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Wirtschaftliche Entwicklung
Transformation
Schon in der ukrainischen Teilrepublik der UdSSR gab es privatwirtschaftliche Akteure. Allerdings agierten sie illegal in der Schattenwirtschaft.[228] Ende der 1980er Jahre erlaubte der Staat kleine private Unternehmen und Genossenschaften.[229] 1990 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz über die wirtschaftliche Autonomie der ukrainischen Republik. Es umfasste Privatbesitz wie auch Wettbewerb und legte das Fundament für die Privatisierung der Volkswirtschaft in den 1990er Jahren.[230]
Während der Staat im Jahre 1991 einen Anteil von 100 % am Bruttoinlandsprodukt hatte, sank dieser Wert und lag 2020 bei unter 10 %.[231] Bis 2005 wurden ca. 85 % der staatlichen Wohnungen (ca. 5,9 Millionen Einheiten) privatisiert.[232] Zwar privatisierte der Staat bereits in den 1990er Jahren Agrarland, aber 2001 beschränkte er den Handel damit. Erst 2020 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, dass den Bodeneigentümern vollere Rechte einräumte und den Handel mit ukrainischem Agrarland legalisierte (Siehe auch: Aneignung von Agrarland).[233] Bis 1999 wurden fast alle kleinen Unternehmen des Staates bzw. der Kommunen privatisiert.[234] Dennoch besaß der Staat im Jahr 2020 über 3.300 Unternehmen, was im internationalen Vergleich sehr hoch war.[235] Unter Präsident Wolodymyr Selenskyj hielt die Regierung an der Privatisierungspolitik fest und setzte sich das Ziel, rund 600 Unternehmen zu behalten.[236] In den traditionellen Industriezweigen der Ukraine (Energieproduktion, Metallurgie, Maschinenbau) dominierten im Jahr 2020 private Unternehmen.[230]
Die Privatisierung führte zu einer hohen Konzentration. Um 2007 erwirtschafteten die 75 größten ukrainischen Unternehmen über zwei Drittel des Bruttoinlandsproduktes.[229][237] Im Zuge der Konzernbildung entstanden sogenannte Finanz-Industrielle Gruppen. Diese Gruppen haben jeweils eigene Banken oder Versicherungsgesellschaften und ihr Aktienkapital ist hoch konzentriert.[229] Zudem ist die Beziehung zwischen Unternehmen und Aktionären intransparent. Sie integrieren eher selten horizontal oder vertikal, sondern gemischte Holdings bzw. Konglomerate fusionieren miteinander.[238] Die zentrale Instanz, die etwas entscheidet, ist nicht in den Finanzinstitutionen, sondern in den industriellen Unternehmen.[238]
Die Art und Weise, wie der Staat die Privatisierung durchführte, begünstigte, dass einige Akteure den Prozess nutzen konnten, um sich zu bereichern, und zu Oligarchen wurden.[239] Nachdem bereits im Zuge der Perestroika einige Mitglieder der kommunistischen Führungsschicht Kapital angehäuft hatten, nutzten sie es in den 1990er Jahren, um sich Staatsunternehmen relativ günstig anzueignen.[240] Unter Präsident Leonid Kutschma festigte sich ein System oligarchischer Geschäftsgruppen bzw. Klans.[240] In den 2000er Jahren beeinflussten sie zu ihren Gunsten die Auktionen, auf denen der Staat einige seiner großen Unternehmen privatisierte.[241] Oligarchen wurden in vielen Wirtschaftsbereichen aktiv.[242] Indem sie sich Staatseigentum aneigneten, erhöhten sie in einigen Sektoren das Niveau der Konzentration, wie zum Beispiel im Energiesektor.[243] 2010 besaßen vier finanz-industrielle Gruppen, die Oligarchen gehörten, etwa ein Viertel der größten ukrainischen Unternehmen.[244] Die Oligarchen weiteten ihren Einfluss über die Wirtschaft hinaus auf das politische Geschehen aus wie auch auf weitere gesellschaftliche Bereiche, wie etwa Kultur und Sport.[245][246] Oligarchen beeinflussten entscheidend den institutionellen Wandel und viele Klans unterstützen die Orangene Revolution.[247] Aus wirtschaftlichen Motiven heraus interessierten sie sich dafür, die Ukraine an die Europäische Union anzunähern: Institutionen nach westlichem Vorbild boten mehr als die ukrainischen Strukturen die Möglichkeit, Vermögen zu schützen, und zudem stellte die Europäische Union sich als attraktiver Exportmarkt dar.[247]
Wachstum und Krisen
Zwar halfen die Weltbank und der Internationale Währungsfonds der ukrainischen Regierung bei der wirtschaftlichen Transformation, aber es kam in den 1990er Jahren dazu, dass im Vergleich zu anderen Staaten das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stark sank und die Inflation stark anstieg.[248] Die ukrainische Volkswirtschaft erholte sich im Vergleich zu anderen Transformationsländern sehr langsam von dem Wandel zur Marktwirtschaft.[249] Laut Schätzungen der Weltbank erreichte die ukrainische Volkswirtschaft im Jahr 2020 noch nicht das Niveau, welches das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Jahr 1990 hatte, obgleich seitdem die Bevölkerung um etwa 10 Millionen Menschen abgenommen hatte.[249][250]
Von 2000 bis 2008 stieg jedes Jahr das Bruttoinlandsprodukt.[251] Die ukrainischen Exporteure und vor allem die Metallproduzenten konnten viel Vermögen akkumulieren. Zwar war ihre Technologie veraltet, aber sie profitierten von steuerlichen Entlastungen, steigenden Warenpreisen auf dem Weltmarkt, niedrigen Gaspreisen und geringen Lohnkosten.[252] Vor allem aus Orten wie Zypern oder den Britischen Jungferninseln stiegen die ausländischen Direktinvestitionen, wobei es sich dabei um Gelder handelte, die Ukrainer auf Offshore-Konten akkumuliert hatten.[253] In den 2000er Jahren kamen auch viele ausländische Banken in die Ukraine, um dort von den relativ hohen Zinssätzen zu profitieren.[254] Die Arbeitslosigkeit war gering und die Reallöhne stiegen.[253]
Im Zuge der Weltfinanzkrise sank das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine im Jahr 2009 um etwa 14 % und damit stärker als in der Russischen Föderation oder in Belarus.[255] Die Wirtschaftsleistung hing sehr vom Außenhandel bzw. von der Stahlindustrie ab, auf die etwa 30–40 % der Exporte entfielen.[256] Zwar hatte die globale Stahlindustrie bis 2008 von der steigenden Nachfrage profitiert und ihre Kapazitäten erweitert, aber durch die Krise sank die Nachfrage. Die globale Stahlproduktion ging zunächst zurück und in den Folgejahren konnte die Industrie ihre Kapazitäten nicht genug auslasten.[257][258] In den Jahren 2008 und 2009 produzierte auch die ukrainische Stahlindustrie deutlich weniger.[259] Die Industrieproduktion brach ein.[260] Die Arbeitslosigkeit stieg und die Reallöhne sanken.[255] Der Bankensektor insgesamt machte in den Jahren 2009 und 2010 Verluste.[261] Die Banken hatten das Kreditvolumen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt und zu ihren Einlagen stark ausgeweitet.[262] Sie hatten dazu tendiert, Kredite bei europäischen Banken aufzunehmen und das Geld in der Ukraine gewinnbringend zu verleihen.[263] Im Jahr 2008 fiel es jedoch vielen ukrainischen Banken schwer, Geld zurückzuzahlen. Meist war ihr Eigenkapital gering und Kredite aus Europa fielen aus.[263] Die Nationalbank musste einige Großbanken finanziell stützen und kontrollieren.[263] Viele Menschen misstrauten der eigenen Landeswährung und tauschten ihr Guthaben in US-Dollar oder Euro um.[263] Die Nationalbank versuchte, den Wechselkurs der Landeswährung zum US-Dollar zu stabilisieren.[264] Er fiel jedoch Ende 2008.[255] Der ukrainische Aktienmarkt brach 2008 zusammen. Allerdings war er relativ klein und unbedeutend für die ukrainische Volkswirtschaft.[263]
Um die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden, bat die ukrainische Regierung den Internationalen Währungsfonds um Hilfe. Ende 2008 sagte er zu, unter bestimmten Bedingungen schrittweise einen Kredit in Höhe von insgesamt 16,4 Mrd. US-Dollar zu geben.[265] Da das Parlament und der Präsident beschlossen, den Staatshaushalt nicht stark genug zu kürzen, und stattdessen die Mindestlöhne und Sozialleistungen erhöhen wollten, gewährte der Fonds nur eine Teilsumme von 11 Mrd. US-Dollar und zahlte die letzte Tranche nicht aus.[265] Stattdessen fror der Fonds den Kredit ein und vereinbarte mit der Ukraine einen neuen Kredit.[265] Da der ukrainische Staat Geld brauchte, arbeitete er auch weiterhin mit dem Fonds zusammen, obgleich verschiedene politische Lager anders mit dem Fonds kooperierten.[266] Der ukrainische Staat wurde zu einem der Staaten, denen der Fonds am meisten half.[266]
Noch 2013 lag das reale Bruttoinlandsprodukt unter dem Stand von 2008.[267] Zwar erholte sich die ukrainische Volkswirtschaft in den Jahren 2010 und 2011, aber 2012 stagnierte sie und geriet in eine Rezession.[267] Die ukrainische Stahlindustrie konnte nicht mehr so viel exportieren, da die Stahlpreise niedrig waren, und die Maschinenbauer litten unter dem langsamen Wachstum der russischen Volkswirtschaft.[267] Die Ukraine verzeichnete seit Längerem ein Leistungsbilanzdefizit und brauchte daher externes Kapital. Allerdings hielten sich ausländische Investoren zurück, da das Justizsystem sehr korrupt war und nicht hinreichend Rechtssicherheit gewährleistete.[268] Direktinvestitionen aus Westeuropa nahmen ab und westliche Banken zogen sich zunehmend aus der Ukraine zurück.[269] Letztere traten ihre Marktanteile oft an ukrainische Investoren oder russische Banken ab.[269] Das Leistungsbilanzdefizit wurde auch dadurch verstärkt, dass die Nationalbank den Wechselkurs der Landeswährung zum US-Dollar künstlich hoch hielt.[270] Zudem hielt Präsident Janukowitsch entgegen der Forderung des Internationalen Währungsfonds die Gaspreise niedrig, was den Staatshaushalt belastete.[270] Der ukrainische Staat hatte sich über die Jahre extern stark verschuldet, während seine Devisenreserven sanken.[271] Ende 2013 gipfelten die Auslandsschulden des Staates, der Unternehmen und der Banken zusammengenommen in einer Summe von 142 Mrd. US-Dollar.[272] Die Zahlungsfähigkeit des Staates wurde unsicherer. Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union über ein Assoziierungsabkommen bargen zusätzlich die Gefahr, dass der Moskauer Kreml die wirtschaftliche Schwäche der Ukraine nutzte, um die Ukraine zu destabilisieren.[273]
Im Jahr 2014 sank das reale Bruttoinlandsprodukt um 6,6 % und im Folgejahr nochmals um 9,9 %.[274] Die Maidan-Proteste, Russlands Annexion der Krim und der Bürgerkrieg in der Ostukraine wirkten sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine aus. Mit der Krim verlor die Ukraine die Möglichkeit, die Erdgasvorkommen in Inselnähe stärker auszubeuten, um sich selbst besser mit Energie versorgen zu können.[275] Zudem konnte Kiew bedeutsame Unternehmen aus der Energiewirtschaft und der chemischen Industrie nicht mehr kontrollieren.[275] Letzteres galt auch für Häfen und wichtige Handelswege, wie die Straße von Kertsch.[275] Dadurch beeinträchtigte die Russische Föderation in der Folgezeit die ukrainischen Exporte.[276] Der Donbass hatte einen großen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (2012: 15,7 %), an der Industrieproduktion (2012: 22 %) und den Exporten (2013: 21,4 %) gehabt.[277] Der Krieg im Osten beschädigte viele Industrie- und Dienstleistungsunternehmen.[278]
Der Außenhandel wandelte sich. In den Jahren 2014 und 2015 ex- und importierte die Ukraine viel weniger.[279] Nahrungsmittel lösten Stahl- und metallurgische Produkte ab und übernahmen den größten Anteil an den Exporten.[279] Obgleich die Russische Föderation der wichtigste Handelspartner blieb, exportierte die Ukraine dorthin deutlich weniger Waren (2011: ca. 20 Mrd. US-Dollar; 2015: ca. 5 Mrd. US-Dollar).[279] Die Importe brachen durch die Rezession noch stärker ein als die Exporte, auch da die Landeswährung abwertete und die Gaspreise sanken.[280] Ebenfalls sanken die physische Menge an Gasimporten und der Energieverbrauch, da die ukrainische Industrie weniger aktiv war und die Ukraine den industrialisierten Donbass wie auch die Krim verlor.[281]
Von 2016 bis 2019 wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt.[282] Die industrielle Produktion verzeichnete bis 2018 wieder leichte positive Wachstumsraten.[282] Metallurgie und Maschinenbau erreichten jedoch nicht mehr ihre frühere Rolle bei den Exporten. Stattdessen behielt der Agrarsektor den größten Anteil an den Exporten.[283] Ferner exportierte die Ukraine zunehmend Elektrogeräte. Dabei verlagerte sich der Außenhandel der Ukraine von der Russischen Föderation zur Europäischen Union.[283] Im Jahr 2019 war die Russische Föderation nicht mehr der größte Handelspartner der Ukraine. Die Ukraine importierte Waren vor allem aus der Volksrepublik China, während Polen der größte Absatzmarkt ukrainischer Waren war.[283] Bezüglich der Importe rührte die Verlagerung zur Europäischen Union auch daher, dass die Ukraine ab 2016 für den Eigenverbrauch kein Gas mehr direkt aus der Russischen Föderation importierte, sondern russisches Gas indirekt aus EU-Staaten einkaufte (Siehe auch: Bodenschätze).[283][284][285]
Der Bankensektor wurde durch den Internationalen Währungsfonds und die Nationalbank der Ukraine stark verändert.[286] Von 2013 bis 2017 nahm die Anzahl operierender Banken stark ab.[287] 2016 wurde die PrivatBank verstaatlicht und durch Steuergelder stabilisiert, wodurch der Anteil des Staates am Bankensektor auf über 55 % stieg.[288] Sie war die größte Bank der Ukraine und zugleich eines der größten oligarchischen Konglomerate in der GUS.[289] Sie hatte einen großen Teil ihrer Einlagen genutzt, um Unternehmen, die mit Oligarchen verbunden gewesen waren, zu finanzieren (related party lending).[290] Letzteres führte dazu, dass die PrivatBank viele notleidende Kredite verzeichnete.[291] Im Aufsichtsrat traten an die Stelle der Oligarchen vor allem Vertreter der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wie auch des Finanzministeriums.[292] Nach vielen Jahren wirtschaftete der Bankensektor 2018 wieder profitabel.[293][294]
Die Investitionen stiegen 2016 stärker an, was auch Anlagen und Maschinen betraf.[295] Zudem interessierten sich 2018 Finanzmarktinvestoren und internationale Anleger stärker für ukrainische Anleihen.[296] Größere ausländische Direktinvestitionen hielten sich jedoch in Grenzen.[296]
Durch die COVID-19-Pandemie sank das reale Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 um 3,8 %. Im Folgejahr stieg es um 3,4 %. Von außen unterstützten die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Union den ukrainischen Staat finanziell.[297][298][299] Angesichts der Pandemie änderte die Regierung ihren Haushaltsplan und setzte einen großen Teil der Mittel, die für andere Bereiche eingeplant waren, dazu ein den Straßenbau zu fördern.[300] Die Regierung hatte bereits im Februar 2020 ein Programm begonnen, in dem sich einige Banken bereit erklärten, kleinen und mittleren Unternehmen Kredite zu günstigeren Konditionen zu geben.[301] Laut Wirtschaftsministerium machten einige Unternehmen bis Ende 2021 davon Gebrauch.[302] Um den Unternehmen dabei zu helfen, die Lohnkosten zu senken, veränderte die Regierung ab März 2020 das Arbeitsgesetz.[303] Zudem bot die Regierung den pandemiebedingt stillgelegten Unternehmen an, sich an den Lohnkosten zu beteiligen.[304] Allerdings entschieden sich Unternehmer meist zur Entlassung von Beschäftigten.[304]
Aufgrund der erhöhten Kriegsgefahr im Frühjahr 2022 stieg die Inflation auf zehn Prozent, weswegen die ukrainische Zentralbank die Leitzinsen auf zehn Prozent erhöhte. Gleichzeitig zogen ausländische Investoren massiv Gelder ab. Daraufhin sagte die EU 1,2 Milliarden Euro Soforthilfen und zusätzliche 120 Millionen Euro in Form von Zuschüssen zu.[178]
Der Krieg schadete der ukrainischen Volkswirtschaft. Im zweiten Quartal 2022 sank das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahreswert um etwa 37,2 %.[305] Der Staat verzeichnete ein höheres Haushaltsdefizit. Er gab mehr fürs Militär aus, was im August 2022 ca. 46 % des Staatshaushaltes ausmachte.[305] Andererseits sanken die Staatseinnahmen. Der Staat war daher abhängig von finanzieller Unterstützung durch westliche Partner. Zu den Gebern zählten vor allem die Europäische Union, die USA, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank (Stand: Ende Oktober 2022).[306] Im Zuge des Krieges wurden viele Produktionsmittel und die Infrastruktur zerstört. Etwa sieben Millionen Menschen flohen aus der Ukraine ins Ausland und ca. sieben Millionen gelten als Binnenflüchtlinge.[307] Das senkte den privaten Verbrauch und das Angebot an Arbeitskräften.[307] Dennoch lag im dritten Quartal 2022 die offizielle Arbeitslosenquote bei 34 %.[307] Da die Russische Föderation den Seehandel der Ukraine behinderte, konnte die Ukraine deutlich weniger Güter exportieren. Das ukrainische Handelsdefizit stieg dadurch stark an.[307] Der Bankensektor blieb 2022 relativ stabil.[308] Die Nationalbank der Ukraine gab die Inflationssteuerung auf und führte zu Kriegsbeginn einen festen Wechselkurs zum US-Dollar ein.[306] Zudem führte sie stärkere Kapitalkontrollen durch, intervenierte am Devisenmarkt und erhöhte den Leitzins im Juni 2022 von 10 % auf 25 % p. a.[306]
Regionale Unterschiede
Als die Ukraine unabhängig wurde, unterschieden sich die Regionen in wirtschaftlicher Hinsicht sehr stark voneinander. Während in den 1990er Jahren der wirtschaftliche Zusammenbruch alle Regionen betraf, so verstärkten sich die Unterschiede zwischen den Regionen, als die Wirtschaft wieder wuchs.[309]
Viele westliche, zentrale und südliche Regionen waren primär landwirtschaftlich geprägt.[309] In der Ostukraine hingegen überwogen spezialisierte Industrien.[309] Schließlich gab es fünf Inseln, die vor allem auf Dienstleistungen ausgerichtet waren. In Kiew und Charkiw waren es Finanz- und Konsumdienstleistungen.[309] In drei südlichen Regionen waren es Transportdienste und öffentliche Sozialdienste.[309]
In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit zeichneten sich die eher landwirtschaftlich geprägten Regionen durch langsames Wachstum und geringe Produktivitätszuwächse aus.[310] Die Arbeitslosigkeit war dauerhaft hoch und die verfügbaren Einkommen niedrig. Entsprechend musste der Staat sie mit Transferleistungen unterstützen.[310] Die Industriezentren im Osten standen in den genannten Hinsichten besser da und wurden zu Nettozahlern an die landwirtschaftlichen Regionen.[310] Die Dienstleistungsregionen verzeichneten ein schnelles Wachstum. Die Arbeitslosigkeit war gering und es entstanden neue Arbeitsplätze.[310] In den Regionen, in denen Konsum- bzw. Finanzdienstleistungen dominierten, stieg die Produktivität am meisten und die Einkommen waren am höchsten.[310] Wie der industriell geprägte Osten wurden sie Nettozahler an die wirtschaftlich schwächeren Regionen.[310] In den Regionen, in denen Transport- und Sozialdienste überwogen, stieg die Produktivität wenig. Das Einkommensniveau lag unter dem Durchschnitt und sie waren auf staatliche Transferleistungen angewiesen.[310]
Während der Wachstumsphase bis 2008 verfolgten die verschiedenen Präsidenten unterschiedliche Wachstumsmodelle. Diese legten den Schwerpunkt auf jeweils andere Regionen bzw. Sektoren.
Leonid Kutschma wollte ukrainische Großunternehmer schaffen.[311] Der Staat privatisierte Industrieanlagen, förderte deren Export und die Leistungsbilanz wurde positiv.[311] Kutschma verfolgte einen stabilen Wechselkurs der Landeswährung zum US-Dollar, sinkende Zinsen und eine abnehmende Inflation.[311] Der Staatshaushalt war relativ ausgeglichen und die Auslandsverschuldung nahm ab.[311] Mehr Menschen konnten sparen, so dass die Banken diese Mittel an Unternehmen verleihen konnten.[311] Auslandsinvestitionen blieben gering und Unternehmen nahmen relativ wenig Kapital an den Kapitalmärkten auf.[311]
Unter Wiktor Juschtschenko hingegen wurde Kutschmas Wachstumsmodell aufgelöst. Einige privatisierte Unternehmen wurden wieder verstaatlicht und erneut privatisiert, wobei sie auch an nicht-ukrainische Bieter verkauft wurden, wie zum Beispiel das größte ukrainische Stahlkombinat Kryvorischstal an ArcelorMittal.[311] Der Finanzsektor sollte die Basis des Wirtschaftswachstums sein.[311] Hatte Kutschma die Industrie des Ostens fokussiert, so spielten unter Juschtschenko die Dienstleister in Metropolen und Tourismusgebieten eine größere Rolle.[312] Zwar erhielt der kreditbasierte private und öffentliche Konsum größeren Anteil an der Zunahme des Bruttoinlandproduktes, aber die positive Exportbilanz kehrte sich allmählich um.[313] Weder der Präsident noch die Regierung wollte mit Sparmaßnahmen assoziiert werden. Der Präsident versuchte, den Wechselkurs zu halten, damit dieser den Interessen der ukrainischen Konzerne entsprach, und die Regierung legte wenig Wert auf Haushaltsdisziplin.[313] Sie dehnten staatliche Transferleistungen bis 2009 stetig aus.[313] Diese Entwicklung gipfelte in der Wirtschaftskrise, die 2008 in der Ukraine ankam.[314]
Nachdem die Russische Föderation im Jahr 2014 die Krim annektiert hatte, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Kiew und der Krim, wobei Kiew schließlich die Krim nicht mehr mit Wasser und Strom versorgte. Auf der anderen Seite investierte der Moskauer Kreml massiv in die Infrastruktur der Halbinsel. Das betraf sowohl die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas als auch den Bau von Straßen, der Krimbrücke und die Steigerung der Flugverkehrskapazitäten in Simferopol.[315] Dabei wurde die Krim zunehmend in russische Infrastrukturnetze integriert, wie zum Beispiel in das russische Stromnetz.[315] Das Bruttoinlandsprodukt der Krim pro Kopf ähnelte dem Niveau der wirtschaftlich schwächsten russischen Regionen, wie zum Beispiel Tschetschenien.[316] Allerdings plante der Moskauer Kreml, die Krim zu einer wirtschaftlich dynamischen Region zu machen, und legte den Schwerpunkt auf Tourismus, Landwirtschaft und Industrie.[317] Die Ausgaben belasteten jedoch den Staatshaushalt der Russischen Föderation enorm.[315]
Der Teil der Ukraine, der von Kiew kontrolliert wurde, reduzierte ab 2014 den Außenhandel mit der Russischen Föderation.[279][283] Die selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk näherten sich in wirtschaftlicher Hinsicht der Russischen Föderation zu. Nachdem ukrainische Rechtsradikale den Handel mit den Volksrepubliken blockiert und die Volksrepubliken sich daraufhin weitere Unternehmen auf ihrem Gebiet angeeignet hatten, verhing Kiew im Jahr 2017 eine offizielle Handelsblockade gegen die Volksrepubliken.[318] Letztere erhielten zur Unterstützung Strom- und Gaslieferungen aus der Russischen Föderation.[319] Zudem exportierten die Volksrepubliken mehr Kohle in die Russische Föderation, die ihnen trotz Handelsembargo Zugang zum ukrainischen Markt und zur Europäischen Union ermöglichte.[320] Ferner wurde der russische Rubel in den Volksrepubliken wichtiger.[319]
Primärer Sektor
Energie
Die Gebäuden sind mittig der Farbfotografie aneinandergereiht und liegen an einem Fluss, der bei klarem Himmel widerspiegelt. Der Kühlturm und beide Kamine befinden sich auf der linken Seite, auf der rechten Seite sind sechs identische kleine Gebäude.
Kernkraftwerk Saporischschja
Während der Staat 1991 alle Energieunternehmen besaß, befand sich 2020 ein bedeutender Teil in Privatbesitz.[321] Im Falle der Privatunternehmen war die Konzentration sehr hoch, wobei transnationale Oligarchen und lokale Wirtschaftseliten den Großteil besaßen.[321] In allen Energie-Sektoren entwickelten sich Korruption und Rent-Seeking.[322]
Seit Anfang der 1990er Jahre bis 2020 sank der Primärenergieverbrauch der Ukraine.[323] Das lag zunächst daran, dass die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in eine wirtschaftliche Krise geriet, und 2014 verlor die Ukraine die Krim wie auch die Kontrolle über den Donbas samt dessen Industrieproduktion.[324] Bis 2021 beruhte der Energieverbrauch vor allem auf Kohle, Gas und Öl sowie Atomkraft, obgleich der Anteil der erneuerbaren Energiequellen zunahm.[325][326] 2016 war die ukrainische Volkswirtschaft noch immer relativ energieintensiv und lag deutlich über dem OECD-Durchschnitt.[327] Während die Energieintensität sehr hoch war, da die Energie-Infrastruktur alterte und energieintensive Industrien einen großen Teil der Industrieproduktion ausmachten, wurde sie auch überschätzt, da öffentliche Statistiken über das Bruttoinlandsprodukt die ausgeprägte ukrainische Schattenwirtschaft nicht berücksichtigten.[328]
Der Anteil der ukrainischen Kernenergie an der Stromerzeugung stieg seit Ende der 1980er Jahre und lag 2021 bei ca. 55 %.[329] 2018 betrieb das staatliche Unternehmen Energoatom vier Atomkraftwerke, die etwa die Hälfte des Stroms des Landes erzeugten.[330] Die ukrainischen Kraftwerke waren davon abhängig, dass die Russische Föderation ihnen Kernbrennstoff lieferte und Lagermöglichkeiten für verbrauchten Kernbrennstoff bot.[331] Seit 2014 nutzten ukrainische Kraftwerke auch andere Kernbrennstoffe, wie zum Beispiel von Westinghouse, und es wurden mehr eigene Lagerkapazitäten geschaffen.[331] Zudem vereinbarten Energoatom und Westinghouse, gemeinsam weitere Einheiten für ukrainische Kraftwerke zu schaffen.[332]
2018 waren erneuerbare Energien vor allem in der Stromerzeugung wichtig. Allerdings spielten sie weder hinsichtlich der Wärmeversorgung von Gebäuden und Industrie noch hinsichtlich des Verkehrssektors eine bedeutende Rolle.[333] Ihr Anteil an der Stromerzeugung lag bei ca. 10 %, wobei der Großteil auf die großen Wasserkraftwerke des staatlichen Unternehmens Ukrhydroenergo entfiel.[330][333] Die DniproHES-Talsperre ist eine der größten Talsperren Europas. Diese dient auch als Speicherkraftwerk und hat eine elektrische Leistung von 1.570 Megawatt. 2020/21 waren die Bedingungen für Produzenten grüner Energie schwierig: Zwar nahm der ukrainische Staat als garantierter Abnehmer von den Herstellern grünen Strom, aber er verschuldete sich ihnen gegenüber bis 2021 auf ca. eine Milliarde Euro.[334]
Die Europäische Union betrachtete die Ukraine als strategischen Partner, um die 2019 gesetzten Ziele des Green Deal zu erreichen: Sie hielt die Ukraine für eine potentielle Quelle von Ökostrom und Wasserstoff, die zudem in der Nähe lag und über eine Transportinfrastruktur verfügte.[335] Im Juli 2020 erklärte sich die ukrainische Regierung dazu bereit, wesentlich zum Green Deal beizutragen.[336] Allerdings interessierten sich die Menschen in der Ukraine relativ wenig für Klimapolitik, und es mangelte an starken staatlichen Institutionen wie auch an dem nötigen Kapital.[337]
Die Europäische Union und die Ukraine arbeiteten seit 2005 darauf hin, die Ukraine in die europäischen Energiemärkte und -systeme zu integrieren.[338] 2017 legten der europäische Verband ENTSO-E, der ukrainische Netzbetreiber Ukrenerho und von moldawischer Seite Moldelectrica technische Schritte fest, um das ukrainische Stromnetz mit dem kontinentaleuropäischen Netz zu synchronisieren.[338] Die ukrainische Regierung strebte an, das ukrainische Netz 2021/22 vom russischen Netz zu lösen und 2023 mit dem kontinentaleuropäischen zu verbinden.[339] Dieses Vorhaben war in geopolitischer Hinsicht brisant, da die Russische Föderation die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk, die Krim und primär über Transnistrien auch Moldau mit Strom versorgte.[340] Im Zuge der russischen Invasion wurde bereits im März 2022 eine Notfallsynchronisierung vollzogen.[341]
Siehe auch: Liste von Kraftwerken in der Ukraine und Stauseen in der Ukraine
Bodenschätze
In der Ukraine befinden sich ca. 3 % der weltweit nachgewiesenen Kohlevorkommen.[342] Steinkohle kommt vor allem im Donbas vor und die höherwertige Anthrazitkohle wird nur auf dem Gebiet der sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk gefördert.[342] Der Anteil der Kohle am Primärenergieverbrauch schwankte zwischen 1991 und 2021 zwischen rund 26 % und etwa 36 %.[343] Kohle ist wichtig für die Strom- und Wärmeerzeugung und für viele Industrien, wie zum Beispiel in der metallurgischen Produktion.[342] Bis 2014 konnte sich die ukrainische Volkswirtschaft selbst mit Kraftwerkskohle versorgen, aber sie wurde zum Nettoimporteur.[344] 2017 begann die Ukraine, den Handel mit den Volksrepubliken zu blockieren. Das war für beide Seiten schwierig: Während die Volksrepubliken durch den Kohleexport wichtige Einnahmen erzielt hatten, waren viele ukrainische Kraftwerke für Strom- und Wärmeerzeugung wie auch Industrien relativ abhängig von Anthrazitkohle.[345] Allerdings exportierten die Volksrepubliken Kohle in die Russische Föderation, wo sie neu etikettiert wurde, um dann als russische Kohle etwa über Belarus an die Ukraine oder an EU-Staaten verkauft zu werden.[346]
Die Kohleproduktion sank langfristig seit Ende der 1980er Jahre bis 2020.[347] Bereits von 1991 bis 2013 verloren 88 % aller Kohlekumpel ihre Arbeitsplätze.[348] Im Zuge des Konfliktes zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation wurden seit 2014 viele Bergwerke im Osten beschädigt oder geflutet.[342] Die Kohleproduktion des Donbas nahm deutlich ab.[349] Unter Ministerpräsident Schmyhal erarbeitete das Energieministerium Konzepte für einen Strukturwandel. Diese sahen vor, Kohle noch über Jahrzehnte zu nutzen, um das Land mit Energie zu versorgen.[350] Die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland boten ihre Hilfe für einen Kohleausstieg an.[351] 2018 gründeten einige Kohlestädte des Donezker Gebiets, Nichtregierungsorganisationen und eine regionale Handelskammer eine regionale Plattform, die auf eigene Initiative versuchte, Konzepte für den Strukturwandel zu entwickeln.[352]
Die Ukraine verfügt über reiche Öl- und Gasvorkommen (Gasvorkommen 2019 geschätzt auf 1,09 Billionen Kubikmeter), die in Europa nur noch von denen Norwegens übertroffen werden (1,53 Billionen Kubikmeter Gas).[353] Langfristig sank der Öl- und Gasverbrauch seit Anfang der 1990er Jahre bis 2021 stark ab.[354][355] Unter Janukowitsch plante die Regierung, russische Gasimporte zu reduzieren und ab 2020 völlig darauf verzichten zu können.[356] Stattdessen sollten die ukrainischen Ressourcen genutzt werden.[357] So wollte die ukrainische Regierung zusammen mit Chevron und Royal Durch Shell in der West- und Ostukraine Schiefergas erschließen und fördern, während Exxon im Schwarzen Meer aktiv werden sollte.[358][359] Allerdings stellten alle drei Unternehmen ihre Projekte ein.[360] Auch unter Ministerpräsident Schmyhal verfolgte die ukrainische Regierung das Ziel, in der Gasversorgung autark zu werden, und schloss Production Sharing Agreements.[361][362] Von 2011 bis 2015 reduzierte die Ukraine ihre direkten Erdgasimporte aus der Russischen Föderation, während sie 2013 begann, Gas zunehmend aus der Europäischen Union zu kaufen.[363] Um ihren eigenen Bedarf zu decken, importiert die Ukraine seit 2016 kein Erdgas mehr auf direktem Wege aus der Russischen Föderation, sondern bezieht Gas größtenteils aus der Slowakei, Ungarn und Polen.[285] Die Krim und die Volksrepubliken Lugansk und Donezk wurden jedoch durch Gazprom versorgt.[364] Indem die Ukraine als Transitland Gas von der Russischen Föderation gen Europa leitet, erzielt sie bedeutende Einnahmen und ohne den Transit müsste aus technischen Gründen das Pipeline-System angepasst werden.[365] Die Ukraine importierte von 2012 bis 2017 insgesamt und im Besonderen aus der Russischen Föderation weniger Rohöl.[364] Allerdings ging die ukrainische ölverarbeitende Industrie nieder, so dass die Ukraine die meisten Ölprodukte, die im Land verbraucht wurden, importierte.[364] Zunächst kamen diese aus der Russischen Föderation und nach 2014 aus Belarus, wo Ölprodukte aus russischem Öl hergestellt wurden.[364]
Landwirtschaft
Die Ukraine hat mit 56 % ihrer Landfläche den weltweit höchsten Anteil an Ackerboden bester Qualität. Er ist mit einer dicken Schicht sehr fruchtbarer Schwarzerde (Tschernosem) überzogen.[366]
Jährlich produziert die Ukraine rund 60 Millionen Tonnen Getreide, hauptsächlich Mais, Weizen und Gerste, wovon über 50 % exportiert werden. 2012 stand sie damit weltweit an siebter Stelle der Getreideproduzenten.[367] 2019 wurde beim Getreide, mit rund 75 Millionen Tonnen, eine neue Rekordernte eingefahren.[368]
Die Landwirtschaft leidet seit einigen Jahrzehnten unter starker Bodenerosion. Durch die damit verbundene Versteppung des Landes hat die Ukraine schon rund ein Achtel ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche eingebüßt. Der Waldanteil liegt heute bei 5 % der Gesamtfläche. Im Norden des Landes befand sich einst eine ausgedehnte Waldsteppe mit sehr fruchtbaren Lössboden. Bis auf einen kleinen Restbestand wurden diese Wälder abgeholzt und in Ackerland umgewandelt. Bekannt sind die Birkenwälder um Kiew und die Wälder in Wolhynien. An der nördlichen Landesgrenze zu Belarus darf in einem Radius von 30 Kilometern um die Stadt Prypjat seit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wegen der anhaltenden radioaktiven Verseuchung keine Landwirtschaft betrieben werden.
Im Süden der Ukraine an der Küste und auf der Krim wird Wein- und Obstbau betrieben. Im Rest des Landes werden vorwiegend Weizen, Kartoffeln und Zuckerrüben angebaut. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wurden 55 % des ukrainischen Territoriums für Ackerbau genutzt und insgesamt 70 % der Fläche für die Landwirtschaft. Der agrar-industrielle Komplex erwirtschaftete 1991 etwa 40 % des Nationaleinkommens. 2007 wurden in der Ukraine insgesamt 42,894 Mio. Hektar Land landwirtschaftlich genutzt.[369]
Fast ein Fünftel der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft (vor allem im Westteil des Landes), das 12 % des Bruttoinlandsprodukts erzeugt.[370]:Sp 1 Die Ukraine hat mit 32 Millionen Hektar doppelt so viel Ackerland wie Deutschland, erzielt aber mit 35 Millionen Tonnen nur 70 % der deutschen Getreideproduktion.[370] 40 % der Agrarflächen werden durch kleine, aber stabile Subsistenzbetriebe unter einem Hektar bewirtschaftet, 50 % durch Kolchose-Nachfolger auf Pachtbasis (mit durchschnittlich 1.200 Hektar), die restlichen 10 % durch Kleinbetriebe mit durchschnittlich fünf Hektar und durch 43.000 Mittelbauern (80 bis 500 Hektar).[370]:Sp 1/2
Infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine verlor die Ukraine mit Stand Juni 2022 nach Auskunft des Landwirtschaftsministeriums neben 25 % der Agrarfläche[371] etwa 25 Millionen der 85 Millionen Tonnen Lagerkapazitäten für Getreide, weil Silos zerstört wurden oder in von Russland besetzten Gebieten lagen.[372]
Aneignung von Agrarland
Als die Ukraine ein Teil der UdSSR war, besaß der Staat das Agrarland. In den 1990er Jahren bekamen viele Personen, die in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gearbeitet hatten, jeweils meist zwei bis drei Hektar Land von den Genossenschaften. Dadurch erhielten etwa 6,9 Millionen Personen, die in ländlichen Regionen wohnten, insgesamt rund 27 Millionen Hektar Land.[373] Ferner erhielten auch einige Stadtbewohner kleinere Landflächen, die viele von ihnen nutzten, um Subsistenzwirtschaft zu betreiben.[373] So konnten sie leichter die wirtschaftliche Krise der 1990er Jahre überstehen. Im Jahr 2001 verhängte die Regierung ein Moratorium, das den Kauf und Verkauf von Agrarland verbot. Das Moratorium sollte nur provisorisch sein, bis die ukrainische Regierung ein neues Gesetz erarbeitete, das den Markt für Agrarland regelte.[374] Allerdings verschoben Nachfolgeregierungen mehrfach ein solches Gesetz und verwiesen darauf, dass viele Menschen dagegen waren.[374]
Präsident Wolodymyr Selenskyj wollte das Moratorium aufheben und eine Bodenmarktreform durchsetzen. Die Eigentümer sollten vollere Rechte erhalten und die Investitionen in die Landwirtschaft steigen.[375] Allerdings drängten auch internationale Organisationen. Nachdem die Kiewer Denkfabrik Easybusiness, die dem Atlas Network nahestand, eine mehrjährige Kampagne geführt hatte, forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2018 vom ukrainischen Staat eine Bodenreform.[376][377] Ferner machte der Internationale Währungsfonds die Reform zu einer Bedingung für weitere Kredite.[375] Schließlich erklärte Selenskyj auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, dass die Ukraine auf internationale Geldgeber angewiesen sei.[378] Auf der anderen Seite waren viele Menschen gegenüber einer Bodenreform skeptisch oder lehnten sie ab. Sie befürchteten, die Liberalisierung könnte zu einer Konzentration des Bodenbesitzes führen und vor allem großen Unternehmen, Oligarchen oder auch ausländischen Konzernen nützen.[377] Vor und im Parlament kam es zu Protesten.[379] Im April 2020 unterzeichnete Selenskyj das Gesetz über die Bodenreform.[375] Das neue Gesetz Nr. 552–IX[380] erlaubt es, dass ukrainische Bürger seit 2021 bis zu 100 Hektar Land erwerben dürfen. Ferner erlaubt es neben ukrainischen Bürgern auch ukrainischen Unternehmen, ab 2024 Land bis zu 10.000 Hektar zu erwerben.[381] Das Gesetz bedeutete in gewisser Weise einen Kompromiss: Während der ursprüngliche Entwurf von 2019 vorgesehen hatte, dass auch ausländische Personen und Unternehmen ukrainisches Agrarland kaufen durften, wurde schließlich die Entscheidung darüber auf ein Referendum verschoben.[382]
Große Agrar-Unternehmen und internationale Institutionen waren am ukrainischen Agrar-Sektor sehr interessiert. Sie behaupteten, durch zunehmende landwirtschaftliche Produktion könnte der Staat sich besser entwickeln und durch Exporte dabei helfen, die Weltbevölkerung zu ernähren.[383] Vor diesem Hintergrund versuchten ukrainische und nicht-ukrainische Agrar-Unternehmen, mehr Agrarland zu kontrollieren (Land Grabbing).[383] Zwar war durch das Moratorium von 2001 der Verkauf von ukrainischem Agrarland verboten, aber oft verpachteten Bodenbesitzer ihr Land, da rechtlich nicht geklärt war, wo die Grenzen ihres Landes genau lagen, und viele von ihnen nicht genug Geld oder Produktionsmittel hatten.[384]
Agrar-Holdings pachteten zunehmend Land und inkorporierten Agrar-Unternehmen, wobei sie immer mehr horizontal und vertikal integrierten, um möglichst die gesamte Wertschöpfungskette zu kontrollieren.[385] Während der großen Übernahmewelle von 2009 bis 2012 bevorzugten Agrar-Holdings wachsende mittelgroße Betriebe mit pflanzlich-tierischer Produktionsstruktur wie auch kapitalschwache Betriebe und achteten auf eine schlechte finanzielle Performance.[386] 2012 entfiel der Großteil der Agrar-Holdings auf ukrainische Besitzer, worunter auch Oligarchen wie Rinat Achmetow oder Oleg Bachmatjuk waren.[385] Letzterer besaß die damals größte Holding Ukrlandfarming, die rund 500.000 Hektar kontrollierte.[385] Die größten nicht-ukrainischen Agrar-Holdings waren US NCH Capital (400.000 Hektar) und Russian Ukrainian Agrarian Investments (260.000 Hektar).[385] Agrar-Holdings profitierten von den relativ niedrigen Pachtzinsen.[384] Im Gegensatz zu den kleinen und mittelgroßen Landwirten konnten Agrar-Holdings sich leichter mit Kapital versorgen, indem sie Kapital über Börsen oder internationale Finanzinstitutionen bekamen, wie zum Beispiel die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.[385] Des Weiteren machte auch die Volksrepublik China ihr Interesse deutlich. 2012 gewährte die China Exim-Bank einen Kredit in Höhe von 3 Milliarden US-Dollar und erhielt für die folgenden 15 Jahre bis zu sechs Millionen Tonnen Getreide jährlich.[387] 2013 begann das chinesische Staatsunternehmen Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps Verhandlungen mit dem ukrainischen Agrarkonzern KSG Agro über 100.000 Hektar in der Schwarzmeerregion. Für den chinesischen Markt sollten Feldfrüchte angebaut und Schweine gezüchtet werden. Für weitere Pachtrechte auf 50 Jahre wollte die Volksrepublik China bis zu drei Millionen Hektar übernehmen.[388]