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Über die Rückentwicklung Russlands zur Autokratie („Road to Autocracy“) und ihre Gründe wird in der Politikwissenschaft diskutiert, ebenso wie über seinen „Grad der Diktatur“ („scholars argue over the degree of dictatorship that has taken hold“), jedoch werde Russland „von niemandem“ noch als Demokratie gesehen.[212]
Faschismusdiskussion
Im Frühjahr 2022 – nach Beginn der Invasion der Ukraine – vermehrte sich der bestehende Diskurs, ob Russland unter Putin faschistisch zu nennen sei. Alexander J. Motyl hatte schon 2009 geschrieben, dass sich Russland seit dem Machtantritt Wladimir Putins in Richtung Faschismus bewege. Das System sei allerdings erst mal „faschistoid“ und noch nicht konsolidiert.[213] Leonid Luks widersprach ihm damals mit dem Argument, Putin sei stabilitätsorientiert und nicht revolutionär, ein Vergleich mit dem Nationalsozialismus sei ebenso falsch wie einer mit dem italienischen Faschismus, der immerhin eine revolutionäre Neugestaltung Italiens angestrebt habe. Es fehle bei Putin an der für faschistische Systeme so typischen Verherrlichung von Krieg und Gewalt. Echte russische Faschisten wie der Publizist Alexandr Dugin, der einen imperialen und endgültigen Krieg gegen den Westen vorschlage, hätten in Russland bislang nur begrenzten, wenn auch wachsenden, Einfluss. Die Darstellung der russischen Regierungsform als faschistisch laufe Gefahr, das Risiko eines Raumgewinns des echten russischen Faschismus um Publizisten wie Dugin zu unterschätzen.[214]
Die 2009 noch offene Entwicklung des Systems verlief bis 2022 derart, dass Motyl Russland heute einen „faschistischen Staat“ nennt.[215] Michail Jampolski schrieb 2015 von nationalem (russischem) Exzeptionalismus (vgl. Exzeptionalismus) und Intoleranz auch gegenüber Demokratie; die russische Gesellschaft kultiviere „Gruppen von Grundvoraussetzungen“ gemäß Wilfred Bion. Die zusätzliche projektive Identifikation einer sich postimperial gedemütigt fühlenden Nation verglich er mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Österreich. Individualität werde abgelehnt, vorherrschend sei eine Ablehnung der Differenzierung von Persönlichkeiten, dies führe zu noch mehr Intoleranz gegenüber Abweichungen von einem einzigen Denk- und Verhaltensmuster.[216]
Bereits im Jahr 2014 wies Timothy Snyder darauf hin, dass die Ideologie Putins faschistische Wurzeln habe[217] im Bezug auf den von Putin oft zitierten Iwan Iljin, den „Philosophen des russischen Faschismus“ russisch-christlicher Ausprägung. Iljin erklärte den Faschismus einer „auserwählten“ Nation als einzige mögliche Erlösung aus einer seit der Schöpfung andauernden Schande.[218] 2022 schrieb Snyder, der Glaube, dass Politik mit der Wahl des „richtigen“ Feindes beginne, und die Rede von „heilender Gewalt“ sei zweifellos faschistisch. Die maximale Selbstbezogenheit und der groteske Widerspruch von Putins Kriegs-Rechtfertigungen bestätigten nur den offen vorliegenden russischen Faschismus.[219] Der Historiker Michael Khodarkovsky urteilte im Journal of East Asian Affairs kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, dass dieser Krieg klargemacht habe, dass Putins Regime nicht eine reine Autokratie sei, sondern es sich um Faschismus handele, wie er aus dem 20. Jahrhundert bekannt sei. Als Merkmale nennt er imperialistische Nostalgie, Restauration und Expansionismus und einen, seine Männlichkeit und Entschlossenheit herausstellenden Führer.[220]
Auch der russische Politologe Wladislaw Leonidowitsch Inosemzew hält Putin für einen faschistischen Herrscher; Russland erfülle nun im Jahre 2022 „mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht“. Man könne Putin nur verstehen, wenn man davon ausginge, dass er weder Politiker noch Militär ist, sondern ein Geheimdienstler, dem Loyalität, Vertrauen und Netzwerke wichtiger sind als Institutionen. Beim KGB galt, wie in der organisierten Kriminalität, zu der Putin in seiner Leningrader Zeit enge Verbindung gehabt habe, ein „Kult von Macht und persönlicher Loyalität“. Die Kluft zwischen Putins Russland und dem demokratischen Westen sei um das Jahr 2006 entstanden, „als er feststellte, dass es in der atlantischen Welt keine Staatsoberhäupter gab, mit denen er von starkem Mann zu starkem Mann reden konnte“, der Westen aber „andererseits Russland Werte und Verfahren ‚aufzwingen‘ wollte, welche die Macht Putins selbst hätten vernichten können.“[221][222][223]
Der Politikwissenschaftler Stefan Meister nannte das Regime um Putin „zunehmend faschistisch“ und ging davon aus, dass Angst die russische Gesellschaft vermehrt prägen werde.[224] Faschismus sei ein aufgeladenes Wort, befand hingegen Robert Gellately: Man könne natürlich Putin „in die eine oder andere Definition von Faschismus hineinzwängen“. Er würde ihn nicht als Faschisten sehen, sondern als jemand, der in einer Zeit voller Gewalt sozialisiert wurde; Gulag, Geheimpolizei, Repression – stets sei sowjetische Gewalt „extrem brutal“ gewesen. Irgendwann würden die Russen die Lügen erkennen und der Polizeistaat werde ihr Alibi für ihr Nichtwissen sein.[225] Ulrich Schmid sagt, der Gedanke des Faschismus liege zwar nahe, aber „das jetzige russische System einfach als faschistisch zu bezeichnen, ebnet wohl mehr ein, als dass wir Konturen erkennen können“.[226] Die Politikwissenschaftlerin Marlene Laruelle kommt in ihrer Analyse des politischen Systems ebenfalls zu dem Ergebnis, dass man es nicht faschistisch nennen könne, denn die Macht stütze sich nicht auf die Mobilisierung der Massen, sondern profitiere im Gegenteil vielmehr von der Atomisierung der Gesellschaft.[227] Die beiden vergleichenden Faschismusforscher Roger Griffin und Stanley Payne (2022) lehnen auch im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine 2022 eine Einordnung Putins als „Faschisten“ ab, da seine Ideologie nicht revolutionär, sondern reaktionär ausgerichtet sei. Zwar hält Payne fest, dass Putins Regime das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges „nächstliegende Analogon zum Faschismus in einem großen Land“ darstellen würde. Dem Vergleich mit Mussolini und Hitler hält Payne dennoch entgegen, dass Putin „als Apparatschik aufgewachsen“ und somit „ein Produkt des russischen Staates“ sei, der keine „dynamische und charismatische Bewegung im faschistischen Stil“ aufgebaut habe. Payne konstatiert, Putins politisches System sei „eher eine Wiederbelebung des Glaubensbekenntnisses von Zar Nikolaus I. im 19. Jahrhundert, der Orthodoxie, Autokratie und Nationalität betonte, als eines, das den revolutionären, modernisierenden Regimen von Hitler und Mussolini“ ähnelt. Griffin hält an einer Betrachtungsweise des Putin-Regimes als illiberale Demokratie fest und sieht Russland stattdessen ideologisch in einer Reihe mit Narendra Modis Indien. Man könne jedoch auch einen Vergleich zum ultranationalistischen Regime Japans während des Zweiten Weltkrieges ziehen, das ebenfalls einige Elemente des Faschismus übernahm, ohne aber selbst zu einem authentisch faschistischen Regime zu werden. Anders als beim revolutionären Ultranationalismus der Faschisten, würden diese Staatsführer nicht versuchen, das bisherige System zu zerstören, sondern es stattdessen aushöhlen und in ihrem Sinne benutzen.[228] Ulrich Herbert lehnt eine Charakterisierung des Systems Putins als faschistisch gleichfalls ab, dazu fehle es an einer tragenden Massenbewegung. Vergleiche mit Hitler seien disproportional, es sei falsch jede brutale Rechtsdiktatur als faschistisch zu bewerten.[229]
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hält Russland für einen neuen Typ eines totalitären Systems, es seien „ein stalinoider Kern und eine faschistoide Außenhülle zu erkennen“. Putin beziehe sich sowohl auf Stalin als Eroberer wie auf ältere Traditionen des russischen Imperialismus, das Konzept der Russki Mir habe er von faschistischen Quellen übernommen. Habe seine Herrschaft bislang auf der Passivität der Gesellschaft beruht, müsser er sie nun propagandistisch und militärisch mobilisieren und ihre Zustimmung erpressen, um den Krieg zu gewinnen. Das führe durch Radikalisierung und Intensivierung der Repression zu „Familienähnlichkeiten“ mit Faschismus und Stalinismus, ohne dass das neue System mit den Vorgängern identisch wäre, weil gewichtige Unterschiede verblieben. Es handele sich dennoch um eine Art Rekombination von Stalinismus und Faschismus, wobei beider Intensität noch nicht erreicht werde. Es lediglich eine Autokratie oder ein illiberales System zu nennen, sei aber eine Verharmlosung.[230]
Die britischen Politikwissenschaftler Nicholas Michelsen, Pablo De Orellana und Filippo Costa Buranelli ordnen Russland unter Putin in eine „reaktionäre Internationale“ der Neuen Rechten ein, zu der sie neben anderen auch Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien, Xi Jinping in China und Marine Le Pen in Frankreich rechnen. Diese würden sich miteinander solidarisieren, wobei sie aber eher pluralistische Werte betonen würden. Dies unterscheide sie von der Solidarität faschistischer Regime in den 1930er und 1940er Jahren.[231]
Föderale Gliederung
→ Hauptartikel: Föderale Gliederung Russlands
Föderationskreis Fläche
(km) Einw.
gesamt Einw.
(je km²) Farbliche
Darstellung
Fernost⁠* 6215900 6692865 1.1 
Nordwestrussland 1677900 13974466 8.3 
Sibirien⁠* 5114800 20062938 3.9 
Südrussland (mit Krim) 442920 15689400 35.4 
Nordkaukasus 170439 9108737 53.4 
Ural 1788900 12373926 6.9 
Wolga 1038000 31154744 30.0 
Zentralrussland 650700 38000651 58.4 
Russland gesamt 17074636 147056131 8.6
* Im November 2018 wechselten die Republik Burjatien und die Region Transbaikalien vom Föderationskreis Sibirien zum Föderationskreis Ferner Osten. Dies ist in den obenstehenden Zahlen noch nicht berücksichtigt.
Ebenen und Einteilung
Republik Stadt Region
Gebiet Autonomer Kreis Autonome Oblast
Der russische Föderalismus ist geprägt durch eine Kombination von ethnoföderalen Republiken und territorial-föderalen Gebieten. Bereits unter Präsident Boris Jelzin gab es Versuche, den asymmetrischen „Vertragsföderalismus“ (der Gliedstaaten zeitweise die Möglichkeit gab, ihre Macht mit der Zentrale in Moskau auszuhandeln) einzuschränken, unter Wladimir Putin erfolgte eine Rückkehr zur Zentralisierung und Kontrolle.[232] Die Einteilung des Landes wurde im Wesentlichen aus der Sowjetzeit übernommen, sieht man von der Statusanhebung der meisten Autonomen Gebiete zu Republiken und der Aufteilung der vormaligen Tschetscheno-Inguschetischen ASSR in zwei Republiken ab. Russland gliedert sich nach Artikel 65 der russischen Verfassung in 83 Föderationssubjekte. Dazu zählen 21 Republiken, neun Regionen (Krai), 46 Gebiete (Oblast), zwei Städte föderalen Ranges (Moskau, Sankt Petersburg), ein Autonomes Gebiet und vier Autonome Kreise. Dass ukrainische Gebiete annektiert wurden und als dem Territorium Russlands zugehörig beansprucht werden, wird international abgelehnt. Die Republiken wurden nach den jeweils dominierenden nichtrussischen Volksgruppen definiert, wenngleich ihre Grenzen nicht immer mit den ethnischen übereinstimmen, während die Gebiete in den übrigen, mehrheitlich von Russen bewohnten Teilen des Landes nach rein administrativen Gesichtspunkten gebildet wurden. Territorien, in denen kleinere nichtrussische Minderheiten leben, erhalten den niedrigeren Rang eines Autonomen Gebietes, beziehungsweise Autonomen Kreises. Obwohl alle Föderationssubjekte formal gleichgestellt sind, sind nur die Republiken berechtigt, eine eigene Verfassung zu erlassen. Sie können zudem internationale Verträge unterzeichnen, solange sich diese an die russische Verfassung halten. Besonderheiten der Republiken bestehen zudem in der traditionellen Namensgebung, der Anzahl der Abgeordneten in Regionalparlamenten und spezifischen Gesetzgebungskompetenzen.
Bezogen auf Bevölkerung, Fläche und relativen Wohlstand unterscheiden sich die Föderationssubjekte mitunter erheblich. Gemeinsam haben sie, dass ihre Steuerhoheit nur „minimal“ existiert und ihre Kompetenzen stark zugunsten der Zentrale beschnitten sind. Geteilte Zuständigkeiten von Föderation und unterer Ebene werden faktisch von Moskau wahrgenommen.[233]
Im Jahr 2000 schuf Präsident Putin per Dekret sieben Föderationskreise, die jeweils mehrere Föderationssubjekte zu einer größeren Einheit zusammenfassen. Ziel dieser Reform war die Stärkung der vertikalen Machtverteilung und eine Verschärfung der Kontrolle über die regionalen Machthaber. Im Jahr 2010 wurde zudem der Föderationskreis Nordkaukasus, durch Ausgliederung aus dem Föderationskreis Südrussland, als achter Föderationskreis geschaffen. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland[234] bildete die Krim ab dem 21. März 2014 einen eigenen (neunten) Föderationskreis, der per 28. Juli 2016 aufgelöst und dem Föderationskreis Südrussland angeschlossen wurde.
Neben den genannten zwei hierarchischen föderalen Ebenen (1. Föderationskreis, 2. Föderationssubjekt) gibt es noch eine dritte eigenständige Verwaltungsebene, die der kommunalen Selbstverwaltung (Rajon). Deren administrative Leiter werden von der Bevölkerung direkt gewählt. Die Regionen sind gegenüber den kommunalen Selbstverwaltungsorganen administrativ höherstehend und weisungsberechtigt.
Die Oblaste und Kraje sind im Unterschied zu den Republiken keine Gliedstaaten. Sie verfügen nur über Statuten anstelle von Verfassungen. An der Spitze der Föderationssubjekte steht ein Oberhaupt, Föderationssubjekte werden von dem Leiter der Administration geführt, der im Sprachgebrauch allgemein als Gouverneur wiedergegeben wird. Die gesetzgebenden Körperschaften in den Republiken sind sowohl Einkammer- als auch Zweikammersysteme. In den Gebieten besteht die parlamentarische Vertretung nur aus einer Kammer.
Sonderfall Tschetschenien
Tschetschenien spielt innerhalb des föderalen Systems Russlands eine Sonderrolle, de facto ist es ein „Staat im Staat“, der der russischen Justiz und föderalen Polizeikräften weitgehend entzogen ist. Religionsfreiheit wird im Rahmen einer sunnitisch-islamistischen Herrschaftsideologie nicht länger gewährt. Alleine „der seidene Faden persönlicher Loyalität zwischen Kadyrow und Putin“ bindet die Republik noch an Russland, Kadyrow verfügt über eigene Truppen, deren Loyalität zu Putin er öffentlich demonstriert, deren Existenz aber selbst auch eine Warnung darstellt.[235]
Auswahl und Kontrolle der Gouverneure
Während sich in den ersten Jahren der Russischen Föderation unter Boris Jelzin ein Föderalismus mit regionalen Zentren herausbildete erfolgte unter Putin ein zentralisierender „Prozess sukzessiver Entmachtung der föderalen Institutionen zugunsten der Präsidialadministration sowie der Personalisierung der politischen Macht“.[236]
Zwischen 2005 und 2012 wurden die Gouverneure und Republikoberhäupter nicht mehr von der Bevölkerung gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt. Seit 2012 werden die Kandidaten vom regionalen Parlament nominiert, danach folgt eine Konsultation der Kandidaten mit dem Präsidenten. Anschließend findet eine regionale Wahl statt, in welcher die Kandidaten mindestens 50 % der Stimmen erhalten müssen, um gewählt zu werden.[195] Der Präsident kann die Gouverneure mit der Begründung eines Vertrauensverlustes entlassen.[237] Nach Ansicht Julian Wallers wurde die erneut eingeführte Möglichkeit der Gouverneurswahl aber „durch noch stärkere Wahlmanipulation in den Regionen wieder ausgehöhlt“.[196] Für die Entlassung müssen seit 2020 keine weiteren Begründungen mehr gegeben werden, die Kontrolle des Kreml über die Gouverneure und Regionen wurde damit weiter ausgebaut, so dass die Frage gestellt wurde, ob Russland überhaupt noch als föderaler oder nicht bereits als unitarischer Staat erscheint. Die Verwendung des Titels „Präsident“ für ein Oberhaupt eines Föderationssubjektes wurde explizit untersagt, bezogen war dies auf die Republik Tatarstan, die sich vormals Sonderrechte herausgehandelt hatte.[238] Bei der Auswahl der Gouverneure achtet der Kreml darauf, dass sie zu ihren Regionen möglichst geringe Bindungen aufweisen.[239]
Zwischen 2012 und 2021 fanden 121 Wahlen von Gouverneuren statt, in denen lediglich vier Kandidaten, die nicht in der Gunst Putins standen, ihre Wahlen gewinnen konnten. Nur einer von ihnen blieb letztlich Gouverneur, ein anderer wechselte in die Duma, ein weiterer trat unter Druck zurück; ihm wurde eine erneute Kandidatur verboten, während Sergei Furgal, Oberhaupt der Region Chabarowsk, unter dem Vorwurf zweier Morde, die er in seiner Zeit als Geschäftsmann in Auftrag gegeben haben soll, verhaftet wurde.[240] Seine Verhaftung, Entlassung und das Gerichtsverfahren in Moskau führten in seiner Region zu Massenprotesten von Anhängern, die den Grund für die Verhaftung darin sahen, dass Furgal seine Kandidatur gegen den Willen und gegen den Kandidaten des Kreml aufrechterhalten hatte und in einer Protestwahl tatsächlich gewählt worden war.[241][242]
Menschenrechte, Kriminalität, Korruption und Justiz
Menschenrechte und Kriminalität
→ Hauptartikel: Menschenrechte in Russland
Demonstration in Moskau am 13. Januar 2013
Laut einem im September 2023 vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vorgestellten Bericht, werden Menschenrechte in Russland „systematisch und in eklatanter Weise verletzt“. Als Beispiel führte eine UN-Menschenrechtsbeauftragte die Festnahme und Anklage von 20.000 Anti-Kriegs-Demonstranten, die gegen den russischen Militäreinsatz in der Ukraine protestiert hatten, an. Sie erklärte, dass die Zivilgesellschaft von russischen Behörden mundtot gemacht wurde. Es gebe „keine unabhängigen Medien“ mehr, „zivilgesellschaftliche Organisationen“ wurden „geschlossen“.[243][244] Von internationalen Bürgerrechtsorganisationen und dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland werden die Einschränkungen der Pressefreiheit seit dem Jahr 2001 kritisiert. Die staatliche Einflussnahme im Bereich des Fernsehens ist komplett; alle landesweit sendenden TV-Stationen sind entweder direkt in staatlichem Besitz oder unter staatlicher Kontrolle. Im Radiobereich ist die Situation ähnlich. Offiziell gibt es zwar keine Zensur durch die Regierung, durch Repressionen und Verbote von regimekritischen Sendern sowie die Eigentumsverhältnisse und teilweise Selbstzensur findet diese aber faktisch statt.[245] Drei von insgesamt sechs Voten beim Treffen des Menschenrechtsrates des Präsidenten im Oktober 2017 hatten den durch die staatlichen Medien und deren Propaganda geschürten Hass in der Gesellschaft beklagt.[246][247]
Die Tötungsrate in Russland unterlag zwischen 1990 und 2017 ausgeprägten Schwankungen zwischen 30,5 Tötungen (im Jahr 1995) und 9,2 Tötungen (im Jahr 2017) je 100.000 Einwohner. Der Staat schütze die Bürger nicht, klagten 2017 die Nowaja gaseta sowie die geflüchtete Julija Latynina.[248] Jährlich werden in Russland 70.000 bis 100.000 Personen in Russland vermisst. Davon werden 25 % (17.500 bis 25.000 Personen) dauerhaft als Vermisste Person eingestuft, weil sie verschollen bleiben.[249] Auch ist häusliche Gewalt in Russland ein gesellschaftliches Problem. 40 % aller Gewaltverbrechen in Russland werden in den eigenen vier Wänden, innerhalb der Familie, begangen.[250] Diese Gewalt richtet sich insbesondere gegen Frauen. So sterben dadurch in Russland laut Angaben des Innenministeriums 12.000 bis 14.000 Frauen jährlich.[250][251]
Wiederholt kommt es zu Anschlägen auf Oppositionelle oder Brandanschlägen auf deren Eigentum. Besondere Aufmerksamkeit erregten die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser 1999, hinter denen man staatliche Täter vermutet. Auch kursierten Listen mit Adressangaben von Oppositionellen im Internet.[252] Polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungen enden hingegen dort bzw. werden erst gar nicht begonnen, wo sie einflussreiche Politiker berühren.[198] Seit 2015 drohen auch jeder Einzelperson, die sich mit einem improvisierten (oder gar leeren) Protestplakat auf die Straße stellt, bis zu fünf Jahre Haft.[253] In Russland saßen im Jahr 2013 geschätzte 600.000 Menschen in „strenger Lagerhaft“,[254] darunter nicht nur nach Meinung der Menschenrechtsorganisation Memorial auch etliche politische Gefangene.[255] Etwa 140.000 Gefangene waren im Frühjahr 2019 wegen Drogenmissbrauchs in Haft aufgrund des Paragraphen 228.2, dessen Missbrauchsmöglichkeiten schon länger bekannt waren[256][257] und der durch den Skandal um den Journalisten Iwan Golunow international bekannt wurde.[258] Im August 2020 war die Zahl der inhaftierten Sträflinge, Verdächtigen und Angeklagten in russischen Straf- und Untersuchungshaftanstalten laut dem Bundesgefängnisdienst (FSIN) auf weniger als 500.000 gesunken. Den Angaben der FSIN zufolge wurde das auf den Einsatz alternativer, nicht-inhaftierender Strafen sowie eine Liberalisierung des Strafvollzugssystems zurückgeführt.[259]
Im Dezember 2015 unterschrieb Putin ein Gesetz, wonach das russische Verfassungsgericht auf Antrag der Regierung Urteile internationaler Gerichte außer Kraft setzen kann, was in erster Linie Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) betreffen sollte.[260] Auch für den Kulturbereich wurde eine „nicht greifbare Zensur“ beschrieben.[261]
Homosexualität in Russland ist weitgehend tabuisiert. Die gesetzlichen Regelungen beinhalten unter anderem ein Verbot „homosexueller Propaganda“ (etwa der Regenbogenflagge), was von Kritikern als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, die Versammlungsfreiheit und Meinungsäußerungsfreiheit gewertet wird.
Unter dem Vorwand der Extremismusbekämpfung wurden die Freiheiten religiöser Minderheiten stark eingeschränkt.[262] 2016 wurde es Angehörigen nicht registrierter Religionsgemeinschaften verboten, mit anderen über ihre religiöse Überzeugung zu sprechen.[263] Im März 2017 beantragte das russische Justizministerium ein Verbot der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas und all ihrer Aktivitäten,[264][265] das im April 2017 umgesetzt wurde.[266]
Auf der Krim hat sich die Menschenrechtslage seit der Besetzung durch Russland erheblich verschlechtert. Laut einem Bericht des UNHCHR kommt es immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen und Folter, auch eine außergerichtliche Hinrichtung ist dokumentiert.[267] Am brisantesten ist die Menschenrechtslage seit Jahren im Kaukasus, namentlich in Tschetschenien. Die Überprüfung von Bürgerrechten, z. B. bei Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, findet nach dem Gesetz vor dem Obersten Gerichtshof Russlands statt.
Korruption
→ Hauptartikel: Korruption in Russland
Protest gegen Korruption in Nischni Nowgorod, 2017
Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International lag Russland mit 28 von möglichen 100 Punkten im 2022er-Ranking weltweit auf Platz 137 unter 180 Staaten und an letzter Stelle aller europäischen Staaten.[268]
Im Jahr 2016 ordnete Präsident Putin persönlich für Kontrollbehörden eine „Kontrollpause“ an. Die angeblichen Sicherheitskontrollen hatten kaum je der Sicherheit gedient, sondern zum größeren Umfang der Bereicherung. Ein Durchbrechen der Korruptionsketten sei auch deshalb kaum möglich, weil saubere Beamten kein Geld nach oben abgeben können und deshalb aus dem Amt gedrängt werden oder Posten für ehrliche Beamte wegen Ablösesummen erst gar nicht zugänglich seien, schreibt Jens Siegert, langjähriger Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.[269] Die Nähe zur Staatsmacht ermöglicht Geld und Privilegien:[270] Jelena Tschischowa beschreibt denn auch nicht nur die alltägliche Korruption, sondern auch, wie der Umfang mit der Nähe zur Macht im Kreml zunimmt, und nennt die Gemeinsamkeit: „In einem autoritären Land ist «Freund» ein Schlüsselbegriff.“[271] Alexei Nawalny und seine Anti-Korruptions-Organisation deckten zahlreiche Fälle von persönlicher Bereicherung und Nepotismus auf höchster Ebene auf, darunter auch die Existenz des sogenannten Palast Putins.
Justiz
Die Unabhängigkeit der Richter wird zwar verfassungsrechtlich verbürgt, tatsächlich jedoch stehen Gerichte und Staatsanwaltschaft unter Einfluss der Exekutive. Auf Urteile wird unmittelbar oder mittelbar hingewirkt. Die Richter müssen alle bei Einstellung ein juristisches Hochschulstudium und fünfjährige Berufstätigkeit nachweisen, sie werden jedoch nicht aus der Rechtsanwaltschaft oder aus der Rechtswissenschaft, sondern aus Justiz und Sicherheitsbehörden rekrutiert. In den Gerichten spielen die Gerichtspräsidenten eine große Rolle, sie weisen den Richtern die einzelnen Fälle zu und können diese ihnen auch während des Verfahrens entziehen, sie entscheiden ferner über die Vergabe von jährlichen Bonuszahlungen und über die Vergabe von Dienstwohnungen[272]. Richter in Russland sind mehrheitlich Bundesrichter, über ihre Ernennung entscheidet eine Kommission in einem komplexen Verfahren und unter Vorbehalt der Zustimmung des Staatspräsidenten. Die Kommission besteht „aus vier Vertretern der Richterschaft, sieben Leitern verschiedener Abteilungen der Präsidialverwaltung, dem stellvertretenden Innenminister, dem 1. stellvertretenden Direktor des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) und dem Generalstaatsanwalt. Die Sitzungen dieser Kommission sind nicht öffentlich, die Entscheidungen müssen nicht begründet werden, sie sind ferner endgültig und nicht anfechtbar. Die Richter der obersten Gerichte werden gänzlich ohne Beteiligung der Richterschaft hinter verschlossenen Türen ausgewählt.“[273] Die Exekutive wirkt in die Gerichte hinein, auf sie interessierende Fälle wird per „Telefonjustiz“ Einfluss genommen. Die Staatsanwaltschaft kann in Zivilfälle eingreifen und ein Urteil vorschlagen, die Exekutive kann außerdem die Staatsanwaltschaft anweisen Urteile nach eigenem Ermessen aufheben und neu aufrollen zu lassen.[272][273]
Sind die Fälle politisch nicht relevant, hat die russische Justiz mehr Raum, ihre Entscheidungen selbständig zu treffen. Insbesondere die Wirtschaftsgerichte bzw. Schiedsgerichte, die für Streitfälle zwischen Firmen zuständig sind, gelten als kompetent, das Oberste Wirtschaftsgericht wurde jedoch 2014 dem Obersten Gericht angeschlossen und damit faktisch aufgelöst.[272]
Auf unterer Ebene gibt es Geschworenengerichte, die 1993 eingerichtet wurden und vor denen Freisprüche (15 % der Fälle) wahrscheinlicher sind als vor reinen Berufsgerichten. Ihnen wurden schrittweise Kompetenzen entzogen, politische Verfahren sowie Delikte mit hohen möglichen Haftstrafen wurden von den Regionalgerichten mit Geschworenen auf die Bezirksgerichte ohne Geschworene verschoben.[274]
Das Verfassungsgericht der Russischen Föderation hat den Rang eines Verfassungsorgans. Es sollte ursprünglich die strikte Einhaltung der Verfassung durch die Staatsorgane überwachen.[275] Unter seinem langjährigen Präsidenten Waleri Sorkin hat sich dazu bekannt, dass nationale Sicherheitsinteressen höher als Verfassungsprinzipien zu gewichten seien.[276] Das Gericht unterstützte in mehreren Urteilen die zunehmende Machtverschiebung zum Amt des Staatspräsidenten.[277] Während es sich 1993 noch gegen den Machthunger des damaligen Präsidenten Jelzin gestellt hatte, half es Wladimir Putin bei der autoritären Umgestaltung des Landes mit der Ermöglichung von weiteren Amtszeiten des Präsidenten jenseits verfassungsrechtlicher Zulässigkeit.[278]
Innere und äußere Sicherheit
Geheimdienste und Sicherheitsbehörden
Allgemein spielen die sogenannten „Machtstrukturen“ (silowye struktury), worunter bundesstaatliche „Ministerien oder Institutionen mit uniformierten, militarisierten und bewaffneten Einheiten“ verstanden werden[161] und ihr Zusammenspiel zwischen Wettstreit, Machtkämpfen und Kooperation in Russland eine große und kaum zu überschätzende Rolle. Ihr Einfluss auf den Kreml ist überproportional groß, in den Diensten gibt es die gemeinsam geteilte Weltsicht eines vom Westen bedrohten Russlands. Ihre Angehörigen wurden vom einflussreichen Sekretär des nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, mal als „neuer Adel“ Russlands bezeichnet. Die Dienste konkurrieren miteinander, ihre Angehörigen nutzen ihre Machtposition und Machtmittel zur kleptokratischen Bereicherung. Mark Galeotti umschreibt die Dienste als „strategisch geeint und taktisch“ getrennt.[279] Die Macht der Silowiki greift über die Dienste hinaus, wichtige Posten der Verwaltung und in Unternehmen werden oft von ihnen besetzt; Putin agiert zwischen den Diensten und konkurrierenden Gruppen als Schiedsrichter, der sich ihren illiberalen Ansichten dabei annähert.[280] Der wichtige Zugang zum Präsidenten erfolgt in hohem Maße informell und oft eher nach politischen als nach fachlichen Kriterien: Präsidialadministration und Sekretär Patruschew können kontrollieren, welchen Berichten besonderer Raum eingeräumt wird und welchem nicht, gleichfalls hat – oder hatte – auch der Chef des FSO einen auf persönlicher Nähe beruhenden ungeregelt guten Zugang. Eine Fachstelle, die die Informationen der verschiedenen Dienste zusammenführend betrachtet und gewichtet, bevor sie vorgelegt werden, fehlt anscheinend. Einfluss haben auch die Berichte des FSB, selbst zu außenpolitischen Themen, die eher in die Expertise von SWR und GRU fallen würden, welche es aber offenbar schwerer haben mit ihren Einschätzungen zum Präsidenten durchzudringen.[281]
Inlandsgeheimdienst FSB