eines Hauses nicht allein anhand der Höhe des Schallpegels bemessen lasse,
BGE 116 Ib 11 S. 22
sondern unter Berücksichtigung der Lage, der Art und der Umgebung der Bauten in jedem Einzelfall gesondert festzulegen sei.
Nun hat die Schätzungskommission im angefochtenen Entscheid aus dem Umstand, dass die Immissionen auf dem Grundstück des Beschwerdeführers die Alarmwerte übersteigen, auf die Unvorhersehbarkeit solcher Beeinträchtigungen geschlossen. Die in der Lärmschutzverordnung vom 15. Dezember 1986 (Anhänge 3-6) festgelegten Alarmwerte sind jedoch Werte, die der Beurteilung der Lärmintensität und insbesondere der Dringlichkeit von Sanierungen dienen (
Art. 19 USG
). Sie können daher - wenn überhaupt - im Enteignungsverfahren nur im Zusammenhang mit der Voraussetzung der Spezialität und allenfalls bei der Bemessung des Schadens berücksichtigt werden. Für die Voraussehbarkeit im hier massgeblichen Sinne, wie sie von der Schätzungskommission an sich richtig umschrieben worden ist, spielt es dagegen keine Rolle, welches Ausmass die Lärmimmissionen erreichen und ob dieses im einzelnen vorausgeahnt werden konnte (
BGE 110 Ib 51
E. 5). Ausschlaggebend ist allein, dass der Betroffene ein an einer Hauptverkehrsader liegendes Grundstück erworben und damit die übliche Verkehrsentwicklung und die sich daraus ergebenden Belästigungen als Nachbar in Kauf genommen hat.
Es ist denn auch - leider - keineswegs so, dass nur in äusserst seltenen und aussergewöhnlichen Situationen die Alarmwerte überschritten würden, so dass sich für diese eine Sonderbehandlung rechtfertigen würde. Wie dem bei den Akten liegenden Untersuchungsbericht entnommen werden kann, werden heute auch in den Dörfern in der Nähe der Stadt Zürich entlang den Hauptstrassen tags durchwegs Lärmpegel im Bereich des Alarmwertes und nachts Pegel zwischen den Immissionsgrenz- und den Alarmwerten gemessen. Auch an der Überlandstrasse selbst erreichte die Lärmbelastung schon vor dem Autobahnbau die Höhe der Alarmwerte.
b) Die Schätzungskommission hat im übrigen erklärt, dass die Bestimmungen des Umweltschutzgesetzes und der Lärmschutzverordnung bei der Inbetriebnahme der SN 1.4.4 noch nicht rechtsverbindlich gewesen seien, es sich aber dennoch rechtfertigen lasse, die darin zum Ausdruck kommenden Grundsätze im vorliegenden Enteignungsverfahren zu berücksichtigen.
Hiezu ist festzuhalten, dass sich das Bundesgericht wohl bei der Auslegung des Begriffes "übermässige Einwirkung" im Sinne von
Art. 684 ZGB
von den Expertenberichten leiten lässt, welche im
BGE 116 Ib 11 S. 23
Rahmen der Vorbereitung der eidgenössischen Umweltschutzgesetzgebung erstattet wurden und in dieser ihren Niederschlag gefunden haben (vgl.
BGE 114 Ib 36
E. 3,
BGE 110 Ib 346
ff.). Es darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass auch in Verfahren zur Expropriation nachbarlicher Abwehrrechte gegenüber übermässigem Lärm nur die sich auf das Enteignungsgesetz stützenden Begehren zu beurteilen sind. Dagegen kann es nicht Sache des Enteignungsrichters sein, über Ansprüche zu befinden, die sich aus dem Umweltschutzgesetz ableiten lassen (nicht publ. Entscheid vom 12. Juni 1989 i.S. Kanton Basel-Stadt E. 3). Die beiden Bundesgesetze verfolgen denn auch, obschon sie verschiedene Berührungspunkte aufweisen, grundsätzlich unterschiedliche Zwecke: Während das Umweltschutzgesetz die Menschen, Tiere und Pflanzen gegen schädliche oder lästige Einwirkungen schützen will (
Art. 1 Abs. 1 USG
), dient das Enteignungsgesetz dazu, dem Gemeinwesen zu ermöglichen, sich die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben notwendigen Güter - unter Einhaltung des Verhältnismässigkeitsgebotes und unter voller Entschädigung der Enteigneten - zwangsweise zu beschaffen und allfällige Hindernisse zu beseitigen (
Art. 1 EntG
;
BGE 115 Ib 25
,
BGE 111 Ib 98
E. 2c).
c) Dem Beschwerdeführer ist somit insofern zuzustimmen, als er geltend macht, die Schätzungskommission habe im vorliegenden Fall die Unvorhersehbarkeit der Lärmimmissionen zu Unrecht bejaht. Dem Enteigneten steht daher für die von der Nationalstrasse ausgehenden Immissionen keine Entschädigung zu. Da kein anders begründetes Minderwertsbegehren mehr im Streite liegt, ist der angefochtene Entscheid in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben und festzustellen, dass dem Enteigneten kein Anspruch auf eine Minderwertsentschädigung für die Parzelle Nr. 2762 zusteht. Die Sache ist zum Entscheid über die Kosten und die Parteientschädigung für das vorinstanzliche Verfahren an die Eidgenössische Schätzungskommission zurückzuweisen.
4.
Obschon die Beschwerde des Enteigners gutgeheissen wird, ist dieser in Anwendung von
Art. 116 EntG
zu verpflichten, dem Enteigneten für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung auszurichten. Auf die Erhebung von Gerichtskosten kann verzichtet werden. | public_law | nan | de | 1,990 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
ec02f09c-aaab-402a-b52b-dca7cb52fa18 | Urteilskopf
119 II 216
44. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. Mai 1993 i.S. Renato Domedi Architekt HTL AG gegen Staat Aargau (Berufung) | Regeste
Haftung aus Grundbuchführung (
Art. 955 ZGB
); Verjährung des Schadenersatzanspruchs (
Art. 60 Abs. 1 OR
).
1. Unterliegen die Kantone für Vermessungsfehler ihrer Nachführungsgeometer der zivilrechtlichen Haftung aus Grundbuchführung? Frage offengelassen (E. 3).
2. Absolute Verjährung nach
Art. 60 Abs. 1 OR
. Die Zehnjahresfrist läuft für den Schadenersatzanspruch aus
Art. 955 ZGB
unabhängig von der Kenntnis, die der Gläubiger von seinem Anspruch hat, ab der schädigenden Handlung. Die rechtswidrig erfolgende Eintragung im Grundbuch setzt mit ihrem Abschluss unweigerlich den Fristenlauf in Gang (E. 4). | Sachverhalt
ab Seite 217
BGE 119 II 216 S. 217
Am 26. November 1927 verkaufte Adolf L. als Eigentümer des im Grundbuch Brittnau eingetragenen Grundstücks Nr. 679, Kat. Plan 56, Parz. 1044, eine Teilfläche von 13,97 a als Neuparzelle Nr. 1279, Kat. Plan 56, Parz. 1930, an Frieda und Gotthilf F. zu hälftigem Eigentum. Nachdem die beiden Miteigentümer am 1. Juni 1935 eine Teilfläche von 0,26 a an Elise S.-F. verkauft hatten, verblieb ihnen eine Restfläche von 13,71 a, welche in der Folge als Flächeninhalt im Grundstücksbeschrieb des Grundbuchs angegeben war.
Mit Kaufvertrag vom 9. September 1985 erwarb die Renato Domedi Architekt HTL AG das Grundstück Nr. 1279, Grundbuch Brittnau, zum Preise von Fr. 100.-- pro m2. Im Zuge einer Neuparzellierung stellte der Nachführungsgeometer des Bezirks Zofingen fest, dass der Flächeninhalt der Parz. 1930 des genannten Grundstücks im Jahre 1927 aufgrund eines Berechnungsfehlers des damaligen Nachführungsgeometers um 100 m2 zu gross angegeben war, und er nahm mit Mutationstabelle 2956 vom 25. Februar 1989 die entsprechende Flächenkorrektur vor. Mit Parzellierungsbegehren vom 1. März 1989 beantragte die Renato Domedi Architekt HTL AG dem Grundbuchamt Zofingen, im Grundbuch sei neu ein Flächeninhalt von 12,71 a einzutragen.
Die Renato Domedi Architekt HTL AG klagte am 1. Februar 1991 gegen den Staat Aargau auf Bezahlung eines Betrages von Fr. 10'000.-- nebst Zins zu 5% seit dem 5. Oktober 1989. Das Bezirksgericht Aarau bejahte mit Urteil vom 26. Februar 1992 eine Haftung des Staates Aargau aus Grundbuchführung und verpflichtete diesen, der Renato Domedi Architekt HTL AG den eingeklagten Betrag nebst entsprechendem Zins zu bezahlen. Mit Entscheid vom 16. Oktober 1992 hiess das Obergericht des Kantons Aargau die Appellation des Staates Aargau gut, hob das Urteil des Bezirksgerichts auf und wies die Klage ab.
Gegen diesen Entscheid ist die Renato Domedi Architekt HTL AG mit Berufung an das Bundesgericht gelangt. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und der Staat Aargau zu verpflichten, der Klägerin einen Betrag von Fr. 10'000.-- nebst Zins zu 5% seit dem 5. Oktober 1989 zu bezahlen.
Das Departement des Innern des Kantons Aargau schliesst auf Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt.
BGE 119 II 216 S. 218
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Gestützt auf die Entstehungsgeschichte des
Art. 955 ZGB
hat das Bundesgericht in einem älteren Entscheid festgehalten, die Führung des Grundbuchs schliesse eine Haftbarkeit für die Grundbuchvermessung nicht ein (
BGE 57 II 569
f.). Nach der neueren Lehre bezieht sich dieser Haftungsausschluss jedoch nur auf die der Anlegung des Grundbuchs vorausgehende Grundbuchvermessung, nicht aber auf die Pläne, die im Rahmen der Nachführung des Vermessungswerks erstellt werden. Die Tätigkeit des Nachführungsgeometers, den die Parteien insbesondere bei einer Parzellierung gezwungenermassen in Anspruch nehmen, gehöre zur Führung des Grundbuchs. Ein dabei auftretender Vermessungsfehler müsse daher die Haftung des Kantons auslösen (DESCHENAUX, Das Grundbuch, in Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/3/I, Basel 1988, S. 218, mit Hinweisen auf das Schrifttum). Was die im Grundbuch eingetragene Grösse eines Grundstücks betrifft, die sich nachträglich als falsch herausstellt, schliessen einzelne Autoren dafür eine Haftung der Kantone aus Grundbuchführung zum vornherein aus. Bei der Grösse oder dem Flächeninhalt eines Grundstücks handle es sich um tatsächliche Angaben, welche im Unterschied zu den in den Plänen enthaltenen Grenzziehungen am öffentlichen Glauben des Grundbuchs nicht teilnehmen könnten (FRANZ JENNY, Die Verantwortlichkeit im Grundbuchwesen, in ZBGR 46/1965, S. 85 f.; vgl. auch die an
BGE 106 II 341
ff. geübte Kritik von LIVER, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1980, in ZBJV 118/1982, S. 128; a.M. HANS-PETER FRIEDRICH, Fehler in der Grundbuchvermessung, ihre Folgen und ihre Behebung, in ZBGR 58/1977, S. 154 f.).
Ob die Haftung des Beklagten zu verneinen oder gar zu bejahen wäre, kann indessen offenbleiben, wenn die Vorinstanz den Schadenersatzanspruch zu Recht als verjährt betrachtet hat. Im folgenden ist daher zunächst diese Frage zu prüfen.
4.
Hinsichtlich der Verjährung des Schadenersatzanspruchs gestützt auf
Art. 955 Abs. 1 ZGB
ist nach ständiger Rechtsprechung und fast einhelliger Lehre
Art. 60 OR
entsprechend anwendbar (
BGE 110 II 40
E. 4;
BGE 51 II 394
; HOMBERGER, N. 11 zu
Art. 955 ZGB
; DESCHENAUX, a.a.O., S. 236; STEINAUER, Les droits réels, Bd. I, 2. A., Bern 1990, S. 169, N. 618; TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 10. A., Zürich 1986, S. 596; FRANZ JENNY, a.a.O., S. 75; BREHM, N. 7 zu
Art. 60 OR
; a.M. OSTERTAG, N. 14 zu
Art. 955 ZGB
, der die allgemeine Verjährungsfrist von
Art. 127 OR
für
BGE 119 II 216 S. 219
anwendbar hält). Die Begründung findet sich in
BGE 51 II 385
ff., wo darauf hingewiesen wird, dass die Haftung aus Grundbuchführung von ihrer Ausgestaltung her der Haftung des Geschäftsherrn am nächsten stehe. Deshalb rechtfertige es sich, die kurze Verjährungsfrist des
Art. 60 OR
auch auf die Haftpflicht des Staates für die Grundbuchbeamten gemäss
Art. 955 ZGB
anzuwenden (
BGE 51 II 394
). Diese Auffassung wurde erst kürzlich vom Bundesgericht bestätigt (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. Staat Luzern vom 27. Februar 1991, E. 3b).
a) Dass vorliegend die Verjährungsregelung gemäss
Art. 60 OR
zur Anwendung kommt, wird von der Klägerin mit Recht nicht bestritten. Hingegen hält sie gleich wie HANS-PETER FRIEDRICH (a.a.O., S. 143 f.) dafür, dass ein Anspruch auf Schadenersatz gestützt auf
Art. 955 Abs. 1 ZGB
nicht vor Kenntnis des Schadens verjähren könne.
aa) Nach
Art. 60 Abs. 1 OR
verjährt der Anspruch auf Schadenersatz in einem Jahre von dem Tage hinweg, wo der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, jedenfalls aber mit dem Ablauf von zehn Jahren, vom Tage der schädigenden Handlung an gerechnet. Dem Wortlaut dieser Bestimmung lässt sich klar entnehmen, dass die absolute Verjährungsfrist von zehn Jahren im Gegensatz zur Jahresfrist ab der schädigenden Handlung läuft, welche zugleich die Haftung begründet. Der Vorinstanz ist folglich beizupflichten, wenn sie das den Schaden verursachende Verhalten für massgeblich hält, und nicht den Schadenseintritt oder den Zeitpunkt, in dem der Geschädigte Kenntnis des Schadens erlangt (DESCHENAUX, a.a.O., S. 237, Anm. 86b; STARK, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 2. A., Zürich 1988, S. 233, N. 1092 und 1096; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Besonderer Teil, Bd. II/1, Zürich 1987, S. 111, N. 366; KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, Bern 1987, S. 246).
Das Bundesgericht hat denn auch wiederholt entschieden, dass die Zehnjahresfrist von Art. 60 wie auch von
Art. 127 OR
unabhängig von der Kenntnis läuft, die der Gläubiger von seinem Anspruch hat; die Klage könne daher verjährt sein, bevor der Gläubiger diesen Anspruch kenne (
BGE 106 II 136
E. 2a mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung stiess in bezug auf vertragliche Ansprüche vereinzelt auf Vorbehalte (vgl. unter anderem die Kritik von MERZ, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1980, in ZBJV 118/1982, S. 137). Was die auf
Art. 955 ZGB
gestützten Ansprüche betrifft, hält die neuere Lehre eine absolute Verjährungsfrist
BGE 119 II 216 S. 220
von zehn Jahren für zu kurz bemessen. Es bestehe mehr als in jedem andern Bereich die Gefahr, dass der Schadenersatzanspruch verjähre, bevor der Anspruchsberechtigte davon überhaupt Kenntnis erhalten habe (FRANZ JENNY, a.a.O., S. 75, der in Anm. 45a die absolute Verjährungsfrist des deutschen Rechts von dreissig Jahren für zweckmässiger und dem Verkehr dienlicher hält; DESCHENAUX, a.a.O., S. 236 f.). Diese Konsequenz ist dem Gesetzgeber, der bei der Festlegung der Verjährungsfristen ganz allgemein zwischen den Interessen der Betroffenen an der Wiedergutmachung des zugefügten Schadens und dem Rechtssicherheitsbedürfnis der Schuldner abzuwägen hatte, nicht entgangen. Es steht dem Richter nicht zu, vom klaren Gesetzeswortlaut abzuweichen, um die Folgen einer solchen Verjährungsregelung im Einzelfall zu vermeiden (
BGE 106 II 138
f. E. 2c;
BGE 87 II 160
f. E. 3a). Dass dies uneingeschränkt für die Haftung nach
Art. 955 Abs. 1 ZGB
zu gelten hat, verdeutlicht die im anschliessenden Absatz enthaltene Regressregelung. Danach haben die Kantone eine Rückgriffsmöglichkeit gegenüber jenen Beamten und Angestellten der Grundbuchverwaltung sowie jenen Organen der unmittelbaren Aufsicht, denen ein Verschulden zur Last fällt (Abs. 2). Eine solche Verschuldenshaftung verlangt ihrerseits nach einer zeitlichen Beschränkung der Kausalhaftung des Kantons, weil nur so dem Kanton, will er auf den verantwortlichen Beamten oder weitere Angestellte Rückgriff nehmen, der Beweis eines Verschuldens möglich sein wird. Hinzu kommt, dass es gerade für den Grundbuchverwalter unerträglich wäre, bestünde für eine weit zurückliegende Verfehlung noch eine Regressmöglichkeit (vgl.
BGE 51 II 394
f. E. 4).
bb) Zu beachten ist allerdings, dass die neuere Lehre die vorschriftswidrige Eintragung oder Löschung im Grundbuch - soweit sie an sich die Verantwortlichkeit des Staates nach sich zieht - als ununterbrochenen Eingriff in die Rechte des möglichen Geschädigten betrachtet, die fortdaure, bis der Schaden sich verwirkliche (DESCHENAUX, a.a.O., S. 238; HANS-PETER FRIEDRICH, a.a.O., S. 144). In die gleiche Richtung weist die Lösung von FRANZ JENNY (a.a.O., S. 75, Anm. 45a), der die Verjährungsfrist erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnen lassen will, in welchem die aus der schadensstiftenden Handlung des Grundbuchverwalters entstandene Unrichtigkeit des Grundbuchs nicht mehr durch eine Richtigstellungsklage nach
Art. 975 ZGB
behoben werden könne.
Weder die eine noch die andere Argumentation vermag indessen zu überzeugen. Als Führung des Grundbuchs im Sinne von
Art. 955
BGE 119 II 216 S. 221
ZGB
ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die gesamte Tätigkeit des Grundbuchführers in dieser Eigenschaft zu verstehen, so namentlich die Buchungen in den Haupt- und Hilfsregistern und die Tätigkeit in Verbindung mit der Ausstellung und Löschung von Pfandtiteln (
BGE 110 II 41
E. 4a mit Hinweisen; vgl. dazu die Kasuistik bei HOMBERGER, N. 3 zu
Art. 955 ZGB
). Haftungsbegründend ist folglich nicht etwa der Grundbucheintrag, der jederzeit mit der grundsätzlich unbefristeten Grundbuchberichtigungsklage gemäss
Art. 975 ZGB
angefochten werden kann, sondern die rechtswidrig erfolgende Eintragung - sei es nun eine Buchung oder Löschung - als Vorgang, dessen Resultat erst der Grundbucheintrag ist. So hält das Obergericht mit Recht fest, dass die Zehnjahresfrist des
Art. 60 Abs. 1 OR
mit Abschluss des Eintragungsvorgangs zu laufen beginnt; gleicher Ansicht ist der bernische Appellationshof in einem älteren Entscheid (ZBJV 66/1930, S. 497). In dieser Beziehung unterscheidet sich eine rechtswidrig erfolgte Eintragung denn auch vom Fall einer zu Unrecht unterlassenen Eintragung oder Massnahme, wo die Verjährungsfrist zu laufen beginnt, sobald der Verantwortliche spätestens hätte handeln sollen (DESCHENAUX, a.a.O., S. 237; allgemein OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 111, N. 366, Anm. 528).
Wie zu entscheiden wäre, wenn der Grundbuchverwalter seinerzeit während noch laufender Verjährungsfrist von der Unrichtigkeit des Grundbucheintrags erfahren, pflichtwidrig jedoch nicht auf dessen Berichtigung hingewirkt hätte, kann offenbleiben, nachdem die Vorinstanz nirgends feststellt, es habe sich so verhalten. | public_law | nan | de | 1,993 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
ec0b05eb-cbfa-43b5-8e0c-59e6d5b5e3f4 | Urteilskopf
107 Ia 265
53. Extrait de l'arrêt de la Ire Cour de droit public du 22 septembre 1981 dans la cause Marty contre Commune de Martigny et Tribunal administratif du canton du Valais (recours de droit public) | Regeste
Zulässigkeit neuer rechtlicher Vorbringen in staatsrechtlichen Beschwerden, die die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges voraussetzen.
Präzisierung der Rechtsprechung hinsichtlich der Beschwerden, in denen die erhobene Rüge neben jener der Willkür eine selbständige Bedeutung hat aber vom Bundesgericht nur mit beschränkter Kognition geprüft wird. | Erwägungen
ab Seite 265
BGE 107 Ia 265 S. 265
Extrait des considérants:
2.
a) L'autorité intimée soutient, dans ses observations, que certains des griefs formés par les recourants seraient irrecevables parce qu'ils sont allégués pour la première fois dans le recours de droit public. Ce point de vue appelle la distinction suivante.
Dans la mesure où les arguments développés par les recourants reposent sur des éléments de fait qui n'ont pas été invoqués en procédure cantonale, ils sont irrecevables, l'allégation de faits nouveaux n'étant pas admissible dans les recours de droit public soumis à l'exigence de l'épuisement des instances cantonales (
ATF 102 Ia 246
consid. 2;
ATF 99 Ia 86
BGE 107 Ia 265 S. 266
consid. 3b). S'agissant, en revanche, de moyens de droit nouveaux développés dans de tels recours, la jurisprudence admet en principe leur recevabilité lorsque l'autorité de dernière instance cantonale jouissait d'un libre pouvoir d'examen et devait appliquer le droit d'office. Seuls font exception à cette règle les recours pour arbitraire et ceux où le grief de violation d'un autre droit constitutionnel n'a pas de portée propre et se confond avec le grief d'arbitraire (
ATF 102 Ia 246
consid. 2;
ATF 100 Ia 270
consid. 4a). Ne tombent cependant pas sous le coup de cette exception les recours pour violation d'un autre droit constitutionnel dans lesquels le grief soulevé a une portée propre alors même que le Tribunal fédéral ne l'examine qu'avec un pouvoir de cognition limité. Tel est le cas, par exemple, du grief de défaut de base légale dans un recours pour violation de la garantie de la propriété (
art. 22ter Cst.
). Un tel grief est en principe recevable dans les circonstances décrites ci-dessus, même si le Tribunal fédéral ne l'examine qu'avec un pouvoir restreint parce que l'atteinte à la propriété n'est pas particulièrement grave (arrêt non publié E. Schertenleib et consorts c. Conseil communal de Saint-Blaise du 3 novembre 1976).
Il n'est pas contesté que le Tribunal administratif jouissait en l'espèce d'un pouvoir d'examen libre et qu'il devait appliquer le droit d'office, ce qui, au demeurant, ressort clairement de l'art. 78 lettre a - en relation avec l'art. 79 al. 2 - de la loi valaisanne du 6 octobre 1976 sur la procédure et la juridiction administratives (LPJA). Par ailleurs, le présent recours de droit public est fondé tant sur l'
art. 4 Cst.
que sur l'
art. 22ter Cst.
Les arguments juridiques du recours, ainsi mis en discussion par l'autorité intimée, ne sont donc pas irrecevables du seul fait qu'ils n'auraient pas été allégués en procédure cantonale. | public_law | nan | fr | 1,981 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
ec15acd4-ca3e-4033-a65f-0d3350462ae6 | Urteilskopf
123 V 39
8. Estratto della sentenza dell'11 febbraio 1997 nella causa Cassa malati Helvetia contro N. e Tribunale delle assicurazioni del Cantone Ticino | Regeste
Art. 1 Abs. 3,
Art. 55 Abs. 2 und 3 VwVG
.
Verfügungen, welche den Anspruch auf Versicherungsleistungen von Anfang an zeitlich begrenzen, stellen insoweit eine negative Verfügung dar; der Beschwerde gegen eine solche Verfügung kann keine aufschiebende Wirkung zukommen. | Sachverhalt
ab Seite 39
BGE 123 V 39 S. 39
A.-
Mediante decisione formale del 31 agosto 1995 la Cassa malati Helvetia ha riconosciuto a N., nato nel 1960, il diritto a indennità per malattia durante 4 mesi, dal 1o settembre al 31 dicembre 1995, allo scopo di permettere all'assicurato di trovare, durante il periodo previsto in tal caso dalla giurisprudenza, un'occupazione in una professione confacente al suo stato di salute. Essa ha pure dichiarato che, essendo la percentuale del danno residuo inferiore al 50% del suo precedente salario, a partire dal 1o gennaio 1996 non gli sarebbero più state versate indennità di malattia. Nella decisione nulla è stato detto sull'effetto sospensivo di un eventuale ricorso.
B.-
L'interessato è insorto contro il provvedimento amministrativo con ricorso al Tribunale delle assicurazioni del Cantone Ticino. In via provvisionale, nella replica del 20 dicembre 1995, egli ha pure presentato
BGE 123 V 39 S. 40
istanza volta ad ottenere l'attribuzione dell'effetto sospensivo al ricorso, affinché la Cassa opponente non si sottraesse al proprio obbligo di versare le indennità giornaliere anche dopo il 31 dicembre 1995.
Per giudizio incidentale del 28 dicembre 1995 il presidente della giurisdizione cantonale ha accolto l'istanza tendente alla conferma che il ricorso avesse effetto sospensivo.
C.-
La Cassa malati Helvetia presenta un ricorso di diritto amministrativo a questa Corte, in cui chiede l'annullamento del giudizio incidentale cantonale.
Rispondendo al gravame, l'assicurato ne chiede la disattenzione protestando spese e ripetibili. L'Ufficio federale delle assicurazioni sociali ha rinunciato a determinarsi.
Erwägungen
Diritto:
2.
Nella fattispecie concreta la giurisdizione cantonale si è fondata sull'
art. 55 PA
, il quale è applicabile, giusta l'
art. 1 cpv. 3 PA
, nella procedura delle autorità cantonali di ultima istanza che non decidono definitivamente in virtù del diritto pubblico federale. Tale norma dispone che nella decisione, se essa non ha per oggetto una prestazione pecuniaria, l'autorità inferiore può togliere l'effetto sospensivo a un eventuale ricorso (cpv. 2), mentre l'autorità di ricorso o il suo presidente può restituire a un ricorso l'effetto sospensivo toltogli dall'autorità inferiore (cpv. 3).
a) In modo inesatto il giudice di prime cure ha considerato che le prestazioni relative all'assicurazione malattia configurerebbero per la maggior parte prestazioni pecuniarie ai sensi dell'
art. 55 cpv. 2 PA
, per cui una cassa malati non sarebbe di regola autorizzata a togliere l'effetto sospensivo al ricorso. In realtà, per costante giurisprudenza costituisce decisione avente per oggetto prestazioni pecuniarie quella che obbliga il destinatario della stessa a fornirle (
DTF 109 V 232
consid. 2a e riferimenti ivi citati; cfr. anche
DTF 110 V 42
consid. 3a, concernente l'
art. 97 cpv. 2 LAVS
); ne deriva che, nel diritto delle assicurazioni sociali, per prestazioni pecuniarie non si intendono prestazioni assicurative, bensì innanzitutto pretese di contributi (SCARTAZZINI, Zum Institut der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde in der Sozialversicherungsrechtspflege, SZS 1993 323).
b) Nell'evenienza concreta la Cassa malati ricorrente non ha espressamente tolto l'effetto sospensivo al ricorso nella sua decisione del 31 agosto
BGE 123 V 39 S. 41
1995. Tuttavia, contrariamente a quanto asserito dal primo giudice, in virtù dei principi appena esposti nulla l'avrebbe di massima impedita di farlo. Senonché, per i motivi di cui si dirà nel prossimo considerando, non sarebbero comunque stati adempiuti i presupposti necessari perché l'autorità di ricorso o il suo presidente potesse, giusta l'
art. 55 cpv. 3 PA
, restituire al ricorso l'effetto sospensivo tolto (cfr.
DTF 109 V 232
seg. consid. 2a).
3.
Secondo la costante giurisprudenza, non può essere attribuito effetto sospensivo a ricorsi contro decisioni negative (
DTF 117 V 188
consid. 1b e rinvii). Mediante il giudizio incidentale di prima istanza al ricorso dell'interessato l'effetto sospensivo è stato concesso, ritenuto che si tratterebbe in concreto di una decisione di natura positiva.
Per definizione, oggetto di un atto amministrativo con effetto sospensivo possono essere soltanto decisioni che impongono un obbligo o che accolgono una richiesta. In caso di rigetto d'istanze, il tema dell'effetto sospensivo non si pone. Decisioni negative sono provvedimenti mediante i quali un'istanza diretta all'accertamento, alla costituzione, alla modificazione o all'annullamento di diritti o di obblighi viene disattesa. Di conseguenza, al ricorso proposto contro una decisione di un istituto assicuratore non può essere attribuito effetto sospensivo se quest'ultima ha per oggetto il rifiuto di prestazioni. In effetti, solo in base all'esito della vertenza potrà essere vagliato se all'assicurato debbano essere riconosciute prestazioni assicurative nel caso concreto. Costituisce pure decisione negativa quella in virtù della quale il diritto alla prestazione è sin dall'inizio limitato nel tempo (RJAM 1983 no. 528 pag. 94 consid. 3a, 1982 no. 472 pag. 19 consid. 2).
a) Malgrado con decisione del 31 agosto 1995 la Cassa ricorrente abbia rifiutato all'interessato il diritto alle indennità giornaliere a partire dal 1o gennaio 1996, il Tribunale delle assicurazioni del Cantone Ticino ha ritenuto dover il provvedimento essere considerato di natura positiva. Tale conclusione si giustificherebbe, da un lato, per il fatto che la Cassa ricorrente aveva fissato all'assicurato un termine entro il quale egli, in virtù del suo obbligo di ridurre il danno, doveva reperire un lavoro confacente (
DTF 111 V 239
consid. 2a; cfr.
DTF 114 V 285
consid. 3a; RAMI 1994 no. K 935 pag. 115 consid. 1). Da un altro lato, tornerebbe applicabile la giurisprudenza vigente in materia di revisione delle rendite, secondo cui la decisione di soppressione o di revisione della prestazione assicurativa va considerata positiva ove la rendita non sia
BGE 123 V 39 S. 42
stata fissata per un tempo determinato (
DTF 105 V 266
; cfr. pure RJAM 1982 no. 472 pag. 19 consid. 2).
b) Questa tesi non può essere condivisa. In effetti, le indennità giornaliere il cui versamento è stato fissato per una durata di 4 mesi devono essere parificate a prestazione assicurativa concessa per un tempo determinato; la presente situazione non è pertanto uguale a quella riscontrata in caso di decisione di soppressione o di revisione di una rendita fissata per un tempo indeterminato. Nemmeno può essere ritenuto l'argomento secondo il quale la fattispecie in esame si distinguerebbe dal caso in cui vengono rifiutate indennità giornaliere dell'assicurazione contro la disoccupazione (
DTF 119 V 503
) perché l'assicurato, in concreto, già in precedenza beneficiava di indennità giornaliere dell'assicurazione contro le malattie. Occorre invece porre in rilievo che il provvedimento in lite comprende una parte positiva per quanto attiene alle indennità assegnate durante un periodo di 4 mesi, e una parte negativa nella misura in cui vengono nel contempo rifiutate prestazioni assicurative oltre la data del 31 dicembre 1995. Per quest'ultima parte del provvedimento, unico oggetto della presente lite, l'attribuzione dell'effetto sospensivo è pertanto esclusa.
È opportuno rilevare infine che dall'implicita fissazione di un termine da parte della Cassa ricorrente, affinché l'assicurato trovasse un lavoro confacente al suo stato di salute, non poteva certo essere dedotta natura positiva della decisione. Parimenti si dovrebbe altrimenti ragionare ogni qualvolta un istituto assicuratore nega prestazioni richieste perché l'assicurato deve, in via di massima, provvedere di propria iniziativa a reintegrarsi.
c) In esito a quanto precede, considerata la natura negativa della decisione in lite, al ricorso interposto dall'interessato in sede di prima istanza non poteva essere attribuito effetto sospensivo. Per il periodo posteriore al 31 dicembre 1995, durante il procedimento giudiziale in corso, la Cassa non è pertanto tenuta a versare all'assicurato indennità giornaliere. | null | nan | it | 1,997 | CH_BGE | CH_BGE_007 | CH | Federation |
ec1b9d05-065f-4c58-bde0-bc6b86bb2b8e | Urteilskopf
116 III 56
12. Auszug aus dem Entscheid der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 5. September 1990 i.S. Lipo-Möbelposten AG (Rekurs) | Regeste
Verzinsung der Schuld bei der Lohnpfändung (
Art. 12 Abs. 2 SchKG
).
Bei der Lohnpfändung hört die Pflicht des Schuldners zur Verzinsung seiner Schuld in dem Umfang und von dem Zeitpunkt an auf, da beim Betreibungsamt Lohnquoten des Schuldners eingehen. | Sachverhalt
ab Seite 56
BGE 116 III 56 S. 56
A.-
In einer Lohnpfändung verlangte die Gläubigerin Lipo-Möbelposten AG vom Betreibungsamt Bremgarten, es habe die Zinsberechnung auf die Forderung bis zur Auszahlung des Erlöses an die Gläubigerin vorzunehmen. Demgegenüber berechnete das Betreibungsamt den Zins nur bis zum Zeitpunkt, wo der Arbeitgeber den gepfändeten Lohnanteil dem Betreibungsamt zahlte.
Die Lipo-Möbelposten AG beschwerte sich beim Gerichtspräsidium Bremgarten, indem sie im wesentlichen (mit dem Rechtsbegehren Ziff. 1) beantragte, es sei ihr eine Zinsdifferenz von Fr. 25.90, evtl. Fr. 24.80 zu vergüten, und weiter (mit dem Rechtsbegehren Ziff. 2) verlangte, es sei ihr eine Zinsdifferenz von Fr. 42.50, evtl. Fr. 39.30 zu vergüten.
Die untere kantonale Aufsichtsbehörde hiess die Beschwerde insofern gut, als sie das Betreibungsamt Bremgarten anwies, von
BGE 116 III 56 S. 57
der ersten Lohnpfändungsrate vorab die Betreibungskosten von Fr. 97.50 an die Forderung anzurechnen (
Art. 68 Abs. 2 SchKG
). Die Auffassung der Gläubigerin hinsichtlich der Zinsberechnung wurde vom Gerichtspräsidium Bremgarten indessen mit der Begründung verworfen, dass nach
Art. 12 Abs. 2 SchKG
die Schuld durch Zahlung an das Betreibungsamt getilgt werde. Dies treffe auch für eine bestrittene Lohnpfändung zu, da die Zahlung an das Betreibungsamt als Hinterlegung zu betrachten sei. Die Hauptforderung sei daher jeweils in der Höhe der eingegangenen Lohnpfändungen vermindert worden, so dass die Zinspflicht vom Eingang der Lohnpfändung an nur noch für die verminderte Forderung weitergelaufen sei.
B.-
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichts des Kantons Aargau wies in ihrer Sitzung vom 6. Juni 1990 die Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Entscheid ab, soweit darauf eingetreten werden konnte.
Ebenso wies die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts den von der Gläubigerin erhobenen Rekurs ab aus folgenden
Erwägungen
Erwägungen:
2.
Zu beantworten ist im vorliegenden Fall die Frage der Zinsberechnung bei der Lohnpfändung. Sie hat sich - wie der angefochtene Entscheid festhält - in der vorliegenden Lohnpfändung nicht nur gestellt, weil mit der Auszahlung der Lohnquoten an die Gläubigerin bis nach Ablauf des Lohnpfändungsjahres zugewartet wurde, sondern auch, weil nach Beginn der Lohnpfändung (am 1. April 1989) ein Widerspruchsverfahren gemäss
Art. 107 SchKG
eingeleitet wurde und sich dadurch die Verteilung an die Gläubiger verzögerte.
a) Während
Art. 209 SchKG
klar bestimmt, dass mit der Eröffnung des Konkurses gegenüber dem Gemeinschuldner der Zinsenlauf für alle Forderungen, mit Ausnahme der pfandversicherten, aufhöre, fehlt eine analoge Vorschrift für die Betreibung auf Pfändung und auf Pfandverwertung.
Art. 144 Abs. 4 SchKG
, worauf sich die Rekurrentin beruft, hält im Hinblick auf die Verteilung lediglich fest, dass der Reinerlös den beteiligten Gläubigern bis zur Höhe ihrer Forderungen, einschliesslich des laufenden Zinses und der Betreibungskosten, ausgerichtet werden; dasselbe schreibt
Art. 157 Abs. 2 SchKG
für die Betreibung auf Pfandverwertung
BGE 116 III 56 S. 58
vor. Auf die Frage, wie lange die Zinsen laufen, geben die beiden letzteren Gesetzesbestimmungen keine Antwort.
b) Die Rekurrentin beruft sich auf den Kommentar JAEGER (3. Auflage Zürich 1911; N. 6 zu
Art. 144 SchKG
), wo wörtlich gesagt wird: "Als Endtermin des Zinsenlaufs ist der Tag der Auflegung des Verteilungsplanes anzunehmen." Auch sieht sie ihre Auffassung an anderer Stelle desselben Kommentars (N. 17 zu
Art. 67 SchKG
) bestätigt. Sie könnte sich überdies bei JOOS (Handbuch für die Betreibungsbeamten der Schweiz, Wädenswil 1964, S. 266) bestätigt sehen, der - bezüglich der Betreibung auf Pfändung - ausführt, es sei in den Kollokationsplan der Zins, ausgerechnet auf den Tag der Auflegung des Kollokationsplanes, einzutragen.
Die Meinung der Rekurrentin verträgt sich in der Tat mühelos mit der Betreibung auf Pfändung, die zur Verwertung von Vermögensgegenständen des Schuldners führt. Vorliegend geht es indessen um eine Lohnpfändung. Sie rechtfertigt die Betrachtungsweise des Betreibungsamtes und der kantonalen Aufsichtsbehörden, dass die Pflicht des Schuldners zur Verzinsung seiner Schuld in dem Umfang und von dem Zeitpunkt an aufhöre, da beim Betreibungsamt Lohnquoten des Schuldners eingehen. Wie im kantonalen Verfahren zutreffend erkannt worden ist, lässt sich diese Auffassung auf
Art. 12 Abs. 2 SchKG
stützen, wonach die Schuld durch die Zahlung an das Betreibungsamt erlischt. In diesem Sinne führt denn auch der Kommentar JAEGER (N. 5 zu
Art. 12 SchKG
) aus, die Schuld erlösche mit dem Tag der Zahlung an das Betreibungsamt ohne Rücksicht darauf, ob überhaupt und wann das Geld von diesem dem Gläubiger abgeliefert werde (ebenso, schon von der Vorinstanz zitiert, BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechtes, Bern 1911, S. 47; FRITZSCHE/ WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs, Band I, Zürich 1984, § 12 Rz. 2; AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. Auflage Bern 1988, § 4 N. 18). Mögen wohl die zitierten Autoren nur oder in erster Linie den Fall vor Augen haben, wo der Schuldner aus eigenem Antrieb seine Schuld durch vollständige Zahlung an das Betreibungsamt begleicht, so ist doch nicht einzusehen, weshalb nicht durch die Zahlung von Lohnquoten in der Lohnpfändung die Schuld als teilgetilgt betrachtet werden sollte (vgl. zur teilweisen Befreiung durch Teilzahlung GILLIÉRON, Poursuite pour dettes, faillite et concordat, 2. Auflage Lausanne 1988, S. 48 oben).
BGE 116 III 56 S. 59
Zu beachten ist nun aber vor allem, dass es bei einer Lohnpfändung nicht zu einer Versteigerung der gepfändeten Vermögenswerte kommt. Der Einzug der fälligen Beträge erübrigt die Verwertung (AMONN, a.a.O., §§ 65 f.). Charakteristischer Zeitpunkt ist somit nicht der Zeitpunkt, wo zur Verwertung und Verteilung geschritten wird, sondern der Augenblick, wo die Lohnquoten beim Betreibungsamt eingehen. Es ist daher auch aus dieser Sicht folgerichtig, wenn der Schuldner entsprechend der Zahlung von Lohnquoten von der Schuld und der damit verbundenen Zinspflicht befreit wird. | null | nan | de | 1,990 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
ec1ff7cb-f1d9-4ec3-bde3-73fce9c77892 | Urteilskopf
93 IV 63
17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. Mai 1967 i.S. von der Crone gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. | Regeste
1.
Art. 35 Abs. 2 SVG
. Satz 2 dieser Bestimmung gilt allgemein, sowohl beim Überholen einer Kolonne als auch beim Überholen eines einzelnen Fahrzeuges. Begriff der Behinderung.
2.
Art. 35 Abs. 3 SVG
. Rücksichtnahme gegenüber dem Überholten beim Wiedereinbiegen. | Sachverhalt
ab Seite 63
BGE 93 IV 63 S. 63
A.-
Von der Crone holte am 10. Dezember 1965 gegen 18.45 Uhr mit seinem Personenauto auf der Hauptstrasse von Oberentfelden nach Suhr eine mit 60-70 km/Std fahrende, aus einem Lastwagen und drei nachfolgenden Personenwagen bestehende Kolonne ein und begann diese sogleich mit einer Geschwindigkeit von ca. 80 km/Std zu überholen. Als er dem hintersten Wagen vorgefahren war, musste er wegen Fahrzeugen, die aus der Gegenrichtung auftauchten, sein Überholmanöver vorzeitig abbrechen und zwischen den zwei letzten Wagen, die einen Abstand von 20-30 m voneinander hatten, in die Kolonne einbiegen.
BGE 93 IV 63 S. 64
B.-
Das Bezirksgericht Aarau verurteilte von der Crone wegen Widerhandlung gegen
Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG
in Anwendung von
Art. 90 Ziff. 1 SVG
zu einer Busse von Fr. 40.-.
Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung, die der Verurteilte gegen das bezirksgerichtliche Urteil einreichte, am 26. Januar 1967 ab.
C.-
Von der Crone führt gegen das Urteil des Obergerichts Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei freizusprechen.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 35 Abs. 2 SVG
ist das Überholen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Im Kolonnenverkehr darf nur überholen, wer die Gewissheit hat, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können.
Der Beschwerdeführer begann die aus vier Motorfahrzeugen bestehende Kolonne zu überholen, weil er kein entgegenkommendes Fahrzeug sehen konnte. Die Tatsache allein, dass zu Beginn des Überholens kein Gegenverkehr herrschte, genügte jedoch nicht, um das Überholen für zulässig zu halten. Beim Überholen einer geschlossenen Kolonne gilt die Regel des
Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG
ebenso wie beim Überholen eines einzelnen Fahrzeuges. Das Überholen ist nur gestattet, wenn der Überholende von Anfang an damit rechnen darf, dass die zum Überholen erforderliche Strecke bis zum vollständigen Abschluss des Manövers auch frei bleiben werde. In diesem Sinne ist schon früher entschieden worden (
BGE 86 IV 117
Erw. 2;
BGE 89 IV 147
Erw. 3/b).
Gleich verhält es sich, wenn die vorausfahrenden Fahrzeuge keine geschlossene Kolonne bilden, sondern zwischen einzelnen oder mehreren Fahrzeugen Abstände eingehalten werden, die so gross sind, dass sie einem Überholenden ohne weiteres das Wiedereinbiegen in die rechte Fahrbahn ermöglichen. Das Überholen einzelner oder in geschlossenen Gruppen fahrender Fahrzeuge ist dann insoweit erlaubt, als der Überholende zum voraus sicher sein darf, dass er das Unternehmen gefahrlos abschliessen, d.h. ohne Behinderung des Gegenverkehrs und der zu Überholenden in einer Lücke wieder nach rechts einschwenken kann (
BGE 86 IV 119
).
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 SVG
, der ausdrücklich vorschreibt,
BGE 93 IV 63 S. 65
dass im Kolonnenverkehr der Überholende die Gewissheit haben muss, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können, bestätigt nur die bisherige Rechtsprechung. Wenn sich die Bestimmung auf den Kolonnenverkehr bezieht, so wird damit nur der Fall hervorgehoben, in welchem der aus der früheren Rechtsprechung übernommene Grundsatz erhöhte Bedeutung hat. Dieser Grundsatz ist jedoch lediglich die Folgerung aus der grundlegenden Vorschrift des
Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG
bzw. aus der früher entsprechenden des
Art. 46 Abs. 1 Satz 1 MFV
. Er ist daher weiterhin allgemein anwendbar, sowohl beim Überholen eines einzelnen Fahrzeuges als auch beim Überholen einer geschlossenen oder unterbrochenen Fahrzeugkolonne.
2.
Der Beschwerdeführer wollte nach seinen eigenen Angaben die vier Fahrzeuge in einem Zug überholen. Das war nach
Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG
unzulässig, da feststeht, dass er sein Vorhaben nicht hätte zu Ende führen können, indem sich bereits Fahrzeuge aus der Gegenrichtung näherten, als er erst den am Schlusse der Kolonne fahrenden Wagen überholt hatte. Auch die Berufung auf
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 SVG
und darauf, dass der Abstand zwischen dem letzten und zweitletzten Wagen der Kolonne 20-30 m betrug, hilft dem Beschwerdeführer nicht. Das Obergericht stellt fest, dass der Führer des überholten Wagens genötigt war, sein Fahrzeug abzubremsen, um dem Beschwerdeführer, der wegen des Gegenverkehrs das Überholmanöver abbrechen und in die Kolonne einschwenken musste, das Einbiegen zu ermöglichen. Diese tatsächliche Feststellung bindet den Kassationshof (
Art. 273 Abs. 1 lit. b und
Art. 277 bis Abs. 1 BStP
). Aus ihr ergibt sich, dass der überholte Fahrzeugführer seine Fahrt nicht ungestört fortsetzen konnte, somit durch das Einbiegen des Beschwerdeführers behindert wurde, und dass demzufolge der Beschwerdeführer auch dann unzulässigerweise überholt hat, wenn er von Anfang an das Wiedereinbiegen in die Kolonne in Betracht zog, da er keine Gewissheit hatte, dass er es ohne Behinderung anderer werde tun können.
Der Beschwerdeführer hat daher wegen unzulässigen Überholens
Art. 35 Abs. 2 SVG
übertreten und ausserdem wegen mangelnder Rücksichtnahme
Art. 35 Abs. 3 SVG
verletzt, indem er den überholten Kolonnenfahrer durch brüskes Wiedereinbiegen zum Abbremsen zwang. | null | nan | de | 1,967 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
ec24c4ba-09dd-4b7d-8237-b62b8279dd71 | Urteilskopf
100 Ia 300
43. Beschluss der I. Zivilabteilung vom 3. September 1974 i.S. Arboreta AG gegen Union générale des pétroles (Suisse) SA und Kassationsgericht des Kantons Zürich. | Regeste
Einstellung des Verfahrens bei Konkurs.
Nach
Art. 207 Abs. 1 SchKG
sind nicht nur Zivilprozesse, sondern auch damit zusammenhängende Beschwerdeverfahren einzustellen, wenn sie die seit Konkurseröffnung bestehende materielle Rechtslage verändern können. | Sachverhalt
ab Seite 300
BGE 100 Ia 300 S. 300
A.-
Das Handelsgericht des Kantons Zürich verpflichtete die Arboreta AG durch Urteil vom 24. August 1972, der Union générale des pétroles (Suisse) SA Fr. 1 107 120.75 nebst 5% Zins seit 1. Januar 1969 zu bezahlen.
Die Arboreta AG hat gegen dieses Urteil die Berufung an das Bundesgericht erklärt und zudem beim Kassationsgericht des Kantons Zürich Nichtigkeitsbeschwerde erhoben.
Der Präsident des Kassationsgerichtes setzte der Arboreta AG Frist zur Leistung von Fr. 35 000.-- Prozesskaution, die er am 28 November 1972 auf Fr. 25 000.-- herabsetzte. Die Frist wurde wiederholt erstreckt, letztmals bis 12. März 1973. Am 9. März 1973 ersuchte die Arboreta AG um eine weitere Erstreckung von 20 Tagen, da ihr geschäftsführender Verwaltungsrat sich auf unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft befinde und das zweite Mitglied des Verwaltungsrates gestorben sei.
BGE 100 Ia 300 S. 301
Durch Beschluss vom 9. April 1973 lehnte das Kassationsgericht eine weitere Erstreckung der Frist ab und trat auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht ein. Es fügte bei, dass die Beschwerde abgewiesen werden müsste, wenn darauf einzutreten wäre.
B.-
Die Arboreta AG führt gegen diesen Beschluss staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, ihn aufzuheben und das Kassationsgericht anzuweisen, der Beschwerdeführerin für die Leistung der Kaution eine neue Frist anzusetzen; eventuell habe es die der Beschwerdegegnerin zugesprochene Prozessentschädigung von Fr. 20 000.-- wesentlich herabzusetzen.
Als über die Arboreta AG der Konkurs eröffnet wurde, stellte das Bundesgericht nicht nur das Berufungs-, sondern auch das Beschwerdeverfahren gemäss
Art. 207 SchKG
ein. Die Konkurseröffnung wurde in der Folge von der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichtes wegen rechtswidriger Zustellung der Konkursandrohung aufgehoben. Die Arboreta AG ersuchte hierauf um Bewilligung einer Nachlassstundung, die ihr von allen Instanzen verweigert wurde. Dies führte am 8. März 1974 zur Konkurseröffnung, welche die Arboreta AG umsonst anzufechten suchte.
C.-
Mit Eingabe vom 14. August 1974 ersucht der a.o. Konkursverwalter das Bundesgericht, die staatsrechtliche Beschwerde zu beurteilen, da die beiden beim Bundesgericht hängigen Rechtsmittelverfahren eingestellt worden seien, "bis über den Nachlass entschieden werde".
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 207 SchKG
sind nach der Konkurseröffnung Zivilprozesse, in denen der Gemeinschuldner Kläger oder Beklagter ist, von Gesetzes wegen einzustellen; sie können erst zehn Tage nach der zweiten Gläubigerversammlung, die über ihre Fortführung zu entscheiden hat, wieder aufgenommen werden. Ausgenommen sind dringliche Fälle (Abs. 1) sowie die vom Gesetz ausdrücklich erwähnten Prozesse (Abs. 2).
Der Konkursverwalter macht nicht geltend, es liege hier ein solcher Ausnahmefall vor; er scheint vielmehr selber der Auffassung zu sein, dass das beim Bundesgericht hängige Berufungsverfahren
BGE 100 Ia 300 S. 302
eingestellt bleiben muss. Bezüglich der staatsrechtlichen Beschwerde ist er dagegen offenbar der Meinung, Beschwerdeverfahren gehörten nicht zu den Zivilprozessen im Sinne von
Art. 207 SchKG
, seien folglich weiterzuführen, wenn über die Konkurseröffnung rechtskräftig entschieden worden sei.
Nach der Konkurseröffnung darf der Gemeinschuldner über sein Vermögen, soweit es zur Konkursmasse gehört, nicht mehr verfügen. Mit der Konkurseröffnung fallen aber auch alle gegen den Gemeinschuldner anhängigen Betreibungen dahin, und neue können während der Dauer des Konkursverfahrens nicht angehoben werden (
Art. 206 SchKG
). Im einen wie im anderen Falle wird seine Befugnis aufgehoben, sich als Partei an Verfahren, die zur Masse gehörende Rechte betreffen, zu beteiligen.
Aus diesen Überlegungen müssen auch Beschwerdeverfahren, die mit Zivilprozessen zusammenhängen, bis zehn Tage nach der zweiten Gläubigerversammlung eingestellt bleiben. Der vorliegende Fall zeigt dies deutlich. Sollte die Beschwerde im Hauptbegehren gutgeheissen werden, so müsste das Kassationsgericht eine neue Frist für die Kautionsleistung ansetzen. Damit wäre nicht nur der Weg für eine materielle Beurteilung der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde, sondern auch für eine Aufhebung des handelsgerichtlichen Urteils grundsätzlich offen, sofern das Kassationsgericht nicht seinerseits
Art. 207 SchKG
anwenden würde. Das Handelsgericht müsste diese Bestimmung auf jeden Fall beachten, weshalb im Ergebnis nichts gewonnen würde. Ist die Beschwerde dagegen abzuweisen, so steht der Gegenpartei für das Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht eine Entschädigung zu, die sie höchstens als Konkursforderung anmelden könnte, da der Beschluss der zweiten Gläubigerversammlung über eine allfällige Fortführung des Prozesses noch aussteht, es sich also nicht um einen Prozess der Konkursmasse handelt.
2.
Die in
Art. 207 SchKG
vorgesehenen Ausnahmefälle, in denen das Verfahren nicht einzustellen ist, dürfen nicht zur Annahme verleiten, dass alle Verfahren, die nicht Zivilprozesse im technischen Sinne sind, weitergeführt werden müssten. Zu diesen Prozessen sind vielmehr insbesondere auch Beschwerdeverfahren zu rechnen, die mit ihnen zusammenhängen und die auf eine Veränderung der Rechtslage abzielen, in
BGE 100 Ia 300 S. 303
der sich das Zivilverfahren zur Zeit der Konkurseröffnung befindet. Dass nach Bundesrecht kantonale Entscheide mit verschiedenen Rechtsmitteln angefochten werden können, steht dem selbst dann nicht entgegen, wenn wie im vorliegenden Fall nicht nur das Sachurteil, sondern auch ein kantonaler Beschwerdeentscheid an das Bundesgericht weitergezogen wird. Es genügt, dass zur Masse gehörende Rechte berührt werden und die Gutheissung des Rechtsmittels die seit Konkurseröffnung bestehende materielle Rechtslage verändern könnte. Ist diese Möglichkeit gegeben, so sind alle Verfahren, die infolge eines Zivilprozesses entstehen, nach der Konkurseröffnung im Sinne von
Art. 207 SchKG
von Gesetzes wegen einzustellen.
Dispositiv
Demnach beschliesst das Bundesgericht:
Das Beschwerdeverfahren i.S. Arboreta AG gegen Union générale des pétroles (Suisse) SA bleibt weiterhin in Anwendung von
Art. 207 SchKG
eingestellt. | public_law | nan | de | 1,974 | CH_BGE | CH_BGE_002 | CH | Federation |
ec25c3eb-a841-4d09-b49d-041c0932f933 | Urteilskopf
92 III 34
6. Entscheid vom 21. Mai 1966 i.S. Renault (Suisse) SA | Regeste
Ausweise zur Anmeldung eines Eigentumsvorbehalts beim Abzahlungskauf.
Art. 226c OR
; Art. 4 Abs. 5 lit. c der Verordnung über die Eintragung der Eigentumsvorbehalte.
1. Eine vom Käufer vor Ablauf der Frist von fünf Tagen ausgestellte Bescheinigung ist nicht zu berücksichtigen. (Erw. 1).
2. Einer Bescheinigung im Sinne der angeführten Verordnungsbestimmung bedarf es nur dann nicht, wenn sich der unbenützte Ablauf der Frist aus andern vom Verkäufer vorgelegten Urkunden einwandfrei ergibt. (Erw. 2).
3. Mit dem Ausnahmefall des
Art. 226c Abs. 2 OR
hat sich das um Eintragung des Eigentumsvorbehalts ersuchte Betreibungsamt nicht zu befassen, es wäre denn jener Ausnahmefall eindeutig belegt. (Erw. 4).
4. Tritt der Abzahlungskauf auch dann vor Ablauf der Frist von fünf Tagen in Kraft, wenn der Käufer die ihm übergebene Sache nicht unerlaubterweise, sondern im Einverständnis mit dem Verkäufer (nach genauer Belehrung über die ihm nach
Art. 226c OR
zustehenden Rechte) in vollen Gebrauch nimmt, ohne den Ablauf jener gesetzlichen Überlegungsfrist abzuwarten? Frage offen gelassen. (Erw. 3). | Sachverhalt
ab Seite 35
BGE 92 III 34 S. 35
A.-
J. Wicki, Agent der Rekurrentin, verkaufte dem Ernst Wicki, Zürich, am 26. Oktober 1965 einen Occasionswagen auf Abzahlung. Der "Kaufpreis bei Barzahlung" von Fr. 4100 wurde durch Eintausch und Anzahlung in einem Teilbetrag von Fr. 2100.-- sogleich getilgt. Der Restbetrag von Fr. 2000.-- nebst einem Kreditzuschlag von Fr. 322.-- sollte in 18 Monatsraten von Fr. 129.-- bezahlt werden, die erste Rate am 15. Dezember 1965. Ferner vereinbarten die Vertragsschliessenden die sofortige Lieferung des Wagens am 26. Oktober 1965 unter Eigentumsvorbehalt und die Abtretung der Rechte des Ver käufers an die Rekurrentin.
B.-
Am gleichen Tage, 26. Oktober 1965, unterzeichneten die Vertragschliessenden eine Lieferungsbestätigung deren vorgedrucktem Texte zu entnehmen ist:
a) "Der Käufer bestätigt, in gutem Zustande heute erhalten zu haben:...";
b) "Der Käufer bestätigt, vor mindestens 5 Tagen ein beidseitig unterzeichnetes Vertragsdoppel erhalten und binnen dieser Frist nicht schriftlich auf den Vertragsabschluss verzichtet zu haben."
BGE 92 III 34 S. 36
C.-
Gestützt auf den von der Ehefrau des Käufers mitunterzeichneten und im übrigen dem
Art. 226 a Abs. 3 OR
entsprechenden Kaufvertrag und die Lieferungsbestätigung meldete die Rekurrentin am 27. Dezember 1965 den Eigentumsvorbehalt zur Sicherung ihrer Restforderung von Fr. 2322.-- zur Eintragung an. Das Betreibungsamt Zürich 2 lehnte das Gesuch ab, weil die vom Käufer vor Ablauf der gesetzlichen Frist von fünf Tagen ausgestellte Bescheinigung den Vorschriften (
Art. 226 c OR
und Art. 4 Abs. 5 lit. c der Verordnung betreffend die Eintragung der Eigentumsvorbehalte) nicht entspreche.
D.-
Beschwerde und Rekurs der Gesuchstellerin wurden in beiden kantonalen Instanzen abgewiesen.
E.-
Mit vorliegendem Rekurs gegen den Entscheid der obern kantonalen Aufsichtsbehörde vom 19. April 1966 hält die Gesuchstellerin am Antrag fest, das Betreibungsamt Zürich 2 sei anzuweisen, den Eigentumsvorbehalt im Register einzutragen.
Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Nach den am 1. Januar 1963 in Kraft getretenen Bestimmungen über den Abzahlungsvertrag hat der Käufer das Recht, binnen fünf Tagen nach Empfang eines beidseitig unterzeichneten Vertragsdoppels dem Verkäufer schriftlich zu erklären, er verzichte auf den Vertragsabschluss. Auf dieses Recht kann er nicht zum voraus verzichten, und wenn er es ausübt, kann von ihm kein Reugeld verlangt werden (
Art. 226 c Abs. 1 und 3 OR
). Um diesen gesetzlichen Normen Rechnung zu tragen, lässt Art. 4 Abs. 5 der Verordnung betreffend die Eintragung der Eigentumsvorbehalte die Eintragung eines im Abzahlungsvertrage vereinbarten Eigentumsvorbehaltes nur zu, wenn
c) "der Käufer bescheinigt, vor mindestens fünf Tagen ein beidseitig unterzeichnetes Vertragsdoppel erhalten und binnen dieser Frist nicht gemäss Artikel 226 c schriftlich auf den Vertragsabschluss verzichtet zu haben."
Die von der Rekurrentin dem Betreibungsamt vorgelegte Lieferungsbestätigung vom 26. Oktober 1965 enthält nun gewiss in ihrem vorgedruckten Text eine dahin lautende Bescheinigung. Dieser Text setzt aber voraus, dass die Bescheinigung erst nach Ablauf der Frist, auf die er sich bezieht, ausgestellt
BGE 92 III 34 S. 37
wird. Wird sie unterzeichnet, wenn diese Frist noch läuft oder, wie hier, eben erst zu laufen beginnt, so ist sie offensichtlich, weil verfrüht, nicht der Wahrheit entsprechend und kann daher nicht als Ausweis über die von ihr bezeugte Tatsache verwendet werden. Das vorliegende Formular für die Lieferungsbestätigung ist in seinem zweiten, die Bestätigung b) enthaltenden Teil auf den Normalfall zugeschnitten, da die Kaufsache erst nach Ablauf der fünftägigen Überlegungsfrist (und natürlich nur, wenn der Käufer sie unbenützt, also ohne eine Verzichtserklärung abzugeben, verstreichen liess) geliefert wird. Bei früherer Lieferung lässt sich über die nach Ablauf jener Frist bestehende Sachlage noch nichts aussagen, und es sollte daher jener vorgedruckte Text in einem solchen Falle durchgestrichen werden. Jedenfalls lässt sich die Unterschrift des Käufers unter diesen Umständen nicht auf den betreffenden Textteil beziehen. Es bedurfte daher, um der Vorschrift von Art. 4 Abs. 5 lit. c der Verordnung zu genügen, einer besondern, mindestens fünf Tage später ausgestellten Bescheinigung.
Der Einwand der Rekurrentin, das Betreibungsamt habe die sachliche Richtigkeit der vorliegenden Bescheinigung ebenso wenig wie die materiellrechtliche Gültigkeit des Kaufvertrages zu prüfen (wobei sie auf
BGE 91 III 38
/39 hinweist), geht fehl. Der Kaufvertrag genügt allerdings als Ausweis für die Eintragung des Eigentumsvorbehaltes, wenn er den Vorschriften von
Art. 226 a Abs. 3 und
Art. 226 b OR
entspricht (Art. 4 Abs. 5 lit. a und b der Verordnung). Dazu muss aber mit Rücksicht auf
Art. 226 c Abs. 1 und 3 OR
die Bescheinigung nach Art. 4 Abs. 5 lit. c der Verordnung treten, welche den unbenützten Ablauf der fünftägigen Überlegungsfrist zum Gegenstand hat. Es versteht sich von selbst, dass das Betreibungsamt bei der Prüfung dieses Ausweises dessen Datum mit demjenigen des Vertragsabschlusses zu vergleichen und eine vor Ablauf der massgebenden Frist ausgestellte Bescheinigung als untauglichen Beleg zurückzuweisen hat, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt. Die wesentliche Bedeutung des Zeitmoments, weshalb zum voraus ausgestellte Bescheinigungen dieser Art ausser Betracht fallen müssen, wird denn auch in der Literatur hervorgehoben (vgl. HANS GIGER, Anwendungs- und Umgehungsprobleme der neuen Bestimmungen über den Abzahlungs- und Vorauszahlungsvertrag SJZ 60/1964, 317 ff., besonders S. 324; H. STOFER, Kommentar zum Bundesgesetz über den Abzahlungs-
BGE 92 III 34 S. 38
und Vorauszahlungsvertrag, S. 80: "Diese Bescheinigung lässt sich auf dem Lieferschein anbringen, wenn die Lieferung nicht vor Ablauf der 5 Tage erfolgt".).
2.
Unter Umständen kann der Verkäufer oder sein Zessionar das Inkrafttreten des Abzahlungsvertrages auf andere Weise als mittels einer Bescheinigung im Sinne von Art. 4 Abs. 5 lit. c der Verordnung dartun. Auf einen solchen Fall bezieht sich
BGE 89 III 83
ff. Damals hatte der Käufer zwar bloss bescheinigt, fünf Tage zuvor ein beidseitig unterzeichnetes Vertragsdoppel erhalten zu haben. Dass er die gesetzliche Überlegungsfrist unbenützt hatte verstreichen, den Vertrag also in Kraft hatte erwachsen lassen, ergab sich jedoch aus einer von ihm später abgegebenen Erklärung, er sehe sich aus Not gezwungen, (nun) vom Vertrage zurückzutreten. Hier aber fehlt es an jeglicher Erklärung, welche die nach der erwähnten Verordnungsbestimmung vorzulegende Bescheinigung zu ersetzen vermöchte.
3.
Die Rekurrentin nimmt endlich den Standpunkt ein, der Kaufvertrag vom 26. Oktober 1965 sei aus einem besonderen Grunde, nämlich gemäss
Art. 226 c Abs. 2 OR
schon am Tage seines Abschlusses in Kraft getreten. Denn aus der Klausel a) der Lieferungsbestätigung, wonach der Käufer die Sache in gutem Zustand geliefert erhielt, ergebe sich, dass er sie bereits zuvor geprüft habe. Somit habe er sie nicht bloss zu eingehenderer Prüfung, sondern zu vollem Gebrauch in Besitz genommen.
Die Vorinstanz lässt offen, ob jener Klausel der Wille zu sofortigem vollen Gebrauch zu entnehmen sei. Selbst wenn dem so sein sollte, trat der Vertrag nach Ansicht der Vorinstanz nicht sogleich in Kraft.
Art. 226 c Abs. 2 OR
untersage dem Käufer, die ihm vor Ablauf der Überlegungsfrist gelieferte Sache anders als zur üblichen Prüfung zu benützen, ansonst er sein Verzichtsrecht verwirke. Wenn ihm aber der Verkäufer die Sache vorzeitig zu vollem Gebrauch überlassen habe, so handle der Käufer nicht pflichtwidrig; daher stehe ihm die Überlegungsfrist unverkürzt zur Verfügung. Die Vorinstanz verweist auf ihre bereits in diesem Sinn bestehende Praxis (BlSchK 1964 S. 41 ff.) und die zustimmende Stellungnahme von B. HABERTHÜR (ebendort S. 40/41 Ziff. 4). Der gleichen Ansicht ist anscheinend H. STOFER (Kommentar, S. 79): der Käufer genehmige den Vertrag durch konkludente Handlung, wenn er den ihm vor Ablauf der Überlegungsfrist übergebenen Kaufgegenstand
BGE 92 III 34 S. 39
"entgegen einer Vertragsbestimmung so benützt, dass eine wesentliche Abnützung erfolgt". Aus
Art. 226 c Abs. 2 OR
lässt sich indessen keine Regel entnehmen für den Fall, dass der Käufer die Sache vor Ablauf der Überlegungsfrist im Einverständnis mit dem Verkäufer in vollen Gebrauch nimmt. Es fragt sich also, wie diese Lücke des Gesetzes auszufüllen sei. Nun darf gewiss Missbräuchen nicht Vorschub geleistet werden, wie sie etwa vorliegen, wenn der Verkäufer dem Käufer die sofortige Abnahme der Sache aufdrängt, um den Vertrag möglichst bald in Kraft treten zu lassen, also um die dem Käufer zukommende Überlegungsfrist abzukürzen oder gar nicht in Lauf kommen zu lassen. In der Literatur wird denn auch zu
Art. 226 c Abs. 2 OR
bemerkt, diese Anordnung des Gesetzes berge die Gefahr in sich, "von der um den Geschäftsabschluss bangenden Verkäuferschaft zur bewussten Abkürzung der Überlegungsfrist des Käufers missbraucht zu werden" (H. GIGER, a.a.O. S. 324 rechts). Von vornherein unzulässig ist eine Vereinbarung, wonach der Käufer bei vorzeitiger Abnahme der Sache das Recht auf Verzicht durch jede, sei es auch bloss der üblichen Prüfung dienende, Benützung verliere (
BGE 90 III 32
Erw. 2). Darauf läuft auch eine Klausel hinaus, wonach der Käufer schlechthin zu bestätigen hat, er benütze die erhaltene Kaufsache "im Bewusstsein, dass er nach Gesetz nicht mehr auf den Vertrag verzichten kann" (Bescheid der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 29. März 1963 an Prof. R. Patry). Denn es darf dem Käufer bei vorzeitiger Lieferung nicht verschwiegen werden, dass sein Verzichtsrecht gewahrt bleibt, wenn er die Kaufsache während der gesetzlichen Überlegungsfrist bloss zur üblichen Prüfung benützt. Will aber ein darüber orientierter Käufer sich nicht auf das Ausprobieren der Sache beschränken, sondern begehrt er sie sogleich in vollen Gebrauch zu nehmen, weil er ihrer dringend bedarf, so ist fraglich, ob sich hiebei die gesetzliche Überlegungsfrist nicht wegbedingen lässt. Indessen braucht hier nicht näher untersucht zu werden, ob bei vorzeitiger Lieferung einer auf Abzahlung verkauften Sache zu vollem Gebrauche gewisse Differenzierungen hinsichtlich der Rechtsfolgen gerechtfertigt seien, oder ob der Verkäufer sein Einverständnis hiezu in allen Fällen nur unter Wahrung der gesetzlichen Überlegungsfrist des Käufers erteilen könne. Denn in Wahrheit betrifft die von der Rekurrentin angerufene Klausel a) der Lieferungsbestätigung gar nicht die
BGE 92 III 34 S. 40
Art der Benützung des Fahrzeugs, so dass nicht der geringste Grund bestand, die Rekurrentin vom Erfordernis einer dem Art. 4 Abs. 5 lit. c der Verordnung entsprechenden, frühestens fünf Tage nach Vertragsabschluss ausgestellten Bescheinigung zu entbinden.
Die erwähnte Klausel besagt nichts darüber, was der Käufer mit dem gekauften Wagen in den nächsten Tagen vorhatte. Man weiss übrigens auch nicht, in welcher Art ihm der Wagen vor dem Kaufabschluss vorgeführt wurde, und inwieweit er sich von dessen Zustand damals Rechenschaft gab. Wie dem auch sein mag, ist nicht von vornherein auszuschliessen, dass er die Überlegungsfrist dazu benützen wollte, den Wagen noch eingehender zu prüfen, und dass er ihn auch deshalb in Besitz nahm, um ihn dann bei Inkrafttreten des Vertrages gleich zur Hand zu haben. Nach der in
Art. 226 c Abs. 2 OR
getroffenen Regelung ist bei Lieferung des Kaufgegenstandes vor Ablauf der fünftägigen Frist vermutungsweise anzunehmen, der Käufer habe ihn nur zur üblichen Prüfung benützt. Den Beweis des normalen (vollen) Gebrauches hat der Verkäufer zu leisten (B. HABERTHÜR, BlSchK 1963 S. 172; H. GIGER, a.a.O. S. 324). Dafür kann die Erklärung des Käufers, die Sache in gutem Zustand empfangen zu haben, keineswegs genügen.
4.
Das Betreibungsamt hat somit das Eintragungsgesuch mit Recht abgelehnt. Es ist Sache des Gesuchstellers, sich über die Voraussetzungen der Eintragung auszuweisen. Eine nähere Abklärung ungewisser Tatsachen liegt nicht im Aufgabenbereich des Amtes. Insbesondere zieht die Verordnung in Art. 4 Abs. 5 den Ausnahmefall eines vorzeitigen Inkrafttretens des Vertrages nach
Art. 226 c Abs. 2 OR
gar nicht in Betracht. Das Amt ist denn auch gewöhnlich nicht in der Lage, einen solchen Sachverhalt festzustellen. Es darf deshalb eine dahingehende Behauptung, deren Richtigkeit nicht einwandfrei belegt ist, ungeprüft lassen und vom Normalfall des unverminderten Verzichtsrechts des Käufers ausgehen.
Dispositiv
Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:
Der Rekurs wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,966 | CH_BGE | CH_BGE_005 | CH | Federation |
ec25cd0b-ba44-4fda-9ba5-683e78feb434 | Urteilskopf
102 IV 250
57. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. November 1976 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau | Regeste
Art. 193 Abs. 2 StGB
.
Für die Anwendung dieser Bestimmung genügt, dass ein Spitalpatient unter der Aufsicht eines Krankenpflegers steht oder von diesem abhängig ist, wobei sich das Opfer der Einwirkungsmöglichkeit des Pflegepersonals nicht ohne weiteres entziehen kann. | Sachverhalt
ab Seite 250
BGE 102 IV 250 S. 250
A.-
X. war im Jahre 1974 u.a. im Spital Rheinfelden als Krankenpfleger tätig. Am 25. August 1974, wenige Stunden vor Mitternacht, verabreichte er der Patientin Z., geb. 1957, eine Schlaftablette. Einige Minuten später trat er neben die im Bett liegende Patientin, fuhr dieser mit seiner Hand über das Gesicht und sagte ihr gleichzeitig, sie schwitze. Obschon Z. den X. aufforderte, wegzugehen, öffnete dieser das Hemd der Patientin und griff diese zwischen den Brüsten aus. Er verliess das Zimmer, nachdem er von Z. ein zweites Mal geheissen worden war, wegzugehen.
B.-
Das Bezirksgericht Laufenburg sprach X. am 18. Dezember 1975 wegen dieses Vorfalls sowie weiterer, hier nicht interessierender Verfehlungen u.a. der Unzucht mit einem Anstaltspflegling im Sinne von
Art. 193 Abs. 2 StGB
schuldig und verurteilte ihn zu 4 Wochen Gefängnis, abzüglich 9 Tage Untersuchungshaft; es gewährte dem Verurteilten den bedingten Strafvollzug und setzte die Probezeit auf 2 Jahre an.
Das Obergericht des Kantons Aargau hob diesen Entscheid am 13. Juli 1976 auf und sprach X. nur der Unzucht mit einem Anstaltspflegling schuldig; es verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 2 Wochen, abzüglich 9 Tage Untersuchungshaft.
C.-
X. führt eidg. Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt Freisprechung von Schuld und Strafe.
BGE 102 IV 250 S. 251
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Der Beschwerdeführer macht geltend, Frl. Z. sei weder unter seiner Aufsicht gestanden noch von ihm abhängig gewesen, wie das
Art. 193 StGB
voraussetze. Die Vorinstanz habe in dieser Hinsicht keine tatsächlichen Feststellungen getroffen.
Das angefochtene Urteil führt in der Tat nicht aus, ob und inwiefern allenfalls Frl. Z. als Patientin des Spitals Rheinfelden zur Zeit der Tat unter Aufsicht des dort als Pfleger beschäftigten Beschwerdeführers gestanden oder von diesem abhängig gewesen sei. Zwar erklärte der Beschwerdeführer selber, er habe während einer gewissen Zeit Schwester C., die zur Mithilfe im Operationssaal weggerufen worden sei, in der betreffenden Patientenabteilung vertreten müssen. Nach den Aussagen der Oberschwester ist es indessen als "sehr unwahrscheinlich" zu bezeichnen, dass die im fraglichen Zeitpunkt allein tätige Krankenschwester in den Operationssaal gerufen worden sei. Auf das Zugeständnis des Beschwerdeführers abzustellen und anzunehmen, es sei ihm während einer gewissen Zeit die Überwachung, Betreuung und Versorgung der in der fraglichen Abteilung untergebrachten Patientinnen und Patienten, zu denen auch Frl. Z. gehörte, obgelegen, und der Vorfall habe sich gerade in dieser Zeitspanne ereignet, verbietet sich unter solchen Umständen. Die Vorinstanz wird vielmehr abzuklären und festzustellen haben, ob dem so sei. Mangels tatsächlicher Feststellungen zur Frage der Aufsicht bzw. Abhängigkeit ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur nötigen Abklärung zurückzuweisen.
Sollte sich im Rahmen der Neubeurteilung durch die Vorinstanz herausstellen, dass die Aussagen des Beschwerdeführers zutreffen oder er im kritischen Zeitpunkt aus anderen Gründen eine gleichartige Stellung wie die behauptete innehatte, so wäre entgegen seiner Bestreitung eine Abhängigkeit von Frl. Z. von ihm im Sinne von
Art. 193 StGB
anzunehmen. Zwar meint STRATENWERTH (Schweiz. Strafrecht, Bes. Teil, II, S. 342), auf den sich der Beschwerdeführer ausdrücklich beruft, eine solche Abhängigkeit liege nur vor, wenn der Täter "in wesentlichen Beziehungen über den Betroffenen verfügen" könne, "etwa was die Entlassung, die ärztliche Versorgung, Vergünstigungen in der Anstalt" betreffe, das "blosse Angewiesensein
BGE 102 IV 250 S. 252
etwa auf die Dienstleistungen eines anderen, z.B. eines Pflegers" vermöge diese Abhängigkeit jedoch noch nicht zu begründen. Eine derart einschränkende Auslegung findet indessen weder im Gesetzeswortlaut eine Stütze, noch ist sie aus dem Sinn oder der Entstehungsgeschichte der fraglichen Bestimmung zu rechtfertigen. Es wird kein graduell besonders geartetes, etwa besonders intensives Aufsichts- oder Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer verlangt, sondern
Art. 193 StGB
lässt für seine Anwendbarkeit die Tatsache genügen, dass das Opfer überhaupt unter der Aufsicht des Täters steht oder von diesem abhängig ist. Wo ein solches Aufsichts- oder Abhängigkeitsverhältnis vorliegt, wird es von Gesetzes wegen als so intensiv betrachtet, dass die abhängige Person einem geschlechtlichen Angriff nicht angemessen Widerstand entgegenzusetzen vermag (HAFTER, Bes. Teil, II/1, S. 132). Durch das Erfordernis der Aufsicht bzw. Abhängigkeit soll lediglich verhindert werden, dass jede der in einer in
Art. 193 StGB
genannten Anstalten beschäftigten Personen nach dieser Bestimmung zu bestrafen ist, selbst wenn sie vom Betrieb her in keiner direkten Beziehung zu den dort Untergebrachten steht und daher über keine Einwirkungsmöglichkeit auf diese verfügt (LOGOZ, N. 3 zu
Art. 193 StGB
; HOFFMANN, Das Abhängigkeitsverhältnis als strafbegründendes und strafschärfendes Merkmal der Sittlichkeitsdelikte, S. 117). Als Beispiel für ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von
Art. 193 StGB
ist denn auch bisher die Behandlung und Betreuung von Kranken in einem Spital durch Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger genannt worden (ZÜRCHER und GAUTHIER, Protokoll der 2. Expertenkommission, Bd. 3-4, S. 186; HAFTER, Bes. Teil, II/1, S. 133, Fussnote 2, wo bezüglich der Mitglieder von Aufsichtskommissionen, nicht aber hinsichtlich des Aufsichts- und Wartepersonals Zweifel geäussert werden; LOGOZ, N. 3 zu
Art. 193 StGB
; HOFFMANN, a.a.O., S. 117). Die gesetzliche Umschreibung ist aus den von GAUTHIER genannten Gründen (a.a.O., S. 186) absichtlich ziemlich weitgehend gehalten (THORMANN/OVERBECK, N. 2 zu
Art. 193 StGB
). Allerdings trifft zu, dass die Patienten eines Spitals im allgemeinen nicht wehrlos sind (STRATENWERTH, a.a.O., S. 342), aber sie können sich der Einwirkungsmöglichkeit des Pflegepersonals dennoch nicht ohne weiteres oder jedenfalls nur schwer entziehen (GAUTHIER, a.a.O., S. 186). | null | nan | de | 1,976 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
ec286d5e-020c-4fcd-8b6c-f0cd55be8e16 | Urteilskopf
88 IV 53
16. Extrait de l'arrêt de la Cour de cassation pénale du 16 mai 1962 dans la cause Bauer contre Ministère public du canton de Genève. | Regeste
Art. 24 ff. StGB
.
Mittäter kann auch sein, wer sich nur an Vorbercitungshandlungen beteiligt (Erw. 4).
Die Mittäterschaft muss kausal sein, d.h. zum deliktischen Erfolg tatsächlich beigetragen haben.
Kann bei einer Mehrzahl von Beteiligten nicht festgestellt werden, ob die Zusammenarbeit jedes einzelnen von ihnen kausal war, so genügt, wenn er bereit war, nötigenfalls bei der Ausführung der Tat mitzuwirken (Erw. 5). | Sachverhalt
ab Seite 53
BGE 88 IV 53 S. 53
A.-
La nuit du 8 au 9 novembre 1957, à Genève, Richard Bauer tua Léo Geisser, le père de sa femme, à l'aide d'une matraque et d'un poignard. Instruite du projet d'homicide, Josette Bauer s'y était associée. Au cours des semaines précédant le crime, les deux époux discutèrent ensemble les moyens de le commettre. Ils en envisagèrent plusieurs, qui furent abandonnés (empoisonnement, accident de voiture, recours à un tueur stipendié, guet-apens hors de ville). Craignant que, dans un corps à corps, son père n'eût le dessus, Josette Bauer proposa l'emploi d'un revolver. Pour déjouer les recherches, elle suggéra à son mari d'acquérir l'arme à l'étranger. Sachant qu'il se rendait à Marseille à cet effet quelques jours avant le crime, elle convint avec lui d'aller le chercher en France
BGE 88 IV 53 S. 54
avec la voiture, dès qu'il lui aurait téléphoné, afin de faciliter l'entrée de l'arme en Suisse. Ainsi fut fait.
B.-
Le 13 octobre 1961, la Cour d'assises du canton de Genève a infligé à Josette Bauer, pour assassinat commis en qualité de coauteur, huit ans de réclusion et dix ans de privation des droits civiques. Elle a admis que l'accusée ne possédait pas pleinement, au moment d'agir, la faculté d'apprécier le caractère illicite de ses actes ni celle de se déterminer d'après cette appréciation.
C.-
La Cour de cassation genevoise ayant rejeté, le 14 mars 1962, un recours de la condamnée, celle-ci se pourvoit en nullité au Tribunal fédéral. Elle conclut à libération.
Erwägungen
Considérant en droit:
1 à 3. - .....
4.
Il est vrai que les actes de participation retenus à la charge de la recourante ne vont pas au-delà de la phase préparatoire et qu'elle n'a pas matériellement coopéré à l'exécution proprement dite. Mais cela ne change rien.
Certes, si Bauer avait renoncé au projet commun, les actes auxquels sa femme a participé n'auraient pas été punissables. Cependant le crime décidé a été consommé. En pareil cas, chacun des coauteurs répond des actes de l'autre (RO 81 IV 149), même si les siens ne dépassent pas le stade des préparatifs. Il suffit qu'il ait coopéré par l'intensité de sa volonté coupable à l'exécution matériellement assurée par autrui. Telle est aussi la jurisprudence allemande (ERG St. 66, p. 240, en outre 71, p. 24 s.).
5.
a) Il faut encore que les actes de participation issus de la volonté coupable du coauteur soient dans un rapport de causalité avec le résultat, c'est-à-dire en soient au moins l'une des causes. On ne saurait concevoir un auteur principal dont les actes seraient demeurés sans effet sur le résultat. Si ceux du complice doivent avoir ce caractère causal (RO 78 IV 7; SCHWANDER, Das schweizerische
BGE 88 IV 53 S. 55
Strafgesetzbuch, p. 109, no 267), on doit à plus forte raison l'admettre pour le coauteur. La condamnation à ce dernier titre suppose dès lors, non pas que, sans l'assistance d'un tiers, l'infraction n'eût pas été commise, mais que, vu la manière dont les événements se sont déroulés, cette assistance ait, en fait, contribué au résultat (sur ce point, v. l'arrêt précité, en matière de complicité). On ne quitte pas pour autant le terrain de la participation subjective; il n'est pas nécessaire que le coauteur ait accompli lui-même des actes d'exécution; son intervention peut se limiter à la phase de la décision et des préparatifs, pourvu qu'elle ait contribué au résultat, qu'elle le fasse apparaître comme un auteur principal et qu'il ait accepté de jouer ce rôle de premier plan.
La cour de céans a toujours, implicitement tout au moins, admis ce principe. De fait, dans les causes qui lui ont été soumises, le coauteur avait, soit donné des instructions écrites, sans lesquelles les infractions n'auraient pas été commises (RO 77 IV 91), soit consenti que de fausses monnaies fussent importées dans son intérêt et, en partie même, à sa demande (RO 80 IV 266), soit élaboré le plan d'exécution (RO 81 IV 62), soit pris l'initiative d'un incendie, élaboré le plan, réparti les rôles et donné des instructions aux exécutants (RO 85 IV 133, consid. 3), soit, enfin, provoqué des importations illégales par ses commandes (RO 86 IV 48 s.). Dans tous ces cas, la collaboration du coauteur se trouvait dans un rapport de causalité avec l'exécution.
Dans l'affaire Ischy et consorts (RO 69 IV 97), il n'était pas établi que la collaboration de Valloton, condamné comme coauteur du vol, ait contribué à la perpétration de ce crime; il était même douteux qu'il en eût été ainsi. Sa condamnation était néanmoins justifiée, car, au besoin, c'est lui qui aurait dépouillé la victime. Lorsqu'il s'agit, comme alors, de plusieurs participants (il y en avait cinq) et que ni la décision de commettre le délit, ni les actes d'exécution ne nécessitent le concours de tous, il est
BGE 88 IV 53 S. 56
impossible d'établir que la collaboration de chacun d'eux a effectivement contribué au résultat; la causalité effective est alors suppléée par la volonté d'accomplir au besoin des actes d'exécution.
b) Sans doute le juge du fait n'a-t-il pas constaté que la recourante ait contribué à la décision de son mari. La Cour de cassation genevoise a dit, il est vrai, que Bauer "avait très probablement besoin d'être encouragé par sa femme". Mais cette remarque n'est pas concluante, parce qu'elle n'exprime qu'une supposition.
Cependant, la recourante a adopté la décision de son mari; elle l'a faite sienne non seulement sur le principe même de l'acte, mais encore sur l'un au moins des moyens d'exécution envisagés, à savoir l'emploi d'un revolver qu'elle suggéra; elle proposa, de plus, l'acquisition de l'arme et en facilita l'introduction clandestine en Suisse. Il est en outre constant que, lors de l'exécution, Bauer portait le revolver sur lui. S'il s'en était servi, vu la manière dont les événements s'étaient déroulés précédemment, l'intervention de la recourante aurait manifestement facilité l'infraction. Bauer, à la vérité, ne s'est pas servi du revolver. Mais il ne dépendait plus de la recourante que son mari en fît usage ou non. Sa participation étant la même dans les deux cas, il ne serait pas satisfaisant, vu les autres circonstances, qu'elle échappât à la peine frappant le coauteur uniquement parce que des faits imprévisibles ont permis de ne pas utiliser l'arme.
6 à 9. - .....
Dispositiv
Par ces motifs, la Cour de cassation pénale
Rejette le pourvoi. | null | nan | fr | 1,962 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
ec2e1904-646f-4fe4-9135-234c13a9a061 | Urteilskopf
120 II 276
53. Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. September 1994 i.S. Reding (Berufung) | Regeste
Namensänderung.
Die nachträgliche Eintragung der Partikel "von" vor einen Familiennamen, der in den massgebenden alten Büchern ohne diesen Zusatz eingetragen war und bei der Einführung des eidgenössischen Registers in dieser Form übernommen wurde, ist in jedem Fall unzulässig; ob wichtige Gründe im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
dargetan werden können, ist deshalb unerheblich. | Sachverhalt
ab Seite 277
BGE 120 II 276 S. 277
Mit Entscheid vom 2. August 1991 wies das Justizdepartement des Kantons Luzern das Gesuch des in Arth SZ heimatberechtigten Martin Kaspar Reding vom 24. Dezember 1990, ihm zu gestatten, den Familiennamen "von Reding" zu führen, ab. Die von Martin Kaspar Reding hiergegen erhobene Verwaltungsbeschwerde wies der Regierungsrat am 22. Februar 1994 ebenfalls ab.
Unter Erneuerung des im kantonalen Verfahren gestellten Rechtsbegehrens hat Martin Kaspar Reding beim Bundesgericht Berufung eingereicht. Das Bundesgericht weist diese ab
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Gemäss
Art. 30 Abs. 1 ZGB
kann die Regierung des Wohnsitzkantons einer Person die Änderung des Namens bewilligen, wenn wichtige Gründe vorliegen. Dieser Tatbestand ist erfüllt, wenn das Interesse des Namensträgers an einem neuen Namen dasjenige der Verwaltung und der Allgemeinheit an der Unveränderlichkeit des einmal erworbenen und in die Register eingetragenen Namens sowie an eindeutiger Kennzeichnung und Unterscheidung des einzelnen überwiegt (
BGE 117 II 6
E. 3a S. 9 mit Hinweisen). Der Name soll dem Namensträger das Fortkommen ermöglichen und erleichtern, nicht erschweren; es sollen diesem aus seinem Namen nicht wirkliche Nachteile oder erhebliche Unannehmlichkeiten erwachsen (EGGER, N. 5 zu
Art. 30 ZGB
).
Zur Bewilligung einer Namensänderung können moralische, geistige oder seelische Gründe führen (vgl.
BGE 108 II 1
E. 5a S. 4 mit Hinweis). Ein die Änderung des Namens rechtfertigendes persönliches Interesse des Gesuchstellers kann hauptsächlich darin bestehen, nicht des Namens wegen dem Spott ausgesetzt zu sein. Eine Namensänderung fällt also etwa in Betracht, wenn der Name als lächerlich, hässlich oder anstössig erscheint (vgl.
BGE 108 II 247
E. 4c S. 250 mit Hinweisen auf die Literatur) oder immer wieder verstümmelt wird (vgl. PEDRAZZINI/OBERHOLZER, Grundriss des Personenrechts, 4. A., S. 192). Demgegenüber ist eine Namensänderung verweigert worden, die unter Hinweis auf das Interesse einer berühmten
BGE 120 II 276 S. 278
Familie (von Stockalper), das Aussterben zu verhindern, begründet worden war (
BGE 108 II 247
ff.; vgl. die kritische Würdigung dieses Entscheids bei PEDRAZZINI/OBERHOLZER, a.a.O.).
2.
a) Der Regierungsrat ist davon ausgegangen, dass im Zeitpunkt der Einführung des eidgenössischen Zivilstandsregisters der Familienname des Berufungsklägers in den massgebenden Kirchenbüchern ohne den Zusatz "von" geführt und somit korrekt übernommen worden sei. Aus der Tatsache, dass ein weit entfernter Vorfahre einmal in den Adelsstand erhoben worden sei, könne der Berufungskläger keinen Rechtsanspruch ableiten, sich "von Reding" zu nennen. Lehre und Rechtsprechung seien sich darüber einig, dass die Beifügung des Namenspartikels "von" auf dem Weg der Namensänderung gegen
Art. 4 BV
verstossen würde und deshalb unzulässig sei. Für eine Abwägung der privaten Interessen des Berufungsklägers und den öffentlichen Interessen bestehe damit kein Raum mehr.
b) Demgegenüber macht der Berufungskläger geltend, er habe aufgrund von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
einen Anspruch darauf, dass die von ihm vorgebrachten Gründe detailliert geprüft würden. Indem die Vorinstanz sich mit pauschalen Überlegungen begnügt habe, habe sie gegen Bundesrecht verstossen.
3.
a) Wie der Regierungsrat zutreffend bemerkt, lässt sich ein Namensänderungsgesuch der vorliegenden Art, bei dem es allein um den Zusatz "von" geht, nicht ohne weiteres mit den üblichen, meist aus familiären oder gesellschaftlichen Gründen eingereichten Begehren vergleichen. Die Verwendung des erwähnten Zusatzes hing in früheren Zeiten einerseits mit der Adelung zusammen. Die in den Adelsstand erhobene Person erhielt die Befugnis, ihrem Namen die Partikel "von" voranzustellen. Dieser kam so die Bedeutung eines Adelsprädikats zu, und sie wurde dazu verwendet, bei den Trägern des gleichen Namens adelige von nicht adeligen Geschlechtern auseinanderzuhalten (so etwa "Schwerin" und "von Schwerin", "Usedom" und "von Usedom"; dazu GIERKE, Verhandlungen des 25. Deutschen Juristentages, 3. Band, S. 52). Andererseits verwendeten bürgerliche Geschlechter bei ihrem Familiennamen den Zusatz "von", um die Herkunft von einem bestimmten Ort oder Hof zum Ausdruck zu bringen ("von Moos", "von Flüe"). Das "Von" konnte mithin sowohl Adelsbezeichnung als auch Bestandteil eines bürgerlichen Namens sein. In der Schweiz wurden beide Arten in Verbindung mit Familiennamen in die einschlägigen Rödel, Bücher und Register eingetragen.
BGE 120 II 276 S. 279
b) Bezeichnungen, die auf den Adel als Stand hinweisen, verstossen nach schweizerischer Rechtsauffassung gegen den in
Art. 4 BV
verankerten Gleichheitsgrundsatz (
BGE 102 Ib 245
E. 2 S. 247) und dürfen in die Zivilstandsregister, deren Bestimmung sie fremd sind, nicht eingetragen werden (vgl.
Art. 39 ZStV
[SR 211.112.1]). Soweit es sich bei der Partikel "von" um einen Adelstitel handelt, müsste sie folgerichtig aus den Registern verbannt werden, im Gegensatz zum bürgerlichen, Bestandteil des Namens bildenden "Von" (dazu WALTER GAUTSCHI, Die Rechtswirkungen der Eintragung in die Zivilstandsregister, Diss. Basel 1911, S. 155; HANS RUDOLF KOLLBRUNNER, Die Namensänderung nach
Art. 30 ZGB
, Diss. Bern 1933, S. 23; GÖTZ, Die Beurkundung des Personenstandes, in: Schweizerisches Privatrecht, II. Band, S. 400). Bei den alten Einträgen hätte sich jedoch nur mit unverhältnismässigem Aufwand ermitteln lassen, ob im einzelnen Fall ein adeliges oder ein bürgerliches "Von" vorliegt. In Anbetracht der grosszügigen altrechtlichen Praxis, Familiennamen mit dem Zusatz "von" in die einschlägigen Bücher und Register einzutragen, erschien es als sachgerecht, die Partikel generell in das Zivilstandsregister zu übernehmen, wobei sie einheitlich als Bestandteil des Namens betrachtet werden (vgl.
BGE 102 Ib 245
E. 2 S. 247; GROSSEN, Das Recht der Einzelpersonen, in: Schweizerisches Privatrecht, II. Band, S. 337; vgl. auch den in BBl 1910 I S. 301, Ziff. 7, veröffentlichten Standpunkt des Bundesrates).
c) Anders verhält es sich indessen da, wo auf dem Weg der Namensänderung die Partikel "von" dem Familiennamen neu beigefügt werden soll. Es geht in Anbetracht des in
Art. 4 BV
verankerten Gleichheitsgebotes und des für Adelstitel daraus abgeleiteten Eintragungsverbots nicht an, die erwähnte grosszügige Praxis bei der Übertragung der altrechtlichen Aufzeichnungen in das eidgenössische Zivilstandsregister auf diesen Fall auszudehnen und die - wie anscheinend hier - eindeutig auf einer Adelung beruhende Partikel "von" nachträglich einzutragen. Wie bereits erwähnt, wäre im übrigen eine Abklärung des Ursprungs eines solchen Zusatzes in der Regel mit einem unangemessenen Aufwand verbunden, und es könnte auch dann der Eindruck, es handle sich um ein Adelsprädikat, nicht ganz vermieden werden. Ein nachträgliches Hinzufügen der Partikel ist deshalb als generell unzulässig zu betrachten (vgl. auch BBl 1910 I a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass die bei der Beurteilung eines Begehrens um Namensänderung sonst erforderliche Gegenüberstellung der konkreten Interessen des Namensträgers und derjenigen
BGE 120 II 276 S. 280
der Verwaltung sowie der Allgemeinheit in einem Fall der vorliegenden Art von vornherein dahinfällt.
4.
Nach den Ausführungen des Regierungsrates hat der Berufungskläger selbst nicht in Abrede gestellt, dass seine Familie in den massgebenden alten Kirchenbüchern ohne den Zusatz "von" eingetragen war. In den von ihm ins Recht gelegten genealogischen Gutachten werde denn auch festgehalten, dass die in Arth SZ heimatberechtigten Redings in ihrer Mehrheit darauf verzichtet hätten, den ihnen zustehenden Adelstitel zu führen.
Die bis zur Einführung der neuen, von weltlichen Beamten zu führenden Register gültigen kirchlichen Rödel (Kirchen- und Pfarrbücher) waren beim Wechsel als massgebende Unterlagen anerkannt. Nach deren letzter Fassung bestimmte sich der in die neuen Register zu übertragende Name. Wie lange jene schon gegolten hatte und aus welchen Gründen eine ältere Schreibweise allenfalls geändert worden war, war unerheblich (dazu
BGE 81 II 249
E. 6 S. 256 f.). Das Vorbringen des Berufungsklägers, richtig sei einzig und allein der Name "von Reding", stösst damit ins Leere.
5.
Die beantragte Namensänderung ist nach dem Gesagten schon aus grundsätzlichen Überlegungen ausgeschlossen. Ob angesichts der vom Berufungskläger geltend gemachten persönlichen Interessen wichtige Gründe im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
dargetan wären, braucht unter diesen Umständen nicht erörtert zu werden. | public_law | nan | de | 1,994 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
ec377c3a-c0b9-4ee2-819a-8aadb35905a3 | Urteilskopf
109 Ib 26
5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. Februar 1983 i.S. Kieswerk Rothenbrunnen AG, Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg, Politische Gemeinde Rothenbrunnen und Mitbet. gegen Kanton Graubünden und Eidg. Schätzungskommission, Kreis 12 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | Regeste
Enteignung eines an Dritte verpachteten Kieswerkes; Grundsätze der Entschädigungsbemessung.
Verfahrensfragen (E. 1).
Wird der für den Nationalstrassenbau benötigte Boden auf dem Wege der Landumlegung erworben, so kann dem Eigentümer im gleichzeitig durchgeführten Enteignungsverfahren nicht zusätzlich noch eine Entschädigung für entgangene Weg- und Baurechtszinsen in Form einer kapitalisierten ewigen Rente, m.a.W. eine Ertrags- oder Verkehrswertentschädigung zugesprochen werden (E. 2a).
Das hoheitliche Recht der Bündner Gemeinden, Konzessionen zur gewerbsmässigen Sand- und Kiesgewinnung aus öffentlichen Gewässern gegen Gebühr zu verleihen, kann nicht Gegenstand der Enteignung im Sinne von
Art. 5 EntG
bilden (E. 2b).
Die Parteientschädigung für ein bundesrechtliches Enteignungsverfahren bemisst sich nicht nach dem kantonalen Anwaltstarif. Für Privatgutachten wird grundsätzlich keine Vergütung zugesprochen (E. 3).
Wird ein Betrieb enteignet, der an Dritte verpachtet ist, ist dessen Wert für den Eigentümer in der Regel einzig anhand des Ertrages (Pachtzinse) zu bestimmen (E. 4b); der Verkehrswert der Gebäude, Anlagen und Maschinen kann nicht zum Ertragswert hinzugezählt werden (E. 4c, d). Bei der Kapitalisierung der mutmasslichen zukünftigen Pachterträge ist der Konzessionsdauer, der Lebensdauer der Gebäulichkeiten und Maschinen, allenfalls notwendig werdenden Investitionen sowie dem Risiko von Ertragsschwankungen infolge wechselnder Nachfrage Rechnung zu tragen (E. 4d, e).
Bedeutung einer im Pachtvertrag enthaltenen Klausel, welche die Vertragsauflösung im Falle der Enteignung vorsieht (E. 6a). Gegenstand der Enteignung von Mietern und Pächtern können nur deren vertragliche Rechte sein (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 6b). Der "volle Schaden" im Sinne von
Art. 23 Abs. 2 EntG
bemisst sich grundsätzlich nach dem Interesse der Pächterin an der Erfüllung des Vertrages; sie hat demnach Anspruch auf Ersatz des Gewinnes, den sie bei Weiterführung des Vertrages bis zum nächsten Kündigungstermin hätte erzielen können (E. 6c). | Sachverhalt
ab Seite 29
BGE 109 Ib 26 S. 29
Durch Verleihung entsprechender Konzessionen räumten die Gemeinden Rothenbrunnen, Tomils und Rhäzüns der Kieswerk Rothenbrunnen AG auf ihren Territorien das unbeschränkte Recht zur Ausbeutung von Kies und Sand aus dem Rheinbett ein, und zwar für eine Mindestdauer von 30 Jahren und eine Höchstdauer von 50 Jahren. Nach unbestrittener Darstellung sollten die Konzessionen spätestens am 11. Mai 2005 dahinfallen. Zugunsten der Kieswerk Rothenbrunnen AG wurden zudem von den gleichen politischen Gemeinden sowie von den Bürgergemeinden Rothenbrunnen und Tomils Bau- und Wegrechte errichtet, welche die Erstellung und den Betrieb eines Kieswerkes ermöglichten.
Die Konzessionsgebühren betrugen anfänglich Fr. 0.50 pro Kubikmeter geförderten und verladenen Materials und waren alle zehn Jahre dem Landesindex der Lebenshaltungskosten anzupassen, was die Gebühren bis 1975 - dem Zeitpunkt der letzten Anpassung - auf Fr. 1.03/m3 ansteigen liess. Die abgelieferten Beträge kamen zu 58% der Gemeinde Rothenbrunnen, zu 32% der Gemeinde Tomils und zu 10% der Gemeinde Rhäzüns zu. Für die Bau- und Wegrechte hatte die Kieswerk Rothenbrunnen AG den Politischen und Bürgergemeinden Rothenbrunnen und Tomils eine jährliche Entschädigung von je Fr. 300.--, insgesamt Fr. 600.--, zu bezahlen.
Die Kieswerk Rothenbrunnen AG betrieb die Schrapper- und Aufbereitungsanlage, die sie aufgrund der ihr eingeräumten Rechte auf der Parzelle "Hinterrhein" der Politischen Gemeinde Rothenbrunnen erstellt hatte, bis zum Frühjahr 1971 selbst. Hierauf verpachtete sie das Kieswerk, d.h. die ihr verliehenen Ausbeutungs-, Bau- und Wegrechte sowie ihre Anlagen und Maschinen mit Vertrag vom 21. April 1971 an die Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg. Der im Grundbuch vorgemerkte Vertrag wurde fest auf die Dauer bis 31. Dezember 1980 abgeschlossen und sollte ohne Kündigung einer Partei jeweils für ein Jahr weitergelten. Gleichzeitig sah indessen Vertragsbestimmung Ziffer 7 folgendes vor: "Die Stillegung des Betriebes infolge öffentlicher Bauten, Expropriation oder anderer öffentlichrechtlicher Anordnungen hat die entschädigungslose Aufhebung dieses Vertrages zur Folge." Ausserdem wurde die Kündigung vor Ablauf der festen Vertragsdauer als möglich erklärt für den Fall, dass der Abs. während zwei Kalenderjahren als Folge einer allgemeinen Wirtschaftskrise, insbesondere wegen Anordnung eines behördlich angeordneten Baustoppes, unter 20'000 m3 pro Jahr sinken würde.
BGE 109 Ib 26 S. 30
Mit einem weiteren Vertrag, der ebenfalls am 21. April 1971 geschlossen wurde, räumte Ulrich Maduz als Alleinaktionär der Kieswerk Rothenbrunnen AG unter Hinweis auf den Pachtvertrag und für die Dauer dieses Vertrages der Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg ein Vorkaufsrecht an seinen Aktien ein. Nach Ziffer 5 dieses Vertrages erlischt das Vorkaufsrecht u.a. infolge Betriebsstillegung wegen öffentlicher Bauten, Expropriation oder anderer öffentlichrechtlicher Anordnungen.
Für den Bau der Nationalstrasse N 13, Teilstück Thusis-Reichenau, benötigt der Kanton Graubünden Teile der auf dem rechten Rheinufer gelegenen Parzellen "Hinterrhein" und "Ravetg" der Politischen Gemeinde und der Waldkorporation Rothenbrunnen. Nach den Projektplänen wird die Nationalstrasse zwischen dem Rhein und den Kieswerk-Bauten erstellt und dadurch der Betrieb der Kabelbaggeranlage - somit die Ausbeutung von Sand und Kies - verunmöglicht werden. Da die Verhandlungen über einen Erwerb der benötigten Rechte auf privatrechtlicher Grundlage scheiterten, leitete der Präsident der Eidg. Schätzungskommission, Kreis 12, auf Ersuchen des Kantons ein Enteignungsverfahren ein. In der Folge wurden die Entschädigungsbegehren der Enteigneten für die teilweise vorübergehende, teilweise endgültige Beanspruchung von Boden aus dem Enteignungsverfahren ausgeschieden, nachdem die fraglichen Grundstücke nachträglich noch ins Beizugsgebiet der nationalstrassenbedingten Landumlegung Rothenbrunnen aufgenommen worden waren.
Mit Entscheid vom 24. Januar/25. Juni 1979 sprach die Schätzungskommission folgende Enteignungsentschädigungen zu: der Kieswerk Rothenbrunnen AG Fr. 1'090'194.--; der Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg Fr. 412'244.--; der Politischen und der Bürgergemeinde Rothenbrunnen Fr. 97'271.--; der Politischen und der Bürgergemeinde Tomils Fr. 54'649.-- und der Politischen Gemeinde Rhäzüns Fr. 16'393.--. Gegen diesen Entscheid haben alle Enteigneten Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht und die Erhöhung der Entschädigung verlangt. Das Bundesgericht weist die Beschwerden der Gemeinden ab und setzt die Grundsätze der Entschädigungsberechnung, die im Verfahren gegen die Kieswerk Rothenbrunnen AG und die Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg anzuwenden sind, durch Teilurteil fest.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Da die Beschwerden der Enteigneten auf dem selben
BGE 109 Ib 26 S. 31
Sachverhalt beruhen und gleiche Rechtsfragen berühren, rechtfertigt es sich, sie - soweit möglich - gemeinsam zu behandeln.
b) Gemäss Art. 115 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) richtet sich das Verfahren nach den
Art. 104-109 OG
und den Art. 77-78 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG). Dem Bundesgericht steht volle Prüfungsbefugnis zu, und zwar auch im Hinblick auf den Sachverhalt, da die Schätzungskommissionen nicht Rekurskommissionen, sondern "andere eidgenössische Kommissionen" im Sinne von
Art. 98 lit. f OG
sind (vgl.
Art. 105 Abs. 2 OG
). Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nicht nur Verletzung von Bundesrecht und unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes, sondern auch Unangemessenheit des Entscheides gerügt werden (
Art. 104 lit. c Ziff. 1 OG
). Neue Begehren sind ausgeschlossen, soweit sie schon vor der Schätzungskommission gestellt werden konnten (
Art. 77 Abs. 3 EntG
). Obschon
Art. 114 Abs. 1 OG
nicht ausdrücklich auf das Enteignungsverfahren anwendbar erklärt wird, ist das Bundesgericht, im Gegensatz zur Schätzungskommission (
Art. 72 Abs. 2 EntG
), an die Anträge der Parteien gebunden und kann daher dem Enteigneten nicht mehr zusprechen, als er verlangt, und nicht weniger, als der Enteigner offeriert (
BGE 102 Ib 89
). Das Gericht ist indessen nur an die für ein Enteignungsobjekt als Ganzes gestellten Begehren gebunden, kann aber die einzelnen Entschädigungsposten unabhängig von den hiezu vorgebrachten Begründungen und ungeachtet bereits abgeschlossener Teilvergleiche korrigieren, solange der von den Parteien gesteckte Rahmen insgesamt nicht über- oder unterschritten wird (
BGE 106 Ib 225
f. E. 1, 97 I 766,
BGE 94 I 582
; s.a.
BGE 105 Ib 327
).
c) Der Entscheid der Schätzungskommission ist nur von den Enteigneten angefochten worden; der Kanton Graubünden hat weder Haupt- noch Anschlussbeschwerde eingereicht und stellt in seiner Vernehmlassung auch ausdrücklich den Antrag, die von der Vorinstanz festgelegten Enteignungsentschädigungen seien als angemessen und richtig zu bestätigen. Zu prüfen ist daher einzig, ob die Entschädigungen zu erhöhen seien.
Unter diesen Umständen ist zunächst zu untersuchen, ob die Schätzungskommission methodisch richtig vorgegangen sei. Erweist sich der angefochtene Entscheid in dieser Hinsicht als fehlerhaft, stellt sich die Frage, ob überhaupt bei korrekter Anwendung der Entschädigungsgrundsätze die Möglichkeit bestehe, dass die
BGE 109 Ib 26 S. 32
den Enteigneten zugesprochene Entschädigung erhöht werden müsse. Kann dies ausgeschlossen werden, so sind die Beschwerden ohne weiteres abzuweisen. Fällt dagegen eine Erhöhung der Entschädigungen grundsätzlich in Betracht, muss das Instruktionsverfahren fortgesetzt und insbesondere geprüft werden, ob dem Antrag der Enteigneten auf Beizug eines Oberexperten stattzugeben sei. In diesem Falle ist zweckmässigerweise vorweg in einem Teilentscheid festzuhalten, welche Prinzipien bei der Entschädigungsberechnung zu befolgen sind (vgl.
BGE 108 Ib 242
und 103 Ib 91, je nicht publ. E. 1).
d) Die Stellung der beschwerdeführenden Gemeinden unterscheidet sich grundsätzlich von jener der beiden anderen Enteigneten. Es erscheint daher angebracht, zunächst die Beschwerde der Gemeinden zu behandeln und im folgenden auf die Vorbringen der Kieswerk Rothenbrunnen AG sowie schliesslich der Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg einzutreten. Gemeinden Rothenbrunnen, Tomils und Rhäzüns
2.
Die Schätzungskommission hat sich in ihrem Entscheid darauf beschränkt, festzuhalten, dass die Konzessionsverleihungsrechte der Gemeinden Rothenbrunnen, Tomils und Rhäzüns sowie die Einnahmen der Gemeinden Rothenbrunnen und Tomils aus den Bau- und Wegrechten enteignet würden, und hiefür den Betroffenen eine Entschädigung zugesprochen, die durch Kapitalisierung der bis zum Konzessions- und Vertragsablauf im Jahre 1985 möglichen Erträge bestimmt worden ist. Diesem Vorgehen kann indessen nicht beigepflichtet werden.
a) Gegenstand der Enteignung bilden - abgesehen von den persönlichen Rechten der Mieter und Pächter - die dinglichen Rechte an Grundstücken (
Art. 5 EntG
). Werden Gemeinden gleich wie Private durch die Enteignung in ihren dinglichen Rechten betroffen, so sind auch sie als Enteignete zu betrachten und steht ihnen ein Anspruch auf Entschädigung gemäss
Art. 16 und 19 EntG
zu. Dies traf zweifellos zu Beginn des Verfahrens für die Politische und die Bürgergemeinde Rothenbrunnen zu, als der Kanton als Enteigner von diesen die teils vorübergehende, teils endgültige Abtretung grösserer Flächen der Parzellen "Hinterrhein" und "Ravetg" verlangte. In der Folge wurde jedoch der Perimeter der nationalstrassenbedingten Landumlegung Rothenbrunnen erweitert und sind die fraglichen Grundstücke in das
BGE 109 Ib 26 S. 33
Beizugsgebiet aufgenommen worden. Das heisst, wie beide Parteien anerkennen, dass der Erwerb des beanspruchten Bodens nicht im Enteignungs-, sondern im Landumlegungsverfahren erfolgt und die Bewertungs-, Realersatz- und Entschädigungsfragen letzterem vorbehalten sind (
BGE 105 Ib 334
ff.).
Ist aber im vorliegenden Verfahren der Wert des für das Werk benötigten Bodens nicht zu vergüten, so hätte die Schätzungskommission davon absehen müssen, den Gemeinden den Verlust der Bau- und Wegrechtsentschädigungen zu ersetzen, handelt es sich doch bei diesen um nichts anderes als um die Erträge aus den fraglichen Grundstücksflächen, anhand derer sich der Ertrags- bzw. der Verkehrswert bestimmt. Übrigens hat die Schätzungskommission den Ertragsausfall in Anwendung der für Miet- und Pachtverträge geltenden Regeln, die nicht ohne weiteres auf Dienstbarkeitsverhältnisse übertragbar sind, nur bis zum Ablauf der Vertragsdauer in Rechnung gesetzt; sie hätte aber - wenn eine Ertragswertbestimmung überhaupt vorzunehmen wäre - untersuchen müssen, welche Einnahmen die Gemeinden auch später noch aus ihren Grundstücken (durch Verpachtung oder anderweitige Verwendung) mutmasslich hätten erzielen können, und auch diese Einkünfte kapitalisieren sollen. Wie erwähnt, schliesst jedoch der Einbezug der fraglichen Parzellen in das Landumlegungsverfahren eine Vergütung des Ertrags- bzw. Verkehrswertes aus, da nicht einerseits Geldleistung im Enteignungsverfahren und andererseits Realersatz im Landumlegungsverfahren verlangt werden kann. Dementsprechend sind die Begehren abzuweisen, mit denen die Gemeinden um Ersatz der wegfallenden Bau- und Wegrechtseinnahmen in Form einer kapitalisierten (indexierten) ewigen Rente, m.a.W. um eine Verkehrswert-Entschädigung ersuchen. Da der Enteigner keine Beschwerde führt, erübrigen sich weitere Äusserungen zu diesem Punkte. Ebenso braucht sich das Bundesgericht mit der Frage, ob in Anwendung von Art. 23 der Verordnung über die Nationalstrassen ein zusätzliches Enteignungsverfahren einzuleiten wäre, falls das Landumlegungsverfahren den Ersatzansprüchen der Gemeinden nicht zu genügen vermag, hier nicht zu befassen.
b) Nach bündnerischem Recht stellt die gewerbsmässige Sand- und Kiesgewinnung aus öffentlichen Gewässern unbestrittenermassen eine Sondernutzung dar, die einer Konzession der Territorialgemeinde bedarf (Entscheid des Kleinen Rates vom 24. Februar 1964 i.S. Kieswerk Albula AG, Auszug in Rekurspraxis der
BGE 109 Ib 26 S. 34
Regierung und des Grossen Rates von Graubünden, Bd. VIII, S. 147 Nr. 6595; DOSCH, Die Rechtsbeziehungen zu den öffentlichen Sachen in Graubünden, Diss. Freiburg 1948, S. 40, 93 ff. und 144 ff.).
Konzessionsgebühren sind keine Gegenleistungen des privaten Rechts, sondern öffentliche Abgaben, und zwar Kausalabgaben, auch wenn sie sich wie hier nach dem wirtschaftlichen Interesse der Beliehenen am Sondernutzungsrecht, bzw. nach der Menge des ausgebeuteten Materials bemessen. Wie schon erwähnt, fallen aber als Gegenstand der Expropriation nur die abschliessend in
Art. 5 EntG
aufgezählten privaten Rechte in Betracht (
BGE 99 Ib 483
f.). Aufgrund des Bundesgesetzes über die Enteignung steht daher dem Gemeinwesen als verleihender Behörde für den Verlust von Konzessionsgebühren, selbst wenn dieser mittelbar auf den Bau eines öffentlichen Werkes zurückzuführen ist, kein Anspruch auf Entschädigung zu, so wenig wie es sich allfällige Mindereinnahmen an Jagdregalgebühren (
BGE 101 Ib 59
ff. E. 3) oder - wie die Schätzungskommission selbst feststellt - an Steuern vergüten lassen kann. Das Problem der Entschädigung der Gemeinwesen, die durch ein Werk in der Ausübung ihrer Hoheitsrechte direkt oder indirekt beeinträchtigt werden, sprengt den Rahmen des Enteignungsgesetzes. Demzufolge muss die Beschwerde der Gemeinden auch insoweit, als eine volle Vergütung der ausfallenden Konzessionsgebühren verlangt wird, abgewiesen werden.
Eine andere Frage ist, ob die Gemeinden zwar nicht in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträgerinnen, jedoch als Eigentümerinnen von Rheinbett und Ufer geltend machen könnten, die vom Kieswerk belegten Fluss- und Uferparzellen hätten wirtschaftlich eine Einheit gebildet, die durch die werkbedingte Einstellung des Ausbeutungsbetriebes als Ganzes entwertet worden sei. Ob sich eine solche Forderung tatsächlich begründen liesse, ob sie im Anschluss an das Landumlegungsverfahren erhoben werden könnte (s. oben lit. a), und wie allenfalls der Minderwert des Flussgrundstückes zu berechnen wäre, ist allerdings in diesem Verfahren nicht zu entscheiden.
3.
Die Gemeinden beanstanden schliesslich, dass die ihnen von der Schätzungskommission zuerkannte Parteientschädigung von Fr. 26'000.-- den Normen des Bündner Anwaltstarifes bei weitem nicht entspreche, und weisen darauf hin, dass allein an Gutachterkosten rund Fr. 5'000.-- auf die Gemeinden entfielen.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen bemisst
BGE 109 Ib 26 S. 35
sich jedoch die Parteientschädigung für ein bundesrechtliches Enteignungsverfahren nicht nach dem kantonalen Anwaltstarif. Nach
Art. 115 EntG
hat der Enteigner für die notwendigen aussergerichtlichen Kosten des Enteigneten im Einsprache-, Einigungs- und Schätzungsverfahren eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Abs. 1). Werden die Begehren des Enteigneten ganz oder zum grössten Teil abgewiesen, so kann von der Zusprechung einer Parteientschädigung ganz oder teilweise abgesehen werden (Abs. 2); bei offensichtlich missbräuchlichen Begehren oder bei offensichtlich übersetzten Forderungen kann der Enteignete zur Bezahlung einer Parteientschädigung an den Enteigner verhalten werden (Abs. 3). Mit dieser Regelung, welche die Pflicht zur Ausrichtung einer Parteientschädigung und deren Höhe nicht allein vom Prozessausgang abhängig macht, hat der Gesetzgeber einerseits dem Umstand Rechnung getragen, dass das Enteignungsverfahren ausschliesslich den Bedürfnissen des Enteigners dient und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - stets auf dessen Initiative hin eröffnet wird; andererseits soll diese Regelung aber auch - wie das Enteignungsrecht überhaupt - den Enteigner vor der Willkür der Grundeigentümer schützen und es ihm ermöglichen, die für öffentliche Zwecke benötigten Rechte zu angemessenen Bedingungen zu erwerben (vgl. DUBACH, Die Berücksichtigung der besseren Verwendungsmöglichkeit und der werkbedingten Vor- und Nachteile bei der Festsetzung der Enteignungsentschädigung, ZBl 79/1978 S. 1).
Bei der Überprüfung der von der Schätzungskommission festgesetzten Parteientschädigung übt das Bundesgericht eine gewisse Zurückhaltung, weil die Schätzungskommission besser in der Lage ist, die Bemühungen und Leistungen des Anwaltes zu beurteilen. Das Gericht ändert deshalb den zugesprochenen Betrag nur dann, wenn dieser als offensichtlich ungenügend oder unverhältnismässig hoch erscheint (
BGE 106 Ib 19
nicht publ. E. 9; nicht publ. Entscheid i.S. Hänni vom 27. November 1979 E. 4, nicht publ. Entscheid i.S. SBB/Bergomi u. Kons. vom 21. Dezember 1982 E. 10c). Dies trifft im vorliegenden Fall nicht zu, so dass kein Anlass besteht, die Parteientschädigung für das Verfahren vor der Schätzungskommission zu erhöhen.
An diesem Ergebnis vermag der Umstand, dass die Gemeinden teilweise für die Kosten des Privatgutachtens aufzukommen haben, nichts zu ändern. Für Privatexpertisen sind in der Regel keine Vergütungen zuzusprechen, da in den Schätzungskommissionen
BGE 109 Ib 26 S. 36
selbst die benötigten Fachleute vertreten sind oder solche, falls notwendig, zusätzlich beigezogen werden können (vgl. Art. 40 und 49 der Verordnung für die eidgenössischen Schätzungskommissionen). Entschädigungen für Privatgutachten werden nur ausnahmsweise gewährt, wenn sich ein Enteignungsverfahren als schwierig und die Arbeit des von den Enteigneten beigezogenen Fachmannes im Schätzungsverfahren als nützlich erweist (
BGE 102 Ib 353
, nicht publ. E. 12; zit. Entscheid i.S. Hänni E. 4b). Ob sich eine solche Ausnahme hier rechtfertige, kann offenbleiben, da die Schätzungskommission bei der Festsetzung der Parteientschädigung den Kosten des Privatgutachtens ebenfalls Rechnung getragen hat und die zugesprochene Entschädigung auch unter diesem Gesichtswinkel nicht als unhaltbar erscheint. Kieswerk Rothenbrunnen AG
4.
Die Kieswerk Rothenbrunnen AG (im folgenden: KRAG) war vor der Enteignung einerseits Inhaberin der ihr konzedierten Nutzungsrechte und der für den Betrieb notwendigen Bau- und Wegrechte, andererseits Eigentümerin der Anlagen zur Materialgewinnung und -aufbereitung. Der Betrieb ist indessen ab 1971 nicht mehr von der KRAG selbst geführt, sondern an Dritte verpachtet worden. Dass die Enteignete bei der nächsten Kündigungsmöglichkeit den Betrieb wieder hätte übernehmen wollen, wird von niemandem behauptet. Es darf deshalb davon ausgegangen werden, dass die KRAG ihre Rechte und Anlagen - die insgesamt das Enteignungsobjekt bilden - weiterhin verpachtet hätte, und sich ihr Interesse darauf beschränkte, aus dem Betrieb auch inskünftig, bis zum Ablauf der Konzessionsdauer, Pachtzinse zu ziehen.
a) Wird ein Grundstück enteignet, auf welchem der Eigentümer ein Unternehmen betreibt, stösst der Enteignungsrichter auf die Schwierigkeit, dass durch Vergütung des Verkehrswertes der Betriebsgebäude und -anlagen (aufgrund des Real- oder Ertragswertes) der entstandene Schaden nicht immer voll gedeckt wird. Der zusätzlich zu ersetzende indirekte Schaden - die sog. Inkonvenienzen - ist aber meist schwer zu bestimmen. Dessen Höhe hängt etwa davon ab, ob der Betrieb verlegbar sei oder, aus objektiven oder in der Person des Enteigneten liegenden Gründen, nicht mehr an anderer Stelle errichtet werden könne. Eine Entschädigung für den Erwerbs- oder Gewinnausfall fällt allerdings,
BGE 109 Ib 26 S. 37
von Ausnahmen abgesehen, nur für einen beschränkten Zeitraum, eine Übergangszeit, in Betracht (ZIMMERLI, Die neueste Rechtsprechung des Bundesgerichts auf dem Gebiet des Enteignungsrechts, ZBl 74/1973 S. 188; WIEDERKEHR, Die Expropriationsentschädigung, Diss. Zürich 1966, S. 105 f.; MERKER, Der Grundsatz der vollen Entschädigung im Enteignungsrecht, Diss. Zürich 1966, S. 37; s.a.
BGE 103 Ib 294
f.). Diese Einschränkung findet ihren Grund darin, dass bloss die - ersetzbaren - Produktionsmittel von der Enteignung betroffen werden, dagegen die Arbeitskraft und der Unternehmergeist des Enteigneten in der Regel unberührt bleiben. Zu vergüten sind ja nur jene Nachteile, die sich nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge als Folge der Enteignung voraussehen lassen (
Art. 19 lit. c EntG
). So klar indessen diese Bestimmung erscheint, so schwierig ist es im Einzelfall, die betreffenden Nachteile abzustecken.
b) Weniger Probleme stellen sich, wenn der Betrieb auf dem zu enteignenden Grundstück nicht vom Eigentümer selbst geführt, sondern an Dritte verpachtet wird und somit der Pachtzins an die Stelle des Unternehmensgewinns tritt. In diesem Falle wird die Wertermittlung mit Vorteil anhand einer Ertragswertberechnung erfolgen, vor allem dann, wenn wie hier der Betrieb auf einem Grundstück ausgeübt wird, das sich seiner Beschaffenheit wegen hiefür besonders eignet (vgl. GELZER/BUSSE, Der Umfang des Entschädigungsanspruchs aus Enteignung und enteignungsgleichem Eingriff, 2. A. München 1980, S. 135 N. 466). Die Ertragswertmethode drängt sich im vorliegenden Fall geradezu auf, da nicht nur die Nutzungsrechte einer zeitlichen Beschränkung unterworfen sind, sondern auch die Gebäude und Einrichtungen bloss auf Zeit bestehen, weil sie bei Ablauf der Baurechtsverträge abgerissen werden müssen, so dass nicht einmal ein auf jenen Zeitpunkt hin diskontierter Restwert der Anlagen mitberücksichtigt werden muss (vgl. HÄGI, Die Bewertung von Liegenschaften, 6. A. 1971, S. 130 ff.). Unter solchen Umständen kann eine Realwert-Schätzung höchstens Kontrollzwecken dienen. Allgemein darf wohl gesagt werden, dass der Produktion dienende Bauten und Maschinen, die keinen Ertrag abwerfen, praktisch wertlos sind. Werden im weiteren blosse Rechte wie die hier konzedierten Ausbeutungsrechte enteignet, so lässt sich auch deren Wert nur anhand des Ertrages bemessen.
c) Schon aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass das Vorgehen der Schätzungskommission nicht richtig sein kann. Die Kommission
BGE 109 Ib 26 S. 38
hat der KRAG einerseits den Verkehrswert der Gebäude, Anlagen und Maschinen vergütet, wobei sie den massgeblichen Wert der Bauten aus dem Real- und dem Ertragswert ermittelt hat; andererseits ist der Enteigneten auch eine Entschädigung für den entgangenen Gewinn zugesprochen worden, wenn auch nur für fünfzehn Jahre, innert welcher die Enteignete ihre Verhältnisse konsolidieren könne. Dabei ist offensichtlich übersehen worden, dass die Einkünfte der KRAG nicht unternehmerischer Tätigkeit entstammen, sondern im wesentlichen aus den Zinseinnahmen für das verpachtete Werk bestehen, den Pachtzinsen also, denen bei der Festsetzung des Ertragswertes der Gebäulichkeiten bereits Rechnung getragen worden ist. Die Kommission hat somit ein Schadenselement - zumindest teilweise - zweimal berücksichtigt und hiefür der Enteigneten unzulässigerweise eine doppelte Entschädigung zuerkannt (vgl.
BGE 106 Ib 228
). Im weiteren ist bei der Schätzung des Ertragswertes der Gebäulichkeiten unbeachtet geblieben, dass deren Lebensdauer beschränkt ist: falls sie nicht schon vorher veralten, werden sie spätestens bei Ablauf der Konzessionsdauer abgebrochen werden müssen. Die Kommission hätte daher den Ertrag nicht als ewige Rente kapitalisieren dürfen (vgl. HÄGI, a.a.O. S. 122). Und schliesslich hat die Schätzungskommission unerklärlicherweise zwei unterschiedliche Kapitalisierungszinssätze - 5% bzw. 8,5% - gewählt. Der angefochtene Entscheid erweist sich daher schon aus methodologischer Sicht als fehlerhaft.
d) Der Enteigneten ist grundsätzlich darin beizupflichten, dass bei der Ertragswertberechnung von den Pachtzinseinnahmen auszugehen ist, die bis zum Ablauf der Konzessionsdauer während 27 Jahren und vier Monaten hätten erzielt werden können. Klarzustellen ist allerdings, dass der derart (ohne Abzüge für Amortisationen) bestimmte Ertragswert den Gesamtwert ausnahmslos aller enteigneten Rechte, Gebäude und Maschinen - d.h. des ganzen verpachteten Kieswerkes - widerspiegelt, werden doch der Enteigneten im Jahre 2005 weder Grundstücke noch Bauten bleiben und die Maschinen blossen Schrottwert aufweisen. Entgegen der Meinung der KRAG bleibt daher kein Raum für irgendeine zusätzliche Entschädigung, weder für Gebäulichkeiten noch für maschinelle Einrichtungen noch für die von der Enteigneten angelegten Werkstrassen und -plätze.
Wollte man unter allen Umständen neben dem Ertragswert auch den Realwert der Bauten und Maschinen in die Schätzung
BGE 109 Ib 26 S. 39
miteinbeziehen, so könnten die beiden Werte nicht einfach addiert, sondern müsste unter angemessener Gewichtung ein Mittelwert festgelegt werden. Eine solche Berechnung erübrigt sich jedoch, da der Ertragswert den Realwert klarerweise übersteigt und daher entsprechend stärker zu gewichten wäre; zudem würde sie dem Umstand nicht gerecht, dass die Pachtzinse nicht nur Entgelt für die Inanspruchnahme der baulichen und maschinellen Anlagen sondern auch der konzedierten Rechte sind, welchen ihrer Natur nach nur ein Ertragswert, nicht aber ein Sachwert zugemessen werden kann.
e) Die Prognose über die Pachtzins-Einnahmen ist nicht leicht zu stellen.
Abgesehen vom Problem allfälliger flussbaupolizeilicher Einschränkungen des Ausbeutungsbetriebes stellt sich zunächst die Frage, inwieweit mit Ertragsschwankungen infolge wechselnder Nachfrage zu rechnen sei. Da sich die Prognose über einen Zeitraum von 27 Jahren erstrecken muss, kann ihr nicht ohne weiteres der durchschnittliche Ertrag der sieben der Enteignung vorangegangenen Jahre (1971-1977) zugrundegelegt werden; ebensowenig kann einfach auf den vertraglich festgelegten Minimal-Pachtzins abgestellt werden, da der Pachtvertrag unter den damaligen konkreten Umständen für eine feste Dauer von zehn Jahren abgeschlossen wurde, vermutlich mit Blick darauf, dass in der Nähe grössere Bauarbeiten im Gange waren oder in Angriff genommen werden sollten und der Abs. gesichert schien. Der Vertrag selbst enthält übrigens eine Klausel, die die vorzeitige Kündigung für den Fall eines Umsatzrückganges gestattet. Dass ein solcher nicht eintrat, ist in diesem Zusammenhang unerheblich; von Bedeutung ist nur, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit von Absatzschwierigkeiten überhaupt ins Auge gefasst haben. Übrigens hat die Enteignete bzw. ihr Eigentümer selbst eingeräumt, der auffallende Umsatzrückgang in den Jahren 1967-1970 sei zum grossen Teil darauf zurückzuführen, dass keine Baustellen in der Nähe zu beliefern waren.
...
Ist nun eine Prognose über die Ertragsentwicklung während 27 Jahren zu stellen, muss vorerst durch ein betriebswirtschaftlich-technisches Gutachten abgeklärt werden, welche Restlebensdauer der beiden Anlagen - Kabelbagger- und Aufbereitungsanlage - im Zeitpunkt der Enteignung noch angenommen werden durfte. War damals die voraussichtliche Restnutzungsdauer der Aufbereitungsanlage,
BGE 109 Ib 26 S. 40
wie zu vermuten ist, kürzer als die Konzessionsdauer, so hätte die KRAG, um die Pachterträge nicht zu verlieren, mittelfristig weiteres Kapital für die Erneuerung der Anlage investieren müssen, Kapital, das seinerseits vor Ablauf der Konzessionsdauer wieder hätte verzinst und amortisiert werden müssen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, nach Pachtvertrag gingen Unterhalt, Reparaturen und Verschleiss der maschinellen Einrichtungen zu Lasten der Pächterin: zum einen muss die normale Abnützung von der Verpächterin getragen werden; zum anderen darf nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass der Pachtvertrag trotz fortschreitender Abnützung der Anlagen stets unverändert erneuert worden wäre.
Bei der Kapitalisierung der mutmasslichen zukünftigen Pachtzinserträge kommt sodann der Wahl des Zinssatzes bzw. des entsprechenden Kapitalisierungsfaktors erhebliche Bedeutung zu. Es ist zumindest zweifelhaft, ob der von der Schätzungskommission angewandte Satz von 5% angemessen sei, selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Risikofaktoren ihren Niederschlag nicht im Zinsfuss, sondern in prozentualen Abzügen von den zukünftigen Erträgnissen finden sollen (vgl. RUMMEL/SCHLAGER, Enteignungsentschädigung insbesondere für gewerbliche Objekte, Wien 1981, S. 248 f.). ... (Ausführungen über die konkreten Auswirkungen bei Wahl unterschiedlicher Zinssätze.) Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg
6.
Nach
Art. 23 Abs. 2 EntG
hat die Arbeitsgemeinschaft Kieswerk Domleschg als Pächterin Anspruch auf Ersatz allen Schadens, der ihr aus der vorzeitigen Aufhebung des Pachtvertrages entsteht. Die Frage stellt sich, wie weit, insbesondere auf welchen Zeitraum sich dieser Ersatzanspruch erstrecke.
a) Der Enteigner macht wie schon vor der Vorinstanz unter anderem geltend, der Pächterin stehe überhaupt kein Entschädigungsanspruch zu, da im Vertrag selbst die entschädigungslose Aufhebung der Pacht bei Stillegung des Betriebs infolge Expropriation vorgesehen sei. Im angefochtenen Entscheid wird diese Frage nicht behandelt; die Schätzungskommission scheint stillschweigend der Meinung der KRAG gefolgt zu sein, wonach die fragliche Klausel lediglich bestätige, dass die Verpächterin im Falle der Enteignung gegenüber der Pächterin nicht schadenersatzpflichtig werde, dagegen nicht bezwecke, die Pächterin in ihren Rechten gegenüber dem Enteigner zu verkürzen.
BGE 109 Ib 26 S. 41
Der Einwand des Enteigners ist jedoch nicht ohne weiteres als unbegründet zu betrachten. Eine Vertragsbestimmung wie die hier umstrittene braucht sich ihrem Sinne nach nicht darauf zu beschränken, eine - bereits vom Gesetz geregelte (vgl. Art. 259 Abs. 3 bzw.
Art. 281, Abs. 3 OR
; BECKER, N. 17 zu
Art. 259 OR
, SCHMID, N. 46 zu
Art. 259 OG
) - Frage der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit zu lösen; vielmehr kann ihr auch im Rahmen des Enteignungsrechtes Bedeutung zukommen, schreibt doch
Art. 21 Abs. 1 EntG
vor, dass bei der Schätzung des Verkehrswertes die im Grundbuch vorgemerkten Miet- und Pachtrechte in Anschlag zu bringen sind. Es kann daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die KRAG mit dieser Klausel der Gefahr begegnen wollte, dass die ihr zuzusprechende Entschädigung in Anwendung von
Art. 21 Abs. 1 EntG
gekürzt würde. Diese Vermutung liegt um so näher, als nach Vertrag auch das der Arbeitsgemeinschaft eingeräumte Vorkaufsrecht im Enteignungsfall erlischt, ein Vorkaufsrecht, für das der Berechtigten gemäss
Art. 23 EntG
eine Entschädigung zustünde, welche nach
Art. 21 Abs. 2 EntG
von der Verkehrswertvergütung abgezogen werden müsste. Indessen kann eine derart weitgehende Interpretation der Klausel - die zur Verneinung jeglichen Entschädigungsanspruchs der Arbeitsgemeinschaft führen würde - aufgrund der Akten nicht aufrechterhalten werden. Der Enteigner selbst hat seine These nicht ernsthaft verfochten, hat er doch auf Beschwerdeführung verzichtet und auch nicht behauptet, durch Aufnahme der fraglichen Vertragsbestimmung habe die Verpächterin nur ihre eigene Stellung im Enteignungsverfahren, möglicherweise zu Ungunsten der Pächterin, verbessern wollen. - Für die Beurteilung der Ersatzansprüche der Beschwerdeführerin ist daher grundsätzlich auf den Pachtvertrag vom 21. April 1971 abzustellen und über die genannte Auflösungs-Klausel hinwegzusehen.
b) Entgegen der Meinung der Enteigneten darf allerdings bei Bemessung der Entschädigung nur der Zeitraum zwischen vorzeitiger Besitzeinweisung (1. Januar 1978) und dem nächsten Kündigungstermin (31. Dezember 1980) in Betracht gezogen werden. Wie in der jüngsten bundesgerichtlichen Rechtsprechung in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre erneut bestätigt worden ist, können Gegenstand der Enteignung von Mietern und Pächtern nur deren vertragliche Rechte sein und kann eine Entschädigung einzig für vorzeitige Vertragsauflösung oder für Beeinträchtigung des vertragsgemässen Gebrauches der Sache bis zum Vertragsablauf
BGE 109 Ib 26 S. 42
oder zum nächsten Kündigungstermin zuerkannt werden (
BGE 106 Ib 226
ff. E. 2, 245 ff. E. 4;
BGE 95 I 309
ff.; nicht publ. Entscheid vom 8. Juli 1970 i.S. AET c. Bontà; HESS, a.a.O., N. 12 zu
Art. 23 EntG
, MERKER, a.a.O., S. 195 f., a.M.: WIEDERKEHR, a.a.O., S. 61). Es besteht kein Anlass, hier von dieser Praxis abzuweichen. Auch stellt sich die im Entscheid Bonomo (
BGE 106 Ib 227
f.) aufgeworfene Frage, ob die übereinstimmenden Interessen der mietenden und der vermietenden Firma, die beiden den selben Aktionären mit gleicher Aktienverteilung gehörten, eine einseitige Auflösung des Vertragsverhältnisses ausschlössen, im vorliegenden Verfahren nicht. Die blosse - wenn auch begründete - Aussicht auf Vertragsverlängerung verleiht der Pächterin kein Recht, das Gegenstand der Enteignung im Sinne von
Art. 5 EntG
sein könnte. Auch der Hinweis der Enteigneten auf
BGE 51 I 359
und auf ihr Vorkaufsrecht an den Aktien der KRAG vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern: abgesehen davon, dass jener Entscheid noch unter dem alten Recht gefällt wurde, das keine
Art. 23 Abs. 2 EntG
entsprechende Vorschrift kannte (vgl. hiezu
BGE 106 Ib 245
f. E. 4a), ist der Enteigneten damals in erster Linie eine Vergütung für den Verlust ihres Vorkaufsrechtes und nicht für die Aufhebung des Mietvertrages gewährt worden. Eine solche hat die Arbeitsgemeinschaft aber nie verlangt.
c) Steht der für die Entschädigung relevante Zeitraum fest, berechnet sich der "volle Schaden" im Sinne von
Art. 23 Abs. 2 EntG
nach obligationenrechtlichen Grundsätzen; die Höhe der Entschädigung bemisst sich somit, im für die Enteignete günstigsten Fall, nach dem Interesse der Pächterin an der Erfüllung des Vertrages (
BGE 95 I 310
f.; MERKER, a.a.O., S. 196 f.; vgl. für die viel einschränkendere Entschädigungsregelung im deutschen Recht: AUST/JACOBS, Die Enteignungsentschädigung, S. 77 ff., GELZER/BUSSE, a.a.O. S. 181 ff.; NJW 1967 S. 1085).
aa) Die Arbeitsgemeinschaft hat demnach Anspruch auf Ersatz des Gewinnes, den sie bei Weiterführung des Vertrages bis zum nächsten Kündigungstermin hätte erzielen können. Da dieser Zeitraum relativ kurz ist (3 Jahre), rechtfertigt es sich nicht, die Entschädigung mit Rücksicht auf mögliche anderweitige Betätigung der Enteigneten zu reduzieren. Dagegen muss bei der Festsetzung des mutmasslichen Ertrages - gleich wie gegenüber der KRAG (vgl. E. 4e) - den Risiken eines solchen Unternehmens gebührend Rechnung getragen werden; tatsächlich kann - ganz abgesehen von allfälligen flussbaupolizeilichen Verboten - nicht
BGE 109 Ib 26 S. 43
ausgeschlossen werden, dass mangels Absatzmöglichkeiten in der Region der Ausbeutungsbetrieb von einem Jahr auf das andere stark hätte eingeschränkt werden müssen. Ferner wird zu prüfen sein, ob der von der Schätzungskommission für die Kapitalisierung gewählte Zinssatz von 5% nicht zu erhöhen sei, was das Ergebnis, wenn auch nicht im gleichen Masse wie oben für die KRAG aufgezeigt, so doch spürbar beeinflussen würde.
bb) Die Schätzungskommission hat der Arbeitsgemeinschaft neben dem entgangenen Gewinn auch den Verkehrswert (Zeitwert) ihrer maschinellen Einrichtungen vergütet, die durch die Enteignung nutzlos geworden sind. Nach dem Gesagten ist klar, dass dieses Vorgehen falsch ist. Zwar kann die Enteignete eine Entschädigung für die (diskontierten) Beträge verlangen, welche sie in den drei Jahren bis zum Kündigungstermin der Abschreibung ihrer Maschinen gewidmet hätte. Sind dann die Maschinen noch nicht vollständig amortisiert, so ist hiefür kein Ersatz zu leisten; ein solcher Schaden ist nicht durch die Enteignung bedingt und würde auch eintreten, wenn der Vertrag gekündigt worden wäre (
BGE 106 Ib 227
, 247). Vollständig ausser Betracht fällt schliesslich eine Entschädigung für den auf den Zeitpunkt der Betriebseinstellung geschätzten Verkehrswert der Anlagen, ohne die der Gewinn, welcher der Arbeitsgemeinschaft vergütet wird, nicht hätte erzielt werden können. | public_law | nan | de | 1,983 | CH_BGE | CH_BGE_003 | CH | Federation |
ec3e3fca-f9af-425d-885e-a9e1006bc067 | Urteilskopf
105 IV 303
78. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. November 1979 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) | Regeste
Art. 144 StGB
.
1. Wer an einer Sache aufgrund von Art. 714/933 ZGB Eigentum erworben hat, kann auch dann nicht wegen Hehlerei bestraft werden, wenn er nachträglich von der strafbaren Herkunft der Sache erfährt und sie trotz dieser Kenntnis weiterverkauft (E. 3a).
2. Hätte der Erwerber bei der gebotenen Aufmerksamkeit die strafbare Herkunft der Sache erkennen können, so ist er zwar mangels Vorsatz nicht wegen Hehlerei strafbar, doch hat er infolge seiner Fahrlässigkeit kein Eigentum an der Sache erworben (E. 3b). Erfährt er nachträglich von der strafbaren Herkunft der Sache und veräussert er sie trotz dieser Kenntnis weiter, so erfüllt er daher mit dem Verkauf den Tatbestand der Hehlerei (E. 3c). | Erwägungen
ab Seite 304
BGE 105 IV 303 S. 304
Aus den Erwägungen:
3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er hätte höchstens der einfachen, nicht aber der fortgesetzten Hehlerei schuldig erklärt werden dürfen. Nach dem angefochtenen Urteil sei er beim Erwerb des ersten Wagens, d.h. des Opel Rekord, gutgläubig gewesen. Sei dem aber so, dann habe er den Wagen auch weiterverkaufen dürfen, ohne sich strafbar zu machen.
a) Wer in gutem Glauben eine bewegliche Sache zu Eigentum übertragen erhält, wird, auch wenn der Veräusserer zur Eigentumsübertragung nicht befugt ist, deren Eigentümer,
BGE 105 IV 303 S. 305
sobald er nach den Besitzesregeln im Besitze der Sache geschützt ist (
Art. 714 Abs. 2 ZGB
). Das trifft insbesondere dann zu, wenn die Sache dem Veräusserer anvertraut worden war (
Art. 933 ZGB
). Der Eigentumserwerb gemäss diesen Bestimmungen bleibt auch dann gültig, wenn der Erwerber nachträglich seinen guten Glauben im Sinne des ZGB, wie er in
Art. 3 ZGB
umschrieben ist, verliert (
BGE 90 IV 19
; STARK, Berner Kommentar, N 79 zu Art. 933, LIVER, Schweizerisches Privatrecht, Band V/1, S. 327). Gegenüber dem gutgläubigen Erwerber der anvertrauten Sache gehen alle Restitutionsansprüche unter. Das Recht des bisher Berechtigten erlischt, so dass der Erwerber frei und unangefochten über die Sache verfügen kann. Verkauft er sie, begeht er keine Hehlerei, und zwar auch dann nicht, wenn er im Zeitpunkt des Weiterverkaufs aufgrund inzwischen eingetretener Verdachtsgründe im Sinne von
Art. 144 StGB
weiss oder annehmen muss, dass der Vorbesitzer die Sache durch eine strafbare Handlung erlangt hatte.
b) Die Firma M. AG in Winterthur hat T. den Opel Rekord vermietet und somit im Sinne von
Art. 933 ZGB
anvertraut. Es stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer bei Übernahme des Opel Rekord gutgläubig gewesen sei und infolgedessen daran Eigentum erworben habe oder nicht.
Das angefochtene Urteil setzt sich mit dieser Frage nicht auseinander. Aus der Feststellung der Vorinstanz, S. habe beim Erwerb des Opel Rekord weder gewusst noch annehmen müssen, dass T. dieses Fahrzeug durch eine strafbare Handlung erworben hatte, lässt sich nicht ableiten, das Obergericht habe damit den guten Glauben des Beschwerdeführers im Sinne des ZGB bejaht (vgl.
BGE 90 IV 20
). Denn Gutgläubigkeit hat in
Art. 714 Abs. 2 und 933 ZGB
nicht den gleichen Sinn wie in
Art. 144 StGB
. Wegen Hehlerei macht sich nur strafbar, wer zumindest in Kauf nahm, dass die von ihm erworbene Sache durch eine strafbare Handlung erlangt worden war. Mit "annehmen müssen" ist in
Art. 144 StGB
Eventualdolus gemeint; Fahrlässigkeit genügt nicht (vgl. STRATENWERTH, BT, Bd. I, S. 276, TRECHSEL, zum Tatbestand der Hehlerei, ZStR 91/1975, S. 402 mit Hinweisen). Demgegenüber ist der Erwerber schon dann nicht mehr gutgläubig im Sinne von
Art. 714 Abs. 2 und 933 ZGB
, wenn er bei der Aufmerksamkeit, die nach den Umständen von ihm verlangt werden darf, hätte erkennen können, dass der Vorbesitzer zur Veräusserung der Sache nicht
BGE 105 IV 303 S. 306
berechtigt war. Fahrlässigkeit reicht mithin zur Zerstörung des guten Glaubens aus.
Ob der Beschwerdeführer beim Erwerb des Opel Rekord im Sinne von
Art. 3, 714 Abs. 2 und 933 ZGB
gutgläubig war oder nicht, ist eine zivilrechtliche Vorfrage, die der Kassationshof im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde beantworten muss, wenn die diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz dazu ausreichen. Nach den Feststellungen des Obergerichts gab T. dem Beschwerdeführer an, er könne aufgrund seiner Tätigkeit bei einer Versicherungsgesellschaft Unfallfahrzeuge billig erwerben; gleichwohl verkaufte er das Auto als "unfallfrei". T. erklärte dem Beschwerdeführer im weiteren, er habe den Opel Rekord am 11. April 1977 von einem gewissen D. zum Preis von Fr. 4'800.- für einen andern Wagen in Zahlung genommen, was er mittels eines gefälschten Vertrages belegte; dennoch begnügte er sich nur vier Tage später beim Verkauf an S. mit Fr. 4'000.-, nahm also eine Einbusse von Fr. 800.- in Kauf. Obwohl laut gefälschtem Vertrag der Vorbesitzer D. in Wil/SG wohnte, trug der Wagen Zürcher Kontrollschilder. Der Beschwerdeführer, der seit 1970 einen schwunghaften Autooccasionshandel betreibt, hat nicht jene Aufmerksamkeit beobachtet, wie sie nach diesen von der Vorinstanz verbindlich festgestellten Umständen von ihm verlangt werden durfte, als er mit dem ihm bis dahin unbekannten T. den Kaufvertrag über den Opel Rekord abschloss. Auch wenn S. hinsichtlich des Erwerbs dieses Wagens mangels Vorsatzes nicht wegen Hehlerei bestraft werden konnte, fehlte ihm nach dem Gesagten doch der gute Glaube im Sinne von Art. 714 Abs. 2 und 933 i.V.m.
Art. 3 Abs. 2 ZGB
, so dass er mit dem Erwerb des Opel Rekord nicht Eigentümer desselben wurde und daher auch nicht wie ein Eigentümer über ihn verfügen konnte.
c) Der Tatbestand der Hehlerei ist allerdings nicht schon dann erfüllt, wenn der im zivilrechtlichen Sinne bösgläubige Erwerber einer Sache nachträglich von deren strafbaren Herkunft erfährt oder sie zumindest in Kauf nimmt; denn der sog. "dolus subsequens" reicht zur Bestrafung nicht aus. Hiezu ist vielmehr weiter erforderlich, dass der Erwerber trotz dieser inzwischen erlangten Kenntnis eine von
Art. 144 StGB
erfasste Handlung begeht, die Sache etwa verheimlicht oder absetzen hilft.
BGE 105 IV 303 S. 307
Nach den verbindlichen Feststellungen des Obergerichts musste S. im Zeitpunkt des Weiterverkaufs des Opel Rekord, d.h. am 18. April 1977, aufgrund neuer, mit dem Abschluss des Kaufvertrages über den Renault zusammenhängender Verdachtsmomente zumindest annehmen, dass T. auch den Opel Rekord durch eine strafbare Handlung erlangt hatte. Da zudem der Weiterverkauf als "absetzen helfen" eine Tathandlung von
Art. 144 StGB
darstellt, ist der Tatbestand der Hehlerei, wie das Obergericht zu Recht erkannt hat, auch hinsichtlich des Opel Rekord erfüllt.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen. | null | nan | de | 1,979 | CH_BGE | CH_BGE_006 | CH | Federation |
ec43a85f-0ab5-4c3f-a96d-06ede14e2353 | Urteilskopf
101 II 366
61. Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. November 1975 i.S. Schweizerische Eidgenossenschaft gegen Schad + Frey AG. | Regeste
Berufung.
Zulässigkeit gegen selbständigen Vorentscheid über die sachliche Zuständigkeit nach
Art. 49 OG
(Erw. 1).
Abgrenzung zwischen zivilrechtlicher und öffentlichrechtlicher Streitigkeit (Erw. 2).
Die Ordnung der Landeskartographie und der Grundbuchvermessung ist öffentlichrechtlicher Natur (Erw. 3).
Das Entgelt, das der Bund für die Benützung seiner Pläne und Karten - im Umfange ihres urheberrechtlichen Schutzes - verlangen kann, ist keine vertragliche Gegenleistung, sondern eine verwaltungsrechtliche Gebühr. Der Streit darüber beurteilt sich daher nach Verwaltungsrecht (Erw. 4). | Sachverhalt
ab Seite 367
BGE 101 II 366 S. 367
A.-
Auf ein Gesuch, das die Schad + Frey AG im Auftrag des Verkehrsvereins Grindelwald an die Eidgenössische Vermessungsdirektion gerichtet hatte, erteilte die Eidgenössische Landestopographie mit Schreiben vom 17. Juli 1972 "die einmalige Bewilligung zur Reproduktion und Veröffentlichung" des Übersichtsplan 1:10000 Ausschnitt Schynige Platte - Schwarzhorn - Kleine Scheidegg - Mettenberg für die Herstellung einer Wanderkarte 1:25000 "Grindelwald". Sie nannte die "Reproduktions-Bedingungen" und "Gebühren". Ferner legte sie zwei Formulare "Zahlungsmodus für die Lizenzgebühren der Landeskarten -" bei und bat, eines davon durch den Verkehrsverein Grindelwald ausfüllen, unterzeichnen zu lassen und es danach zurückzuschicken.
Die Schad + Frey AG. sandte das Formular nicht zurück. Trotzdem druckte sie eine Vorauflage von 3000 Stück der Wanderkarte. Dafür stellte ihr die Eidgenössische Vermessungsdirektion am 29. März 1973 Rechnung über Fr. 1'114.35, woran sie am 29. Mai 1973 Fr. 430.-- zahlte.
Da die Eidgenössische Landestopographie der Meinung war, die Schad + Frey AG habe neben dem Übersichtsplan auch die Landeskarte 1:50000 verwendet, stellte sie am 6. April 1973 Rechnung über Fr. 342.--.
Für eine weitere Auflage der Wanderkarte von 40000 Stück forderten die Vermessungsdirektion am 29. August 1973 Fr. 14'858.-- und die Landestopographie am 13. August 1973
BGE 101 II 366 S. 368
Fr. 4'704.--. Die Schad + Frey AG bezahlte nur die genannten Fr. 430.--. Die offenen Forderungen der eidgenössischen Ämter beliefen sich also auf Fr. 20'588.35.
B.-
Namens der Schweizerischen Eidgenossenschaft klagte die Eidgenössische Finanzverwaltung am 23. Oktober 1974 vor dem Appellationshof des Kantons Bern gegen die Schad + Frey AG mit den Begehren:
"1. Es sei der Beklagten unter Androhung der Straffolgen von
Art. 403 ZPO
bis zur Erfüllung der im Rechtsbegehren 2 genannten
Obligationen gerichtlich zu verbieten, die Wanderkarte
1:25000 "Grindelwald" herzustellen, feilzuhalten, zu verkaufen
oder sonst in Verkehr zu bringen.
2. Die Beklagte sei zu verurteilen, der Klägerin einen Betrag von
Fr. 20'588.35 nebst Verzugszins von 5% seit 26. September 1973
zu bezahlen."
Die Beklagte verlangte, es sei auf die Klage nicht einzutreten, eventuell das Verfahren auf die Frage der sachlichen Zuständigkeit zu beschränken. Gemäss diesem Eventualstandpunkt wurde für die Prozessinstruktion verfügt, worauf der Appellationshof am 11. Juni 1975 die Klage mangels Zuständigkeit zurückwies.
C.-
Die Klägerin legte Berufung an das Bundesgericht ein. Sie beantragt, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an den Appellationshof zurückzuweisen. Die Beklagte begehrt die Bestätigung des angefochtenen Entscheides.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das angefochtene Urteil ist ein selbständiger Vorentscheid des obern kantonalen Gerichtes über die sachliche Zuständigkeit. Die Berufung ist daher zulässig (
Art. 49 OG
).
2.
Der Appellationshof erklärt sich als unzuständig, weil nach seiner u.a. auf ein gemeinsames Gutachten der Professoren A. Troller und H. Huber gestützten Ansicht kein zivilrechtlicher, sondern ein verwaltungsrechtlicher Streit vorliege.
a) Unter einem Zivilrechtsstreit versteht die Rechtsprechung ein kontradiktorisches Verfahren zwischen zwei oder mehreren natürlichen oder juristischen Personen in ihrer Eigenschaft als Trägerinnen privater Rechte oder zwischen solchen Personen und einer nach Bundesrecht die Stellung
BGE 101 II 366 S. 369
einer Partei besitzenden Behörde, das sich vor dem Richter oder einer anderen Spruchbehörde abspielt und auf die endgültige, dauernde Regelung zivilrechtlicher Verhältnisse durch behördlichen Entscheid abzielt (
BGE 98 II 149
, 170, 275 und dort erwähnte Entscheide). Ob ein zivilrechtlicher oder ein öffentlichrechtlicher Streit bestehe, bestimmt sich also nach seinem Gegenstand. Die Grenze lässt sich, scheinen auch
Art. 64 BV
und 6 ZGB klare Begriffe vorauszusetzen, nicht nach einheitlichen und durchwegs gültigen Kriterien ziehen; sie ist fliessend und muss, wenn es um die Zuständigkeit des angerufenen Richters geht, jeweilen für das konkrete Rechtsverhältnis ermittelt werden (vgl. KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts S. 20/21; LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl. 1956, N. 1 zu Art. 1).
b) Hiefür hat die Lehre verschiedene Methoden entwickelt. Diese unterscheiden danach, ob anwendbare Rechtssätze private Interessen wahrnehmen oder öffentliche Interessen verfolgen (Interessentheorie), unmittelbar die Erfüllung öffentlicher Aufgaben betreffen (Funktionstheorie), das Verhältnis zwischen Staat und Bürger oder zwischen Bürgern unter sich regeln (Subjektionstheorie), zwischen Staat und Bürger eine Unterordnung oder Gleichordnung zum Gegenstand haben (Subjektionstheorie), zwingend oder nachgiebig sind usw. (vgl. DESCHENAUX, in Schweizerisches Privatrecht II S. 15 ff.; HUBER, zu
Art. 6 ZGB
N. 110 ff., besonders 119 ff.; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 44 ff.; GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, S. 84). Indessen bietet keine dieser Theorien eine schlechthin und umfassend zutreffende Lösung. Die Lehre neigt daher zur Kombination einzelner Merkmale, indem sie zumeist von der Subjektionstheorie ausgeht (DESCHENAUX, a.a.O. S. 18/19; HUBER, a.a.O. N. 130). Auch die Rechtsprechung hat sich nicht einseitig festgelegt (
BGE 96 I 101
, 409, 428, 541;
BGE 99 Ib 120
E. 2; GRISEL, a.a.O. S. 47 ff.).
3.
Das Bundesgesetz über die Erstellung neuer Landeskarten vom 21. Juni 1935 sieht in Art. 1 vor, dass die Erstellung, Veröffentlichung und Unterhaltung neuer Landeskarten Sache des Bundes ist. Diese Regelung beruht auf dem Gedanken, dass es sich bei der Landeskarte schon mit Rücksicht auf die Armee um eine eidgenössische Angelegenheit handle (Botschaft des Bundesrates vom 1. April 1935, BBl 1935 I S. 644).
BGE 101 II 366 S. 370
Sie ist also im öffentlichen Interesse begründet. Dieses war auch dafür massgebend, dass gemäss Art. 2 des Gesetzes "die Urheberrechte, die bei der Bearbeitung und Nachführung der neuen Landeskarten entstehen", an den Bund übergehen (Botschaft des Bundesrates, a.a.O. S. 645). Ist demnach die gesetzliche Ordnung der Landeskartographie öffentlichrechtlicher Art, so gilt das auch für die gestützt darauf vom Bundesrat erlassene Verordnung betr. die Wiedergabe der eidgenössischen Kartenwerke vom 18. Dezember 1953 sowie die gemäss Art. 7 dieser Verordnung vom Eidgenössischen Militärdepartement am 19. Dezember 1953 erlassene Verfügung betr. die Gebühren für die Wiedergabe der eidgenössischen Kartenwerke (AS 1953 S. 1069), die durch die Verfügung betr. Lizenzgebühren für die Wiedergabe der eidgenössischen Kartenwerke vom 27. Dezember 1967 (AS 1968 S. 4) ersetzt wurde. Wie die Ordnung der Landeskartographie ist auch jene über die Grundbuchvermessung öffentlichrechtlicher Natur, nämlich der gestützt auf
Art. 42ter BV
und
Art. 29 SchlT ZGB
erlassene Bundesbeschluss über die Kostenanteile in der Grundbuchvermessung vom 27. September 1967, in Kraft seit 1. Januar 1968, sowie die in Ausführung des
Art. 950 ZGB
und der
Art. 38-42 SchlT ZGB
am 12. Mai 1971 beschlossene Verordnung über die Grundbuchvermessung. Das ergibt sich nicht nur von der Sache her, sondern insbesondere aus dem ihr zugrundeliegenden Verfassungssatz (vgl. auch die Botschaft des Bundesrates vom 17. Januar 1967, BBl 1967 I S. 313 ff.).
4.
Die Klägerin stellt sich im Prozess auf den Standpunkt, die Beklagte habe die Landeskarte und den Übersichtsplan ohne Bewilligung benützt. Sie habe daher nach
Art. 42 ff. URG
zivilrechtliche Ansprüche auf Unterlassung und Schadenersatz, die vom Appellationshof zu beurteilen seien.
a) Art. 2 des zitierten Bundesgesetzes vom 21. Juni 1935 schafft kein eigenständiges Urheberrecht des Bundes an den Landeskarten. Die Vorschrift kann nur anordnen, dass die von den Beamten und Angestellten erworbenen Urheberrechte von Gesetzes wegen auf den Bund übergehen (vgl. Botschaft des Bundesrates, a.a.O. S. 645; Gutachten Troller/Huber, S. 15 ff.). Etwas anderes bestimmt auch die gestützt auf jene Gesetzesbestimmung erlassene Verordnung vom 18. Dezember 1953 nicht. Sinngemäss muss dasselbe gelten für Art. 9 Abs. 1 der Verordnung des Bundesrates über die Grundbuchvermessung
BGE 101 II 366 S. 371
vom 12. Mai 1971, wonach die Urheberrechte an den Vermessungswerken dem Bund, den betreffenden Kantonen und den Gemeinden zustehen. Dabei kann offen bleiben, ob nach den im Ingress der Verordnung genannten Grundlagen eine solche Vorschrift erlassen werden darf. Jedenfalls kommen dem Bund auf beiden Gebieten keine originären, sondern kraft öffentlichrechtlicher Gesetzgebung zwangsweise übertragene Urheberrechte zu.
b) Ob und inwieweit Urheberrechte an Karten und Vermessungswerken zugunsten des Bundes bestehen, ist auf Grund der Vorschriften des URG, also nach Privatrecht zu bestimmen. Denkbar wäre auch, dass der Bund die Verletzung solcher Rechte nach
Art. 42 ff. URG
, also zivilrechtlich verfolgte. Aber darum geht es hier nicht. Die Klägerin hat schon vor Einleitung des Prozesses sich nicht gegen die Verwendung von Karten und Plänen durch die Beklagte aus Urheberrecht verwahrt, sondern dafür nach ihren Tarifansätzen Rechnung gestellt. Sie verlangt auch mit den Klagebegehren weder die absolute Untersagung urheberrechtswidriger Benützung geschützter Werke noch Schadenersatz aus Urheberrechtsverletzung, sondern sie begehrt bloss ein Herstellungs- und Vertriebsverbot für die Wanderkarte "Grindelwald" bis zur Erfüllung nachgenannter "Obligationen" und fordert unter diesem Titel auf den Rappen die ausstehenden Gebührenbeträge. Das Unterlassungsbegehren hat keine selbständige Bedeutung, sondern hängt mit dem Leistungsbegehren funktionell zusammen. Die Klägerin will also im vorliegenden Verfahren tarifarische Ansprüche für die tatsächliche Benützung von eidgenössischen Plan- und Kartenwerken durchsetzen, nicht aber zivilrechtliche Verhältnisse durch den Richter dauernd regeln lassen. Daher kann offen bleiben, ob Art. 9 der Verordnung vom 18. Dezember 1953, wonach Widerhandlungen gegen die darin enthaltenen Vorschriften zivil- und strafrechtlich nach
Art. 42-61 URG
verfolgt werden, gültig sei.
c) Wenn und soweit Urheberrechte an Karten- und Vermessungswerken bestehen, kann der Bund darüber die Benützungsbedingungen mit Dritten nicht privatrechtlich vereinbaren. Die Verordnungen des Bundesrates vom 18. Dezember 1953 und des EMD vom 12. Mai 1971 sehen vor, dass die zuständigen Departemente oder Dienstabteilungen einseitig die Benützung bewilligen und hiefür Grundsätze und Gebühren
BGE 101 II 366 S. 372
festlegen. Der Bund tritt demnach den Privaten obrigkeitlich gegenüber. Das Recht, Pläne und Karten im Umfange eines allfälligen urheberrechtlichen Schutzes zu benützen, beruht nicht auf einer privatrechtlichen Verfügung, sondern auf einer verwaltungsrechtlichen Erlaubnis mit privatrechtsgestaltender Wirkung und demnach ist auch das zu erbringende Entgelt keine vertragliche Gegenleistung, sondern eine verwaltungsrechtliche Gebühr (vgl. Gutachten Troller/Huber, S. 22/23, 46/47). Ob und inwieweit die Klägerin eine Bewilligung erteilte und welche Gebühr sie gegebenenfalls erheben durfte, beurteilt sich somit nach Verwaltungsrecht. Dabei kann die Verwaltungsgerichtsbehörde die zivilrechtliche Vorfrage beurteilen, ob und inwiefern an Kartenwerken Urheberrechte bestehen (KUMMER, a.a.O. S. 22; LEUCH, a.a.O.).
5.
Die Klägerin ist in Übereinstimmung mit dem Appellationshof auf den Verwaltungsweg zu verweisen. Die direkte verwaltungsrechtliche Klage nach
Art. 116 OG
steht ihr allerdings nicht offen. Aber sie hat die Möglichkeit, gegenüber der Beklagten auf Grund der Tarife für die Benützung von Karten und Plänen eine Verfügung zu erlassen (Art. 5 VwG), welche die Beklagte auf dem Rechtsmittelweg anfechten kann (
BGE 101 Ib 72
ff.).
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern, I. Zivilkammer, vom 11. Juni 1975 bestätigt. | public_law | nan | de | 1,975 | CH_BGE | CH_BGE_004 | CH | Federation |
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