text
stringlengths 0
4.31k
|
---|
Die Verringerung der Armut zählte im Frühjahr 2019 zu einem der Fünfjahresziele des Präsidenten Putin: Fast 19 Millionen Russen galten als arm, das entsprach 12,9 % der Bevölkerung.[106][107] |
Die ärmeren Bevölkerungsschichten litten bis 2009 unter zweistellig steigenden Verbraucherpreisen, die sich bis 2012 wieder verringerten. Von 2014 bis 2019 verringerte sich das Realeinkommen.[107] Zur Bekämpfung der Armut wurde im Herbst 2021 eine neue Berechnungsgrundlage eingeführt, womit die Zahl der Armen schlagartig um 2,8 Millionen sank. Zwar wurden Anfang 2022 die Sozialleistungen um die Inflation von 8 % erhöht, jedoch lagen die Preissteigerungen bei Lebensmitteln weit höher.[108] In besonders armen Regionen gelten die russischen Streitkräfte als einzige Möglichkeit für junge Männer, der Armut zu entkommen und jemals eine Familie versorgen zu können.[109] |
Die Arbeitslosenquote hatte mit der Überwindung der Finanzkrise 2008 zu sinken begonnen. In Wachstumsregionen wie Moskau, Kaluga und St. Petersburg tendierte die Erwerbslosigkeit gegen Null. Die Arbeitslosigkeit betrug nach Berechnung nach Standards der Internationalen Arbeitsorganisation 2005 7,1 %, 2010 7,6 % und 2011 6,6 %. Bis 2014 sank sie auf 5,2 % und begann wieder zu steigen. Das Arbeitslosengeld betrug zwischen 60 und 70 Euro im Monat.[110] Die Arbeitslosigkeit ist aber aufgrund einer Besonderheit des russischen Arbeitsrechts ein problematischer Indikator für die Konjunkturlage: Betriebsbedingte Kündigungen sind in Russland zumeist unzulässig, stattdessen dürfen Arbeitgeber einseitig Arbeitsentgelte reduzieren. Daher verbleiben russische Arbeitnehmer auch bei Auftragsmangel lieber in ihrem Betrieb und nehmen hohe Lohneinbußen in Kauf, anstatt die mit 20 bis 110 Euro im Jahr 2019 eher symbolische Arbeitslosenunterstützung in Anspruch zu nehmen.[111] |
Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen zählt die Russische Föderation zu den Staaten mit sehr hoher menschlicher Entwicklung.[4] Der Gini-Koeffizient lag 2016 bei 37,7. |
Umweltschutz |
→ Hauptartikel: Russische Maßnahmen in der Klimapolitik |
Bikin-Nationalpark in der Russischen Region Primorje |
Zur Zeit der Sowjetunion wurde die russische Natur schwer belastet: von Fabrikabfällen vermüllt, chemisch und radioaktiv verunreinigt. Auch heute gibt es ernsthafte Umweltprobleme in Russland – aber auch ein wachsendes Umweltbewusstsein in der Bevölkerung. Das Recht des Bürgers auf gesunde Umwelt und auf verlässliche Informationen über ihren Zustand ist im Artikel 42 der russischen Verfassung verankert. Allerdings hat der Umweltschutz in der russischen Politik eine vergleichsweise niedrige Priorität, was von internationalen Umweltorganisationen wie WWF oder Greenpeace immer wieder kritisiert wird.[112] So wurden in der Vergangenheit oft gängige Umweltstandards bei der Erschließung neuer Erdöl- oder Erdgasvorkommen nur unzureichend eingehalten. Ein bekanntes Beispiel der jüngsten Zeit ist die Erschließung der Fördergebiete Sachalin II, bei der in höherem Maße gegen Umweltauflagen verstoßen worden sein soll.[113] Hinzu kommt eine verbreitete Korruption[114] innerhalb staatlicher Umweltbehörden, die mehrfache Verstöße gegen Umweltauflagen beim Bau von Häusern oder massenhaften illegalen Holzeinschlag ermöglicht. Auch eine Vielzahl von Altlasten aus den Sowjetzeiten, darunter marode Fabriken, die die heutigen Umweltstandards nicht einhalten können, belasten die Umwelt in Teilen des Landes erheblich. Einige Städte mit solchen Fabriken, wie Norilsk oder Dserschinsk, gelten als ökologisches Notstandsgebiet.[115] |
Je stärker die Lebensqualität stieg, umso wichtiger und dringlicher wurden Umweltfragen in Russlands Öffentlichkeit und Politik diskutiert. Seit 2004 wurden vereinzelte Bemühungen der russischen Staatsmacht zum Vorantreiben des Umwelt- und Klimaschutzes sichtbar. So wurde in Russland die Ratifizierung des Kyoto-Abkommens am 5. November 2004 mit der Zustimmung des Präsidenten zum Beschluss der Staatsduma abgeschlossen.[116] Am 30. Januar 2008 äußerte sich der designierte Präsident Dmitri Medwedew für eine schnelle Entwicklung des einheimischen Marktes für Innovationstechnik im Umweltschutz.[117] Inzwischen gibt es Pläne der Regierung, die Energieeffizienz in Russland zu steigern, um den erheblichen Verlust an Wärmeenergie für den Wohnungssektor zu begrenzen. |
Geschichte |
→ Hauptartikel: Geschichte Russlands und Geschichte der Sowjetunion |
Kiewer Rus um die Wende vom 1. zum 2. Jahrtausend |
Russland erreichte im 19. Jahrhundert seine größte territoriale Ausdehnung. |
Russlands Geschichte erlebte seit ihrem Beginn im 9. Jahrhundert vielfältige Brüche. So ist die russische Geschichte eine Eigenentwicklung, die sich von der Entwicklung seiner Nachbarn in Europa deutlich unterscheidet. Ursächlich dafür ist ein ständiges In- und Gegeneinanderspiel typisch russischer Merkmale aus sozialen Begebenheiten und geographischen Einflüssen, die seine Geschichte auf weiten Strecken begleiteten. So gab die erdräumliche Lage Russland eine Brückenstellung zwischen Europa und Asien, die je nach Kräftelage die Aggression fremder Mächte (größere Einfälle u. a. 1240, 1242, 1609, 1709, 1812, 1917, 1941) oder die eigene Expansion begünstigte. Dazu trug das Fehlen natürlicher Grenzen bei, was Russland im Wechselspiel mit der Erfahrung fremder Einfälle dazu veranlasste, die Grenzen so weit auszudehnen, bis natürliche Grenzen einen wirksamen Schutz bilden konnten (vgl. Russische Kolonisation).[118] Dieses starke, aus historischen Einfällen resultierende Sicherheitsbedürfnis Russlands setzt sich bis heute fort. |
Die Spannung zwischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten und der Bewältigung bzw. Nichtbewältigung durch die jeweils herrschenden Gruppen gehört ebenso zu den Konstanten der russischen Geschichte. Beispielhaft zu nennen sind die Nichtbewältigung der sozialen Unruhen im Zuge des Industriezeitalters mit ihren Höhepunkten in der Revolution 1905, der Februar- und der Oktoberrevolution 1917 oder die postkommunistische Systemtransformation der 1990er-Jahre. |
Die aus der byzantinischen Orthodoxie übernommenen Denkweisen führten zu Spannungen mit modernistischen Tendenzen und begründeten das markante Spannungsverhältnis zwischen Beharrung und Fortschritt, das sich z. B. bei der Kirchenspaltung 1666/1667 oder den Petrinischen Reformen 1700–1720 deutlich zeigte. Aufgrund der fehlenden römischen Rechtstradition fehlte lange Zeit ein Widerstandsrecht gegen herrscherliche Übergriffe, so dass die Beziehung zwischen Staatsgewalt und der wirtschaftlichen und politischen Freiheit des Einzelnen belastet blieb. Dies zeigte sich besonders im 19. Jahrhundert, als liberale Ideen in Russland vermehrt Anhänger fanden und sich in mehreren Attentaten gegen den russischen Selbstherrscher äußerten (z. B. Dekabristenaufstand). |
Die bis zum Ende der Sowjetunion ausgeprägte Verbindung von genossenschaftlichen mit herrschaftlichen Elementen liegt ursprünglich in der orthodoxen Kirche begründet, wo die Gemeinschaft der Gläubigen eine viel größere Rolle spielte als das Gott gegenüber verantwortliche Individuum. An diese Vorstellungen des Kollektivs knüpften im 19. und 20. Jahrhundert Marxisten und Sozialisten an und setzte diese in der Sowjetunion fort. Der Ausgleich zwischen zentralistischer und dezentraler Herrschaft war in der Geschichte Russlands ein konstantes Problem. Insbesondere in Übergangszeiten (z. B. zwischen 1240 und 1480, nach 1917 und nach 1994) nahmen separatistische Strömungen an den Rändern des La |
Dmitri Donskoi und der in der Schlacht auf dem Schnepfenfeld besiegte Emir der Goldenen Horde Mamai – Szene des Nationaldenkmals Tausend Jahre Russland (1862) |
Kiewer Rus |
Die früheste Geschichte des europäischen Russlands (zur Geschichte des asiatischen Teils siehe Geschichte Sibiriens) ist im Norden geprägt von finno-ugrischen Völkern und Balten, im Süden von den indogermanischen Steppenvölkern des Kurganvolks, der Kimmerer, Skythen, Sarmaten und Alanen; später kamen hier noch Griechen, Goten, Hunnen und Awaren hinzu. |
In die Mitte, zwischen Dnepr und Bug, kamen die slawischen Völker, die sich ab dem 6. Jahrhundert auch nach Norden und Osten auszudehnen begannen. Ab dem 8. Jahrhundert befuhren skandinavische Wikinger die osteuropäischen Flüsse und vermischten sich später mit der slawischen Mehrheitsbevölkerung. Diese auch Waräger oder Rus genannten Kriegerkaufleute waren maßgeblich an der Gründung des ersten ostslawischen Reiches, der locker organisierten Kiewer Rus mit Zentrum in Kiew und wichtigen Orten wie Nowgorod, beteiligt, ihre Fürsten beriefen sich auf eine Abkunft von Rjurik. Im südlichen Steppengebiet und an der Wolga waren hingegen Herrschaften der aus Asien eingeströmten Turkvölker der Chasaren und Wolgabulgaren entstanden, mit denen die Rus Handel trieben, aber auch Kriege führten. Intensive Kontakte mit dem Byzantinischen Reich führten schließlich 988 unter dem Kiewer Fürsten Wladimir I., der eine byzantinische Prinzessin heiratete, zur orthodoxen Christianisierung der Kiewer Rus und der Einrichtung der Metropolie Kiew. |
Der alte Name für das Gebiet der von Ostslawen bewohnten Teils des europäischen Russlands, Belarus’ und der Ukraine war Rus, auf Griechisch Rossia. Auf diese Form geht der heutige Landesname Rossija für Russland zurück. |
Wiewohl die Geschichte und Kultur der Rus in der Literatur häufig als „altrussisch“ bezeichnet werden, lässt sich kein vorrangiger oder gar exklusiver Anspruch der heutigen Russen auf ihr Erbe ableiten. Die Bevölkerung war mehrheitlich ostslawisch, zum Reich gehörten aber auch finnische, baltische und turksprachige Gruppen. Ein Nationalstaat war die mittelalterliche Rus nicht. Die ostslawische Bevölkerung hat sich vermutlich sprachlich nach Stämmen differenziert, aber noch nicht nach den drei heutigen Gruppen der Russen, Ukrainer oder Weißrussen, greifbar als Schriftsprache ist nur das Kirchenslawische. Heute ist das alte Zentrum Kiew ukrainisch, die einst wichtige Stadt Nowgorod jedoch russisch und das mittlerweile zu Russland gehörende Smolensk war lange weißrussisch. Die Kiewer Rus gehört insofern zur Geschichte oder Vorgeschichte aller drei Völker, auch wenn insbesondere Ukrainer und Russen sich gegenseitig Ansprüche absprechen.[119] |
Mongolensturm, Großfürstentum Litauen und der Aufstieg des Großfürstentums Moskau |
Das Senioratsprinzip zur Regelung der Erbfolge der Rurikiden förderte die Zersplitterung der Kiewer Rus im 12. Jahrhundert und erleichterte die Unterwerfung der zerstrittenen Fürstentümer im Mongolensturm. Die mongolische Invasion der Rus begann 1223 mit der Schlacht an der Kalka; die Übergangsphase bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wird als „dunkles“ Zeitalter bezeichnet.[120] Die russische Nationalhistoriographie spricht vom „Tatarenjoch“ dieser Zeit. Die mongolische Fremdherrschaft führte demnach für zwei Jahrhunderte zu einem Abbruch der Beziehungen zum Westen und förderte die Abkapselung des orthodoxen Russlands.[121] |
Die Fürstentümer der Rus lagen mit unterschiedlicher Intensität im Machtbereich der Goldenen Horde, konnten jedoch eine gewisse innere Autonomie bewahren. Das Großfürstentum Litauen setzte sich anfangs in den nichtbesetzten oder schwächer kontrollierten Gebieten durch und übernahm oder unterwarf Gebiete der alten Rus, darunter 1362 auch Kiew. Seine Fürsten sahen sich explizit als Herrscher über die Rus und konnten mehr als die Hälfte ihres Gebietes übernehmen. Sie blieben jedoch lange heidnisch, selbst als die Mehrheit ihrer Untertanen ostslawisch und orthodox waren, und sie deren Kultur, - etwa die Schriftsprache Kirchenslawisch für ihre Kanzleien - teilweise übernahmen und ihre Angehörigen bei Einheirat in ostslawische Herrschaften zum orthodoxen Glauben übertraten. Die heidnischen Litauer versuchten sogar einen eigenen Metropolitensitz für ihren Herrschaftsbereich zu gewinnen. Sie errangen Siege über den Deutschen Orden, die mongolische Goldene Horde (Schlacht am blauen Wasser, 1362), - und ein gewisses Fürstentum Moskau.[122] Unter den zersplitterten und verfeindeten Fürstentümern im Bereich der Goldenen Horde erwies sich nämlich das kleine und anfangs unbedeutende Moskau, dessen Gebiet zu Zeiten der Rus Teil von Wladimir-Susdal gewesen war, langfristig als das durchsetzungsstärkste. Iwan I. gelang es ab 1325 durch gute Kontakte zur Goldenen Horde einen Vorrang vor anderen Fürstentümern zu erlangen, und zwar dadurch, dass er den Mongolen bei der schwierigen Tributerhebung half. Es gelang ihm, die Zahlungen stellvertretend für die Mongolen einzutreiben, die nun primär mit ihm verhandeln konnten und es nicht mehr mit den einzelnen Herrschaften mussten, wo es Aufstände gegen ihre Steuereintreiber gegeben hatte. Dies schützte sein eigenes Territorium vor mongolischen Übergriffen und erlaubte ihm, seinen Wohlstand beträchtlich zu steigern, so dass er den Beinamen Kalita (Geldbeutel) erhielt. Seine Politik schuf die Basis für den Aufstieg Moskaus.[123] Sein Sohn Simeon hatte gleichfalls gute Beziehungen mit Sarai, der Hauptstadt der Horde, und dem dortigen Herrscher, Özbeg Khan, der Simeons Anspruch auf den begehrten Großfürstentitel von Wladimir gegenüber den berechtigteren Ansprüchen des Fürstentums Twer bestätigte.[124] Dort war jedoch 1327 ein Aufstand gegen die Horde ausgebrochen, der von Mongolen und Iwan Kalita gemeinsam unterdrückt worden war. Kalita schaffte es auch den Metropolitensitz nach Moskau zu verlegen[125]. Auf dem Höhepunkt mongolischer Macht agierte Moskau als enger Verbündeter der Horde, schwächte mit ihrer Hilfe seine Rivalen und profitierte vom Zuzug von Flüchtlingen ins sichere Moskau[126]. Allerdings wurde Moskau langfristig selbst zum Herausforderer der Horde. Sein Fürst Dmitri Donskoi, der verschiedene Fürstentümer einen konnte, errang im Jahre 1380 gegen die Goldene Horde einen Sieg in der Schlacht auf dem Schnepfenfeld, der die mongolische Herrschaft schwächte, aber nicht brach. Dieser Sieg steigerte das Prestige Moskaus, das mittlerweile zum Führer des Widerstandes gegen eine geschwächte Horde geworden war[126]. |
Der Moskauer Großfürst Iwan der Große (1440–1505) beendete fast 100 Jahre später in der Schlacht von Alexin 1472 und dem Stehen an der Ugra die Mongolenherrschaft und wurde de facto zum Begründer eines zentralisierten russischen Staates, indem er Schritt für Schritt die umliegenden Länder der alten Rus „einsammelte“ (russisch собирание земель, sobiranije semel), darunter die Republik Nowgorod. Sein Titel „Herrscher der ganzen Rus“ drückte auch den Anspruch auf den vom Großfürstentum Litauen im 14. Jahrhundert beherrschten westlichen Teil der Rus aus. Dies führte zu langanhaltenden Kriegen im 16. und 17. Jahrhundert mit Polen und Litauen (vgl. Russisch-Litauische Kriege). Unter Iwan dem Großen wurde die russische Gesetzgebung reformiert und der Großteil des heutigen Moskauer Kremls erbaut. Sein Enkel Iwan IV., wegen seiner drastischen Methoden im Westen als „der Schreckliche“ bekannt, begründete 1547 das Zarentum Russland. Unter seiner Herrschaft begann nach der Einnahme der Tatarenhauptstadt Kasan auch die Eroberung Sibiriens, die russische Kosaken erstmals im 17. Jahrhundert bis an den Pazifik brachte. Der Mönch Filofei von Pskow nannte Moskau das Dritte Rom, womit ein Anspruch des Zarentums auf das Erbe Konstantinopels und eine Sonderstellung Russlands erhoben wurde. |
Öffnung Russlands unter Peter dem Großen und Aufstieg zur europäischen Großmacht |
→ Hauptartikel: Russisches Kaiserreich |
Zar Peter I., der Große, Begründer des erneuerten Russischen Kaiserreichs |
An der Wende zum 18. Jahrhundert öffnete Zar Peter der Große das in den alten Strukturen erstarrte Zarentum Russland westeuropäischen Einflüssen und förderte Wissenschaft und Kultur. 1703 gründet er die Stadt Sankt Petersburg, die – seit 1712 als neue Hauptstadt – das Symbol für den russischen Fortschritt werden sollte. Mit dem Sieg gegen Schweden im über 20 Jahre währenden Großen Nordischen Krieg erlangte Russland nach mehr als 150 Jahren der Auseinandersetzung mit Schweden die Vormachtstellung im Ostseeraum (vgl. Nordische Kriege). Russland übernahm die Position Schwedens als nordische Großmacht in Europa. Zur Unterstreichung des neuen Status im diplomatischen Ranggefüge Europas ließ Zar Peter das Russische Zarentum in „Russisches Kaiserreich“ umbenennen und änderte den Monarchentitel offiziell von „Zar“ in „Kaiser“ (russisch Император, Imperator). Auch führte er im Russischen Adel Rangtitel nach europäischem Vorbild ein. |
Katharina die Große führte Peters Expansionspolitik weiter. Unter ihrer Regierung wurde das Krimkhanat („Neurussland“) erobert. Durch die Beteiligung an den drei Teilungen Polens wurde die Westgrenze Russlands weit in Richtung Mitteleuropa vorgeschoben. 1812 fielen Napoleons Truppen in Russland ein und eroberten Moskau, wurden schließlich jedoch vernichtend geschlagen. Dies gab den Auftakt zu den Befreiungskriegen, bei denen russische Truppen mit ihren Verbündeten (Preußen, Österreich, Vereinigtes Königreich u. a.) Napoleon endgültig besiegen und zur Abdankung zwingen konnten. Alexander I. zog als „Befreier Europas“ in Paris ein. Nach dem Wiener Kongress 1814/15 erlangte Russland eine dominierende Rolle auf dem europäischen Festland, die bis zum Krimkrieg 1853–1856 andauerte. Aufgrund der festgefahrenen gesellschaftlichen Strukturen wie der Autokratie und der Leibeigenschaft konnte das agrarisch geprägte Reich jedoch mit den sich rasant entwickelnden Industriestaaten immer weniger Schritt halten. Der verlorene Krimkrieg gegen die Westmächte legte die inneren Schwächen des Reiches offen und gab Anstoß zu einer Phase der inneren Reformen. Diese beschleunigten Russlands wirtschaftliche Entwicklung, doch das Land wurde immer wieder von inneren Unruhen destabilisiert, da die politischen Veränderungen nicht weitreichend genug waren und große Teile der Bevölkerung ausgeklammert wurden. Den „Westlern“, die eine Übernahme westeuropäischer Lebensformen und politischer Institutionen propagierten, standen aber immer auch die nationalromantisch geprägten „Russophilen“ oder „Slawophilen“ gegenüber, die einen eigenen, spezifisch russischen Weg in die Moderne forderten und die pauschale Übernahme westlicher Werte ganz oder zum großen Teil ablehnten. |
In den großen Städten entstand um die Jahrhundertwende ein Industrieproletariat, aber sehr rasch auch eine bürgerliche Mittelschicht. Diese forderte ihren Anteil an der Verfügung über die Staatseinnahmen und die Mitverantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten. Die Angehörigen der Mittelschicht besaßen aber kein gemeinsames politisches Bewusstsein. Sie verstanden unter politischer Freiheit kein moralisches Ziel, sondern meinten damit die Freiheit der materiellen Entfaltung und gerechte Besteuerung.[127] So ließ sich die Mittelschicht auch nicht auf Dauer von den utopischen Entwürfen der Intelligenzija leiten. Eine Anpassung der Verfassungswirklichkeit des Staates, der die Mittelschicht näher eingebunden hätte, fand aber nicht statt. Stattdessen flammte der Terror wieder auf. Die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg führte letztlich zur Russischen Revolution von 1905. Der russische Kaiser Nikolaus II. war jedoch nicht bereit, grundlegende Reformen einzuleiten und ließ ein weitgehend funktionsloses Parlament, die Duma, das er notgedrungen genehmigt hatte, nur kurze Zeit später wieder auflösen. |
Russische Revolution und Sowjetunion |
→ Hauptartikel: Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und Sowjetunion |
Boris Kustodijew: Der Bolschewik (1920) |
Trotzki, Lenin und Kamenew |
Als im Jahre 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, erfasste Russland als Mitglied der Entente eine patriotische Welle – eine Stimmung, die anfänglich alle Kriegsparteien bestimmte, einschließlich des Deutschen Kaiserreichs und dessen Verbündeten (Mittelmächte). Die anfänglichen Erfolge, vor allem gegen Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, wurden bald abgelöst von einem Stellungskrieg, bis 1917 die Moral der russischen Soldaten nachgab und die Front zusammenbrach. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung und die trostlose Versorgungslage führten in der Hauptstadt Petrograd zu Demonstrationen der Arbeiter und Bauern. Nach blutiger Niederschlagung der Demonstranten stürmten diese den Winterpalast und Kaiser Nikolaus II. wurde zum Abdanken gezwungen. |
In Folge kam im Februar 1917 eine provisorische Regierung (unter Beteiligung der Menschewiki und von Sozialrevolutionären) an die Macht, die als Doppelregierung mit Arbeiter- und Soldatensowjets amtierte. Die radikalrevolutionären Bolschewiki stellten hier zunächst eine Minderheit dar. Da die provisorische Regierung zur Enttäuschung weiter Teile der Bevölkerung den Krieg nicht beendete und nötige innenpolitische Reformen nicht in Angriff nahm, gewannen die Bolschewiki unter dem im April aus dem Exil zurückgekehrten Wladimir Iljitsch Lenin an Zulauf und stürzten diese im Oktober 1917. |
Nach der Februarrevolution 1917 erlangten die Frauen in Russland das aktive und passive Wahlrecht.[128] Sie waren sowohl an den Wahlen zu den Sowjets als auch zu den Stadtdumas zugelassen. Im Mai 1917 wurde ein Gesetz beschlossen, das russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern über 20 das Recht verschaffte, die Konstituierende Versammlung zu wählen. Nach der Oktoberrevolution wurde das aktive und passive Frauenwahlrecht in der Verfassung der Russischen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918 festgeschrieben.[129][130][131] |
Aus dem der Oktoberrevolution folgenden Bürgerkrieg zwischen den sozialistischen „Roten“ und den gegenrevolutionären „Weißen“ gingen die Bolschewiki als Sieger hervor. Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, wie auch Finnland, errangen dagegen durch Abwehr der Roten Armee bzw. durch längere Bürgerkriege ihre Unabhängigkeit von Russland. Im Laufe des Bürgerkriegs sowie des darauf folgenden Polnisch-Sowjetischen Krieges verlor Sowjetrussland 1920 Teile Belarus’ und der Ukraine („Kresy“) an Polen. 1921 wurde die russische Sowjetrepublik als Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) ausgerufen, die den wichtigsten Teil der späteren Sowjetunion darstellte. |
Am 30. Dezember 1922 wurde aus dem bisher bestehenden Sowjetrussland die Sowjetunion gegründet und eine staatlich kontrollierte Wirtschaftspolitik ausgerufen. Die Sowjets wurden als Eigentümer von Boden und Produktionsmitteln erklärt. Lenins Tod am 21. Januar 1924 führte zu einem erbitterten Nachfolgekampf, in dem sich Josef Stalin gegen Leo Trotzki durchsetzte. Der Stalinismus zeichnete sich durch gezielten Terror aus. Seit 1928 wurde die staatliche Wirtschaft Fünfjahresplänen unterworfen und die Industrialisierung der Sowjetunion vorangetrieben. Die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion wurde von der Kampagne der „Entkulakisierung“ begleitet. Der stalinistischen Umgestaltung der Gesellschaft fielen Millionen Menschen zum Opfer, sowohl durch direkte Verfolgung mit Ermordung oder Deportierung in Lager, wie auch durch in der Folge auftretende Hungersnöte.[132] Ethnien, denen misstraut wurde, wurden gesondert deportiert. Im Holodomor starben Millionen Ukrainer. |
Im August 1939 schloss die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt mit dem NS-Staat, wobei in einem geheimen Zusatz auch eine einvernehmliche Aufteilung Osteuropas aufgenommen wurde. Dies ermöglichte Hitler Anfang September 1939 den geplanten Angriffskrieg gegen Polen, der mit einem sowjetischen Angriff gegen Ostpolen Mitte September abgestimmt war und zur Teilung des Landes zwischen NS-Deutschland und der UdSSR führte. Im Winterkrieg überfiel die Sowjetunion Finnland und gewann kleinere Teile des Landes, konnte Finnland aber nicht erobern. 1940 wurden Litauen, Lettland und Estland gewaltsam besetzt und der Sowjetunion angeschlossen. |
Ausgebombte Leningrader Frauen verlassen ihre Häuser, Dezember 1942 |
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, der zum Deutsch-Sowjetischen Krieg führte (in der Sowjetunion Großer Vaterländischer Krieg genannt), trat das Land der Anti-Hitler-Koalition bei. Allein während der Leningrader Blockade verhungerten über eine Million Menschen in Leningrad. Insgesamt starben in diesem Krieg geschätzt 27 Millionen Sowjetbürger aus unterschiedlichen Ethnien und Gliedstaaten der UdSSR, davon 14 Millionen Zivilisten.[133] Sie konnte aber im Kriegsverlauf den deutschen Truppen schwere Niederlagen zufügen und siegte im Mai 1945 in der abschließenden Schlacht um Berlin. Nach dem Krieg sicherte sich die Sowjetunion großen Einfluss in den angrenzenden Ländern Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Albanien und in der DDR. In diesen Ländern blieben Hunderttausende sowjetischer Soldaten stationiert. Der Kalte Krieg dominierte bis 1989 die Weltpolitik. |
Der letzte sowjetische Präsident Michail Gorbatschow leitete ab 1987 mit der „Perestroika“ einen Umbau des politischen und wirtschaftlichen Systems in der Sowjetunion ein und förderte mit der Politik der „Glasnost“ die Transparenz und Offenheit der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung, worauf einzelne Unionsrepubliken die Unabhängigkeit von der Sowjetunion anstrebten. Nach dem misslungenen Augustputsch in Moskau 1991 konservativer Kommunisten beschlossen der Präsident Russlands Boris Jelzin und Vertreter der Sowjetrepubliken die Auflösung der UdSSR zum 31. Dezember 1991. |
Russische Föderation seit 1992 |
Die Russische Föderation übt seit 1992 als größte ehemalige Sowjetrepublik (Russische SFSR) die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten der UdSSR aus.[134] In den ersten Jahren ergaben sich innenpolitische Konflikte über den einzuschlagenden Kurs: In der russischen Verfassungskrise 1993 löste Jelzin per Ukas den Volksdeputiertenkongress sowie den Obersten Sowjet Russlands auf, die sich seinen Bemühungen und den Resultaten einer Volksbefragung am 25. April 1993 widersetzt hatten, Wirtschaftsreformen durchzusetzen. Jelzin ordnete eine gewaltsame Stürmung des Parlamentsgebäudes (Weißes Haus) an, in dem sich etwa 100 Parlamentarier und weitere Anhänger verbarrikadiert hatten. Bei der gewaltsamen Niederschlagung eines weiteren Aufstandes gegen ihn am 3. und 4. Oktober gab es in Moskau 190 Tote. Im Dezember billigte die russische Bevölkerung per Volksabstimmung die neue Verfassung der Russischen Föderation (Zweikammersystem, Präsidialverwaltung). |
Boris Jelzin und Bill Clinton 1995 |
Unter Jelzin wurden in Russland Teile der Wirtschaft privatisiert und Reformen versucht. Dabei gelangten wertvolle Unternehmen, Banken und Rohstoffvorkommen, u. a. Mineralöl, bei Versteigerungen weit unter ihrem Wert in den Besitz von Oligarchen wie beispielsweise Sergey Grishin und Roman Abramowitsch, die gute Beziehungen zu Herrschenden hatten bzw. diesen Schmiergelder und Schutzgelder zahlten.[135] Durch lukrative Geschäfte mit dem Staat konnten die Oligarchen ihren Profit zum Nachteil des Volkes noch steigern. Die Oligarchen wurden politisch einflussreiche Akteure, denen die Absicherung ihrer Positionen wichtiger war als demokratische Prinzipien und Prozeduren.[136] |
1991/92 gab es eine Rubelkrise. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) lag 1993 um 12 % unter dem von 1992 und um 29 % unter dem von 1991. Die Industrieproduktion war 1993 um 31,3 %, die Konsumgüterproduktion um 24,8 % und die Nahrungsmittelproduktion um 27,3 % niedriger als 1991. Im Oktober 1993 waren 2400 Produktionsbetriebe vorübergehend stillgelegt, im Februar 1994 4280. Wegen Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern kam es zu gesamtwirtschaftlich folgenschweren Streiks, z. B. in den Kohlerevieren.[137] |
Die Inflation war jahrelang hoch und große Teile der Bevölkerung verarmten. 1998 rutschte das Land in die Zahlungsunfähigkeit (→ Russlandkrise). Insbesondere in der Übergangszeit nahmen aufgrund des Erstarkens regionaler Autonomien nach dem Ende der stark zentralistischen Sowjetzeit zentrifugale Strömungen an den Rändern des Landes zu. So sah sich seit Mitte der 1990er-Jahre die russische Regierung mit Unabhängigkeitsbewegungen und Machtkämpfen in zahlreichen Teilrepubliken konfrontiert, besonders im Ersten Tschetschenienkrieg 1994/96, bei dem zehntausende Menschen starben. Von Frühherbst 1999 bis Anfang 2000 brachten russische Truppen den Großteil Tschetscheniens wieder unter ihre Kontrolle (vgl. Zweiter Tschetschenienkrieg). |
Entwicklung der Kriminalitätsrate seit 1960 |
Die chaotischen Jahre unter Jelzin verunsicherten viele Menschen. Die Geburtenrate war niedrig; Kriminalität, Alkoholismus etc. waren verbreitet. In der Endphase von Jelzins Herrschaft bestand die russische Außenpolitik fast nur noch aus leeren Drohungen und Reaktionen. Dies betraf z. B. die NATO-Osterweiterung und den Kosovokrieg. Auch einige markante Ereignisse wie der Untergang der Kursk im August 2000, der tagelange Brand des Moskauer Fernsehturms Ostankino und das Ende der Mir im März 2001 förderten bei vielen Russen das Gefühl, Russland sei von der Rolle einer Supermacht auf die eines Schwellenlands zurückgefallen.[138] |
Wladimir Putin während seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Er klagte, dass die USA angeblich nach einer monopolaren Welt strebten. |
Hohe Rohstoffpreise (Öl, Gas, Stahl), eine Steuerreform und Kapitalrückfluss förderten die wirtschaftliche Erholung nach dem Amtsantritt Wladimir Putins. Nach der Geiselnahme von Beslan im September 2004 leitete Putin einen grundlegenden Umbau des Staatswesens ein, der Macht und Kontrolle in noch stärkerem Maß als bisher in den Händen des Präsidenten konzentrierte. „Für Putin ging es später darum, mit Hilfe einer ‚Machtvertikale‘ der Exekutive auf allen staatlichen Ebenen die Alleinherrschaft des Kreml zu sichern.“ Die Machtvertikale wird von westlichen Beobachtern wie z. B. Margareta Mommsen (2012) als in jeder Hinsicht unvereinbar mit Vorstellungen einer eigenständigen Rolle des Parlaments, von wechselnden parlamentarischen Mehrheiten sowie vom freien Wettbewerb politischer Parteien gesehen.[139] Selbst die höchsten politischen Amtsträger verfügten über kein klares Verfassungsverständnis; mit diesem Ansatz könne weder eine Verfassungslegitimität noch eine Verfassungskultur entstehen. „Unterdessen wird der praktizierte Autoritarismus als ein notwendiges Provisorium gerechtfertigt. So beruft sich Putin gerne auf eine ‚Herrschaft per Handsteuerung‘. […] Damit gab er sich überzeugt, dass der politische Prozess weiterhin der persönlichen Lenkung und der ad hoc-Arrangements anstatt der Verfassung folgen müsse.“[139] |
Subsets and Splits
No community queries yet
The top public SQL queries from the community will appear here once available.