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Die Russisch-Orthodoxe Kirche erlebt eine staatlich geförderte Wiederbelebung, insbesondere in ländlichen Gebieten. Viele Klöster wurden gegründet oder wiedererrichtet. Die Kirche zählt gegenwärtig etwa 100 Millionen Mitglieder, von denen jedoch nur 5 bis 10 % regelmäßige Gottesdienstbesucher sind. Religionsunterricht an Schulen wurde 2006 wieder eingeführt. Die Russisch-Orthodoxe Kirche sieht sich als Vertreter der Interessen des Volkes, ohne im Gegensatz zur Regierung zu stehen. Der Staat selbst hingegen sieht die Kirche als Garant für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Nach Einschätzung des Theologen Thomas Bremer vertraute 2008 die Mehrheit der Bevölkerung der Kirche und sieht in ihr eine Institution, die Werte vermittelt und den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft stärkt.[66] 2022 sah er eine große Staatsnähe der Kirche, die sich in historische Muster einfüge: Zwischen Staat und Kirche werde traditionell nicht wirklich getrennt, die Gemeinschaft werde gegenüber Individuen und Partikularidentitäten stets bevorzugt. Der Westen werde als bedrohlich individualistisch und „dekadent“ wahrgenommen, traditionelle Werte wie Nation oder Familie oder die Ehe zwischen Mann und Frau würden – nach Meinung der Kirche – in Russland hingegen nach dem Ende der Sowjetunion wieder bejaht und geschützt. Die Russisch-Orthodoxe Kirche liefere damit Putin eine Herrschaftsbegründung, eine „religiöse Basis für die politische Abgrenzung, die Russland gegen den Westen vorgenommen hat.“[67]
Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist nach Einschätzung von Andreas Heinemann-Grüder heute (2023) Teil der putinistischen Herrschaftsstruktur, Patriarch Kyrill habe mit Wladimir Putin eine prägende Vergangenheit im sowjetischen KGB gemeinsam. Das Konzept der Russki Mir werde von der Kirche militant vertreten, der Krieg gegen die Ukraine nicht allein gerechtfertigt, sondern zum „Gottesdienst“ verklärt: „Die symbiotische Nähe zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Regime unter Putin weist Parallelen zu klerikalfaschistischen Strömungen der 1920er und 1930er Jahre auf“. Der Glaube werde dabei „eher deklamiert als tatsächlich gelebt“.[68]
Eine Kreuzprozession der Altgläubigen-Gemeinde in der Oblast Moskau
Im Verlauf der Geschichte haben sich Abspaltungen vom orthodoxen Glauben vollzogen. Die älteste Abspaltung sind die Altorthodoxen oder Altgläubigen. Weitere aus der Orthodoxie hervorgegangene Glaubensrichtungen sind die Molokanen. Aus ihnen gingen wiederum die Duchoborzen hervor. Beide Religionsgemeinschaften lehnen Reichtum ab, versuchen ein Leben in Bescheidenheit zu führen und suchen nach einer wahrhaft biblischen Gemeinschaft. Von einigen Leibeigenen wurde die Gemeinschaft der Subbotniki gegründet. Diese berufen sich in erster Linie auf das Alte Testament. Viele dieser Sekten oder Gruppierungen waren im Zarenreich willkürlichen Verfolgungen ausgesetzt.
Siehe auch: Liste von russischen Glaubensgemeinschaften außerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche
Andere christliche Konfessionen
In Russland gibt es neben der russisch-orthodoxen Ausrichtung weitere christliche Konfessionen:
Die Römisch-katholische Kirche in Russland war durch die byzantinischen Einflüsse unbeliebt. So dauerte es bis 1705, bis Peter I. erstmals den Bau einer römisch-katholischen Kirche erlaubte. Die Katholiken waren sehr strengen staatlichen Kontrollen unterstellt. Kümmerten sich die Bolschewiki in erster Linie nach der Oktoberrevolution um die Kontrolle der orthodoxen Kirche, wurden die Katholiken später wieder stärker beobachtet. Bis 1930 waren alle Strukturen der Kirche aufgelöst. Nach 1945 gab es im russischen Teil der Sowjetunion nur 20 Gemeinden, denen es untersagt war, Verbindungen untereinander aufzubauen. Heute existieren ungefähr 200 katholische Gemeinden mit etwa 400.000–800.000 Mitgliedern in Russland. Die Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis (Moskau) wurde restauriert und wieder ihrer Bestimmung zugeführt. Seit 2010 gibt es wieder einen Apostolischen Nuntius in Moskau. Die Ukrainische griechisch-katholische Kirche wurde in der russisch besetzten Oblast Saporischschja gemeinsam mit den Kolumbusrittern und der Caritas verboten. Angehörige der Kirche hätten Waffen in Kirchengebäuden aufbewahrt und an anti-russischen Protesten teilgenommen, die katholische französische Zeitung La Croix berichtet dass in Melitopol die Priester deportiert wurden.[69]
Die evangelische Kirche in Russland war früher fast nur unter den Russlanddeutschen und in ihren Kolonien verbreitet. Erst nach der Revolution von 1905 wurden auch für Russen und Ukrainer andere Konfessionen legalisiert. Jedoch gab es auch durch die russlanddeutschen Adventisten und Baptisten erfolgreiche Missionierungsversuche unter der einheimischen Bevölkerung vor der Lockerung der Religionsgesetze. Der Protestantismus erlebte in den 1920er-Jahren trotz des Atheismus der Regierung der Sowjetunion eine Blütezeit (insbesondere die Baptisten, Siebenten-Tags-Adventisten und die Pfingstler). Jedoch wurden die Baptisten, Evangeliums-Christen und die Pfingstler zu zentralistischen Ordnungen gezwungen, um sie besser kontrollieren zu können. Mit den Siebenten-Tags-Adventisten und den Mennoniten geschah dasselbe im Jahr 1963. In der Zeit des Stalinismus wurden viele evangelische Christen aller Strömungen hingerichtet und verfolgt. Im russisch besetzten Luhansk und Donezk werden nach Berichten der evangelikalen Zeitung Christianity Today evangelikale Gemeinschaften heute behindert, unterdrückt, als extremistisch bewertet und ihre Gebäude teilweise beschlagnahmt, eine christliche Bibliothek wurde bewusst zerstört.[70][71]
Wie den meisten Konfessionen war es auch der Neuapostolischen Kirche (NAK) unmöglich vor dem Fall der Berliner Mauer (1989) und des Eisernen Vorhangs in Russland zu missionieren. Seitdem wächst die Zahl der neuapostolischen Christen in Russland stetig. Während es um die Jahrtausendwende 23.500 waren, zählt die Neuapostolische Kirche heute beinahe 40.000 Gläubige. Auch ist sie seit Beginn der 1990er-Jahre staatlich anerkannt.[72][73]
Mit Stand vom April 2017 gibt es etwa 170.000 aktive Zeugen Jehovas in Russland. In der Sowjetunion wurden insbesondere vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bis 1965 viele Zeugen Jehovas inhaftiert und nach Sibirien deportiert (siehe Operation Nord).[74] Seit einigen Jahren führte der russische Staat insgesamt sieben Verbotsklagen gegen die Zeugen Jehovas.[75] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Russland mehrfach zu Schadenersatzzahlungen wegen seines Vorgehens gegen die Religionsgruppe.[76] Am 20. April 2017 wurde die Gemeinschaft von Russlands oberstem Gericht als extremistische Organisation eingestuft und verboten. Der Besitz aller Regionalverbände wurde beschlagnahmt.[77] Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte die Gerichtsentscheidung.[76]
Islam
Verbreitung des Islam in Russland
Die Anzahl der Muslime wird auf etwa 17 bis 20 Millionen Menschen geschätzt, davon 90 % Sunniten. Sie entstammen unterschiedlichen Völkern, darunter 20 kleinere alleine in Dagestan, aber auch Tartaren, Tschetschenen und Arbeitsmigranten (verschiedener Nationalität) aus Zentralasien[78]. Der Islam in Russland ist im Nordkaukasus schon seit dem 7. Jahrhundert verbreitet und damit auf dem heutigen russischen Staatsgebiet älter als die erste russische Staatsgründung und die Christianisierung des Landes. Im Jahr 922 traten auch die Wolgabulgaren zum Islam über und gaben ihn im 13. Jahrhundert an die Tataren weiter. Die einheimischen Völker des Kaukasus und die Turkvölker sind zumeist sunnitische Gläubige. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts waren im Russischen Reich 11,1 % der Gesamtbevölkerung muslimischer Herkunft. Im heutigen Russland ist der Anteil der Muslime mit rund 14 % etwa ebenso groß wie einst in der Sowjetunion. Von 1990 bis 1994 bestand in Russland die „Islamische Partei der Wiedergeburt“. Daneben gibt es auch eine „Islamische Partei der Wiedergeburt Tadschikistans“ sowie zahlreiche weitere Organisationen und Abspaltungen. Zentren des Islam in Russland sind heute neben Kasan und Moskau auch Ufa und Dagestan. Die zunehmende Bedeutung des Islam im Kaukasus gehe gemäß Recherchen der Nowaja gaseta im Jahr 2018 einher mit dem Vertrauensverlust in den Staat.[79]
Über den Russischen Muftirat und die Zentrale Geistliche Verwaltung der Muslime Russlands versucht der Staat den Islam zu institutionalisieren und zu kontrollieren. Verfolgung und Unterdrückung, die im Gefolge des Kampfes terroristischer salafistischer und wahabitischer Gruppen gegen den Staat von den Behörden als Mittel gewählt wurden, haben sich in Regionen mit größeren islamischen Anteilen an der Bevölkerung nicht bewährt, sondern führten eher zu einer islamistischen Radikalisierung. Darum wählte der Staat zunehmend das Mittel regionaler Machtbeteiligung, religiöse Organisationen (siehe Muftiate) werden regional in und von ihren Republiken organisiert und privilegiert und – etwa für Bautätigkeiten – finanziell gefördert, sind gesetzlich aber verpflichtet, die Namen ihrer Mitglieder zu melden. Sie müssen sich in ihren Herkunftsrepubliken registrieren lassen, es ist ihnen verboten, sich über die ihnen zugewiesene geographische Beschränkung hinaus auszudehnen, gesetzlich werden sie gegenüber kleinen Gemeinden bevorzugt. Ausländische Unterstützung wird administrativ verboten oder erschwert, der Staat betrachtet die Finanzen der Organisationen sehr genau. Um Einflüsse aus Saudi-Arabien und der Türkei zu kontrollieren, bedarf Missionstätigkeit einer Genehmigung und ist auf registriertes Personal beschränkt. Einzelne muslimische Texte wie die des türkischen Sufi-Meisters Şefik Can sind verboten. Moscheen, die sich der Einbeziehung widersetzen und durch Spenden selbst finanzieren werden sukzessive geschlossen oder von den Dachorganisationen übernommen, denen auch die Ausbildungseinrichtungen wie die Russische Islamische Universität in Ufa unterstellt sind. Freitagspredigten werden vorgegeben. Insgesamt funktionieren diese Strategien in den Wolga-Republiken besser als im Nordkaukasus, wo der russische Staat in den 1990er und 2000er Jahren islamistisch und mit Gewalt herausgefordert wurde.[80] Für den Erhalt Tschetscheniens als Teil Russlands führte Moskau dort seit 1994 zwei Kriege, verständigte sich mit einer Gruppe des Widerstandes und setzte diese als loyale Führung ein. Das jetzige Oberhaupt der Kaukasusrepublik, Ramsan Kadyrow, regiert Tschetschenien mit eiserner Hand, wofür er beträchtliche Zahlungen aus Moskau erhält, mit denen er islamische Strukturen in (und außerhalb) der Republik finanziert. Unter ihm wurden Regelungen der Scharia durchgesetzt, unter Abweichung von russischen Gesetzen gibt es beispielsweise Mehrehen und sittenpolizeiähnliche Kontrolle. Sein Islam greift so einerseits stark in das Leben der Bewohner Tschetscheniens ein, andererseits orientiert er sich am sufistischen, d.h traditionellen Islam der Region und bekämpft Salafismus und Wahabismus.[78][81][82][83] Wobei allerdings salafistische Einflüsse und Verbindungen zur Golfregion in die von Kadyrov entwickelte Ideologie und Politik eingeflossen sind, so dass bereits von einer Art „Staatssalafismus“ gesprochen wurde. Kadyrow griff traditionelle Vorstellungen von Klan und Familienbanden auf, ebenso wie tschetschenischen Nationalismus, den er mit dem russischen verknüpfte und verband dies mit einer puritanischen Vorstellung des Islam, die aus der Golfregion stammte[84].
Im Gefolge der starken, politischen Betonung „traditioneller Werte“ durch den russischen Staat werden orthodoxe Kirche und organisierter Islam einander bewusst angenähert, die Sicherheitsbehörden arbeiten mit den Muftiaten eng zusammen[78].
Judentum
Die Geschichte der Juden in Russland lässt sich seit dem 4. Jahrhundert nachweisen, als Juden aus Armenien und von der Krim sich auch in Tmutarakan niederließen. Im späten 8. oder frühen 9. Jahrhundert konvertierte ein Großteil der Chasaren zum Judentum. Nach der Vernichtung des Chasaren-Reiches durch Swjatoslaw I. (969) beschränkte sich das Judentum im Wesentlichen auf Kiew, die Krim und den Kaukasus. Im Großfürstentum Moskau wurden Juden 1471 das erste Mal erwähnt. Bis zur Zeit Iwans des Schrecklichen (1533–1584) wurden Juden bis auf einige gegen sie gerichtete Gesetze toleriert. Ab 1721 wurden sie aus dem Russischen Kaiserreich ausgewiesen, bis dies durch die Eingliederung der östlichen Teile Polens (1793 und 1795) unmöglich wurde. Die Juden mussten ab 1791 innerhalb des Ansiedlungsrayons leben, das sich auf dem heutigen Gebiet der Ukraine, Belarus’ und des Baltikums befand.
Große Choral-Synagoge in Sankt Petersburg
Im 19. Jahrhundert unterstützten führende Beamte wie Konstantin Pobedonoszew antisemitische Strömungen in der Bevölkerung. So kam es im südlichen Russland 1881 zu vielen Pogromen, nachdem den Juden fälschlich der Anschlag auf Alexander II. unterstellt wurde. Die Maigesetze von 1882 vertrieben die Juden selbst im Ansiedlungsrayon aus den ländlichen Gebieten; mit Quoten begrenzte man die Anzahl der Juden, die zu höherer Bildung zugelassen wurden, auf 3–10 %. Zwischen 1880 und 1920 flohen mehr als zwei Millionen Juden aus Russland, besonders nach Amerika. 1903 brachen neue Pogrome aus, die sich in der Russischen Revolution nochmals verstärkten und zu zwischen 70.000 und 250.000 Opfern in der jüdischen Zivilbevölkerung führten. Während des Stalinismus wurde in Russisch-Fernost die Jüdische Autonome Oblast mit dem Hauptort Birobidschan gegründet, wo sich nur wenige Juden ansiedelten. Im Vergleich zu den Jahrzehnten davor gibt es heute nur noch wenige Juden, da viele von ihnen nach Deutschland oder nach Amerika, die meisten aber nach Israel ausgewandert sind. Heute gibt es in Russland 87 Synagogen, die meisten davon in Sankt Petersburg und in Moskau, darunter die Moskauer Gedenksynagoge. Die Juden im europäischen Russland sind meist Aschkenasim, östlich davon leben daneben auch einige Bergjuden und Bucharische Juden, die zu den Mizrachim gezählt werden.
Buddhismus
Buddhismus in Russland
In Russland ist auch die tibetische Form des Buddhismus verbreitet, wobei er sich ursprünglich auf die asiatischen Völker (Kalmücken, Tuwiner) beschränkte. Ebenso wie Geistliche und Anhänger praktisch aller anderen Religionen wurden in der Sowjetunion während der kommunistischen Herrschaft auch buddhistische Mönche verfolgt und unterdrückt. Seit der politischen Wende in Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion verzeichnen die buddhistischen Gemeinschaften hingegen wieder Mitgliederzuwachs unter den Angehörigen der traditionell buddhistischen Völker, aber auch seitens der Russen und anderen Nationalitäten.
Schamanismus
Der Schamanismus ist unter der indigenen Bevölkerung in Sibirien wieder weit verbreitet; insbesondere bei den kleinen Völkern des russischen Nordens. Zwar sind heute die meisten Bewohner Sibiriens Christen, dennoch sehen sie es nicht als Widerspruch, die Rituale ihrer Vorfahren zu praktizieren.
Gesellschaft und Mentalität
Die Sowjetunion war ein imperial geeinter Nationalitätenstaat, d. h., Nationalität war dabei ein politisches Instrument zur Konsolidierung der Sowjetmacht,[85] und auch im heutigen Russland treffen sich viele unterschiedliche Mentalitäten. Die Verschmelzung dieser Völker und Konfessionen sowie Einflüsse westlicher wie östlicher Prägungen schufen aber auch markante Eigenarten, die sich im Stereotyp der „russischen Seele“ manifestieren. Dieser Begriff prägt bis heute das Russlandbild; im westlichen Ausland diente der Begriff Russophilen und Kritikern der westlichen Lebensweise als Projektion zu der als gefühlskalt empfundenen eigenen Zivilisation.[86] Die „russische Seele“ wird als ein Hang zu extremen Gegensätzen beschrieben, der sich aus der geschichtlichen Entwicklung der russischen Volkskultur ergeben hat. Diese Extreme äußern sich z. B. in dem Streben nach dem absolut Äußersten, verbunden mit der Bereitschaft zu einer plötzlichen Richtungsänderung;[87] dazu kommen eine ausgeprägte Schicksalsergebenheit, ein Hang zur Geduld, Neigung zum Aberglauben, Leidensfähigkeit oder auch eine sehr starke Heimatverbundenheit. Die bereits erwähnte Alles-oder-nichts-Mentalität kennt keinen Kompromiss und keine goldene Mitte. Bekannt ist auch die Offenheit von Gefühlsäußerungen, positiven wie negativen, denen im Vergleich mit rationalen Erwägungen häufig mehr Gewicht zugemessen wird, was westliche Ausländer oft irritiert. Wichtig ist zudem weiterhin ein starkes Solidaritäts- und Gemeinschaftsgefühl.
„Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“
Bekannt gewordenes Bonmot von 1866 von Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew, das den Nationalcharakter des russischen Volkes beschreibt.
Die russische Gesellschaft ist traditionell kollektivistisch geprägt, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sehr wichtig. Dieses Wertesystem beruht ursprünglich auf der Lebensweise der bäuerlichen Dorfgemeinschaft, dem Mir. Da auch Grund und Boden lange Zeit Gemeingut waren, definiert man sich in Russland seit jeher über die Gemeinschaft und achtet auf die Stimmigkeit von eigenem Verhalten und eigener Meinungsäußerung mit denen des Kollektivs.
Die Familie ist für viele Russen eine wichtige Bezugsgruppe, besonders auf dem Land lebt man in jeder Beziehung eng zusammen. Dort wohnen oft mehrere Generationen in einer Wohnung oder in einem Haus. Die Familie unterstützt sich finanziell und hilft einander bei der Kinderbetreuung und Seniorenpflege, häusliche Gewalt ist weitverbreitet. Staatlicherseits wird angesichts der demographischen Krise das Ideal „traditioneller Familienwerte“ betont, jede Frau soll drei Kinder haben, tatsächlich sind Familien mit nur einem Kind üblich.[88] Die Kollektivorientierung zeigt sich bisweilen auch heute noch im Berufsalltag. Das Kollegium wird als Gemeinschaft erlebt und es erscheint sehr wichtig, diese Gruppenorientierung zu stärken. Vetternwirtschaft (Nepotismus) bei der Stellen- oder Auftragsvergabe ist dabei eine Nebenwirkung.
Seit der Auflösung der Sowjetunion orientierten sich nun aber insbesondere gebildete Bevölkerungsschichten in den Großstädten, die von der neu gewonnenen Reisefreiheit profitieren konnten, an Prinzipien des Individualismus, was ein massives innergesellschaftliches Spannungsverhältnis zur Folge hatte und zu einem zentralen Thema im zeitgenössischen Literatur- und Filmschaffen geworden war. Bildungsnahe, ehrgeizige und kritische Menschen suchten nach dem markanten Bruch mit der westlichen Welt im Jahr 2014 vermehrt Lebensmöglichkeiten im Ausland; die Duma diskutierte 2015 gar ein Verbot von Fremdsprachenunterricht, weil dieser die Abwanderung fördere.[89][90][91] Im Jahr 2019 erhob das Lewada-Zentrum eine repräsentative Umfrage, in der 53 % der Befragten in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren angaben, ins Ausland ziehen zu wollen.[92] Nur etwa 20 % der russischen Bevölkerung besitzen einen Reisepass und waren mindestens einmal im Ausland.[93]
Im Jahr 2014 waren 43 % aller Managerposten in Russland weiblich besetzt; prozentual mehr als in jedem anderen Land der Welt.[94][95]
Gesundheitswesen
Entwicklung der Lebenserwartung
Einwohner (nach Rosstat[96])
Kennzahl 2000 2010 Verän-
derung
Geburten in Tausend 1267 1790 +41,3 %
Sterbefälle in Tausend 2225 2031 −8,7 %
Natürliche Bevölkerungsabnahme in Tausend 959 241 −74,9 %
Säuglingssterblichkeit in Tausend 19,3 13,4 −30,6 %
Lebenserwartung in Jahren 65,3 69,0 +5,7 %
Selbsttötungen in Tausend 56,9 33,3 −41,5 %
Alkoholvergiftungen in Tausend 37,2 14,4 −61,3 %
Abtreibungen pro 100 Geburten 168,8 66,3 −60,8 %
Artikel 41 der Verfassung Russlands garantiert allen Bürgern das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung. Dieser seit Sowjetzeiten bestehende Grundsatz ist zum Teil die Ursache dafür, dass Russland im internationalen Vergleich eine vergleichsweise hohe Anzahl Ärzte und Krankenhäuser pro Kopf der Bevölkerung aufweist.[97][98] Dennoch ist der gesundheitliche Zustand der russischen Bevölkerung schlecht. Gerade beim wirtschaftlichen Niedergang der 1990er-Jahre in Russland wurde das Gesundheitswesen stark getroffen.[99] Infolge äußerst niedriger Entlohnungen der Ärzte und Krankenschwestern wurde die medizinische Versorgung der breiten Öffentlichkeit massiv verschlechtert. So ist inzwischen jede dritte Klinik der 7000 Krankenhäuser im Land dringend renovierungsbedürftig. Schrittweise werden in letzter Zeit die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Einrichtung neuer und Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Zwischen 1999 und 2003 betrugen die Gesamtausgaben für den Gesundheitssektor in Russland im Verhältnis zum BIP durchschnittlich 5,70 %.
In Russland ist der Gesundheitssektor dezentral organisiert. Das Gesundheitsministerium ist auf föderaler Ebene für den gesamten Sektor zuständig. Konkrete medizinische Leistungen (inklusive die Bereitstellung von Krankenhäusern) obliegen aber den Föderationssubjekten und Gemeinden, die rund zwei Drittel der gesamten Budgetausgaben bestreiten. Das russische Gesundheitssystem wird durch einen Mix aus Budgetmitteln und Mitteln aus der Sozialversicherung finanziert. Auf die Verschlechterung der Beziehungen zum Westen folgten ab 2015 Zulassungsbeschränkungen für medizinische Geräte aus dem Ausland.[100]
Statistische Kennzahlen im Bereich Gesundheit und Soziales
Lebenserwartung (2010)* 69,0 Jahre
Lebenserwartung (Männer) (2010)* 63,0 Jahre
Lebenserwartung (Frauen) (2010)* 74,9 Jahre
Säuglingssterblichkeit (2010)* 7,5 von 1000
Kindersterblichkeit (2004) 2,1 %
Müttersterblichkeit (2005)** 28 / 100.000 Geb.
Ärzte* 4,9 / 1000 Einw.
Krankenhausbetten* 10,7 / 1000 Einw.
Zugang zu sauberem Trinkwasser (gemäß WHO Kriterien)** 88 % (Land); 100 % (Stadt)
Geburtenrate (2010)* 12,6 / 1000 Einw.
Sterblichkeit (2010)* 14,3 / 1000 Einw.
Suizide (pro 100.000 Einwohner)* 23,5
Bevölkerungswachstum (2009) +0,008 %
Fruchtbarkeit (2009) 1,54 Kinder / Frau
HIV-Infektionsrate (2005)** 0,78 %
HIV/AIDS-Infizierte (2015) 986.657
Öffentliche Ausgaben für Gesundheit (1997) 4,6 % des BIP
Öffentliche Ausgaben für Altersversorgung (1996) 5,7 % des BIP
Öffentliche Ausgaben für Bildung und Erziehung k. A.
Schulpflicht 7–18 Jahre
Analphabetenquote (2002) ** 0,6 %
Armutsquote 13,0 %
Kinderunterernährung 3 %
Quelle: Rosstat (*); WHO (**)
Siehe auch: Liste der russischen Föderationssubjekte nach Lebenserwartung
Armut
Nach dem Zerfall der UdSSR stieg die Armut bis 1999 auf über 40 % Bevölkerungsanteil und sank danach spürbar. 2002 betrug der Anteil 19,6 % und reduzierte sich bis 2011 auf 12,8 % der Bevölkerung oder 18 Millionen Russen. Offiziell lag dabei das Existenzminimum bei 170 Euro für einen Menschen im arbeitsfähigen Alter; bei Kindern liegt der Wert unwesentlich niedriger, bei Rentnern beträgt er 125 Euro.[101] Der Lebensstandard verbesserte sich regional sehr unterschiedlich. Während besonders in Moskau und St. Petersburg einige Viertel in neuem Glanz zu erstrahlen begannen, war in manchen Regionen die Armut nach wie vor groß. In Tschetschenien und Dagestan lebten mehr als die Hälfte der Menschen in Armut; weitere arme Regionen sind Inguschetien, Tuwa und Kabardino-Balkarien, Mari El, Kalmückien, Burjatien und Altai und Mordwinien. 2011 betrug der Durchschnittslohn 576 € pro Monat. Die großen Einkommensdifferenzen konnten ab 2005 verringert werden, insbesondere die mittlere Einkommensschicht nahm prozentual erheblich zu. Die Renten lagen 2010 das erste Mal seit vielen Jahren über dem Existenzminimum und sollten gemäß Prognosen bis 2014 auf 268 Euro steigen. 2012 zählte etwa die Hälfte der Bevölkerung zu der einkommensschwachen Schicht, die zentrale soziale Bedürfnisse wie Wohnraum oder zusätzliche Ausbildung nicht finanzieren kann.[102] Tatsächlich betrug im Jahr 2014 die durchschnittliche Rente 10.000 Rubel, was 160 Euro entsprach.[103] Renten und Gehälter mussten eingefroren werden. Seit 2014 wurden Gelder der zweiten, kapitalgedeckten Säule der Altersvorsorge zur Deckung des Finanzbedarfs herangezogen.[104] Die Gebiete mit den höchsten Arbeitslosenzahlen in Russland waren um 2021 Dagestan, Inguschetien und Nordossetien.[105]